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Romeo und Julius

von Waldi Anders

Frei nach Ovids ´Pyramus und Thisbe´

Es gab im Orient vor langer Zeit
in einer Stadt am Fluss Tigris
die nun gleich folgende Begebenheit:
Und zwar zog sich ein haaresfeiner Riss
durch eine an sich ziemlich dicke Wand,
die zwei Familien voneinander schied
die an sich auch des Weitren nichts verband.
Zumindest nichts, was man von außen sieht.
Denn war der eine Vater mächtig reich,
bekam der andere nur Hungerlohn.
Doch eine Sache war den beiden gleich:
Sie hatten beide je nur einen Sohn

So wie die Väter kannten diese sich
nicht einmal dann, wenn sie sich vor der Tür
begegneten. Doch nicht absichtlich
war dies, sie konnten beide nichts dafür,
denn ihnen hat von Kindesbeinen an
der Vater Standesgrenzen klargemacht:
„Der Junge dort von unsrem Nachbarsmann
ist nicht dein Freund. Bleib fern! Sonst setzt’s ’ne Tracht
So kam es, dass sich der Kontakt verbot,
doch weiß ein jeder selbst ja nur zu gut:
Wenn harte Strafe für Verbotsbruch droht,
bricht man’s viel eher – zeugt das doch von Mut

Daher zurück zur Wand und ihrem Riss:
Sie trennte durch ein himmlisches Geschick
die Zimmer beider Söhne, die gewiss
aus jugendlichem Leichtsinn einen Blick
durch jenen Riss im trennenden Gestein
nun aufeinander wagten. Angesichts
– durch Zufall sahen sie zugleich hinein –
des jeweils andren fühlten sie erst nichts,
doch bald entflammten ihre Herzen mehr.
Und ehe sie bemerkten, was geschah,
da waren sie verliebt; und sogar sehr!
Es war den beiden denn auch nur zu klar,
dass diese Liebe heimlich musste sein
und bleiben. Drum vereinbarten die Zwei,
sich heimlich dort zu treffen, wo man kein
zu großes Aufsehen erregte: Bei
dem Brunnen dort im kleinen nahen Hain
und unter einem hohen Maulbeerbaum.

Doch wollte nun der eine Erster sein,
der namens Romeo. Die Nacht hat kaum
den Mantel auf die Stadt am Fluss gelegt,
als Romeo verhüllt zum Treffpunkt eilt.
Dort wartet er, dass sich etwas bewegt
und der Geliebte endlich bei ihm weilt.
Doch welch ein Schreck fährt ihm in Mark und Bein,
es ist nicht Julius, der nun erscheint;
ein Löwe ist’s, er trägt im Maul ein Schwein
und Romeo flieht vor dem graus’gen Feind.

Dabei verliert er sein sehr edles Tuch,
doch merkt er’s nicht, als er sich schnell versteckt.
Der Löwe jedoch merkt’s durch den Geruch.
Er ist mehr neugierig denn als erschreckt
und schnappt es mit dem blutverschmierten Schlund.
Er reißt und zieht’s herum, bis er daran
die Lust verliert und mit der Sau im Mund
von dannen zieht. Und Romeo, der kann
vor lauter Schrecken gar nicht richtig sehn,
dass Julius nun naht. Der findet das Blut
und Romeos zerfetztes Tuch. Zu schön
ist’s, um es zu verwechseln. Und aus Wut
begeht er die Verzweiflungstat, denn er
will ohne Romeo nicht leben. Dann
durchbohrt er sich mit seinem spitzen Speer
das Herz in seiner entblößten starken Brust.
Und Romeo stürzt trauernd voll Verdruss
sich ebenfalls ins Schwert. So kam statt Lust
der Tod zu Romeo und Julius.

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