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BROT - Ein Märchen

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Informationen

 

Es war einmal ein Bäckermeister, der hieß Haribert Weißmehl. Er beschäftigte einen Gesellen - den mürrischen Bartholomäus Mehlsack - sowie zwei Lehrjungen - Lukas Gerstenmehl und Johannes Roggenschrot, die ihm in der Backstube fleißig zur Hand gingen.

In der Backstube gab es aber auch allerhand zu tun. Schon früh um vier wurde der große Ofen angeheizt, Teig mußte bereitet, kleine und große, helle und dunkle Brote geformt, Quarkstrudel gebacken und süße Streuselschnecken gefertigt werden. Morgens um sieben, wenn die ersten verschlafenen Kunden ihre Frühstücksbrötchen kaufen kamen, war der Arbeitstag für den Bäcker und seine Gehilfen schon in vollem Gange.

Mittags pflegte Meister Weißmehl seine Backstube für zwei Stunden zuzusperren und sich zum Essen in den nahen Gasthof zu begeben. Der mürrische Geselle stapfte nach Hause zu seiner Frau, und nur die beiden Lehrjungen blieben in der Bäckerei zurück, wo sie ihr mitgebrachtes Mittagessen zu sich nahmen und sich danach ihrer Aufgabe zu widmen hatten, die Backstube zu fegen, die Bleche zu säubern und auch sonst für Glanz und Ordnung zu sorgen.

Eines Tages nun hatte der Meister - wie üblich unter strengen Ermahnungen an seine Lehrlinge, keinen Unsinn anzustellen und ihre Pflichten nicht zu vergessen - die Tür der Bäckerei hinter sich zugesperrt und war zum Gasthof gegangen. Auch Bartholomäus hatte sich bereits auf den Heimweg gemacht, und Lukas stand bereits mit einem Besen mitten in der Backstube und kehrte sorgsam den Boden.

Johannes hingegen lehnte am Fenster und blickte mißmutig dem Meister nach. Dann ließ er sich auf eine Kiste sinken und seufzte.

Lukas sah auf. "Was ist los?" wollte er wissen.

"Nichts", gab Johannes scheinbar gleichgültig zur Antwort, sprang jedoch rasch auf, als er merkte, daß Lukas sich damit zufriedengeben wollte und dabei war, seine Arbeit in aller Ruhe fortzusetzen. "Das heißt", fügte er hinzu und senkte bedeutungsvoll die Stimme, "eigentlich ist eine ganze Menge los." Er machte eine dramatische Pause und offenbarte dann: "Ich bin verliebt!"

"Tatsächlich?" Lukas hob überrascht die Augenbrauen. "In wen denn?"

Johannes legte ihm vertrauensvoll eine Hand auf den Arm und beugte sich dicht zu seinem Ohr. "In die dicke Marie", raunte er verschwörerisch.

Die dicke Marie, die nur noch so hieß, weil sie als kleines Mädchen furchtbar pummelig gewesen war, arbeitete als Bedienung im Gasthof. Johannes hatte sich die vergangenen drei Abende dort herumgedrückt und sein hart verdientes Geld für Bier und Bockwurst ausgegeben, um seiner Angebeteten nahe zu sein.

"Sie ist ein Engel", schwärmte er, "der durch den Schankraum schwebt. Zweimal hat sie mich angelächelt, und später hat sie sich dann zu mir an den Tisch gesetzt."

"Wirklich?" Lukas war ganz Ohr. So etwas hätte er seinem Freund nie zugetraut - schließlich waren sie noch lange keine Gesellen, denen es anstand, sich mit Mädchen abzugeben. Andererseits hatte Johannes Schneid, wie er neidlos zugeben mußte. Er wirkte älter als er tatsächlich war, und mit seiner Selbstsicherheit, seinem markanten Gesicht und den blonden Locken machte er sicherlich Eindruck auf die Frauen.

Sich selbst fand Lukas im Vergleich dazu eher unauffällig. Seine dunklen Haare ließen sich nur schwer bändigen, er war eindeutig zu mager für seine Größe, obwohl er für drei essen konnte, und wenn er mit fremden Menschen sprechen sollte, geriet er schnell ins Stocken und lief rot an.

"... und außerdem haben wir uns für Sonnabend zum Tanz verabredet", schloß Johannes gerade seine langatmigen Ausführungen. Er strahlte.

Lukas konnte nur nicken. Er war tief beeindruckt. Erst am vergangenen Wochenende hatte er erlebt, wie Marie einem Tischlergesellen einen Korb gegeben hatte, und nun wollte sie mit Johannes zum Tanz!

"Ich bin eben unwiderstehlich", lachte Johannes, als er Lukas' verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte.

"Aber", wandte Lukas ein, der nun seine Fassung wiedererlangt hatte, "was ist, wenn sie nun möchte, daß du sie... Ich meine, beim Tanz ist sowas üblich, hab ich gehört, was also, wenn du sie küssen sollst?"

Johannes zuckte mit den Schultern. "Das wird sich dann schon ergeben."

"Hast du denn schon einmal ein Mädchen geküßt?"

"Nein. Du?"

Lukas schüttelte den Kopf.

"So schwer wird das schon nicht sein", winkte Johannes ab. Aber innerlich war er doch verunsichert. Was, wenn er etwas falsch machte? Wenn Marie seine Küsse nun kindisch fand? Oder zu stürmisch? Oder gar furchtbar schlecht? "Ich hab eine Idee", verkündete er und sprang auf. Rasch begann er damit, eine große Menge Brotteig aus dem Holzbottich, in dem der Teig nach der Zubereitung ruhte, herauszuklauben und auf den bemehlten Arbeitstisch zu klatschen. Einige Minuten arbeitete er schweigend, dann wies er Lukas an, die Glut des Ofens zu überprüfen.

Lukas sah ihm über die Schulter, als er sein Werk betrachtete und es auf einem Backblech vorsichtig in den heißen Ofen schob: Johannes hatte aus dem Teig eine Figur geformt. Mit wallendem Kleid und langem Haar. Zwei Rosinen bildeten die Augen und zwei dicke Teiglippen den Mund. Ungeduldig warteten die beiden, bis der Teig durchgebacken war, dann holten sie das Bleck aus dem Ofen und ließen die Figur abkühlen.

"Siehst du", erklärte Johannes gewitzt, "jetzt kann ich üben. Das hier ist Marie." Er umfaßte die Brotfigur zärtlich. "Marie, mein Morgen- und mein Abendstern, ich liebe dich", säuselte er und drückte seine Lippen auf den Mund des Brotmädchens. "Es ist ganz einfach", stellte er fest. "Mit ein bißchen mehr Übung bin ich am Sonnabend gut gewappnet." Er drehte sich zu Lukas um. "Und was ist mit dir? Möchtest du auch mal probieren? Man kann das Küssen nicht früh genug erlernen." Er lachte und hielt ihm die Brotfigur entgegen.

Lukas runzelte die Stirn. "Ich kann doch nicht dein Mädchen küssen", gab er zu bedenken.

Johannes stutzte. "Das ist wahr." Er legte die Brotmarie sorgsam beiseite und klaubte erneut Brotteig aus dem Bottich. "Wer würde dir denn gefallen?" wollte er wissen und lachte auf. "Die Susanne vom Hühnerhof? Oder Schinkenmayers Ottilie?" Unter seinen Händen entstand und veränderte sich die Teigfigur. Mal machte er ihr langes Haar, dann überlegte er es sich anders und fertigte einen Dutt oder gab ihr einen langen Zopf. "Jetzt sieht sie aus wie die Hanna von Eisennagels", freute er sich.

Lukas, der schweigend neben ihm gestanden und sein Treiben beobachtet hatte, meinte ebenfalls eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Teigfigürchen und der Tochter des Hufschmieds zu erkennen.

"Also sie?" fragte Johannes verschmitzt.

Lukas schüttelte den Kopf. Nein, keine der unter Johannes' geschickten Händen entstandenen und wieder vergangenen Mädchen schien ihm die Richtige. "Laß mich das einmal selbst versuchen", bat er, und sie tauschten die Plätze. Lange starrte Lukas auf den Teigklumpen auf der Tischplatte und dachte nach. Horchte tief in sich hinein und wartete darauf, daß sein Herz ihm Antwort gäbe. Dann schließlich begann er - zögernd anfangs noch, dann aber immer sicherer werdend - den Teig zu kneten und zu formen.

Johannes kicherte. "Was tust du denn da? Das wird ja ein Weib in Männerhosen! Und das Haar ist doch auch viel zu kurz! Nicht einmal Pillendoses Jutta hat so kurzes Haar, und die trägt immer die neueste Stadtfrisur spazieren! Du liebe Güte, ein Lehrling im ersten Jahr kann das ja besser!"

Lukas ließ sich von den Spötteleien des Freundes nicht aus der Ruhe bringen. Er vollendete sein Werk, setzte zwei Rosinen als Augen ein und bettete die Teigfigur sorgsam auf das Backblech.

"Du willst das doch nicht wirklich backen, oder?" Johannes lachte. "Der Meister wird dich mit dem Besenstock verprügeln, wenn er sieht, weil du mit seinem Teig herumgemanscht hast!"

"Na, und du etwa nicht?" gab Lukas entrüstet zurück und schob das Blech in den Ofen.

"Ich habe immerhin die liebreizende Marie nachgebildet! Ich werde sie ihm abkaufen und der echten Marie als Geschenk mitbringen. Du aber... Ich weiß nicht, was du mit diesem Brotmännchen anfangen willst."

"Das wirst du schon sehen", erklärte Lukas ärgerlich. Nachdem auch seine Brotfigur fertiggebacken war und Zeit zum Auskühlen gehabt hatte, betrachtete er sie noch einmal eingehend. Nein, ein Mädchen war das beim besten Willen nicht, sondern eindeutig ein Junge, ein junger Mann vielleicht, dessen Rosinenaugen seltsam lebendig unter einem dichten Teighaarschopf hervorschauten. Und die erstaunlich gut gelungenen Brotlippen schienen Lukas heimlich zuzulächeln, als er die Figur vorsichtig hochnahm.

"Was machst du denn nun?" Johannes bemühte sich inständig, nicht in lautes Lachen auszubrechen.

"Das gleiche wie du", knurrte Lukas ihn an. "Ich werde küssen lernen."

Johannes fiel vor Lachen fast vom Stuhl. "Du lieber Himmel, Lukas! Gib mir ein paar Minuten, und ich backe dir die schönste Frau, die jemals aus Teig geformt wurde! Die kannst du dann küssen, solange du willst."

"Ich will aber nicht", gab Lukas zurück. "Du hast deine Brotfigur, ich habe meine, und genau diese werde ich auch küssen." Noch einmal warf er einen Blick auf sein Werk, dann schloß er die Augen. Zu seiner Verwunderung tauchte vor seinem inneren Auge ein Gesicht auf, das merkwürdig an seine Brotfigur erinnerte. Nur war es ein echter Mensch, der ihn anschaute. Der Mensch lächelte, und seine dunklen Augen funkelten wie kleine Sterne. Er streckte die Hand aus und strich Lukas sanft über die Wange. Dann näherte er seinen Mund dem von Lukas, und als sich ihre Lippen berührten, vermeinte Lukas kurz, den Geschmack von frischem Schwarzbrot zu verspüren. In diesem Moment zuckte ein heller Blitz durch seinen Kopf.

Zeitgleich mit der Gestalt in seiner Vorstellung hatte Lukas die Brotfigur geküßt, die er in den Händen hielt, und auch hier gab es einen Blitz. Ein gleißend helles Licht erfüllte für die Zeitspanne eines Wimpernschlages die Bachstube, und Johannes hatte kaum Zeit, einen entsetzten Schrei auszustoßen und die Hände schützend vor die Augen zu schlagen, da war auch schon alles vorbei. Er blinzelte geblendet und hätte um ein Haar erneut aufgeschrieen. Sie waren nicht mehr allein in der Backstube. Dicht vor Lukas stand ein Junge, kaum älter als sie beide. Und was fast noch verwirrender war: Die beiden schienen völlig in einem langen Kuß versunken, so daß sie Johannes überhaupt nicht bemerkten, der völlig übertölpelt dastand und sie anstarrte.

Endlich, nach schier endloser Zeit löste Lukas seine Lippen von denen des Jungen, öffnete die Augen und fuhr erschrocken zurück. "Ich... Wer...? Was...?" stammelte er verwirrt.

Der Fremde lächelte und seine braunen Augen, die lebhaft unter seinem dichten Haarschopf hervorschauten, funkelten wie kleine Sterne. "Danke", sagte er.

Lukas schluckte. "Wer... bist du?"

"Ich bin Jonas vom Rabenstein", stellte sich der Junge vor und fuhr fort, Lukas anzulächeln. "Vor langer Zeit hat mich mein Meister verflucht. Er war ein großer Magier, was niemand wußte, aber ein miserabler Bäcker, was jeder bemerken konnte. Ich hatte es gewagt, bereits als Lehrjunge besseres Brot zu backen als er, und er wußte, daß seine Kunden mein Brot sehr viel höher schätzten als das seine. Wenn ich erst ausgelernt hätte, wäre niemand mehr zu ihm nach Brot gekommen, er hätte all seine Kundschaft an mich verloren." An dieser Stelle errötete Jonas leicht, ganz so, als sei es ihm peinlich, derart mit seinem Können aufzuwarten. "Er hat mich verflucht und meine Seele an diesen alten Teigbottich gefesselt. Und ich konnte erst erlöst und wieder Mensch werden, wenn jemand käme, der mich lieben würde - ohne zu wissen, daß es mich gibt. Du", er nahm Lukas' Hand und legte sie an die Stelle seiner Brust, wo deutlich und kraftvoll sein Herz schlug, "hast mich erlöst."

Johannes hatte seine Fassung wiedergefunden. "Aber wieso er und nicht ich?" wollte er wissen und deutete auf die Brotmarie.

"Sie ist ein Mädchen", gab Jonas freundlich zurück. "Und sie ist real. Lukas hingegen hatte keine konkrete Vorstellung im Kopf, als er seine Brotfigur schuf. Und", er lächelte, "vor allem keine Mädchen."

Lukas lächelte zaghaft zurück. Er war noch immer sehr durcheinander, doch eines wurde ihm immer stärker bewußt: Jonas übte eine enorme Anziehungskraft auf ihn aus. Sein Lächeln, seine Blicke, seine Stimme, all das war dazu angetan, Lukas' ganzen Geist gefangenzunehmen und seinen Körper in Aufruhr zu versetzen. Sein Magen kribbelte, als säßen tausend Ameisen darin, und jedes Mal, wenn Jonas ihn ansah, wurden seine Knie weich wie Pudding. "Ich möchte", sagte er leise, "dich etwas fragen..."

Jonas ließ seine Hand los, die er noch immer festgehalten hatte, und blickte ihn aufmerksam an. "Was ist es?"

"Darf..." Lukas schluckte trocken. "Darf ich dich noch einmal küssen?"

"Einmal?" Jonas lachte erleichtert auf. "Du darfst mich zweimal, hundertmal, tausendmal küssen. Mein Leben lang, wenn du möchtest." Er sah Lukas in die Augen und fragte leise: "Möchtest du?"

Und ob er mochte. Zwei-, hundert-, tausendmal und noch viel öfter. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben und lieben sie sich noch heute.

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