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Eight days a week
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Informationen
- Story: Eight days a week
- Autor: abraxas
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Inhaltsverzeichnis
Montag
„Guten Morgen, Herrschaften!“ Pünktlich mit dem Klingelzeichen betritt Pummel den Klassenraum. Pummel ist unser Mathelehrer und heißt eigentlich Herr Pommel, allerdings paßt der Spitzname, der ihm schon vor Unzeiten von seinen Schülern verpaßt wurde, wesentlich besser, denn Herr Pommel ist – nun ja, sehr dick eben. Und etwa so hoch wie breit. Wenn er durch die Schulflure läuft, sieht es aus, als würde eine große Kugel mit Rauschebart auf einen zurollen. Dennoch hat er den Respekt der gesamten Schülerschaft. Nicht daß er besonders streng wäre; er verhält sich einfach sehr fair uns gegenüber, und das rechnen wir ihm hoch an.
Montags haben wir im ersten Block Mathe-Grundkurs. Neunzig Minuten Wahrscheinlichkeitsrechnung – nicht wirklich jedermanns Sache. Meine jedenfalls nicht. In der zwölften haben sich alle mit diesen verzwickten Integralrechnungen abgequält; ich fand sie toll. Logisch und nachvollziehbar, man mußte nur aufpassen, daß man keine blöden Schußligkeitsfehler reinbrachte, dann lösten sie sich wunderbar in Wohlgefallen auf. Das war wenigstens klar und eindeutig! Diese dämliche Wahrscheinlichkeit hingegen… Irgendwo in meinem Kopf fährt da immer eine Wand hoch, und dann geht gar nichts mehr. Ich kann bald keine Baumdiagramme mehr sehen.
„Ich hoffe, Sie hatten ein angenehmes Wochenende und hatten auch Gelegenheit, den einen oder anderen Blick in Ihr Mathebuch zu werfen.“ Ach ja, Pummel steht ja schon an der Tafel. Sein fröhliches Dauergrinsen wird von den meisten Schülern mit einem müden Gemurmel quittiert.
Auch ich hebe nur kurz die Augen, um ihm einen genervten Blick zuzuwerfen, erstarre jedoch überrascht: Pummel steht nicht allein vor der Klasse. Neben ihm steht noch jemand. Ein Junge (oder sagt man junger Mann? Einige von uns sind immerhin schon neunzehn.), den ich noch nie zuvor gesehen habe. Da bin ich mir ganz sicher, denn den hätte ich mir garantiert gemerkt. Allein schon die Klamotten: Schwarze Docs (genau solche, wie ich sie mir schon seit Jahren zulegen will), schwarze Lederhose mit Nietengürtel und darüber ein enganliegender, etwas zerschlissener, grobmaschiger, dunkelroter Wollpullover, der mehr zeigt als verdeckt (Darunter trägt er nämlich kein T-Shirt!). Dazu nachtschwarze, dichte Locken, die ein auffallend blasses Gesicht einrahmen. Um die dunklen Augen herum hat er sich eine Menge Kajal geschmiert, was seine gruftige Erscheinung noch unterstreicht. Obwohl – tragen Grufties rote Wollpullover? An seiner linken Hand, deren Daumen er lässig hinter eine Gürtellasche geklemmt hat, blitzen mindestens drei silberfarbene Ringe. Außerdem sind seine Fingernägel lackiert! Schwarz natürlich. Meine Eltern würden mich wahrscheinlich enterben, wenn ich so herumlaufen würde. Die rechte Hand kann ich nicht genau erkennen, mit ihr hält er seinen Rucksack.
„Herrschaften, darf ich Ihnen Ihren neuen Mitschüler vorstellen? Das ist Friedrich Baum.“ Pummel machte eine ausladende Handbewegung. „Setzen Sie sich, Herr Baum.“
Friedrich?! Was ist das denn für ein bekloppter Name? Er selbst scheint damit offenbar keine allzu großen Probleme zu haben. Gemächlich sieht er sich um und schlendert dann auf meinen Tisch zu.
„Ist hier noch frei?“ Für so eine Stimme würden manche Schauspieler glatt einen Mord begehen. Schwer zu beschreiben, so fest und dennoch weich, ein bißchen dunkel und trotzdem nicht zu tief, ein wenig wie – schwarzsamtiger Zuckerrübensirup. Das trifft es vielleicht noch am ehesten. Ähm…
Ich nicke nur. Robert, der bis zum Sommer mein Banknachbar war, mußte die Schule wechseln, nachdem er in seinem Leistungskurs total versagt und keine Möglichkeit hatte, ihn an unserer Schule zu wiederholen. Na ja, wer macht auch schon freiwillig Französisch als Leistungskurs?
„Fein.“ Friedrich knallt seinen Rucksack auf den Tisch und läßt sich auf den Stuhl neben mir fallen. „Hast du ein Blatt für mich?“
Ich reiße ihm gleich drei aus meinem Hefter, was mir einen amüsierten Seitenblick einbringt.
Der Rest der Klasse ist ebenfalls noch ganz paralysiert. Einige der Jungen verziehen zwar geringschätzig die Gesichter, aber für die Mädchen scheint Friedrich eindeutig der neue Star zu sein. Wenn ich mich nicht irre, geifert Melanie sogar. Die meisten haben zumindest einen derart verzückten Gesichtsausdruck, daß ich mir ernsthaft Sorgen um Friedrich machen muß. Bestimmt werden sie gleich über ihn herfallen. Zum Glück kommt Pummel dazwischen.
„Wiederholen wir erst einmal, was wir letzte Woche durchgenommen haben“, dröhnt seine Stimme durch den Raum und holt auch den letzten aus seiner Lethargie. „Wer möchte an die Tafel?“
Friedrich hat einen Bleistift aus seinem Rucksack gekramt und schreibt aufmerksam mit.
In der Hofpause wird Friedrich umlagert. Vor allem die Mädchen sind wirklich penetrant. Jede möchte ihm am nächsten sein, ihn am liebsten anfassen, und wenn sie nicht aufpassen, fallen ihnen bestimmt noch die Augen aus dem Kopf. Ich bin ja auch neugierig, halte mich aber unauffällig im Hintergrund. Man muß sich doch nicht gleich so ranschmeißen, das ist ja schon peinlich.
Friedrich scheint dieser Trubel nichts auszumachen. Wirklich begeistert wirkt er zwar nicht, aber er stößt auch niemanden vor den Kopf, sondern beantwortet geduldig alle Fragen: Daß er aus Rostock kommt, daß er von der Schule geflogen ist (wobei er sich über die Gründe ausschweigt), daß er wegen eines Fehlers in der Schulverwaltung erst heute, zwei Wochen nach Schuljahresbeginn, bei uns gelandet ist, daß er jetzt in Friedrichshain wohnt (Wieso lacht eigentlich niemand außer mir an dieser Stelle? Friedrich hebt wenigstens den Kopf und grinst mich an.), daß er Deutsch und Englisch als Leistungskurse belegt hat (was bedeutet, daß er mir dort häufiger über den Weg laufen wird), daß er schon neunzehn ist, daß seine Ringe aus Silber sind (er hat an der rechten Hand tatsächlich noch einmal zwei), daß er ein Einzelkind ist und so weiter.
Jochen, der gleich mir ein wenig außerhalb des dichten Menschenknäuels steht, mustert ihn über die Köpfe der Mädels hinweg mit einem finsteren Blick. „Und was sollen die schwule Aufmachung?“, will er mit drohendem Unterton in der Stimme wissen. „Bist du ’ne Schwuchtel, oder was?“
Die Mädchen drehen sich aufgebracht zu ihm um, und auch ich bin ziemlich empört. Okay, Jochen ist jemand, der – im Gegensatz etwa zu mir – in unserer Klassenstufe was zu sagen hat. Er ist sowas wie der Wortführer, aber manchmal auch nur ein dämliches Großmaul (was ihm aber niemand offen ins Gesicht sagt, der den Tag unbeschadet überleben will). Zu seiner Clique zählen die angesagtesten Schüler unseres Jahrgangs, und die schicke Melanie, die eben noch Friedrich angehimmelt hat, ist natürlich seine Freundin. Vielleicht ist er deswegen so angepißt, aber das gibt ihm doch noch lange nicht den Grund, Friedrich so zu beleidigen! Hallo? Tuckt der etwa rum? Wackelt er beim Laufen mit dem Hintern? Geifert er jedem Arsch hinterher? Hat er etwa eine näselnde Stimme? Sieht er aus wie ein Schlaffi? Und wo bitteschön ist seine Federboa? Friedrich ist doch nicht schwul! Never! Der ist einfach nur – ziemlich strange. Und offenbar sofort ziemlich beliebt. Wahrscheinlich hat Jochen einfach Angst um seinen Rang.
„Bist du schwul, oder was?“, wiederholt Jochen herausfordernd.
Friedrich hebt den Blick und sieht ihn eine Weile gelassen an. Dann lächelt er nachsichtig. „Ja. Und? Hast du ein Problem damit, Babe?“
Jochen bleibt der Mund offen stehen. Mit dieser Antwort hat er wohl nicht gerechnet. Ich allerdings auch nicht. Es sind die Mädels, die – wie immer – als erste schalten und lautstark ihrem Bedauern Ausdruck verleihen:
„Bist du dir sicher?“
„Oooch, typisch! Immer die interessantesten Männer…!“
„Schade!“
Die Schulklingel beendet die Hofpause und damit auch meine Paralyse. Ich bekomme gerade noch mit, wie Friedrich mir fröhlich zuzwinkert, dann ist er im dichten Gewimmel an den Eingängen verschwunden.
Jochen, der immer noch neben mir steht, klappt seinen Mund zu und setzt einen finsteren Blick auf. „Na warte“, höre ich ihn knurren, bevor auch er im Schulgebäude verschwindet.
Von der folgenden Doppelstunde Chemie bekomme ich nicht wirklich viel mit. Glücklicherweise experimentieren wir heute nicht mit irgendwelchen explosiven Stoffen (Wann tun wir das überhaupt?). Meine Gedanken kreisen viel zu sehr um das Problem Friedrich. Problem? Eigentlich habe ich keins mit ihm. Ich kenne ihn ja kaum. Immerhin weiß ich, daß er keinen Chemie-Grundkurs besucht. Also wird er sich wohl mit Bio herumschlagen. Auch nicht besser. Und ich weiß, daß er schwul ist. Habe ich damit vielleicht ein Problem? Ich kannte bisher niemanden, der es ist. Mein Wissen bezog ich vorwiegend aus dem Biounterricht, Spielfilmen und anzüglichen Witzen, die auf dem Schulhof und besonders im Sportumkleideraum kursieren. Gut, ich gebe es zu: Ich habe keine Ahnung! Scheiße, warum ausgerechnet Friedrich? Ich war doch gerade dabei, ihn sympathisch zu finden.
Den Abschluß dieses Tages bildet die Doppelstunde Deutsch. Ich sitze bereits auf meinem Platz an der linken Seite der u-förmig angeordneten Tische, als Friedrich den Raum betritt. Wie selbstverständlich hält er auf mich zu.
„Sitzt du hier auch allein?“
Ich nicke. In jedem Kurs eine andere Sitzordnung, das kann einen wahnsinnig machen. Aber man gewöhnt sich dran. Ich hab es seit Beginn der zwölften Klasse so eingerichtet, daß ich meist eine ganze Bank für mich habe. Nur in Mathe, Chemie und Kunst saß Robert neben mir.
„Hast du was dagegen, wenn ich neben dir sitze?“ Friedrich steht immer noch neben meinem Platz und sieht mich aufmerksam an.
„Nein“, erwidere ich unsicher. „Wie kommst du darauf?“
„Nur so.“ Er legt den Kopf schief und lächelt. „Hast du Angst vor mir? Ich beiße nicht.“
Bei seinem Äußeren wäre ich mir da nicht so sicher. Wer sagt mir denn, daß er nicht nachts heimlich durch die Gegend fliegt und unschuldige Jungfrauen aussaugt? Oder wohl eher Jungmänner?
„Wie ist der Meier?“ Friedrich hat platzgenommen und einen Blick in seinen Stundenplan geworfen.
„Ganz okay. Solange du dir vorstellen kannst, ein Wildschwein zu sein.“ Ich muß grinsen, als er mich verwirrt ansieht. „Du wirst es schon merken: Meier ist – seltsam. Aber in Ordnung. Übrigens hoffe ich, du kannst den Faust auswendig. Wenigstens der Tragödie ersten Teil.“
Friedrichs Gesichtsausdruck ist wunderbar. Es ist sonnenklar, daß er nur Bahnhof versteht.
„Meier“, erkläre ich, „ist Faustianer mit Leib und Seele. Mach dich auf einen reichen Zitatesegen gefaßt.“
„Verstehe.“ Friedrich wirft mir einen Blick zu, der seine Worte Lügen straft, und wechselt das Thema. „Sag mal, hast du was gegen mich?“
Ich merke, wie ich rot werde. „Nein, wieso?“
„Na ja, du warst vorhin so…“, er sucht nach einem passenden Wort, „… abweisend. Kann es sein, daß du ein Problem damit hast, daß ich schwul bin?“
Ich werde noch eine Spur röter, wenn das überhaupt möglich ist, und senke den Blick. „Nein, ich, ähm…“ Das Thema hatte ich tatsächlich gerade für einen Moment völlig verdrängt. „Ich weiß nicht“, gebe ich zu. „Ich kenne sonst keine Schwulen.“
Friedrich unterdrückt mühsam ein Grinsen. „Das glaubst aber auch nur du. Nur weil sich niemand in deiner näheren Umgebung outet, heißt das noch lange nicht, daß keiner der Leute, die du kennst, schwul ist. Oder lesbisch. Du kennst die Quote?“
„Welche Quote?“
„Schätzungsweise zehn Prozent der Menschheit sind homosexuell. Wahrscheinlich sogar mehr.“ Jetzt muß er doch grinsen. „Und jetzt rechne mal nach.“
Das tue ich tatsächlich. „Das hieße ja, daß es allein an unserer Schule sechzig Lesben und Schwule gäbe“, flüstere ich ihm zu, denn inzwischen hat es geklingelt und Meier hat die Stunde begonnen.
Friedrich blinzelt mir zu und legt den Finger auf die Lippen. Offenbar will er lieber Meiers Ausführungen über den Vormärz lauschen. Auch ich versuche, mich auf Georg Büchner, Ludwig Börne und Heinrich Heine zu konzentrieren, doch so ganz will mir das nicht gelingen – und dabei ist Deutsch mein unangefochtenes Lieblingsfach. Sechzig Schüler – das sind verdammt viele. Wer könnte dazu gehören? Friedrich, klar. Aber bleiben immer noch neunundfünfzig. Komisch, daß niemand von ihnen bisher auf sich aufmerksam gemacht hat. Andererseits kann ich das verstehen: Wer macht sich schon freiwillig zur Zielscheibe von Spott und Haß? Der einzige, der sich darum nicht zu kümmern scheint, ist Friedrich. Ob ich will oder nicht, sein Verhalten nötigt mir zumindest Respekt ab.
Die Klingel schreckt mich aus meinen Gedanken.
„So, meine Damen und Herren“, bekomme ich gerade noch Meiers letzte Anweisungen mit, „hier vorn können Sie sich jetzt Ihr Exemplar des Danton abholen. In zwei Wochen werden wir dann darüber sprechen, bis dahin sollten Sie das Werk gelesen haben. Wir sehen uns dann morgen wieder.“
Friedrich bringt mir ein Exemplar des Buches mit, während ich noch meine Sachen zusammenpacke. Er scheint von Büchner wirklich ganz angetan zu sein. „Ich hab den Danton schon einmal gelesen“, erklärt er begeistert. „Das Stück ist wirklich großartig. Und Büchner war erst zweiundzwanzig, als er es geschrieben hat.“
„Er ist ja auch an sich nicht sehr viel älter geworden“, werfe ich ein, um zu zeigen, daß ich auch ein bißchen Ahnung von der Materie habe, und schultere meinen Rucksack.
Friedrich nickt nachdenklich und greift nach seiner Tasche. „Hast du jetzt noch einen Kurs?“
Ich verneine. Montags reichen mir sechs Stunden vollkommen aus.
„Ich auch nicht.“ Friedrich sieht mich mit einem merkwürdigen Lächeln an, das mich ärgerlicherweise sofort wieder rot anlaufen läßt. „Dann können wir ja ein Stück zusammen gehen. Wo wohnst du denn?“
Ich nenne ihm die Straße.
„Cool, das ist ja fast bei mir um die Ecke. Ich wohne in der Scharnweber.“ Friedrich scheint sich wirklich zu freuen.
Als wir den Schulhof überqueren, sehe ich Jochen mit einigen Typen aus seiner Clique in der Raucherecke stehen. Die Blicke, die sie Friedrich nachsenden, kann man beim besten Willen nicht freundlich nennen, aber ihn scheint das nicht zu stören.
Die U-Bahn ist – wie üblich um diese Zeit – brechend voll. Wir bleiben an der Tür stehen. Es sind ja nur ein paar Stationen. Als wir am Bahnhof Samariterstraße aussteigen schüttelt sich Friedrich wie ein Hund.
„Ich hasse Menschenmassen“, erklärt er knapp, als er meinen fragenden Blick bemerkt. „Eigentlich“, fügt er nachdenklich hinzu, „glaube ich manchmal, ich hasse Menschen an sich.“
„Kenne ich“, sage ich nur.
Inzwischen haben wir die Erdoberfläche erreicht und stehen an der stark befahrenen Frankfurter Allee.
„Ich muß dann da lang“, erkläre ich und weise nach rechts.
„Ich weiß.“ Friedrich sieht mich einen Moment lang an, als wolle er mir noch etwas sagen. Dann scheint er sich jedoch anders zu entscheiden. „Bis morgen.“
„Ja, bis dann.“ Ich drehe mich um und mache mich auf den Heimweg.
Dienstag
Ich stehe vor dem Spiegel, der noch etwas beschlagen vom Duschen ist, und betrachte eingehend mein nacktes Spiegelbild. Meine dunkelbraunen Haare kleben reichlich verwuselt an meinem Kopf und tropfen mir Wasser in den Nacken. Vereinzelt ringelt sich eine der langen Strähnen, aber im Vergleich zu Friedrichs Locken wirkt das geradezu lächerlich. Ärgerlich streiche ich sie mir aus der Stirn und bin, wie so oft, unzufrieden mit mir und meinem Körper. Er wirkt immer noch viel zu schlaksig. Kein Wunder, daß mich mein Vater immer Hungerharke nennt und über meine schlechte Futterverwertung lästert. Die Rippen zeichnen sich deutlich ab; die Arme wirken irgendwie zu dünn und meine Hüftknochen scheinen sich jeden Augenblick durch die dünne Haut bohren zu wollen. Was ich auch tue, es wollen sich einfach keine Muskeln zeigen, und nicht einmal das winzigste Fitzelchen Fett hat offensichtlich Lust, sein restliches Dasein auf meinem dürren Gerippe zu verbringen. Ich meine, mit fünfzehn oder sechzehn kann man so aussehen, aber doch nicht mehr mit achtzehneinhalb! Das einzige, mit dem ich wirklich zufrieden bin, sind meine Schultern. Die sind genau so, wie sie sein sollen: Leicht schräg abfallend, griffig, schön rund, mit einem fast perfekten Übergang zum Oberarm. Aber wer interessiert sich schon für meine Schultern? Wenn ich den Pausengesprächen unserer Mädchen Glauben schenken soll, haben die ganz andere physische Ansprüche; und ein Sixpack ist dabei noch das harmloseste.
Jochens Clique ist ja hingegen der Meinung, daß es nur auf einen bestimmten Muskel wirklich ankommt. Aber da kann ich erst recht nicht mitreden. Das weiteste, bis zu dem ich es bei einem Mädchen bisher gebracht habe, ist, daß ich ihre Brüste anfassen durfte. Ich weiß nicht, was die anderen daran so toll finden; mir war das ganze eher ein bißchen peinlich, aber ihr hat es offenbar gefallen. Sie hieß Claudette, es war im Urlaub in Frankreich und liegt somit auch schon wieder ein paar Monate zurück. Ich bin offenbar ein hoffnungsloser Spätzünder. Für die Mädels aus meinem Jahrgang bin ich bestenfalls der liebe Kumpel, mit dem man ein bißchen rumblödeln kann. Die meisten von ihnen sind sowieso schon liiert. Keine Chance also für mich.
Seufzend wende ich dem Spiegel den Rücken zu und greife nach meinen Shorts. Ich muß mich beeilen, wenn ich nicht zu spät kommen will.
Offensichtlich ist Friedrich ein anderer PW-Kurs zugeteilt worden als mir; da alle Schüler, die nicht zu den Spezis gehören, die den Geschichts- oder Erdkunde-Leistungskurs besuchen, Politische Weltkunde im Grundkurs belegen müssen, gibt es allein in unserer Klassenstufe vier davon. Jedenfalls sehe ich ihn heute erst in der Hofpause, genauer gegen Ende. Denn unsere PW-Lehrerin hatte nach der Stunde nichts besseres zu tun, als mich noch stundenlang aufzuhalten, um mein Referat für die kommende Woche zu besprechen. Nerv.
Als ich endlich auf den Hof hinaustrotte, ist die Pause schon fast vorbei. Friedrich ist, wie schon am Vortag, von seinen weiblichen Fans umlagert, die ihn immer noch wahnsinnig interessant und ach so spannend finden. Was die von ihm wollen, ist mir allerdings schleierhaft. Auf jeden Fall ist er viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken.
Als es klingelt, werfe ich den Rest des Apfels, an dem ich die wenigen Minuten, die mir von der Pause geblieben sind, geknabbert habe, in den nächstbesten Mülleimer und reihe mich in den breiten Strom der Schüler ein, die zum Eingang des Schulgebäudes streben. Ein ganzes Stück vor mir, schon fast an der Tür, sehe ich Friedrichs roten Pullover aufblitzen, dann schiebt sich Olaf der Wikinger hinter ihn und verdeckt ihn fast komplett. Der Schülerstrom kommt plötzlich ins Stocken, ein Gerangel an der Tür, dann geht es wieder reibungslos weiter. Aber irgend etwas ist geschehen, ich habe gesehen, wie Friedrich ins Straucheln geriet, bevor er im Gebäudeinneren verschwand. Nur mit Mühe komme ich schneller voran, drängle mich durch die Massen und zwänge mich halb zerquetscht durch die Eingangstür, die viel zu schmal ist für den Schüleransturm. In einem toten Winkel neben der Treppe entdecke ich ihn. Friedrich lehnt an der Wand und preßt sich ein Taschentuch auf die Nase. Er blickt überrascht auf, als ich neben ihn trete.
„Komm.“ Eigentlich kann ich ja kein Blut sehen, aber soll ich ihn einfach da stehen lassen? Ich schiebe ihn vor mir her zu den Toilettenräumen.
Die Schüler, denen wir auf dem Flur begegnen, kucken zwar etwas merkwürdig, lassen uns aber in Ruhe. Aufatmend schließe ich die Tür hinter uns, werfe meinen Rucksack in eine Ecke und wende mich Friedrich zu. Seine Nase blutet immer noch.
„Hast du das öfter?“ frage ich arglos, während ich ein reichlich zerknittertes schwarzes Halstuch aus meinem Rucksack krame.
Friedrich lacht wütend auf. „Ungefähr jedes Mal, wenn mir jemand seinen Ellenbogen ins Gesicht stößt“, knurrt er und hält seinen Kopf über eines der Waschbecken, während er sich mit der freien Hand am Beckenrand abstützt.
Ich blicke verwirrt zu ihm hinüber. „Willst du damit sagen, das war Absicht?“ Mir fällt Olaf der Wikinger ein. Der ist immerhin einer von Jochens engsten Freunden. Und Jochens haßerfüllten Gesichtsausdruck habe ich noch verdammt gut in Erinnerung.
Friedrich zuckt nur mit den Schultern. Ich drehe das kalte Wasser auf und halte das Tuch unter den Strahl, bis es völlig durchgeweicht ist.
„Nimm den Kopf noch ein Stück herunter“, weise ich Friedrich an und wringe das Tuch leicht aus. Dann lege ich es ihm in den Nacken.
Die Schulklingel kündet den Beginn der nächsten Stunde an. Wir werden zu spät kommen, aber das ist mir im Moment egal. Wichtiger ist, daß Friedrichs Nasenbluten tatsächlich nachläßt. Nach einer Weile richtet er sich auf und gibt mir das Tuch zurück.
„Danke.“ Er wäscht sich das Gesicht und wirft dann einen prüfenden Blick in den Spiegel. „Wie sehe ich aus?“
Ich betrachte sein Spiegelbild. Unter seinem linken Auge ist der Kajal ein wenig verwischt, aber das fällt nicht weiter auf. „Gut“, sage ich und werde im nächsten Moment auch schon rot. „Ich meine…“, stottere ich, „äh, normal… Also, ähm…“ Scheiße, wie peinlich. Der muß doch denken, ich spinne.
Friedrichs Spiegelbild kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Verstehe.“ Er wendet sich zu mir um und blinzelt. „Du bist süß, Moritz. Wirklich.“ Damit dreht er sich zur Tür. „Kommst du? Wir sind eh schon spät dran.“
Als wir den Englischraum betreten, richten sich sofort alle Augen auf uns. Herr Zänkel, unser Englischlehrer, sieht von seinem Buch auf und mustert uns mit einem ärgerlichen Blick. Er kann es nicht ausstehen, wenn sich jemand zu seinem Unterricht verspätet, und wertet das in der Regel als ein Zeichen persönlicher Geringschätzung.
„Sorry we’re late, but Friedrich didn’t feel well“, murmle ich eine Erklärung und lasse mich auf meinen Platz sinken. Friedrich zieht es vor, gar nichts zu sagen.
„All right“, gibt sich Zänkel gnädig und wendet sich an Jochen, der neben Olaf dem Wikinger in der Fensterreihe sitzt und gehässig mit diesem tuschelt. „Mr. Lehmann, can you speak up a bit, please? I don’t understand, if your talk has anything to do with our lesson.“
Jochen schüttelt den Kopf und schickt einen feindseligen Blick in Friedrichs Richtung.
„In this case keep quite, so that we can go on with our discussion. Lore, can you explain that again, please…?“
Ich krame mein Exemplar von Huxleys Brave new world aus dem Rucksack und schiebe es in die Tischmitte, damit Friedrich mitlesen kann, und so können auch wir nun der Diskussion folgen.
Bevor Jochen und Olaf nach der Stunde den Klassenraum verlassen, bleibt Jochen kurz an meiner Bank stehen. „Wenn ich dir einen guten Rat geben kann“, wendet er sich an mich, „dann den: Halte dich von der Schwuchtel fern. Andernfalls…“ Seine Stimme klingt eiskalt.
„Andernfalls – was?“, hake ich ärgerlich nach. Was soll denn dieses alberne Psychospielchen?
„Andernfalls könnte man annehmen, daß du vielleicht was mit ihm gemein hast?“ Jochen stützt sich mit den Händen auf den Tisch, beugt seinen Oberkörper nach vorn und sieht mich mit haßerfüllten Augen an. „Was habt ihr denn so lange in den Kloräumen getrieben?“ Er richtet sich wieder auf, gibt Olaf einen Wink und verläßt den Raum. Der Wikinger wirft mir noch einen Handkuß zu, bevor er ihm folgt; sein brutales Grinsen dabei läßt mich erschaudern. Das war eine eindeutige Drohung.
„Tut mir leid.“ Friedrichs Stimme reißt mich abrupt aus meinen Gedanken.
„Was?“
„Tut mir leid, daß du meinetwegen Ärger hast.“ Er hat bereits seinen Rucksack geschultert und steht abwartend neben der Bank. Seine Augen ruhen nachdenklich auf mir. „Vielleicht solltest du dich wirklich besser von mir fernhalten.“
Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll. Ich bin doch ein erwachsener Mensch, der seine Entscheidungen selbständig treffen sollte. Hab ich es nötig, mit den Wölfen zu heulen, nur weil Jochen den Ton angibt? Andererseits muß ich zugeben, daß ich Angst habe. Olaf ist als notorischer Schläger verschrien, nicht umsonst trägt er seinen Spitznamen. Scheiße. Und dabei habe ich nichts gegen Friedrich. Ich kann ihn eigentlich sogar ganz gut leiden, obwohl er eine Schwuch…, will sagen, obwohl er schwul ist. Und manchmal komische Sachen sagt. Daß ich süß sei, zum Beispiel.
„Denk darüber nach.“ Friedrich steht immer noch vor mir. Und seine Stimme klingt irgendwie enttäuscht. Verdammt noch mal, was soll ich denn seiner Meinung nach machen?
Ich nicke nur kurz und schnappe mir meinen Rucksack. In der nächsten Stunde steht Kunst auf dem Programm. Da sollte mir genug Zeit zum Nachdenken bleiben, allein schon, weil Friedrich Musik belegt hat.
Okay, ich habe wirklich gründlich nachgedacht. Nicht nur während der Kunststunde, sondern sogar noch während der anschließenden Doppelstunde Sport. Da ich aus Mangel an vernünftigen Alternativen Volleyball belegt habe, hatte das zur Folge, daß ich nicht nur meiner Mannschaft keine große Hilfe war, sondern darüber hinaus gleich zweimal den Ball an den Kopf geschmettert bekam, daß ich dachte, ich seh Sterne.
Und jetzt stehe ich hier am Schultor und bin mir immer noch nicht wirklich sicher, was ich machen soll. Ist es einfacher, Jochen und seinen Anhang zum Feind zu haben, oder Friedrich zu enttäuschen? Daß er maßlos von mir enttäuscht sein würde, ist klar. Wäre es nicht sowas wie Verrat, wenn ich mich aus vorgeschobenem Selbstschutz von ihm abwenden würde? Was gehen mich eigentlich Jochen und seine Pfeifen an? Bisher haben sie sich einen Dreck um mich geschert. Ihnen paßt es doch bloß nicht, daß ich mich mit Friedrich gut verstehe, der nicht in ihr Weltbild paßt und daher gefälligst von jedem geschnitten werden sollte. Wahrscheinlich sind sie auch eifersüchtig auf ihn, weil die Mädchen trotz allem auf ihn abfahren.
Endlich verläßt Friedrich das Schulgebäude und kommt auf mich zu geschlendert. „Wartest du auf jemanden?“, fragt er ganz unverfänglich. Offensichtlich ist ihm aufgefallen, daß ich bei seinem Auftauchen nicht gleich panikartig davongerannt bin.
„Hm“, mache ich und atme in Gedanken noch einmal tief durch. Eene, meene, muh… Ach Quatsch, leckt mich doch alle am Arsch. „Ich hab auf dich gewartet. Wollte nicht allein fahren.“
Obwohl er sich sehr bemüht, gelassen zu wirken, bemerke ich, daß er sich wirklich freut. „Das paßt ja“, erklärt er unbekümmert. „Ich hab nämlich auch keinen Bock, alleine zu fahren.“
„Sag mal, hast du es eigentlich eilig?“ Wir haben den U-Bahnhof verlassen und stehen am Rand der Frankfurter Allee.
Eigentlich wollte ich mich gerade verabschieden, aber Friedrichs Frage kommt mir zuvor. Ich überlege. „Nö. Nicht wirklich. Wieso?“
„Ach, nur so.“ Friedrich legt den Kopf schief und schaut – verlegen?! „Ich würde dich gern einladen. Auf ‘nen Kaffee. Bei mir.“
Ach, daher weht der Wind. „Wieso das denn?“
„Nur so.“
Na klar. Der will mich doch bestimmt bloß anbaggern. Mich betrunken machen mit, äh, Kaffee. Verdammt, ich sollte mal damit anfangen, meine Vorurteile abzulegen. „Jetzt?“
Friedrich nickt.
Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich schon ein bißchen neugierig. Nach allem, was ich weiß, lebt er ja allein hier. Ohne Eltern. „Na gut“, lenke ich ein. „Aber spätestens um acht muß ich zuhause sein, sonst werden meine Eltern nervös.“ Soll er mich ruhig für ein bißchen paranoid halten.
Klar, ich hätte es mir denken können: Friedrich wohnt in einem dieser bis vor kurzem noch eher halblegal vermieteten Altbaublöcke, im Hinterhof. Und natürlich ganz oben. Ich breche schon in der vierten Etage fast vor Erschöpfung zusammen. Zuhause wohnen wir im ersten Stock. Wenn ich mir vorstelle, all diese Stufen runter- und wieder hochlaufen zu müssen, nur um mal den Müll wegzubringen oder die Zeitung zu holen…
„Da wären wir.“ Friedrich schließt eine Tür auf und schiebt mich in den Flur.
An der linken Wand hängt ein hoher Spiegel mit dunklem Holzrahmen, den ein verschlungenes, keltisches Relief ziert. Auf der oberen Kante des Rahmens räkelt sich ein geflügelter Holzdrache, der mit wachsamen roten Glassteinaugen auf mich herunterspäht. Dem Spiegel gegenüber hängt eine einfache Garderobe. Darunter, auf einem Schuhregal aus hellem Nadelholz, stehen ein Paar weinrote Docs und zwei Paar Basketballschuhe, davon eines schon ziemlich zerschlissen.
Ich lasse meine Schuhe im Flur stehen und folge Friedrich in das einzige, aber ansehnlich große Zimmer der Wohnung. Die Wände des Zimmers sind in einem warmen Rotton gestrichen, jedoch nicht komplett: Jedes rote Feld, also jede Wand, hat quasi einen weißen Rahmen entlang der Seitenkanten, des Bodens und der Decke, die ebenfalls weiß gestrichen ist. Dadurch wirkt die Farbe nicht zu aufdringlich und der Raum behält eine gewisse Leichtigkeit und räumliche Höhe. Rechts von der Tür aus befinden sich zwei hohe Fenster, eines davon reicht bis zum Fußboden und hat ein Metallgeländer. Links liegt in der Ecke anstelle eines Bettes auf einem Lattenrost eine breite Matratze. Daneben steht ein dunkler, massiver Holzschreibtisch und ein hoher Kleiderschrank aus dem gleichen Material. Die gegenüberliegende Wand sieht man so gut wie gar nicht. Sie verschwindet bis unter die Decke hinter überquellenden Bücherregalen. Viele der Titel sagen mir gar nichts, und wenn Friedrich wirklich all diese Bücher gelesen hat, ist das schon wieder ein Punkt, wo ich ihn neidlos bewundern muß.
Friedrich hat in der Zwischenzeit in der vom Flur aus gesehen vor dem Wohnzimmer liegenden Küche tatsächlich Kaffee aufgesetzt und kommt nun mit der dampfenden Kanne sowie zwei Tassen herein. Er läßt sich auf der Matratze nieder, stellt die Kanne vorsichtig ab, gießt ein und reicht mir eine der Tassen. „Zucker? Milch?“
„Schwarz.“ Ich greife nach der Tasse und atme tief den beruhigenden Kaffeeduft ein.
„Gut.“ Friedrich grinst. „Setz dich doch.“
Ich winke ab, während ich einen ersten Schluck trinke. Erst will ich mich noch ein bißchen umsehen. Über dem Schreibtisch hängen eine Menge Fotografien. Besonders eines der Bilder zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich wende mich erstaunt zu Friedrich um: „Sag mal das ist doch Brian Molko, oder?“ Das ist er ohne Zweifel, darüber hinaus in ausgesprochen lasziver Pose fotografiert.
„Hm.“ Friedrich erhebt sich und tritt neben mich, während ich die Schrift auf dem Foto zu entziffern suche.
„‚To Free with love‘?“ Ich muß grinsen. „Soso, ‚Free‘. Na ja, wenn man so einen komplizierten Namen trägt…“
„Du kennst Brian Molko?“
„Ich schätze die Musik von Placebo“, verbessere ich und tippe mit dem Finger auf die Sleeping-With-Ghosts-CD, die inmitten allen möglichen Krimskrams‘ auf dem Schreibtisch liegt. „Du kennst ihn aber offensichtlich persönlich. ‚With love‘?“ Hm, irgendwie kam mir Molko schon immer ein bißchen seltsam vor. Sollte er etwa auch…?
Friedrich muß ebenfalls grinsen. „Na ja, ich hab ihn mal getroffen, nach einem Placebo-Konzert. Ist ‘ne komplizierte Geschichte, aber letztlich bin ich irgendwie dort im Backstage gelandet.“
„Und da hast du das Autogramm bekommen?“
„Nicht ganz.“ Er wirft noch einen Blick auf das Bild und dreht sich dann zu mir um. „Das hat er mir am nächsten Morgen geschenkt.“
„Am nächsten…? Heißt das, du hast bei ihm übernachtet?“
„So kann man es auch nennen.“ Friedrich nimmt noch einen Schluck aus seiner Tasse und blinzelt mich über den Rand hinweg spöttisch an.
Hä? „Moment…“ Mir schwant gerade Schlimmes. „Willst du damit sagen, du hast… Ihr habt…?“ Mir fehlen eindeutig die Worte. Ich kann und will mir andererseits auch gar nicht so genau vorstellen, was die beiden…
„Noch Kaffee?“
Ich schlucke trocken. „Danke…“
„Danke – ja? Oder danke – nein?“ Er kichert.
„Äh, ja…“ Ich halte ihm die Tasse hin und lasse mir nachschenken.
Friedrich läßt sich wieder auf seinem Bett nieder und klopft mit der linken Hand neben sich auf die Matratze. „Komm, setz dich. Es macht mich nervös, wenn du die ganze Zeit stehst.“
Ich setze mich, aber natürlich nicht direkt neben ihn.
Er schlägt ein Bein unter, dreht sich halb zu mir um und lächelt spöttisch. „Meine Güte, bist du immer so eingeschüchtert?“
Eigentlich nicht, aber schließlich bin ich hier bei Friedrich. Noch dazu allein. Weiß ich, was er vorhat? Vielleicht fällt ihm ein, im nächsten Moment über mich herzufallen? Hallo, immerhin hat er mit Brian Molko gevögelt! Na gut, zugegeben, der Vergleich hinkt. Wenn er seine Ansprüche regelmäßig so hoch schraubt, habe ich wohl keine Chance. Äh, ich meine natürlich, ich hab dann nichts zu befürchten. Scheiße, ich bin schon ganz durcheinander. Der hat doch bestimmt was in den Kaffee getan. Ich äuge mißtrauisch in die Tasse und dann zu Friedrich hinüber, der mich mit einem amüsierten Grinsen beobachtet. „Was ist da drin?“ frage ich.
Friedrich stutzt und sein Grinsen weicht einem verwunderten Gesichtsausdruck. „Na, Kaffee.“
„Wirklich nur Kaffee?“
„Klar. Du wolltest ihn doch schwarz.“ Seine Verwirrung scheint echt zu sein. „Wieso, ist was nicht in Ordnung?“
„Nein, alles okay.“ Ich entscheide mich, ihm zu glauben, und wechsle schnell das Thema. „Sag mal, wie ist das eigentlich so, schwul zu sein?“ Das interessiert mich jetzt aber mal wirklich.
Friedrich zuckt mit den Schultern. „Normal eben. Ich kenne nichts anderes.“ Er grinst schon wieder. „Wieso, wie ist es denn so als Hete?“
Blöde Frage, okay. Ich nippe an meinem Kaffee und werde rot.
„Hast du eigentlich eine Freundin?“
Verdammt, wieso wußte ich eigentlich schon im Voraus, daß jetzt diese Frage kommen muß? „Nein“, knurre ich abweisend in meine Tasse.
Friedrich schweigt, aber als ich den Kopf hebe, sehe ich, daß er mich mit einem eigentümlichen Ausdruck in den Augen betrachtet. Er lächelt. „Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
Ich werde wütend. Will der sich über mich lustig machen? Bloß weil er vermutlich schon jetzt mehr Sex hatte, als ich in meinem ganzen Leben haben werde? „Ach so?“, fahre ich auf. „Na ja, jetzt weißt du es ja: Ich bin ein Spätzünder, ein jämmerlicher Versager, eine Null! Bist du nun zufrieden?“ Ich will aufspringen, aber Friedrich packt mich am Arm und hält mich fest.
Er sieht mich verwundert an. „Was ist denn los mit dir? Ich wollte dich nicht verärgern. Es tut mir wirklich leid, wenn ich diesen Eindruck auf dich gemacht habe.“
„Laß mich los.“ Ich versuche halbherzig, mich loszureißen, aber er läßt nicht locker.
„Nein, hör mir bitte zu.“ Friedrich wartet, bis ich ihn ansehe. „Du bist kein Versager. Wer immer dir solchen Blödsinn einreden will, der ist selbst einer. Moritz, du bist ein wirklich lieber Mensch, du siehst gut aus, du bist sympathisch. Und du wirst früher oder später garantiert jemanden finden, der dich zu schätzen weiß. Es ist doch völlig egal, wann das sein wird – morgen oder in einem Jahr. Dein einziges Problem scheint zu sein, daß du das alles nicht glaubst. Daß du kein Zutrauen zu dir hast. Und daß du offenbar glaubst, nur dann vor den anderen bestehen zu können, wenn du wie sie dämliche Bettgeschichten zum besten geben kannst.“
Ich bin erstmal ziemlich platt und weiß gar nicht, wie ich reagieren soll. So hat noch nie jemand mit mir geredet.
Friedrich lehnt sich zurück und lächelt nachsichtig. Er hat mich losgelassen. Ich kann abhauen, wenn ich will, aber ich will gar nicht mehr. Erst muß ich noch ein bißchen über das nachdenken, was ich da gerade gehört habe.
„Hast du eigentlich Hunger?“
Friedrichs Stimme holt mich aus meinen Grübeleien. Ich hab heute morgen blöderweise meine Uhr zuhause vergessen und daher keine Ahnung, wie spät es ist, aber wenn ich überlege, daß wir schon eine ganze Weile hier sind und ich seit dem Frühstück nichts gegessen habe, wird mir gleich ganz flau im Magen. Essen, ausgezeichnete Idee. Ich nicke also.
„Pizza oder Nudeln?“ Friedrich greift nach der leeren Kaffeekanne und steht auf.
„Mir egal. Was geht schneller?“
„Das nimmt sich nicht viel.“
„Dann Nudeln“, entscheide ich und folge ihm in die Küche.
Die Küche hat bis zu einer Höhe von vielleicht einsfünfzig goldgelbe Wände, darüber sind sie weiß. Kühlschrank, Herd, eine Spüle, in der sich ein paar benutzte Tassen stapeln, links davon ein flacher Küchenschrank für Geschirr und solchen Kram, gegenüber ein billiges Holzregal mit undefinierbaren Schachteln, Vorratsdosen, Töpfen und Pfannen. Vor dem Fenster eine etwas mitgenommene rostrote Couch, dazu ein niedriger dunkler Holztisch und zwei wacklige Rattanstühle. Ich lasse mich vorsichtig auf einem von ihnen nieder, während Friedrich den elektrischen Wasserkocher anwirft, einen Topf aus dem Regal holt und nach kurzem Suchen auch eine noch gut halbvolle Packung Spaghetti zutage fördert.
Keine Viertelstunde später habe ich einen dampfenden Teller mit Nudeln vor mir stehen und angle nach dem Glas mit dem grünen Fertigpesto. Friedrich scheint genauso ausgehungert zu sein wie ich; jedenfalls schlingen wir die Spaghetti in uns hinein, als gelte es, einen neuen Rekord aufzustellen. Danach bin ich fürs erste wirklich satt. Genudelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich muß kichern.
Friedrich hebt den Kopf und sieht mich fragend an. Dabei fallen ihm seine schwarzen Locken in die Stirn, und mir fällt plötzlich auf, daß er ein wirklich schönes Gesicht hat. Markant, schmal, mit klaren Linien, der graden Nase, sich deutlich abzeichnenden Wangenknochen, den fast schwarzen Augen, die durch den Kajal, an dem er auch heute nicht gespart hat, noch dunkler wirken, dem sinnlichen Mund… Du lieber Himmel, der Nahrungsmangel muß meinem Gehirn geschadet haben. Sinnlicher Mund?! Ich schüttle unwillig den Kopf, schiebe den Teller weit von mir und stehe auf.
„Danke, das war wirklich gut.“ Etwas unsicher blicke ich mich um. „Hast du keine Uhr hier?“
Friedrich weist nach rechts. Im Regal, zwischen einer Pfeffermühle und einem Stapel Kochbücher entdecke ich einen altmodischen Wecker mit großem Zifferblatt. Es ist erst kurz nach sechs. „Willst du schon los?“
„Nicht unbedingt.“ Meine Eltern trudeln schließlich auch nicht vor sieben ein. Gegessen hab ich auch. Und Hausaufgaben… Wer denkt schon an Hausaufgaben? Die kann man schließlich auch später erledigen. „Wenn du mich noch ’ne Weile ertragen willst?“
„Gern.“ Friedrich grinst und erhebt sich ebenfalls. „Dann könntest du mir nämlich ein bißchen auf die Sprünge helfen. Ich hänge euch schließlich gut zwei Wochen hinterher.“
Na toll, also doch Hausaufgaben. Schlimmer noch – Nachhilfestunden? Aber Friedrichs treuherzigem Blick kann ich nichts abschlagen. „Also schön“, seufze ich ergeben und trotte ihm hinterher ins andere Zimmer. „Wo hakt’s denn?“
„Eigentlich müßte ich nur wissen, was ihr in Englisch bisher schon abgehandelt habt. Und in PW fehlen mir offensichtlich drei, vier Arbeitsblätter. Ich denke ja nicht, daß sich unsere Kurse da stark unterscheiden, oder?“
„Nö.“ Ich bin erleichtert und krame in meinem Rucksack nach den Heftern. Also doch bloß ein bißchen Starthilfe. „Die Mehlert und der Schot gelten gemeinhin als das dynamische Duo der Politischen Weltkunde“, erkläre ich ihm. „Ihr Unterricht ist quasi perfekt aufeinander abgestimmt, damit einer notfalls für den anderen einspringen kann.“ Ich reiche ihm die Kopien. „Fragt sich nur, wozu das ganze. Bisher hat nämlich noch niemand erlebt, daß einer von ihnen auch nur einen Tag krank war.“
„Hm.“ Friedrich überfliegt mit gerunzelter Stirn die Blätter. „Kann ich mir die bis morgen ausleihen? Dann kann ich sie heute noch durcharbeiten. Morgen kopiere ich sie und geb sie dir wieder.“
„Klar.“ Ich schlage meinen Englischhefter auf. „Das hier ist allerdings ein bißchen umfangreicher. Hast du inzwischen deinen eigenen Huxley?“
Er schüttelt den Kopf. „Wann hätte ich mir den denn holen sollen? Der Zänkel hat mir allerdings gesagt, wo es das Buch zu kaufen gibt. Ich werde morgen mal hintraben.“
Es ist kurz vor acht, als ich endlich zuhause ankomme. Gar nicht so einfach, die Essenz aus fünf Doppelstunden Englisch auf anderthalb Stunden zu verdichten. Aber wir haben uns beide tapfer geschlagen. Übrigens scheint Friedrich mächtig was auf dem Kasten zu haben. Gut, er hat sich kurz über Bio beschwert, aber da hat er ja wohl selbst Schuld. Ich hab das schließlich abgewählt, weil mir von vorn herein klar war, daß Genetik scheiß schwer werden würde. Hätte er ja genauso machen können. In Englisch hat er jedenfalls mehr kapiert als ich.
Ich werde jetzt jedenfalls erst mal was essen. Komisch, wie hungrig geistige Anstrengung macht. Oder sollte ich mich zuerst an den Spanischtext für morgen setzen? Vielleicht kann man ja beides kombinieren.
Mittwoch
Ich hasse Mittwoch. Nullte Stunde Mathe – welcher Sadist denkt sich eigentlich solche Stundenpläne aus? Noch ist es ja früh hell, aber bald ist Herbst, und an den Winter will ich noch gar nicht denken… Zu allem Unglück fällt mir erst auf dem Schulweg siedendheiß ein, daß Pummel für heute einen Test angekündigt hat. Mir wird erst einmal spontan schlecht. Noch schlechter wird mir allerdings, als ich den Matheraum betrete und mich finstere Blicke aus der hintersten Bankreihe am Fenster treffen. Scheiße, an Jochen habe ich gar nicht mehr gedacht. Bisher hat mich Jochen kaum mit dem Arsch angeguckt, und nun bin ich plötzlich in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit geraten. Als Haßobjekt zudem. Ein zweifelhafter Ruhm. Na, wenigstens bin ich nicht allein – Friedrich teilt ja mein Schicksal. Was für ein Trost. Ich lasse mich auf meinem Platz nieder und krame mit zittrigen Händen im Rucksack nach dem Mathebuch, um mich der Illusion hinzugeben, wenigstens dieses Problem doch noch lösen zu können.
„Morgen.“ Friedrich knallt gutgelaunt seinen Rucksack auf den Tisch und läßt sich neben mir auf seinen Platz fallen. Zur Abwechslung trägt er heute ein hautenges schwarzes Shirt mit einer ganz schmalen Reihe roter Straßsteine am unteren Saum, das seine schlanke Silhouette bestens zur Geltung bringt. Im Gegensatz zu mir wirkt er aber nicht so ausgehungert. Um den Hals hat er sich ein zerfetztes rotes Tuch geschlungen, an dessen Zipfeln er jetzt gedankenverloren spielt, während er leise vor sich hin summt. Wie kann der nur am frühen Morgen schon so munter sein?
Ich werfe ihm einen grimmigen Blick zu und vertiefe mich wieder in das Buch. Allerdings hilft mir das auch nicht mehr viel, denn zwei Minuten später klingelt es, und Pummel betritt den Raum, unter dem Arm einen dicken Packen Papier.
„Guten Morgen, Herrschaften“, tönt seine übliche Begrüßung in unsere verschlafene Ohren. „Ich verteile jetzt die Arbeitsblätter, dann haben Sie genau fünfundzwanzig Minuten Zeit, die Aufgaben zu lösen. Und ich bitte Sie inständig, keine Hilfsmittel außer den angegebenen zu verwenden. Ich möchte keine Betrugsversuche ahnden müssen.“
Ich nehme mein Blatt in Empfang und überfliege es. Na toll, Pummel hat auch an alles gedacht: Nicht nur, daß die Aufgaben mir schon jetzt unlösbar erscheinen, er hat sich auch noch die Mühe gemacht, zwei verschiedene Arbeitsblätter auszufertigen und die Klasse somit in zwei Gruppen zu teilen, damit jeder Schüler andere Aufgaben als sein Banknachbar zu bewältigen hat. Abschreiben zwecklos.
„Scheiße“, fluche ich leise.
Friedrich sieht mich fragend von der Seite an und wirft dann einen Blick auf mein Blatt. „Wollen wir tauschen?“ raunt er mir zu. „Die hier sind ziemlich einfach.“
Ich schüttle betrübt den Kopf und schraube meinen Füller auf.
„Fünfundzwanzig Minuten.“ Pummel schaut auf die Uhr. „Ab – jetzt!“
Einundzwanzig Schüler beugen sich mehr oder minder eifrig über ihre Arbeitsblätter. Man kann die Gedanken förmlich knistern hören. Bei mir knistert leider nicht viel. Mit Ach und Krach löse ich die erste Aufgabe und bin mir nicht einmal sicher, ob ich recht habe. Dafür scheint der Test für Friedrich überhaupt kein Problem darzustellen. Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn hastig Zahlenkolonnen zu Papier bringen. Nachdem er das erste Blatt gefüllt hat, hebt er kurz den Kopf, sieht mich von der Seite an und grinst verschwörerisch. Dann zieht er ein neues Blatt unter dem anderen hervor und setzt seine Arbeit fort. Das beschriebene Papier rückt er wie unabsichtlich mit dem Ellenbogen in die Tischmitte. Wozu? Die Aufgaben der beiden Gruppen sind völlig verschieden. Es ist ja ein verdammt anständiger Zug, daß er mich abschreiben lassen will, aber… Ich sehe mir das Blatt etwas genauer an und muß mich beherrschen, um meine Überraschung nicht allzu deutlich zu zeigen: Die Lösungen dort auf dem Papier gehören zu meinen Aufgaben! Jetzt verstehe ich, warum Friedrich so fieberhaft gearbeitet hat; er mußte sich beeilen, um erst meinen Test zu lösen und anschließend noch genug Zeit für seine eigenen Aufgaben zu haben. Scheiße, dieser Mensch ist ein Engel. Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu, den er gar nicht mitbekommt, und mache mich daran, die Lösungswege möglichst unauffällig auf mein eigenes Blatt zu übertragen. Dabei kann ich sogar feststellen, daß die Aufgabe, die ich selbständig bearbeitet habe, tatsächlich richtig gelöst ist. Ganz blöd bin ich also doch nicht.
„Noch eine Minute!“ Pummel blickt auf seine Armbanduhr, während einundzwanzig Schreibgeräte in höchstem Tempo über kariertes Papier jagen und es mit Zahlenreihen füllen. „Fünf, vier, drei, zwei, eins – stop! Aus! Füller weg!“ Pummel grinst und läßt seinen aufmerksamen Blick über die Klasse streifen. „Bitte reichen Sie die Blätter von hinten nach vorne durch. Nach Gruppen sortiert, wenn ich bitten darf.“
Papierrascheln und halblautes Murmeln begleiten diese Prozedur. Friedrich hat irgendwie das Papier, das mir als Vorlage diente, verschwinden lassen, und reicht mit Unschuldsmiene die anderen Blätter an Renate weiter, die vor ihm sitzt. Mit keinem Blick, keinem Wort deutet er mir gegenüber an, was er getan hat. Der Rest der Stunde verläuft so normal wie immer.
Nach dem Klingeln bleibe ich sitzen. Meine folgende Doppelstunde wird im selben Raum abgehalten, also muß ich mir keinen Streß machen.
Friedrich packt seine Mathesachen ein und wirft einen Blick in sein Hausaufgabenheft. Dann sieht er mich an. „Was hast du jetzt?“
„Spanisch. Und du?“
„PW.“ Er steht auf und greift sich seinen Rucksack. „Wir sehen uns dann in der Hofpause.“
Ich nicke. „Danke, übrigens.“
„Wofür denn?“ Er legt den Kopf ein wenig schief und sieht mich fröhlich an. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und schlendert aus der Tür.
In der Hofpause finde ich Friedrich wie schon zuvor inmitten des Trosses seiner Anhängerinnen, die ihn umlagern. Heute sind es mal nur sechs, aber das reicht schon vollkommen.
„Willst du vielleicht ein Stück von meiner Käsestulle?“, flötet ihn eine hübsche Brünette aus der Zwölften gerade an, als ich zu der Gruppe stoße.
„Nein danke.“ Friedrich lächelt etwas krampfhaft und wendet sich mir zu. „Ich hab Hunger auf was herzhafteres. Kommst du mit zum Kiosk, Moritz?“ Und mit einem Blick auf seine Anhängerinnen fügt er hinzu: „Ihr wartet hier kurz, ja?“
Die sechs nicken und starren ihm verzückt nach, während wir eilig auf das Schulgebäude zusteuern.
Unsere Schule besitzt direkt neben dem im Erdgeschoß gelegenen großen, lichtdurchfluteten Essenraum, der aus mir unerfindlichen Gründen Cafeteria genannt wird (dort wird lediglich das Schulessen ausgegeben), auf den Flur hinausgehend einen kleinen Kiosk, an dem man belegte Brote, Würstchen, Getränke, Kuchen und Süßigkeiten erwerben kann. Allerdings läßt Friedrich ihn links liegen und steuert stattdessen den Kaffeautomaten an, der sich ebenfalls im Flur befindet. Ich hole mir ebenfalls einen Kaffee und folge ihm, den heißen Pappbecher zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand balancierend, in eine Nische vor den Fenstern zum Schulhof. Dort stehen brusthohe runde Bistrotische, auf denen wir unsere Becher abstellen können.
„Das war knapp.“ Friedrich riskiert einen Blick durch die vormals weißen Gardinen hinaus auf den Hof. Dann wendet er sich mir zu. „Langsam werden die wirklich ein bißchen lästig.“
„Du Ärmster.“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Jeder andere Schüler würde sich wahrscheinlich bei so viel Popularität unter den Mädchen vor Freude überschlagen. Nein, wohl doch nicht jeder, korrigiere ich mich in Gedanken, nur jeder, der auf Mädchen steht.
„So, hier steckt ihr also.“
Ich stehe mit dem Rücken zu dieser so scheinheilig freundlichen Stimme, dennoch weiß ich sofort, wer dort spricht. Jochen schwenkt in mein Gesichtsfeld ein und stellt sich zu uns an den Tisch. Hinter ihm taucht auch schon sein Schatten Olaf auf. Der Wikinger scheint seit gestern noch ein paar Muskeln mehr zugelegt haben.
Jochen sieht sich kurz sichernd im Flur um, dann fixiert er mich mit seinem kalten Blick. „Ich hab dich gewarnt. Aber offenbar wolltest du auf meinen gutgemeinten Rat nicht hören.“ Er klingt nun keine Spur mehr freundlich, ganz im Gegenteil.
Ich spüre, wie sich mein Rücken mit einer Gänsehaut überzieht, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte. „Willst du mir drohen?“ Meine Stimme bleibt zum Glück fest. Was soll denn das alles überhaupt; bin ich hier im falschen Film, oder was?
Jochen verzieht sein Gesicht zu einem gehässigen Grinsen. „Wieso? Hast du schon Muffensausen, Arschloch?“
Friedrich setzt den Kaffeebecher, den er die ganze Zeit noch in der Hand gehalten hat, ab und verschränkt die Arme vor der Brust. „Hast du ein Problem mit Moritz?“
Jochen dreht den Kopf in seine Richtung, und in seinen Augen, mit dem er Friedrich mustert, spiegelt sich eine verdammt unangenehme Mischung aus Abscheu und Haß. „Du wirst gleich ein Problem mit mir haben. Oder mit Olaf.“ Er wechselt einen kurzen Blick mit dem Wikinger und schürzt abschätzig die Lippen. „Was macht übrigens deine Nase?“
„Das geht dich einen Scheißdreck an.“ Friedrich sieht ihm gelassen in die Augen. „Und jetzt verzieht euch gefälligst. Wir wollen hier in Ruhe einen Kaffee trinken und legen keinen Wert auf eure Gesellschaft.“
Es ist Jochen anzusehen, daß er jeden Moment zu explodieren droht. Auf seinem Gesicht bilden sich rote Flecken, und seine Kiefermuskeln spannen sich deutlich unter der dünnen Gesichtshaut an. Kurz bevor er überschäumen und Friedrich womöglich an die Kehle springen kann, beendet die Schulklingel die Pause. Wenige Sekunden später schon ist der Flur voller drängelnder, laut schwatzender Schüler, die auf dem Weg zu ihren Unterrichtsräumen sind oder noch kurz einen Snack am Kiosk abgreifen wollen.
„Das hat noch ein Nachspiel“, zischt Jochen uns noch haßerfüllt zu, bevor er zusammen mit Olaf im dichten Gewimmel verschwindet.
Friedrich leert seinen Kaffeebecher, dann sieht er mich an. „Kannst du mir vielleicht verraten, was ich ihm getan habe?“, will er wissen. Sein Tonfall klingt ausgesprochen wütend.
Ich zucke mit den Schultern. „Du heulst nicht mit den Wölfen. Und Jochen ist nun mal der Leitwolf.“
Deutsch beginnt etwas schwerfällig. Sybille hält ein Referat über Heinrich Heine. An sich ist das Sujet ja nicht uninteressant, aber Sybille schafft es, mit ihrer monotonen Sprechweise alle einzuschläfern. Anstatt den Versuch zu unternehmen, möglichst frei zu reden, liest sie stoisch vom Blatt und spricht daher auch noch viel zu schnell. Nach den ersten paar Sätzen habe ich aufgehört mitzuschreiben und starre nur gelangweilt auf das Arbeitsblatt. Friedrich neben mir ist tatsächlich eingenickt. Ab und zu muß ich ihn anstoßen, damit er nicht noch anfängt zu schnarchen. Nach einer halben Stunde ist die Qual endlich vorbei. Sybille klappt ihren Mund zu und Friedrich seine Augen wieder auf.
„Was wichtiges verpaßt?“, raunt er mir zu und gähnt unauffällig hinter vorgehaltener Hand.
Jetzt erst wird es interessant. Meier teilt die ‚Schlesischen Weber‘ aus und läßt uns erstmal mit dem Text allein. Dann geht es ans Diskutieren: Verständnis, Analyse, Anspruch, Wirkung, Hintergrund… Im Nu sind die restlichen sechzig Minuten um, und wir haben noch lange nicht alles besprochen. Meier ist zufrieden mit uns und entläßt uns in die Pause.
Ich muß ins vierte Stockwerk zu meinem PW-Raum. Friedrich kann im zweiten bleiben, der Französischraum liegt gleich nebenan. „Wartest du nach dem Unterricht auf mich?“, will ich wissen.
Er nickt. „Wir treffen uns am Kiosk, okay?“
„Ich muß noch in die Buchhandlung“, erklärt Friedrich auf dem Weg zur U-Bahn. „Hast du Lust, mitzukommen?“
Habe ich, und so finden wir uns keine zwanzig Minuten später in einem namhaften großen Buchladen wieder. Friedrich hat bereits drei Bücher in der Hand, darunter mit Brave new World auch das, wegen dem er eigentlich herwollte. Dennoch läßt er sich noch immer nicht von den gut gefüllten Regalen wegbewegen. Ich habe es mir inzwischen auf einer weich gepolsterten Bank bequem gemacht, die sich kundenfreundlich etwa in der Mitte des Geschäfts befindet, und blättere in Hermann Hesses Unterm Rad.
„Und? Auch was gefunden?“ Friedrich läßt sich neben mir auf die Bank fallen und wirft einen Blick auf den Titel meines Buches. „Ach ja, Hesse. Mit sechzehn, siebzehn hatte ich die Phase, hab fast alles von ihm verschlungen. Hast du den Demian gelesen?“
„Natürlich“, antworte ich gereizt.
Friedrich scheint ein bißchen verwundert zu sein über diese Reaktion, aber er soll sich eben nicht einbilden, er sei der einzige mit literarischer Grundbildung.
„Bist du endlich fertig?“
„Ja, Schatz, ich muß nur noch bezahlen.“ Friedrich lacht sich über meinen verdatterten Gesichtsausdruck fast tot, während ich auf einmal den unwiderstehlichen Drang verspüre, ihm ein paar großformatige Lexika an den Kopf zu werfen.
„Arschloch“, knurre ich dann aber doch nur, und folge ihm zur Kasse, wo er ohne mit der Wimper zu zucken fast fünfzig Euro für vier Bücher blecht. Der Hesse, den ich aus Trotz nun erst recht kaufe, erscheint mir dagegen fast als Schnäppchen.
„Bist du noch sauer auf mich?“ Friedrich läuft neben mir die Treppe zum Ausgang des U-Bahnhofes hinauf.
Ich werfe ihm einen Seitenblick zu, knurre etwas Unverständliches und nehme die letzten vier Stufen in zwei langen Sätzen. Seit wir die Buchhandlung verlassen haben, habe ich nicht ein einziges Wort mit ihm gewechselt.
„Ich weiß, ich benehme mich manchmal ein bißchen überheblich“, fährt Friedrich fort und hält mich am Ärmel fest, damit ich stehenbleibe. „Tut mir leid. Ich meine das meistens nicht so.“ Er lächelt ein bißchen. „Dir gegenüber jedenfalls nicht. Ich weiß schließlich, daß du nicht so ein Trottel wie Jochen oder Olaf bist.“
„Toll, das beruhigt mich ja.“ Ich bin immer noch etwas angepißt.
„Moritz, ich meine das ernst: Es tut mir leid.“
„Schon gut“, winke ich ab. Ich kann ihm nicht wirklich länger böse sein und wechsle darum das Thema: „Vergiß nicht, du mußt bis morgen noch sechsundzwanzig Seiten Huxley lesen.“
„Ich weiß.“ Friedrich sieht mich an und scheint erleichtert zu sein, daß ich doch noch mit ihm rede. „Hab ich wenigstens heute abend etwas vor.“
„Na, dann viel Spaß.“ Ich muß ein bißchen grinsen. „Wir sehen uns morgen. Salut, Monsieur Baum.“
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