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Junigewitter

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Die Sonne brannte unbarmherzig auf die kahlen Steinplatten des Schulhofes, auch die vereinzelten Bäume schafften es nicht, kühlenden Schatten zu spenden. Drückende Hitze lastete seit dem frühen Vormittag über der Stadt. Im Schatten einer Schulhofsulme hatten sich ein paar Schüler versammelt; fünf, sechs Jungen der zwölften Klasse.

„Ich bin entschieden dagegen“, erklärte gerade Karl, dem seine halblangen, tiefschwarz gefärbten Haare in alle Richtungen zerrauft vom Kopf abstanden.

„Aber für was anderes ist es einfach zu heiß. Im Kino gibt’s wenigstens Klimaanlagen.“ Der etwas schlaksige Thorben ließ sich nicht so leicht von seiner Idee abbringen. „Außerdem wollte ich den Film schon seit Ewigkeiten sehen.“

„Tu dir keinen Zwang an“, knurrte Karl. „Ich hab jedenfalls keine Lust, den ganzen Abend im Kino zu hocken. Gibt’s nicht noch irgendwelche konstruktiveren Vorschläge?“ wandte er sich an die anderen. Doch bevor jemand antworten konnte, näherte sich ihnen vom Schulgebäude her ein untersetzter Mann mittleren Alters, dessen Gesichtsausdruck nichts Gutes verhieß – der Sportlehrer der oberen Klassen.

„Finder!“ blaffte er. „Du hast da wohl was vergessen? Du solltest den Geräteraum aufräumen, erinnerst du dich?“

Karl verzog das Gesicht. „Herr Schroeder, wir haben seit ‘ner Viertelstunde Schulschluss. Hat das nicht Zeit bis nächste Woche?“

„Nichts da! Du hattest die ganze Woche über Zeit, dich darum zu kümmern. Aber scheinbar hattest du besseres zu tun. Ich weiß allerdings nicht, ob dir eine Verwarnung vom Direktor unbedingt zusagen würde?“ Der Lehrer warf der kleinen Gruppe einen geringschätzigen Blick zu. „Kannst dir meinetwegen auch noch einen von denen zur Hilfe nehmen, damit’s schneller geht, ich will ja schließlich auch irgendwann nach Hause. Aber nur einen, kapiert?! Ich weiß schon, was passiert, wenn ich euch gesammelt durch die Halle toben lasse! Nee, nee.“

Karl musterte die Schulfreunde aufmerksam. Schließlich blieb sein Blick an Jakob hängen. „Du.“

Die anderen atmeten erleichtert auf. Keiner von ihnen war besonders scharf darauf gewesen, das Wochenende mit dem Aufräumen von Schroeders Rumpelkammer zu beginnen.

Jakob war allerdings ebenfalls wenig angetan von der Idee. „Wieso denn ich?“ murrte er halblaut.

„Weil ich es sage, darum.“ Karl hatte manchmal so eine autoritäre Art an sich, die einen förmlich zur Weißglut treiben konnte.

„Seid ihr endlich soweit?“ Schroeder blickte auf die Uhr.

Karl nickte. Jakob verkniff sich eine böse Erwiderung, die ihm schon auf der Zunge lag. Manchmal war es besser, Karls Launen einfach zu folgen. Der Junge konnte sehr launisch und nachtragend werden.

„Dann los. Es ist jetzt kurz nach vier. Wie lange werdet ihr brauchen? Na, ich werde besser gegen sechs noch mal vorbeischauen.“

Der Sportlehrer wies auf die Turnhallentür, und Karl setzte sich widerstrebend in Bewegung.

Jakob folgte ihm, während die anderen Jungen sich rasch zerstreuten.

„Dieser miese Wichser!“ Karl trat wütend gegen einen Kasten und ließ sich dann aufgebracht rückwärts in einen Mattenhaufen fallen.

Jakob sah ihn fragend an.

„Er hat mich beim Kiffen auf dem Schulhof erwischt“, erklärte Karl grollend. „Und damit er nicht gleich zum Direx rennt, musste ich mich verpflichten, den Scheiß hier aufzuräumen. Dieser Hund! Er weiß genau, dass ich mir noch einen Anschiss nicht leisten kann.“ Er griff nach einem Tennisball, der in seiner Nähe lag, und schleuderte ihn quer durch die Halle. In der Nähe der Fenster rollte der Ball unter eine Bank und blieb liegen. Karl erhob sich wieder. „Vom Labern wird der Mist auch nicht besser“, knurrte er und kletterte über die losen Matten zum Mattenwagen hinüber. „Na los, je eher wir anfangen, desto eher sind wir hier wieder raus.“

Jakob kletterte ihm nach, und zusammen stapelten sie die herumliegenden flachen Bodenturnmatten auf den Wagen. Danach sammelten sie den Kleinkram ein, der zwischen den Geräten herumlag: Feder-, Tennis- und Tischtennisbälle, Springseile, Badmintonschläger und zwei Volleybälle, lange, bunte Bänder, die im Gymnastikunterricht verwendet wurden, und acht kleine Hanteln, die wohl der Fitnesskurs dort hatte liegenlassen. Die Kleinsportgeräte sortierten sie ordentlich in das dafür vorgesehene Kabuff ein, das sich an den Geräteraum anschloss. Als nächstes kamen die schweren Medizinbälle an die Reihe, die eigentlich in den hohen Regalen an der Rückwand des Raumes zu liegen hatten, aus unerfindlichen Gründen jedoch immer auf dem Fußboden vor den Regalen aufzufinden waren.

Nachdem sie unter unsagbarem Kraftaufwand die beiden Stufenbarren auf ihre Plätze geschoben hatten und schließlich die Böcke, Kästen, Balken und auch das Pferd ordnungsgemäß an ihrem Platz standen, streikte Jakob.

„Ich steig aus“, keuchte er erschöpft und ließ sich auf der breiten Hochsprungmatte nieder. „Mir reicht’s.“

Karl strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und setzte sich neben ihn. Die ganze Zeit über hatte er verbissen und schweigend geackert, und auch jetzt noch blieb er wortkarg. „Nur noch die Matte hier, dann sind wir ja fertig.“

„Vergiss es.“ Jakob ließ sich nach hinten sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Ich brauch erst mal ‘ne Pause.“

Karl sah nachdenklich auf ihn herunter. „Na gut. Dann lass uns kurz frische Luft schnappen gehen und dann schleunigst fertig werden.“

„Einverstanden.“ Jakob erhob sich wieder und folgte Karl in den Vorraum zur Eingangstür.

Karl zog an der Tür, aber nichts passierte. Dann drückte er dagegen, aber sie rührte sich trotzdem nicht. „Dieses Arschloch!“ brüllte er aufgebracht und trat dagegen. „Er hat uns eingeschlossen!“

„Wahrscheinlich traut er uns nicht“, konstatierte Jakob müde. Nun würden sie hier also bis sechs versauern müssen.

Karl gab der Tür noch einen letzten Tritt, der sie in ihren Angeln erzittern ließ, und wandte sich ab. „Vielleicht können wir ja durch’s Bürofenster raus.“ Doch auch beide Bürotüren waren abgesperrt.

„Der Notausgang“, fiel Jakob ein.

Karl schüttelte den Kopf. Seit der Notausgang vor ein paar Monaten aufgebrochen und die Halle ausgeraubt worden war, sicherte ihn eine dicke Kette mit einem noch dickeren Vorhängeschloss. „Wir stecken fest“, stellte er nüchtern fest.

Sie gingen zurück in die Halle, um ein paar der oberen Klappfenster zu öffnen. Die Luft blieb dennoch warm und stickig.

„Wahrscheinlich wird’s noch ein Gewitter geben“, orakelte Jakob. „Es ist den ganzen Tag schon so schwül. Und der Himmel zieht sich auch schon zu.“ Er wies aus dem Fenster.

Karl zuckte mit den Schultern. Er hatte ganz andere Sachen im Kopf. „Vielleicht können wir das Schloss irgendwie aufbrechen?“

„Is ‘n Sicherheitsschloss.“ Jakob grinste schwach. „Daran kannst du dir höchstens die Zähne ausbrechen.“

Karl warf ihm einen finsteren Blick zu. „Hast du ‘ne bessere Idee?“

„Nein.“ Jakob holte sich einen Basketball aus dem Kabuff und dribbelte ein paar Runden. Dann begann er, Körbe zu werfen. „Was ist, willst du mitmachen?“

Karl schüttelte den Kopf, als Jakob sich demonstrativ vor ihm aufstellte. Er hätte nur den Arm auszustrecken brauchen, um ihm den Ball abzunehmen.

Draußen grummelte leise der Donner.

„Traust dich wohl nicht?“ Jakob kniff die Augen zusammen und grinste spöttisch. „Willst dich nicht blamieren, was?“

Karl erhob sich schwerfällig von der Bank, auf der er gesessen hatte. Dem würde er es schon zeigen! Mit einem Satz sprang er nach vorn und wollte nach dem Ball langen, aber der andere war schneller. Jakob wich geschickt aus, dribbelte den Ball durch seine Beine hindurch und wandte sich um. Karl setzte ihm nach, konnte jedoch trotz vollstem Körpereinsatz nicht verhindern, dass Jakob dem Korb immer näher kam.

„Hepp!“ Der Ball segelte in hohem Bogen durch die Luft und fiel, ohne den Korbrand zu berühren, durch das Netz. Jakob fing ihn geschickt auf und lachte leise. „Du bist dran“, erklärte er und warf Karl den Ball zu.

Im selben Moment zuckte draußen vor dem Fenster ein gigantischer Blitz zur Erde, und der zeitgleiche Donnerschlag ließ die Turnhalle erzittern. Mit einem Knall flog die Sicherung heraus, das Deckenlicht verlöschte, und erst jetzt merkten sie, wie dämmrig es durch die dunkle Gewitterfront geworden war.

Karl, der ebenso wie Jakob beim Einschlag zusammengezuckt war, ließ den Ball achtlos fallen und stieg auf die Heizungsbrüstung, um besser aus dem Fenster sehen zu können. „Sieh dir das an!“

Jakob folgte ihm auf die Brüstung und klammerte sich an das Netz, das die Fenster vor Ballwürfen schützte, während er hinaussah. Die Wolkendecke hatte sich schwefelgelb verfärbt, dunkle Wolkenfetzen trieben dazwischen, immer wieder grollte der Donner und zuckten Blitze über den Himmel. Endlich setzte der Regen ein mit dicken prasselnden Tropfen. Die Luft schmeckte nach nassem Asphalt und wurde merklich frischer, das bekamen sie durch die Klappfenster mit.

„Sintflut.“ Karl kletterte wieder herunter und sah sich nach dem Ball um.

„Weltuntergang“, murmelte Jakob und folgte ihm.

„Bei so einem Mistwetter traut sich der Schroeder doch nicht mehr raus, um uns hier wieder raus zulassen.“ Karl hatte den Basketball wiedergefunden und hielt ihn nachdenklich in der Hand.

„Klar wird er kommen. Er kann uns hier ja nicht bis Montag sitzen lassen.“ Jakob nahm ihm den Ball ab und brachte ihn zum Kabuff. Als er die Tür schloss, stand Karl neben ihm und packte ihn am Kragen.

Jakob riss schützend die Arme hoch, während er gegen die Wand gedrückt wurde, doch anstelle eines Faustschlages spürte er plötzlich zwei weiche Lippen auf seinem Mund. Überrascht ließ er sich küssen, küsste zurück. Karls Hände strichen sanft über sein Gesicht, als er sich dann vorsichtig von ihm losmachte und ihn verwundert anblickte. „Was soll denn das werden? Machst du Spaß?“

„Ich tue sowas nie zum Spaß“, war die ruhige Antwort. „Ich meine es völlig ernst. Und was ist mit dir?“

Jakob sah ihm in die Augen und schwieg nachdenklich.

Karl griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich zur Hochsprungmatte. Mit dem Rücken zu ihr stellten sie sich auf den hochbeladenen Mattenwagen. „Bei drei“, erklärte Karl und zählte. „Ein, zwei, - drei!“

Gemeinsam ließen sie sich nach hinten auf die Matte fallen.

Jakob lachte leise. „Und was sollte das jetzt?“

Das war nur zum Spaß“, erklärte Karl geduldig und drehte sich auf die Seite. „Na, was gefällt dir besser?“

„Ich glaube, ich hätte gern beides - im Doppelpack.“ Jakob verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. „Und bitte die Vorratspackung.“

Karl lächelte spöttisch. „Du hast ja Ansprüche!“ Er rückte näher zu ihm heran und legte ihm den Kopf auf die Brust.

Jakob strich ihm zaghaft über die dunklen Haare.

Ein Geräusch von der Eingangstür her schreckte sie auf.

„Was ist denn hier passiert?“ hörten sie den Sportlehrer fluchen, der im Dämmerlicht vergeblich den Lichtschalter betätigte.

Karl sprang auf und zog Jakob ebenfalls hoch. „Schnell, die Matte noch!“

Jeder packte eine Seite der sperrigen Hochsprungmatte, und zusammen schafften sie es, sie aufzurichten und auf ihrer Längsseite in den Spalt zwischen Wand und Stufenbarren zu schieben.

Inzwischen hatte Schroeder die Halle betreten und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach ihnen. „Ihr seid ja noch da!“

Karl warf ihm einen wütenden Blick zu. „Kunststück, wenn die Halle abgeschlossen ist.“

Der Lehrer ignorierte die bissige Bemerkung und leuchtete den Geräteraum aus. „Na also, mit ein bisschen gutem Willen geht doch alles.“ Er nickte zufrieden und wies die Jungen mit einer Handbewegung an, aus der Turnhalle zu verschwinden.

Karl nahm seinen Rucksack und folgte Jakob in den Vorraum, wo ihre Straßenschuhe standen.

Endlich waren sie wieder draußen und konnten sich frei bewegen. Das Gewitter hatte sich verzogen, aber es regnete noch immer in Strömen. Unter dem Vordach der Schule fanden sie kurz Zuflucht. Das Schulgebäude selbst war bereits dunkel und zugeschlossen, in keinem Raum brannte mehr Licht. Nur drüben, hinter den Fenstern der Turnhalle, sah man den flackernden Schein der Taschenlampe, in dem Schroeder nach einer neuen Sicherung suchte.

Karl hielt eine Hand in den Regen. „Wie spät ist es?“ wollte er wissen.

„Viertel sieben“, teilte Jakob nach einem kurzen Blick auf seine Taschenuhr mit. Nachdenklich blickte er Karl an. „Was war das eigentlich vorhin?“

Der Angesprochene drehte sich zu ihm um und sah ihm nachdenklich in die Augen. „Ich weiß es nicht genau“, sagte er ernst. „Ich weiß nur, dass es gut war, mit dir eingesperrt zu sein.“

Jakob musste lächeln und nahm ihn zaghaft in die Arme.

Karl lachte leise. Das tat er selten, aber es klang schön, wenn er es tat. „Jakob.“ Er zerwühlte ihm mit den Fingern die dichten Haare. „In was sind wir da bloß rein geraten?“

„Das ist mir egal.“ Jakob küsste ihn sanft. „Ich finde nur, das könnte ruhig noch ‘ne ganze Weile so weitergehen. Ich will da gar nicht wieder raus geraten, du etwa?“

Karl schüttelte den Kopf und machte sich vorsichtig von ihm los. „Ich muss nach Hause“, erklärte er bedauernd und verzog das Gesicht. „Mein Vater reißt mir jetzt schon den Kopf ab, weil ich so spät komme.“

„Verstehe.“ Jakob sah zu seinem Fahrrad hinüber, das einsam und verlassen zwischen den vielen leeren Fahrradständern stand. „Ich werde mich auch mal auf den Weg machen.“

Karl wartete geduldig, bis Jakob sein Rad abgeschlossen hatte. Schweigen liefen sie durch den langsam abnehmenden Regen zum Schulhoftor.

„Tja, dann...“ Jakob blieb stehen und wies nach links. „Ich muss jetzt da lang.“

„Ich weiß.“ Karl zog ihn zu sich heran und küsste ihn wild. Dann lächelte er. Ihm war noch etwas eingefallen. „Hätte ich in dem ganzen Chaos fast vergessen: Meine Band spielt morgen Abend im Würfel, und ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn du kommen könntest. Natürlich auf Gästeliste.“

Jakob hob die Augenbrauen. „Du spielst in ‘ner Band? Was denn?“

„Posaune.“ Er lachte auf, als er Jakobs überraschten Gesichtsausdruck registrierte. „Wir spielen Skapunk“, fügte er erklärend hinzu.

„Ach so.“ Jakob grinste erleichtert. „Na, dann komme ich doch auf jeden Fall.“ Er schwang sich auf sein Fahrrad.

„Ab zehn, ungefähr.“

„Ich werde da sein.“ Er winkte noch einmal und trat in die Pedale.

Karl sah ihm nach, wie er um eine Ecke verschwand, dann wandte er sich nach rechts und machte sich auf den Weg zur S-Bahn.

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