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My Eyes Have Seen You

Teil 1 - Wie Feuer und Wasser

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Wie Feuer und Wasser

Es war später Abend, auf Pauls Schallplattenspieler drehte sich bereits die dritte Platte in unverminderter Lautstärke, und Pete, der über einem Essay für sein morgiges Seminar saß, verlor langsam die Geduld. Paul flachste herum, wie immer. Machte einen auf Jim Morrison, spielte den Androgynen, den Sexgott. Riss das Fenster auf - schneidende Kälte auf nacktem Oberkörper. Machte Lea an, machte Pete an.

Pete ignorierte ihn, wehrte ihn ab, energisch, als er sich die Sonnenbrille in die schöne Fresse drückte und um ihn herumschlich, echsengleich.

Der Typ hatte es drauf, ohne Zweifel. Schüttelte seine dunklen Locken, schürzte die Lippen. Schmollmund. „Take it easy, baby“, brüllte die Stimme des Todesengels, „take it as it comes!“

Pete stieß ihn von sich. „Verzieh dich, lass mich in Ruhe! Ich hab zu tun. Ich hab…!“

Paul bleckte die Zähne zu einem kurzen Raubtiergrinsen.

„Ich schlag dir deine hübsche Visage ein!“ drohte Pete.

Paul tänzelte zurück zum Fenster. Er lehnte sich weit hinaus und brüllte in den dunklen Hof: „Ich - bin – Gott!“

Lea verschluckte sich an ihrem Bier und prustete. Pete sprang auf. Mit einer rüden Bewegung stieß er Paul zur Seite und schloss das Fenster. Paul ließ sich in den Sessel fallen und lachte.

Pete hätte ihm liebend gern auf der Stelle den Schädel eingeschlagen, aber vor Zeugen machte sich das nicht so gut. Auch gab es dann so hässliche Flecken auf dem Boden, die man hinterher schwer erklären konnte. Und die Verwaltung des Studentenwohnheims war in solchen Angelegenheiten recht pingelig. Er knirschte mit den Zähnen. „Reiß dich zusammen oder ich schmeiße dich raus.“

Paul nahm die Sonnenbrille ab und blickte zu ihm auf. Seine dunklen Augen funkelten spöttisch, und ein lauernder Ausdruck lag in seinem Blick. „Reg dich ab.“ Er erhob sich, um zu Lea hinüberzuschlendern, die noch immer auf Petes Bett saß. „Na, Süße? Alles klar bei dir?“

Lea nickte und strahlte ihn verzückt an. Pete wandte sich ab, als sie ihre Zunge in Pauls Hals steckte, und setzte sich wieder an sein Essay. Er war noch immer wütend. Was nahm dieses Arschloch sich eigentlich heraus? Als das Atmen hinter ihm heftiger wurde, fuhr er herum.

Paul lag rücklings auf dem Bett, während Lea über ihm kauerte. Die beiden waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie Pete völlig ignorierten. Das reichte.

Eine wütende Verwünschung auf den Lippen, verließ Pete sein Zimmer und schlug aufgebracht die Tür hinter sich zu. Es war ja nur so, dass es sein Bett war, welches die beiden gerade derart ausgiebig malträtierten. Es war ja auch nur so, dass dieses verfluchte Essay morgen früh abgegeben werden musste und er noch nicht einmal mit dem Anfang zufrieden war.

Pete blieb vor dem Kaffeeautomaten stehen und kramte in seinen Hosentaschen nach Kleingeld. Der Kaffeeduft beruhigte ihn ein wenig, und er ließ sich, den Pappbecher in der Hand, auf einem der Sperrmüllsessel nieder, die in einer Nische des Wohnheimflures eine Sitzgruppe bildeten.

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, war Lea verschwunden. Paul stand am offenen Fenster und drückte gerade einen Zigarettenstummel auf dem Fensterbrett aus. Auch der Plattenspieler schwieg. Pete ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder und bemühte sich, seine Konzentration erneut auf das Essay zu lenken.

Paul trat zu ihm und warf einen Blick auf das Papier. „Normative… - was?“

Pete funkelte ihn an. „Lass mich arbeiten!“

Paul zog wieder seinen Schmollmund. „Du meine Güte, bist du geladen!“

„Ach ja?!“ Pete hatte Mühe, ihm nicht sofort an die Gurgel zu gehen. Hatte dieser Mensch nichts besseres zu tun, als ihm auf die Nerven zu gehen? „Soll ich mich vielleicht auch noch darüber freuen, dass du mit Lea in meinem Bett rumvögelst?! Mann, ich frage mich wirklich, warum ich dich nicht auf der Stelle rauswerfe!“

Paul grinste süffisant. „Weil du dich nicht traust.“ Es bereitete ihm augenscheinlich Vergnügen, Pete bis aufs Messer zu reizen.

„Weil ich - was?!“ Pete sprang auf. Seine Augen blitzten gefährlich.

Paul strich dessen ungeachtet schmeichelnd um ihn herum. „Es steht dir, wenn du wütend bist“, raunte er ihm ins Ohr.

Pete stieß ihn von sich. „Was sollen diese dämlichen Spielchen?“ fauchte er. „Willst du ein paar in die Fresse?“

„Das wagst du nicht.“ Paul tänzelte mit laszivem Grinsen auf ihn zu. „Du nicht.“

Das war’s. Pete sah rot. Mit einer raschen Bewegung warf er sich auf Paul, und schon wälzten sich beide am Boden, jeder verbissen darum bemüht, die Oberhand zu gewinnen und dem anderen möglichst deutlich klarzumachen, wer das Sagen hatte. Schließlich gelang es Pete, bei Paul ein paar wohlgezielte Faustschläge zu platzieren und ihn am Boden zu fixieren, indem er sich rittlings auf ihn setzte und ihm gleichzeitig die Arme auf dem Rücken verdrehte. Paul wand sich unter ihm wie ein Fisch an der Angel, hatte jedoch keine Chance freizukommen. Er keuchte.

Auch Pete rang nach Atem. Paul war kein so einfacher Gegner gewesen, wie er gedacht hatte, und immer noch schnellte er von Zeit zu Zeit hoch, in der Hoffnung, Pete abschütteln zu können. Keine Chance. Pete lächelte grimmig. Ausgetanzt. Da lag er nun, der gefallene Engel, zwischen seinen Knien. Kein schlechtes Bild. Zudem kein schlechtes Gefühl. Pete merkte, wie sich in seiner Hose etwas regte, und ärgerte sich gleichzeitig über sich selbst. Hatte es dieser Morrison-Verschnitt mit seiner schönen Fresse also doch geschafft, ihn anzugraben. Nicht, dass er sich nicht gern mal angraben ließ - viel zu selten ergab sich im straffen Unialltag Gelegenheit -, aber doch bitte nicht von diesem Wahnsinnigen, von diesem Typen, der eben erst sehr deutlich gemacht hatte, dass er mit jemandem wie Lea viel Spaß haben konnte. Was sollte er von so einem erwarten?

Paul hatte aufgehört, sich zu wehren. „Pete“, keuchte er, noch immer etwas außer Atem.

„Was ist?“ Pete beugte sich über ihn, um ihn besser verstehen zu können.

Paul wandte den Kopf so weit er konnte, und sah ihn aus den Augenwinkeln an. „Besorg‘s mir“, raunte er .

„Was?!“ Wollte der ihn verarschen?

Paul bewegte sich unter ihm, seine funkelnden Augen noch immer auf Pete geheftet. „Besorg’s mir“, wiederholte er eindringlich.

Pete spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss. Dieser verdammte Schweinehund hatte es wirklich drauf. „Jetzt?“

Paul grinste dreckig. „Auf der Stelle.“

Pete gab ihm zögernd die Arme frei und stand auf. Auch Paul erhob sich. Ohne einander aus den Augen zu lassen, entkleideten sie sich. Paul zog Pete zum Bett hinüber und warf sich in einem plötzlichen Überraschungsangriff auf ihn. Eine Weile rangen sie miteinander, aber Pete behielt erneut die Oberhand. „Du bist wirklich nicht ganz dicht“, bemerkte er, während Paul zwischen seinen Knien lag.

„Mir egal“, schnurrte Paul. „Mach schon.“

Das sollte man sich nicht zweimal sagen lassen. Pauls Erregung übertrug sich auf Pete, als er sich auf ihn niedersinken ließ; und als Paul sich unter ihm zu winden begann, gab es auch für Pete kein Halten mehr.

Verschwitzt und erschöpft lagen sie schließlich nebeneinander; Pete das Gesicht zur Decke gewandt, Paul auf der Seite, ihn aus halb geschlossenen Lidern betrachtend.

„So. Zufrieden?“ Es hatte eine Weile gedauert, bis Pete wieder zurechnungsfähig war, doch gleichzeitig mit seinem Verstand setzte auch das Gefühl ein, irgendwie ausgenutzt worden zu sein. Paul hatte ihn bewusst aufgegeilt, um zu bekommen, was er wollte. Jetzt, da er seine Schuldigkeit getan hatte, würde er wohl wieder links liegengelassen werden. Schließlich gab es da ja noch Lea. Und Teresa. Und Ronda. Und Liz. Und sicherlich noch etliche mehr, von denen Paul ihm nicht in aller Ausführlichkeit berichtet hatte. Pete war wütend auf sich selbst, als er sich erhob und sich anzuziehen begann. Noch wütender machte ihn, dass Paul liegenblieb und ihm schweigend zusah.

„Was gibt’s da zu glotzen?“ wollte er ungehalten wissen und warf Paul dessen Hose zu. „Mach hin, zieh dich an. Und dann sieh zu, dass du verschwindest. Kannst dir einen neuen Idioten suchen, der dich bei sich schlafen lässt.“

„Du bist sauer“, stellte Paul fest und stand tatsächlich auf. „Wieso?“

„Wieso?!“ Pete schnaubte wütend. „Deinetwegen. Was sollte das eben? Warum wolltest du das?! Meinetwegen? Bestimmt nicht. Ich war dir doch völlig egal. Es ging dir nur um dich, richtig? Du wolltest etwas neues ausprobieren, das ist alles. Und ich hab mich rumkriegen lassen. Das ist es!“

„Aber es hat dir doch gefallen…?“

„Verdammt noch mal, ja! Darum bin ich ja auch so wütend auf mich! Ich habe gegen meine Prinzipien verstoßen. Aber das interessiert dich ja nicht.“ Pete warf ihm einen finsteren Blick zu. Viel schlimmer beschäftigte ihn das, was er verschwieg: Dass er schon seit einigen Tagen merkte, dass Paul ihm nicht mehr völlig egal zu sein schien. Das war nicht gut. Das war es, was mit seinen Prinzipien kollidierte. Solange er ihn kannte, waren Paul die Gefühle anderer egal gewesen. Und seine würden ihm ganz besonders egal sein. Verfluchte Triebe.

„Du schmeißt mich also raus?“

„Bist du taub?“ Langsam verlor Pete die Beherrschung. „Verschwinde! Raus hier! Hau ab!“ Wütend griff er nach Pauls Sachen, die noch in seinem Zimmer lagen, lief zur Tür, riss sie auf und pfefferte die Sachen in den Flur. „Verschwinde!“ wiederholte er drohend.

Paul beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen. Er hatte keine Lust, noch einmal und diesmal intensiv mit Petes Fäusten Bekanntschaft zu machen. Pete warf die Tür hinter ihm zu und atmete tief durch. Das war geschafft. Vorerst.

Erneut setzte er sich an sein Essay, schrieb eine Weile, strich, verbesserte, fluchte leise. Der Text entwickelte sich nicht, er musste förmlich erzwungen werden, und selbst dann hielt er inhaltlich nur mühsam zusammen. Zu viele andere Gedanken schwirrten durch Petes Kopf. Noch immer war seine Wut nicht verraucht. Der Morgen dämmerte bereits, als er endlich den Stift beiseite legte und das Geschriebene noch einmal überflog. Das Essay war mies, aber immerhin war er fertiggeworden. Und es blieben ihm sogar noch ein paar Stunden Schlaf.

Pete warf sich auf sein Bett, vergrub den Kopf im Kissen und zog sich die Decke über die Ohren. Er war wirklich erschöpft, doch einschlafen konnte er nicht. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er den vergangenen Abend Revue passieren ließ. Er hätte sich vor Paul mehr in acht nehmen müssen, statt dessen war er diesem Arschloch auf den Leim gegangen. Natürlich, Paul hatte etwas an sich, das jeden wahnsinnig machen konnte: Wenn er wollte, war er purer Sex, verdorben bis ins Mark, wenn es ihm passte. Und es passte ihm oft; kein Wunder, dass ihm die Frauen nachliefen wie die Bienen dem Honig. Pete selbst hatte sich resistent gewähnt, hatte seine erbärmlichen Anmachversuche wütend zurückgewiesen. Er kannte Paul seit Jahren und wusste, was er von diesem größenwahnsinnigen Vollidioten zu halten hatte. Dennoch - es war ein wirklich verdammt gutes Gefühl gewesen, den besiegten Sexgott zwischen den Knien liegen zu haben. Und dann…

Pete drehte sich wütend auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er hatte sich übertölpeln lassen wie irgendein halbwüchsiger Volltrottel, dem die Hormone den Geist vernebelten. Paul hingegen hatte berechnend gehandelt, da war er sich sicher. Alles, was Paul tat, war berechnet, mochte es auch noch so verrückt sein. Bestenfalls diente es nur dazu, sein Image zu pflegen. So wie es seinem Image guttat, dass die Verwaltung ihn aus seiner Wohnung geschmissen hatte, nachdem er auf einem LSD-Trip beinahe das ganze Wohnheim abgefackelt hätte. Dass er danach bei Pete Unterschlupf suchte, passte ebenso ins Bild.

Pete - der Unzugängliche, der perverse Intellektuelle. Er wusste um seinen Ruf, und es war ihm egal. Inzwischen war es ihm gleichgültig, was andere über ihn dachten. Zu Beginn seines Studiums hatte er sich noch bemüht, Anschluss zu finden, hatte wirklich versucht, ein paar freundschaftliche Beziehungen aufzubauen, aber vergebens. Sein verfluchter Intellekt, den er trotz allem nicht verbergen konnte - auch hinter seinen Fäusten nicht und hinter einem guten Vorrat übelster Beschimpfungen -, schreckte die meisten ab. Bei vielen galt er - zu Unrecht - als Streber und - besonders anfangs - als Lieblingsstudent der Dozenten.

Pete lachte bitter. Er wusste genau, dass ihn die Mehrzahl der Profs nicht ausstehen konnte. Seines rüden Verhaltens, aber auch seines Verstandes wegen, den er gern einsetzte, um sie bloßzustellen, den er nutzte, um unbequeme Nachfragen zu stellen und endlose Diskussionen zu führen. Die Dozenten brauchten offenbar Studenten, die willenlos rezipierten, was ihnen vorgekaut wurde; solche, die eigenständig denken konnten, waren ihnen ein Gräuel.

Kein Wunder also, dass er begann, sich abzuschotten, sich aber andererseits auch zur Wehr zu setzen gegen Kommilitonen, die glaubten, ihm eine Lektion erteilen zu müssen. Er erwies sich trotz seiner schlanken, sehnigen Statur ganz und gar nicht als der schwächliche Sonderling, den sie erwartet hatten, sondern als der, der er war: Der Sohn eines Minenarbeiters aus L, der sich seiner Haut zu wehren wusste. Daheim - es war für ihn auch nach fünf Semestern auswärts noch immer daheim - hätte es niemand gewagt, sich mit ihm anzulegen, und auch die streitsüchtigen Kommilitonen hier fanden schnell heraus, dass er nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit den Fäusten bestens umzugehen wusste. Seither machten sie einen noch größeren Bogen um ihn, stempelten ihn ab: Unnahbar, finster, intelligent, aber unberechenbar, und - seit neuestem - pervers. Doch letzteres wagte ihm schon niemand mehr offen ins Gesicht zu sagen. Sie ließen ihn in Ruhe. Die meisten jedenfalls.

Es gab auch einige wenige, die versuchten, ihm näherzukommen. Der gut zwei Jahre jüngere Jake McHarrington zum Beispiel, der wie er selbst mit einigem Verstand geschlagen, nicht aber mit den dazugehörigen Fäusten gesegnet war, und der, seit Pete ihm einst ein paar Vollidioten vom Leib hielt, die Gulasch aus ihm machen wollten, nahezu bewundernd zu ihm aufsah. Pete war es gleich. Der Kleine störte ihn nicht, solange er seinen Götzendienst unauffällig und von Ferne versah.

Und dann war da natürlich noch Paul mit der hübschen Fresse. Der Weiberheld, der Unzurechenbare, der Durchgeknallte. Auch Paul hatte viele Labels, und er pflegte sie alle mit Hingabe. Er tauchte anfangs stets nur sporadisch in Petes Nähe auf, dafür war er aber zäh genug, sich nicht verscheuchen zu lassen, und mit der Zeit hatte sich Pete mit ihm abgefunden. Dass er Paul bei sich aufgenommen hatte, als dieser nach dem Rausschmiss durch die Verwaltung vor seiner Tür stand, war ihm erstaunlich selbstverständlich erschienen. Er hatte nicht lange darüber nachgedacht. Paul hatte seinen Kram in eine Ecke gestellt und im Schlafsack auf dem Teppich unter dem Schreibtisch genächtigt. Viel mehr Platz gab es nicht in Petes Zimmer.

Es wäre falsch, von einer Freundschaft zu sprechen, vielmehr war es eine Art friedlicher Koexistenz zweier an sich völlig gegensätzlicher Menschen. Pete war für Paul insofern interessant, als es seinem Image zugute kam, sich mit dem düsteren Unnahbaren gutzustellen. Wahrscheinlich brüstete er sich jetzt bereits damit, Pete so nahe gekommen zu sein, wie es sich kein Kommilitone vorstellen konnte. Oder wollte. Und wenn schon.


Ein lautes, schrilles Geräusch riss Pete aus seinem kurzen, unruhigen Schlaf. Missmutig streckte er die Hand aus und stellte den Wecker ab. In einer dreiviertel Stunde begann sein erstes Seminar für diesen Tag.

Fünf vor acht betrat er den Hörsaal. Vom Dozenten war noch nichts zu sehen, dafür entdeckte er, als er sich auf einem freien Platz niederließ, links vor dem Fenster Paul, der, den Kopf in den Armen vergraben, mit dem Oberkörper auf der Tischplatte lag und schlief. Offensichtlich hatte auch er in der Nacht nicht mehr viel Schlaf abbekommen. Pete registrierte das mit einer gewissen Genugtuung.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren“, dröhnte der unverkennbare Bass des Professors von der Tür her, und der angegraute Akademiker schritt würdevoll zwischen den Tischreihen hindurch nach vorn zum Pult. „Mr. Benson“, begrüßte er Paul, der, von seinem Nebenmann mittels Rippenstoß geweckt, verschlafen in den Raum blinzelte. „Es ist schön zu sehen, dass ich nun auch Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe. Wären Sie wohl so freundlich, die Essays, welche von Ihnen allen - und davon gehe ich aus - sicherlich mit großem Enthusiasmus verfertigt worden sind, einzusammeln? Verbindlichsten Dank.“

Paul murmelte etwas unverständliches, erhob sich jedoch, um der Anweisung des Professors nachzukommen.

Pete merkte, wie er sich innerlich anspannte, je näher Paul dabei seiner Bank kam. Auch Paul wurde unmerklich langsamer. Doch schließlich stand er auch vor Petes Platz, nahm das Essay in Empfang und sah dabei vorsichtig auf. Petes kalter Blick verhieß nichts Gutes, er war noch immer wütend.

Paul senkte die Augen wieder und murmelte leise: „Tut mir leid.“ Dann setzte er seinen Weg fort.

„Sehr schön.“ Professor McAllister fuhr anerkennend über den Papierstapel, den Paul ihm auf das Pult gelegt hatte. „Aber ich vermisse noch Ihr Meisterwerk, Mr. Benson.“

Paul hatte sich wieder auf seinem Platz niedergelassen und schien diese Bemerkung überhört zu haben.

„Mr. Benson?“

„Anwesend.“ Er hatte schließlich einen Ruf zu verteidigen. Weiter hinten im Hörsaal wurde bereits gekichert.

„Das sehe ich.“ Der Dozent runzelte ärgerlich die Stirn. „Wo Ihr Essay ist, möchte ich wissen!“

„Das würde ich auch gern wissen.“ Paul blickte unschuldig zu ihm auf. „Dort vielleicht?“ Er wies mit ausgestrecktem Finger auf den Essaystapel.

„Bestimmt nicht.“ Professor McAllister klang gereizt. Das Seminar drohte ihm aus dem Ruder zu laufen. Belustigt verfolgten die Studierenden den Schlagabtausch zwischen dem Dozenten und dem Enfant terrible des Instituts.

„Wären Sie so gütig, noch einmal nachzusehen?“ Pauls Stimme war zuckersüßer Honig. „Ich bin mir sicher, dass ich es abgegeben habe.“

„Und ich weiß, dass dem nicht so ist!“

„Woher wollen Sie das denn wissen? Sie haben sich die Essays doch noch gar nicht angesehen!“

Es war spannend zu beobachten, wie McAllisters ohnehin permanent gerötetes Gesicht noch röter wurde, wie die Adern an seinen Schläfen anschwollen und sein Blick Paul zu durchbohren schien. „Sie unverschämter Mensch!“ fuhr er den Studenten an. „Verlassen Sie auf der Stelle mein Seminar!“

Paul sprang auf und grinste entwaffnend. „Mit dem größten Vergnügen!“ Ohne sich noch einmal nach dem zutiefst beleidigten Professor umzusehen, griff er nach seiner Jacke und schlenderte zum Ausgang.

Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete McAllister hörbar aus, überflog mit einem letzten kritischen Blick sein Auditorium und setzte ein etwas gequältes Lächeln auf. „Kommen wir nun also endlich zum Stoff unserer heutigen Sitzung…“


Obwohl er Paul an diesem Tag nicht wieder zu Gesicht bekam, ging er Pete nicht aus dem Sinn. Schön, der Typ hatte sich entschuldigt. Allerdings hatte das nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Es war schließlich das mindeste, was Pete nach dem vergangenen Abend erwartete. Bemerkenswerter war da schon die Tatsache, dass Paul offenbar noch nicht in der ganzen Uni herumposaunt hatte, dass er mit Pete geschlafen hatte. Besaß er demnach vielleicht doch ein leises Gefühl von Anstand und Achtung vor der Privatsphäre anderer Menschen? Schwer, sich derartiges im Zusammenhang mit Paul vorzustellen.


Pete lag auf seinem Bett und döste. Mittwoch war sein ‚langer‘ Tag - bis in den Abend hinein vollgestopft mit Vorlesungen und Seminaren. Immerhin hatte er dafür den Donnerstag frei, dennoch - Mittwoche schlauchten ungemein, und er war jedesmal froh, diesen Tag überstanden zu haben.

Er hatte sich mittags in der Mensa - wohl wissend, dass er abends erschöpft und hungrig in sein Zimmer zurückkehren würde - vorsorglich ein Schinkensandwich gekauft, von dem er nun von Zeit zu Zeit abbiss. Der Bewohner des Zimmers über ihm schien wieder einmal intensiv Basketball zu üben - zumindest klang es so -, doch selbst das störte ihn im Moment nicht weiter. Bei Gelegenheit würde er dem nervenden Nachbarn schon noch klarmachen, was er von solchem abendlichem Krach hielt; darauf sollte der sich schon mal einstellen.

Ein zögerndes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Wer zum Teufel…?! Er setzte sich auf und warf einen gereizten Blick auf die Uhr. Halb elf. Es klopfte erneut. Pete erhob sich, trottete zur Tür und schloss auf. „Was willst du?“

Paul grinste schief. Die Begrüßung fiel noch eisiger aus als er erwartet hatte. „Kann ich reinkommen?“

„Nein.“ Petes Augen blitzten schon wieder gefährlich auf.

„Bitte.“

Pete horchte auf. Dieses Wort gehörte nun wirklich nicht zu Pauls alltäglichem Vokabular. „Was willst du?“ wiederholte er.

„Ich würde gern reinkommen.“ Paul blinzelte.

„Nur, wenn du das bleiben lässt“, erklärte Pete drohend.

„Wenn ich was lasse?“

„Du weißt genau, was ich meine! Genau dieses aufreizende Gehabe, dein verdammtes Sexappeal. Lass es stecken, verstanden?!“

Paul tat überrascht. „Ich hab Sexappeal?“ Petes Blick brachte ihn sofort zum Schweigen.

„Mir scheißegal, wie du das nennst. Ich will jedenfalls nicht von dir angemacht werden, ist das klar?!“

„Klar. Ich möchte nur mit dir reden, okay?“

Pete trat zur Seite und ließ ihn ins Zimmer. Paul ließ sich in den Sessel am Fenster sinken und streckte die Beine von sich.

„Also?“

„Was – also?“

„Du wolltest reden. Ich höre.“ Pete lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Zimmertür und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich…“ Paul seufzte genervt, starrte erst an die Decke, dann auf die Wand links von sich, warf Pete einen Blick zu und stockte kurz. „Ich habe nachgedacht“, erklärte er dann.

„Das wäre ja was ganz neues.“

„Nein, wirklich. Und ich weiß jetzt, dass du recht hast. Ich hab… Es war völlig daneben, was ich gestern abgezogen habe.“

„Es war egoistisch.“

„Ja, das sicherlich auch. Meinetwegen. Und du hast allen Grund, sauer zu sein.“

„Ich bin nicht nur sauer“, erklärte Pete bestimmt und stieß sich von der Tür ab. Er trat zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder. „Ich bin auch verletzt, verdammt noch mal.“

Paul sah ihn überrascht an. „Verletzt?“

„Himmel noch mal, ja! Was glaubst du denn, was ich bin? Ein Steinklotz? Eine Maschine?!“ Pete war wütend aufgesprungen, riss sich nun aber wieder mühsam zusammen und schraubte seine Stimme auf Zimmerlautstärke herunter. Anstatt sein Gefühlsleben vor diesem Arschloch auszubreiten, sollte er ihm lieber ein paar reinwürgen. „Was sagt eigentlich Lea dazu, dass du dich hinter ihrem Rücken von irgendwelchen Kerlen vögeln läßt?“

Paul zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Mir doch egal. Begeistert war sie nicht. Na und? Meine Sache.“

Seine Selbstsicherheit trieb Pete fast zur Weißglut. „Da hast du’s! Es ist dir scheißegal! Du machst dir nichts aus Gefühlen anderer Menschen!“

„Wie meinst du das?“

Pete schnaubte wütend. „Hat Lea was für dich übrig?“

„Ich denke schon.“

„Und du hast du was für sie übrig?“

Paul zuckte mit den Schultern.

„Und für Teresa? Für Liz? Für Ronda?“ Petes Stimme wurde immer lauter.

Paul sah ihn nachdenklich an. „Ich weiß nicht… Aber wieso… Worauf willst du hinaus?“ Er stockte. „Hast du etwa was für mich übrig?“

„Das könnte dir so passen, was?“ fauchte Pete ihn an. „Aber das kannst du vergessen, du räudiger Hundsfott! Darauf kannst du warten, bis zu grün anläufst und tot umfällst. Für mich ist kein Platz in deiner Sammlung!“

„Schön!“ Paul wurde ebenfalls ungehalten. „Das habe ich auch gar nicht nötig!“

„Ach so? Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du es gestern aber verdammt nötig!“ Petes Gebrüll war wahrscheinlich noch vier Zimmer weiter zu hören, aber das kümmerte ihn im Moment wenig.

Paul stand ihm darin in nichts nach: „Ach, und du etwa nicht?! Soweit ich noch weiß, musste ich dich zu nichts zwingen, oder habe ich da etwas verpasst?!“

Ich verpass dir gleich was!“

„Na prima! Darin bist du groß! Los, schlag mich ruhig!“ Auch Paul war nun aufgesprungen, und wie zwei Kampfhähne standen sie sich in dem engen Raum gegenüber, die Fäuste geballt, bereit, jeden Moment aufeinander loszugehen.

„Das hättest du wohl gern!“ brüllte Pete, ungeachtet dessen, dass im Zimmer rechts von ihm jemand bereits seit längerem energisch mit der Faust gegen die Wand hämmerte.

„Nein, hätte ich nicht!“ gab Paul wütend zurück. „Ich kann mir wirklich angenehmeres vorstellen!“

„Du bist ein obszönes, selbstsüchtiges Arschloch!“

Das habe ich nicht gemeint!“

„Ach ja?!“

„Ach ja!“

Jemand hämmerte nun laut und eindringlich gegen die Zimmertür. Mit wenigen Schritten war Pete dort und schloss auf. „Was ist?!“ wollte er ungehalten wissen.

Sein Zimmernachbar stand draußen. „Könntet ihr euch vielleicht einen Tick leiser anbrüllen? Es gibt Leute hier, die versuchen zu schlafen.“

Pete war gerade gut in Fahrt. „In meinem Zimmer kann ich brüllen, so viel ich will!“ herrschte er den Studenten an. „Wenn dir das nicht passt, können wir das gern draußen klären!“

Der Nachbar verzichtete - Petes Ruf hatte also auch diesbezüglich Spuren hinterlassen - und verschwand, einen Fluch auf den Lippen, wieder in seinem Zimmer. Pete warf die Tür hinter ihm zu und wandte sich um.

„Und du nennst mich selbstsüchtig“, knurrte Paul, und bevor Pete wieder explodieren konnte, wechselte er rasch das Thema: „Kann ich hier schlafen?“

Pete starrte ihn an wie einen Wahnsinnigen. „Was?!“ Das konnte doch nicht wahr sein!

Paul ließ sich wieder in den Sessel sinken und wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr selbstsicher. „Kann ich hier schlafen?“ wiederholte er mit einer kaum wahrnehmbaren bittenden Nuance im Tonfall.

„Du spinnst wohl“, war die Antwort. Doch auch Petes Wut hatte sich halbwegs gelegt. „Warum kriechst du nicht bei Lea unter?“

Paul zog eine Grimasse. „Sie hat Angst, dass sie Ärger mit der Verwaltung bekommen könnte.“

„Das könnte ich auch“, knurrte Pete. „Und was ist mit den anderen?“

„Liz hat einen neuen Stecher, da hab ich es schon probiert. Ronda will mich auch nicht mehr sehen, und Teresa ist für zwei Wochen bei ihrer Schwester in London.“

„Und deine ganzen beschränkten Freunde?“

Paul warf ihm einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern.

Pete ließ sich am Tisch nieder. „Wo hast du denn heute nacht geschlafen?“ wollte er wissen.

„Auf diesen Sesseln draußen im Flur. Wo sollte ich denn sonst hin?“

Pete stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und das Gesicht in die Hände. Das Geräusch, das er dabei von sich gab, klang wie eine Mischung aus Stöhnen und Seufzen. Hatte er eine andere Wahl? Dieser geknickte, unsichere Paul war fast noch schlimmer als die schlechte Morrison-Kopie: Er rührte nicht seine Triebe, sondern sein Gewissen. Und das war erbarmungslos. Er konnte Paul nicht vor die Tür setzen. „Also gut“, gab er leise nach. „Unter einer Bedingung: Du versuchst nicht wieder, mich anzumachen.“

„Kein Problem“, beeilte sich Paul zu versichern.


Pete lag in seinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte die nachtdunkle Zimmerdecke an. Es war fast die gleiche Situation wie in der vergangenen Nacht, doch diesmal lag Paul, nur durch einen halben Meter Gang von ihm getrennt, in seinem Schlafsack an der gegenüberliegenden Längswand des schmalen Raumes, über sich den Tisch, an seinen Füßen den Sessel, an seiner Kopfseite Petes Kleiderschrank. Es war für einen Menschen schon sehr klein, das Zimmer. Für zwei bot es erst recht kaum Platz. An den leisen Atemgeräuschen des anderen merkte Pete, dass auch Paul noch wachlag.

„Pete?“ kam die leise Frage unter dem Tisch hervor.

„Was ist?“

„Ich kann so nicht schlafen. Es ist verflucht unbequem auf dem Boden.“

„Und?“ Pete war zufrieden: Das hatte genau so schroff geklungen, wie es klingen sollte. War das hier etwa ein Hotel?!

„Könnte ich vielleicht bei dir schlafen…?“

„Vergiss es.“ Pete wurde schon wieder wütend. Dieser miese, kleine Scheisser versuchte es doch tatsächlich!

„Aber warum denn nicht?“

„Ich kann auch nicht schlafen, obwohl ich sehr bequem liege. Darum.“

„Vielleicht sollten wir tauschen?“

„Du hast sie wohl nicht mehr alle!“

Paul seufzte. „Und wenn ich dir hoch und heilig verspreche, dass ich nichts im Schilde führe? Darf ich dann zu dir?“

„Bist du taub?“

„Nein…“

„Dann schlaf.“

„Du hast kein Herz, du hast einen Stein in der Brust! So ist das nämlich.“

„Das sagst ausgerechnet du?“

„Schon gut.“ Paul seufzte erneut, drehte sich auf die andere Seite und stieß dabei mit dem Kopf schmerzhaft gegen ein Tischbein. „Verdammte Scheiße…“, fluchte er unterdrückt und rieb sich die schmerzende Stirn. Dann rollte er sich zusammen und versuchte erneut einzuschlafen.

Pete lauschte einige Minuten lang in die Dunkelheit und rang mit sich selbst. Er sollte den Mistkerl lieber erwürgen, das würde alles viel einfacher machen. Statt dessen hatte er heute offensichtlich seinen großmütigen Tag. Hoffentlich lag das nur an seiner Müdigkeit nach diesem langen Mittwoch und wurde nicht zur schlechten Angewohnheit. „Paul?“

„Ja?“

„Hoch und heilig?“

„Drei Eide!“ schwor Paul hoffnungsvoll, befreite sich aus dem Schlafsack und schlüpfte zu Pete unter die Decke.

„Moment mal, ich dachte eigentlich, dass du hier im Schlafsack…?“

„Aber so ist es doch viel einfacher.“

Pete gab entnervt auf, drehte sich zur Wand und schloss die Augen.


Als Paul erwachte, war es bereits kurz vor Mittag. Er brauchte einen Moment, bis er sich zurechtfand, doch auch mit geschlossenen Augen erkannte er: Es war nicht sein Bett, nicht sein Zimmer, in dem er schlief, auch wenn alle Zimmer im Studentenwohnheim aus der Laune eines griesgrämigen Architekten heraus nahezu den gleichen beengenden Schnitt und Dank der sparsam verwendeten Mittel der Verwaltung eine identische spartanische Ausstattung aufwiesen und es daher nicht verwunderlich war, sich im ersten Augenblick nach dem Aufwachen nicht sicher zu sein, in welchem Raum man die Nacht zugebracht hatte. Doch es dauerte nur Sekunden, bis ihm die Ereignisse des vergangenen Abends wieder präsent waren und er wusste, wo er sich befand.

Das zweite, was er feststellte, war, dass er allein in diesem Bett lag, das nicht das seine war. Er öffnete die Augen und blinzelte in die plötzliche Helligkeit.

Pete saß im Sessel unter dem Fenster und blickte zu ihm herüber. „Na, endlich wach?“ brummte er.

Paul gähnte herzhaft. „Geht so. Wieso bist du schon auf? Ich dachte, du hast heute frei?“

Pete zuckte mit den Schultern. Was sollte er ihm auch antworten? Dass er aus dem Bett geflüchtet war, um nicht noch einmal seinen selbstgesteckten Grundsätzen untreu zu werden? Dass er vor dem überaus angenehmen Gefühl geflohen war, nicht allein aufzuwachen? Dass Paul in seiner völlig ungewohnten Verletzlichkeit, die er im Schlaf ausstrahlte, einen fast schon schmerzhaften körperlichen Reiz auf ihn ausgeübt hatte und er es deswegen vorzog, sich in den Sessel zu verziehen und den jungen Mann mit übelsten Verwünschungen zu belegen, um sich genau diesen Reiz nicht eingestehen zu müssen? Das wäre die Wahrheit gewesen, aber damit hätte er diesem Wahnsinnigen, der ihn schon einmal ausgenutzt hatte, auf den er deswegen ja noch immer wütend war, in die Hände gespielt. So blickte er auch düster zur Seite, als Paul sich genüsslich streckte.

„Ist irgendwas?“ Das war also aufgefallen. „Hab ich Warzen im Gesicht oder sowas?“ Paul saß aufrecht im Bett und forderte Rechenschaft.

„Nein, hast du nicht.“ Der hatte es gerade nötig - mit seiner schönen Fresse.

„Was ist es dann? Sieh mich an“, forderte er.

Paul warf ihm einen kurzen Blick zu.

„Länger.“

Paul hob die Augen und starrte ihn zornig an. Der hatte hier überhaupt nichts zu befehlen, der Vollidiot. Jetzt setzte der auch noch dieses dreckige Grinsen auf und schickte ihm diesen unglaublich lasziven Blick, der bei Pete ganz bestimmte Körperregionen in Alarmbereitschaft versetzte. Was bildete der sich eigentlich ein? „Lass das.“

„Aha.“ Pauls Grinsen wurde noch eine Spur dreckiger. „Das ist es also, mein vielgerühmtes Sexappeal.“ Er ließ sich nach vorn sinken und robbte bis hart an die Bettkante, ohne Pete aus den Augen zu lassen. „Du willst mich“, raunte er und räkelte sich aufreizend. „Ich seh’s dir doch an.“

„Blödsinn“, widersprach Pete schwach. Doch erst als Paul zu ihm auf den Sessel geklettert kam, fand er die Kraft, ihn in seine Schranken zu verweisen.

Zu seinem größten Erstaunen fand sich Paul plötzlich mit schmerzendem Kinn auf dem Boden wieder. Er setzte sich auf und rieb sich die Stelle, wo Petes Faust ihn getroffen hatte. „Was sollte das denn?“

Pete hatte die Knie angezogen, auf denen jetzt seine Hände ruhten. „Du hast es geschworen“, erinnerte er den gefallenen Engel an sein Versprechen. Er hatte sich wieder vollkommen unter Kontrolle und bedachte Paul mit einem langen, eindringlichen Blick.

„Ja, ich weiß. Aber…“

„Kein aber. Wenn du weiterhin hier schlafen willst, bis du’s schaffst, eine vernünftige Bleibe für dich aufzutreiben, hast du dich an meine Regeln zu halten, klar? Das heißt: Mein Bett ist tabu für dich. Du lässt deine albernen Anmachen. Und was bisher zwischen uns vorgefallen ist, bleibt auch zwischen uns. Verstanden?“

Paul warf ihm einen finsteren Blick zu. „Wenn es sein muss…“

„Ja oder nein?“

Paul knurrte. „Ja.“

„Noch so eine Aktion wie gerade eben - und du sitzt endgültig auf der Straße, klar?“

„Ja.“ Paul erhob sich ungehalten. „Noch was?“

„Allerdings.“ Pete grinste spöttisch. „Deine Vorlesung beginnt in genau acht Minuten.“

„Arschloch.“ Paul stieß wütend die Luft aus und griff nach seinen Kleidern.


Pete saß in der Bibliothek, vor sich einige wichtige Bücher, die er endlich bekommen konnte, und war mit dem Exzerpieren für ihn relevanter Textstellen beschäftigt. Unwillig blickte er von seiner Arbeit auf, als sich jemand zu ihm an den Tisch setzte. Es war Jake McHarrington, der  Erstsemester, dem er vor kurzem erst die Knochen gerettet hatte. „Was ist? Hast du wieder Ärger?“

McHarrington schüttelte den Kopf. „Ich nicht, aber…“ Er senkte die Stimme und beugte sich zu Pete hinüber. „Ich dachte, es wäre besser, wenn du’s gleich erfährst: Es wird geredet, über Paul und dich.“

„Was wird geredet?“

„Du sollst…“ Er versicherte sich mit einem raschen Blick über die Schulter, dass niemand in der Nähe war. „Du sollst mit ihm geschlafen haben.“

Pete legte den Stift zur Seite. „Wer sagt das?“ Sollte Paul es gewesen sein, würde er ihn noch heute rauswerfen, darauf konnte er sich verlassen, der Hund.

„Alle. Ich dachte nur, es wäre besser, wenn du es so erfährst.“

Pete runzelte die Stirn. „Und was sagen sie?“

McHarrington zuckte mit den Schultern. „Es gibt einige, die es pervers finden. Du weißt ja… Aber“, fügte er überzeugt hinzu, „dir werden sie nichts tun. Dafür haben sie zu viel Respekt vor dir.“

„Respekt?“ Pete lachte grimmig auf. „Dazu gehört aber noch was anderes. Sie haben Angst, das ist alles.“

„Meinetwegen. Aber sie werden dich in Ruhe lassen.“ Er erhob sich und wandte sich zum Gehen.

Pete sah zu ihm auf. „Danke.“

McHarrington hob bedauernd die Schultern und ging.

So, nun war es also geschehen, sein Privatleben endgültig in die Öffentlichkeit gezerrt. Der Campus war zwar keine sehr große, aber eben dennoch eine Öffentlichkeit. Mochte sein, dass es einigen gefiel, ihr Leben vor allen auszubreiten, ihm jedenfalls war es zuwider. Er räumte die Bücher zusammen, griff nach seinen Unterlagen und verließ die Bibliothek. Sein Bedürfnis nach Geselligkeit näherte sich dem negativen Bereich.

Auf dem Weg zum Studentenwohnheim bemerkte er immer wieder verstohlene Blicke, doch er wusste, dass sich niemand trauen würde, ihm ins Gesicht zu sagen, was die Grüppchen, an denen er vorbeilief, hinter seinem Rücken leise diskutierten. Trotzdem war er froh, als er seine Zimmertür hinter sich ins Schloss werfen konnte. Er ließ sich im Sessel nieder, streckte die Beine weit von sich und überdachte seine Lage. Vielleicht sah er alles viel zu negativ? In ein paar Tagen würden sich die Leute wieder beruhigt haben. Es war ja  auch zu lächerlich: Es gab mit Sicherheit keinen Studenten, der sich asketisch in seinem Zimmer verschloss und Zeit seines Studiums Mönch blieb. Alle vögelten sie in der Gegend herum, und niemand nahm Anstoß daran. Wieso also bei ihm dieses Theater? Weil er es statt mit einer heißen Braut lieber mit einem gefallenen Engel getrieben hatte? Vielleicht weil er es gerade mit diesem Engel getrieben hatte, der dafür bekannt war, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen? Ein Angriff auf die Männlichkeit? Pete lachte bitter. Seine Männlichkeit jedenfalls hatte nicht gelitten, ganz im Gegenteil.

Es klopfte, und Pete erhob sich, um zu öffnen.

Paul trat ins Zimmer, ließ sich in den Sessel fallen und lehnte den Kopf nach hinten. Trotz der dichten Wolkendecke draußen und des dämmrigen Lichts im Zimmer trug er schon wieder seine Sonnenbrille. Lizzard King. Affig.

Pete lehnte sich an den Schrank und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich höre?“

Paul hob den Kopf. „Ich war’s nicht.“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Glaub es oder lass es sein. Von mir haben sie es jedenfalls nicht.“

„Von wem denn dann?“

„Weiß nicht. Vielleicht von Lea? Du weißt, dass ich es ihr erzählt habe.“ Durch die getönten Gläser waren seine Augen nicht zu erkennen, aber Pete war sich sicher, dass Paul ihn ansah. „Du glaubst mir nicht, oder?“

„Welchen Grund hätte ich denn?“

„Regel Nummer drei. Mann, ich bin nicht scharf darauf, hier rauszufliegen! Ich bin auf dich angewiesen, wieso sollte ich also sowas machen? Du kannst mir glauben, ich habe nichts damit zu tun.“

Pete maß ihn mit einem zweifelnden Blick. „Nimm die Brille ab.“

„Wieso?“

„Weil es albern ist. Außerdem will ich deine Augen sehen, wenn ich mit dir rede. Nimm sie ab.“

„Nein.“ Paul verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Nimm sie ab“, kam es nun schon drohend von Pete.

„Ich denk ja nicht dran! Es ist meine Brille, und wenn ich sie tragen will, dann trage ich sie!“

„Aber es ist mein Zimmer!“ fauchte Pete.

„Ich bin ein freier Mensch!“ brüllte Paul zurück. „Laut Gesetz habe ich das Recht, Sonnenbrillen zu tragen, wo immer ich es für nötig halte!“

„Nimm das Scheißteil ab, oder ich reiß dir den ganzen Kopf ab!“

„Bitte schön! Tu dir keinen Zwang an!“

Mit zwei Schritten war Pete am Sessel, griff nach der Brille, die Paul an den Bügeln gepackt hielt, und riss sie ihm trotz Gegenwehr vom Kopf.

„So. Zufrieden?“

Pete erstarrte in der Bewegung und ließ die Hand mit der Sonnenbrille sinken. „Was ist denn mit dir passiert?“ fragte er überrascht.

„Nichts.“ Paul senkte störrisch den Kopf.

„Sieh mich an“, bat Pete.

„Nein.“

„Paul! Sieh mich an.“

Trotzig hob Paul den Blick. Seine Augen funkelten drohend. Vielmehr funkelte nur das rechte. Das linke war so stark zugeschwollen, dass er kaum noch etwas damit sehen konnte. Auch seine Augenbraue schien etwas abbekommen zu haben; verkrustetes Blut klebte in den feinen Härchen.

„Was ist passiert?“ wiederholte Pete ruhig.

„Ist doch unwichtig.“

„Ich will es wissen!“

Paul schnaubte ungehalten. „Es war nichts weiter. Ich hatte nur ein bisschen Ärger mit ein paar Idioten aus dem sechsten Semester.“

„Warum?“

„Deinetwegen“, knurrte er.

„Was?“ Pete begann zu begreifen. „Soll das heißen, es hat was mit dem Gerede zu tun, das über uns im Umlauf ist?“

„Es ist ja nicht nur Gerede, es stimmt ja.“

„Aber das können die doch nicht wissen.“

„Tja.“ Paul angelte seine Zigaretten aus der Jackentasche und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Seine Hände zitterten.

Pete sah ihm aufmerksam zu. „Was genau ist passiert?“

„Nichts weiter.“ Paul zog an seiner Zigarette. „Sie haben mich abgefangen und wollten wissen, ob die Gerüchte stimmen. Hätte ich nein sagen sollen? Dann sind sie über dich hergezogen. Du hättest mich verführt, du wärst gefährlich und pervers, wer weiß, wie viele du noch rumkriegst… Und so weiter und so weiter.“ Er zog erneut an der Zigarette und ließ den Rauch in kleinen Kringeln aus seinem Mund entweichen. „Ich hab das richtiggestellt, und da haben sie mir das da verpasst.“

Pete runzelte die Stirn. „Was hast du gesagt?“

Paul hob den Kopf und grinste schwach. „Dass es geil war, mit dir zu schlafen. Dass es ihnen allen guttun würde, sich von dir vögeln zu lassen. Die wissen ja gar nicht, was ihnen entgeht.“

„Soso“, knurrte Pete. „Na, das erklärt einiges. Trotzdem…“ Er gab Paul die Sonnenbrille zurück. „Ich will wissen, wer es war.“

„Ein paar aus dem sechsten, hab ich doch schon gesagt“, erklärte Paul ausweichend.

„Namen?“ Als Paul dazu schwieg, winkte Pete ab. „Kann ich mir eigentlich auch denken, wer das gewesen ist. Lass mich raten: Jefferson?“ Er sah, dass er richtiglag. „Dann wohl auch O’Bailey, Blacksmith und – Feddersen?“

Paul schüttelte den Kopf. „Feddersen nicht, sie waren nur zu dritt.“

„Schön.“ Pete starrte finster vor sich hin. Dann blickte er auf. „Ich werde mal sehen, ob ich ein bisschen Eis organisieren kann, für dein Auge. Warte hier.“


Pete lief den dämmrigen Wohnhausflur entlang. Sicher, um Eis würde er sich kümmern, aber vorher hatte er noch etwas anderes zu erledigen. Die dritte Etage sah haargenau so aus wie die zweite, aber nach zwei Jahren in dieser Einförmigkeit fand er sich mühelos zurecht. Erstsemester hatten es da schwerer, und man erkannte sie meist daran, dass sie mit einem Ausdruck leichter Panik in den Augen von Tür zu Tür wandelten und aufmerksam die Namen und Zimmernummern abglichen.

Pete wandte sich nach rechts und blieb neben dem Flurfenster stehen. Die Tür vor ihm trug die Nummer 324. Er war am Ziel. Mit der Faust hämmerte er gegen das Holz, wartete nicht, bis ihm die Tür geöffnet wurde, sondern trat sie, kaum war der Schlüssel im Schloss gedreht und ein winziger Lichtspalt sichtbar geworden, mit einer energischen Bewegung einfach auf.

„Bist du verrückt geworden?!“ Clyde Jefferson rieb sich die Schulter, an der ihn die Tür getroffen hatte, und funkelte den Eindringling wütend an. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“

Pete kümmerte sich nicht um sein Geschrei. Selbstsicher trat er ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Du weißt sicher, warum ich hier bin?“ wollte er mit einem drohenden Unterton in der Stimme wissen und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen.

„Nein, keine Ahnung“, knurrte Clyde, die Hand noch immer an der schmerzenden Schulter.

Pete bemerkte den filigran gearbeiteten Siegelring am Mittelfinger. Daher also der Riss in der Augenbraue. „Ihr habt Paul verprügelt“, klärte er den Unwissenden auf. „Schon vergessen?“

„Und?“ Clyde schickte ihm einen feindseligen Blick. „Was geht dich das an?“ Seine Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen und ein hämisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Ach ja, ich vergaß! Er ist ja jetzt dein Lustknabe, was?“

Pete sah rot. Er packte Clyde am Kragen und wirbelte ihn herum, dass er gegen die Tür knallte. „Er ist ein Freund, ist das klar?!“ fauchte er ihm ins Gesicht. „Und ich habe entschieden was dagegen, wenn sich jemand an meinen Freunden vergreift!“

Clyde versuchte, sich zu befreien, doch Pete musste nur den Griff um seinen Hals ein wenig verstärken, um ihn davon abzubringen. „Was hast du vor?“ röchelte Jefferson. Unter Petes kaltem Blick wurde ihm langsam bange.

„Was glaubst du denn?“ Pete knirschte mit den Zähnen. „Hast du Angst, dass ich dir was antue? Dich vielleicht umbringe oder gar ein bisschen vergewaltige? Das ist es doch, oder? Keine Sorge, ich will mir ja nicht irgendwas ansteckendes wegholen.“ Er ließ ihn los und stieß ihn zur Seite. „Ich will dich nur warnen, du kleines venerisches Arschloch: Sollte ich noch einmal sowas mitbekommen, dann kannst du dir und deinen Kumpanen schon mal Plätze im Krankenhaus reservieren. Hast du verstanden?“

Clyde, seiner körperlichen Unterlegenheit voll bewusst, knurrte etwas unverständliches.

„Ob du mich verstanden hast?“ wiederholte Pete drohend.

„Ja…“

„Fein.“ Er warf Clyde einen finsteren Blick zu und sah sich um. „Hast du Eiswürfel?“

„Was?“

„Ob du Eis hast, will ich wissen“, brüllte Pete. „Bist du schwerhörig?“

Clyde beeilte sich, ihm das gewünschte aus dem Gefrierfach seines Kühlschrankes - er war einer der wenigen, die sich einen solchen im Wohnheim leisten konnten - zu holen. Noch hatte Pete ihn kaum angerührt, und er zog es vor, es dabei zu belassen. Andernfalls, das wusste Clyde, würde er selbst eine ganze Menge Eis nötig haben.

Pete kehrte zufrieden in sein Zimmer zurück. „Hier.“ Er löste die Eiswürfel aus ihrem Behälter, wickelte sie in ein Geschirrtuch und reichte Paul das Paket. „Leg dich hin und pack dir das aufs Auge.“

Während Paul sich gehorsam auf dem Bett ausstreckte, machte Pete sich daran, aus seinen Vorräten ein annehmbares Abendessen zu fabrizieren. Brot war noch genug da, Käse und Butter lagen in einem festgezurrten Pappkarton draußen auf dem Fensterbrett, um frisch zu bleiben. Einige Tomaten und ein Glas mit eingelegten Gurken fanden sich ebenfalls noch. Er setzte Wasser auf - jedes Zimmer verfügte über zwei elektrische Kochplatten und ein Waschbecken - und warf eine Handvoll Teeblätter in die Kanne. Es wurde langsam Zeit, dass er mal wieder einkaufen ging. „Paul?“

„Hm?“

„Wann beginnt morgen deine erste Vorlesung?“

„Um zwölf, wieso?“

„Dann gehst du morgen früh einkaufen.“

„Wieso das denn?“

„Weil du Zeit hast.“ Pete füllte das kochende Wasser in die Teekanne und stellte sie auf den Tisch. „Ich habe morgens schon ein Seminar. Und du willst nicht verhungern, ganz einfach“, knurrte er und griff noch zwei Tassen aus dem Regal über dem Waschbecken. „Und jetzt komm essen.“

Paul setzte sich auf und warf einen begehrlichen Blick auf den gedeckten Tisch. „Pete, ich liebe dich!“ grinste er.

„Soll das eine Beleidigung sein?“

„Ein Kompliment!“ Paul ließ sich ihm gegenüber auf dem Stuhl nieder.

Pete hatte den Sessel in Beschlag genommen. „Du willst mich ja bloß wieder angraben.“

„Und wennschon?“ Hungrig stopfte sich Paul eine Tomate in den Mund und griff nach einem Stück Brot. „Wäre das denn wirklich so schlimm?“

„Regel Nummer zwei“, erklärte Pete trocken und blickte von seinem Teller auf. „Außerdem lass ich mich grundsätzlich nicht von Leuten mit Matschauge anmachen.“

Paul war fast beleidigt. „Toll, ich schlag mich für dich und muss mir dann solche Sprüche anhören!“

Pete winkte ab. „Selbst schuld.“ Für ihn war Pete ein Großmaul, schnell mit der Zunge, bissig und bösartig, dem es aber an ausreichend körperlicher Kraft, ein derart loses Mundwerk zu verteidigen, fehlte.

„Ich meine das ernst!“ Paul sah ihn an. „Die haben dich beleidigt, da erst bin ich ausfallend geworden!“

„Schon gut. Du hast mich gerächt, ich habe dich gerächt. Zufrieden?“

„Wie, hast du Jefferson vermöbelt?“

„Nein, aber ich habe es ihm angedroht, sollte er dich noch mal anrühren.“ Pete warf ihm einen warnenden Blick zu. „Das ist allerdings kein Freibrief für dich.“

Paul hob abwehrend die Hände. „Gott bewahre; aber ich bin gerührt.“


Sie schliefen wieder getrennt. Pete hatte darauf bestanden.

„Ich trau dir nicht“, war das Argument, mit dem er Paul in den Schlafsack verwies.

„Das ist doch absurd“, murmelte Paul vor sich hin, während er sich unter dem Tisch zusammenrollte. „Alle Welt hält dich für einen gefährlichen Nymphomanen, und in Wirklichkeit hast du Angst vor mir. Das glaubt uns doch kein Mensch.“

„Schlaf!“ klang es drohend vom Bett herüber. „Sonst kommt der Nymphomane und schmeißt dich aus dem Fenster.“


Irgendetwas stimmte nicht, das merkte Pete noch im Halbschlaf. Irgendwas war anders als sonst. Im Aufwachen runzelte er die Stirn und öffnete die Augen. Paul stand vor seinem Bett und grinste. In der Hand hielt er eine Kanne, und der warme Duft von frischgebrühtem Kaffee erfüllte das ganze Zimmer.

„Was hat das denn zu bedeuten?“

„Nichts weiter. Ich dachte nur, ich könnte dir zur Abwechslung auch mal was gutes tun.“ Paul grinste weiter und stellte die Kanne auf den Tisch. „Kommst du? Das Frühstück ist fertig.“

Pete erhob sich und musterte misstrauisch das bunte Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Paul hatte sogar schon Brötchen besorgt und Rührei gebraten. Nur Schinken war offensichtlich keiner dagewesen.

„Ich hoffe, du hast Hunger.“

Pete knurrte etwas unverständliches, was man als Zustimmung werten konnte, und ließ sich nach einer kurzen Katzenwäsche am Tisch nieder. „Dein Auge sieht immer noch scheiße aus“, bemerkte er und griff nach der Kaffeekanne.

„Jaja, ich weiß.“ Paul rückte den Sessel näher zum Tisch und setzte sich ebenfalls. „Wenn ich Jefferson mal allein erwische, werde ich…“

„… ihn in Ruhe lassen“, unterbrach ihn Pete. „Ich hab dir gesagt, dass ich mit ihm eine Abmachung habe.“

Paul schnitt ein Brötchen auf und angelte nach der Butter. „Und wenn er sich nicht daran hält?“

„Dann ist das trotzdem meine Sache.“

„Deine Sache, wenn er mich verprügeln sollte?“ Paul zog die Augenbrauen zusammen. „Verdammt, ich kann mich auch selbst ganz gut verteidigen.“

Pete musste grinsen. „Klar. Das sehe ich.“ Dafür erntete er einen trotzigen Blick.

„Na und? Dafür bist du ein ordinärer Schläger, sonst nichts. Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe.“

Pete grinste immer noch. „Das frage ich mich allerdings auch schon die ganze Zeit. Ich hab dich nicht darum gebeten. Womöglich liegt es an deinem übersteigerten Geltungsbedürfnis?“

„So.“ Paul funkelte ihn an. „Meinst du?“

Pete gab den Blick gelassen zurück. „Krieg dich wieder ein. Das bisschen Wahrheit wirst du doch noch ertragen? Im übrigen habe ich keine Lust, mich schon so früh am Morgen mit dir zu streiten.“

Paul schwieg und verbiss sich lieber in sein Brötchen.

„So, ich muss los.“ Pete stürzte den Rest Kaffee hinunter und erhob sich vom Tisch. Er sammelte seine Unterlagen zusammen und wandte sich zum Gehen. „Dass du noch einkaufen gehst, ist klar, oder?“

„Ja, ja.“ Paul winkte ab. Dann fiel ihm noch etwas ein. „Sag mal, du bist doch heute abend bestimmt auch auf der Party, oder?“

Pete hatte die Hand schon an der Türklinke. „Was für eine Party?“

„Bei uns im Studentenklub. Große Winterparty, wie jedes Jahr. Sag bloß, du weißt das nicht?“ Paul schien ehrlich verwundert.

„Ich war noch nie im Klub“, knurrte Pete und runzelte die Stirn. „Was soll ich da?“

„Tanzen, Musik hören, Bier trinken?“ Paul grinste. „Meine Güte, da sind doch ständig Veranstaltungen, auch Kinoabende. Du warst wirklich noch nie drin?“

„Nein.“

„Aber heute abend kommst du, oder?“

„Warum sollte ich?“ Pete warf einen Blick auf die Uhr.

„Ich hab Tresendienst, und es wird bestimmt gut.“ Pauls Augen blitzten auf. „Die Winterparties sind legendär. Und“, fügte er hinzu, „ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du dort auftauchst.“

Pete zögerte.

„Bitte.“

„Also schön. Kann ich dann jetzt endlich gehen?“

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