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Hinter dem Licht

Teil 2 - Schattenspiel

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Vorwort

Zu Beginn möchte ich mich für eure Feedbacks zum ersten Teil der Story bedanken und hoffe, dass ich euch auch mit dem zweiten gut unterhalten kann. Auch hier freue ich mich natürlich über Rückmeldungen.

Und nun wünsche ich euch erst einmal viel Spaß beim Lesen.

 

Mit einer eleganten Bewegung werfe ich das Telefon in Richtung Couch, verfehle das Sitzmöbel allerdings meilenweit und treffe stattdessen die Wand. Ein Krachen, ein Knirschen, dann Ruhe.

„Scheiße!“ Offensichtlich habe ich meine Kraft doch ein klein wenig unterschätzt. Vielleicht sollte ich eine Karriere als professioneller Wrestler beginnen. Tom Lodenberg – der Zerstörer, der Schrecken aller Elektrogeräte, der Telefonteufel, der …

„Was war das denn?“ Lars späht ins Wohnzimmer.

„Unser Telefon.“

„Und warum schmeißt du das in der Gegend herum?“

„Weil ich gerade keine Granate zur Hand hatte?“, schlage ich vor.

Lars reibt sich angestrengt die Schläfen. „Und wer war dran?“

„Unser geliebter Daddy.“

„Aha“, sagt Lars, als hätte ich ihm soeben die Antwort auf alle ungeklärten Fragen dieser Welt gegeben. „Was wollte er?“

„Dich sprechen und mich enterben.“

„Er würde dich niemals enterben.“

„Natürlich nicht. Denn sonst müsste er ja auf seine beliebteste Drohung verzichten.“

„Ihm liegt immer noch viel an dir, das weißt du genau, Tom.“

„Ihm liegt noch immer viel an dem Sohn, den er gerne hätte. – Ich habe ihm übrigens gesagt, dass du nicht ans Telefon kommen kannst, weil du dir gerade einen runterholst.“ Bei der Erinnerung an diesen Teil des Gesprächs kichere ich leise vor mich hin.

Tom hingegen scheint meine Freude ganz und gar nicht zu teilen. Er reibt sich schon wieder die Schläfen. „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht tatsächlich mit ihm hätte reden wollen?“

„Kannst du doch jederzeit. Da drüben liegt das Telefon.“ Ich recke den Kopf, blicke zu der von mir angezeigten Stelle und korrigiere mich: „Oder zumindest ein Teil davon. Der Rest kann aber auch nicht weit entfernt sein.“

Mein entschuldigendes Grinsen wird schmählich ignoriert.

Mit einem geknurrten „Bring das wieder in Ordnung.“ verabschiedet sich Lars aus meinem Blickfeld.

 

Am Nachmittag desselben Tages sitze ich auf der Terrasse, in der einen Hand ein spannendes Buch, in der anderen eine Tasse Schwarztee, nach dem ich regelrecht süchtig bin.

Nachdem ich den Vormittag mit dem vergeblichen Versuch, das Telefon zu retten, verbracht habe, es schließlich durch ein neues ersetzen musste, mich mit meiner Vermieterin Frau Palm zu einem ausdauernden Streitgespräch bezüglich der Länge der Grashalme im Garten und der Größe des Strohballens in ihrem Kopf zusammenfand und schließlich meinen noch immer missgestimmten Bruder in sein einwöchiges Symposium im Ausland verabschiedet habe, steht mir eindeutig etwas Ruhe und Entspannung zu.

Leider scheint mein über alles geschätzter Nachbar da anderer Meinung zu sein. Alasdair. Kann sich der Typ nicht einfach in Luft auflösen? Für immer? Seit er seinen Balkon betreten hat, fühle ich mich beobachtet. Und das entspringt keineswegs meiner regen Fantasie.

Zwar drehe ich Alasdair den Rücken zu, kann jedoch sein Spiegelbild im großen Terrassenfenster sehen. Er hat einen Skizzenblock vor sich auf der Brüstung des Balkons platziert und bearbeitet das Papier mal mit kleinen, schnellen Bewegungen, mal mit schwungvollen, ausladenden, wie die Karikatur eines meisterlichen Malers. Tatsächlich kann er auch gar nicht so schlecht sein. Immerhin verdient er als Künstler genug, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Andererseits … Wenn man bedenkt, was sich heute so alles „Kunst“ schimpft …

Eines seiner Bilder, die Kohlezeichnung eines windschiefen Hauses in einem nicht minder windschiefen Wald, hängt in unserem Wohnzimmer. Zu meinem größten Missfallen. Aber leider weigert sich Lars beharrlich, einzusehen, dass das Bild in einer dunklen Ecke unseres Kellers wunderbar aufgehoben wäre.

Was mich nun aber, in genau diesem Augenblick, noch viel mehr beschäftigt, ist eine einzige Frage: Was zum Geier zeichnet Alasdair da gerade?

Dummerweise gibt es nur eine glaubhafte Antwort. Denn wann immer er seinen Blick vom Skizzenblock hebt, trifft er mich.

Ich erwürge ihn!

„Ey, Schwachkopf! Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun? Dich zum Beispiel vor den nächsten Zug werfen?“, keife ich über die Schulter, ohne mich ihm gänzlich zuzuwenden.

„Du findest also, es sei erstrebenswerter, sich das Leben zu nehmen, als dich zu zeichnen?“ Alasdair lacht laut auf. „Na komm schon, so grauenvoll ist dein Anblick dann doch nicht. - Um ehrlich zu sein … so ganz und gar nicht.“

„Oh, danke für die Blumen. Ich werd mir gleich ne Vase suchen, um reinzukotzen.“

Nun komme ich in den Genuss der spöttisch hochgezogenen Augenbraue, während ich Alasdairs Spiegelbild tödliche Blicke zuwerfe.

„Reagierst du immer so reizend auf Komplimente?“

„Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?“

„Bis gerade eben habe ich das.“

„Ja … Klar … Sag mal, leidest du an Wahnvorstellungen?“

„Hin und wieder scheine ich das tatsächlich. Vorhin dachte ich noch, da würde ein ganz netter Kerl auf der Terrasse sitzen. Jetzt muss ich feststellen, dass es ein kleiner, giftiger Gartenzwerg ist.“

„Klein?! GARTENZWERG?!“, empöre ich mich und fahre nun doch herum. Was bildet der Kerl sich eigentlich ein? Ich bin vielleicht nur beinahe 1,80m groß und er mag mich um mehr als einen Kopf überragen aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, derartige Scherze auf meine Kosten zu treiben.

Alasdair beugt sich etwas vor und zwinkert mir verschwörerisch zu. „Und giftig“, ergänzt er.

Das ist nun wirklich keiner Antwort mehr würdig. Ich stehe auf und wende mich Richtung Terrassentür.

„Willst du jetzt etwa ins Wohnzimmer fliehen?“

„Nein!“ Natürlich habe ich genau das vorgehabt. Doch um weitere Bemerkungen gleich im Keim zu ersticken, hole ich stattdessen nur das Telefon aus der Wohnung. Das funkelnagelneue Telefon, das ich jetzt ausgiebig testen werde.

Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, mich wie versprochen bei Sara zu melden, doch nun wähle ich ihre Nummer. Sie zeigt sich erfreut über meinen Anruf, ohne es dabei gleich zu übertreiben, wie ich es von einigen anderen Frauen kenne. So entsteht ein ungezwungenes Gespräch, mit dem ich gar nicht gerechnet hätte. Das ich vielleicht sogar richtiggehend genießen könnte, wäre mir nicht die ganze Zeit Alasdairs Anwesenheit bewusst, der inzwischen wieder geschäftig zeichnet und natürlich wieder mich als Motiv gewählt hat. Das macht der Mistkerl doch mit Absicht.

„Du klingst abgelenkt“, stellt Sara irgendwann fest. Ihre Stimme ist gut hörbar aus dem Lautsprecher des Telefons zu vernehmen, den ich gleich zu Beginn des Gesprächs aktiviert habe. Erstens, um Alasdair in seiner Ruhe zu stören. Zweitens, um den Hörer vor mir auf den Tisch legen zu können.

„Es ist nichts“, antworte ich.

„Sollen wir lieber ein anderes Mal telefonieren?“

„Nein!“ Das Gespräch an diesem Punkt zu unterbrechen, würde bedeuten, Alasdair den Sieg zu überlassen. „Ich muss nur gerade ständig daran denken, wie es war, deinen Körper zu berühren“, höre ich mich stattdessen sagen. Obwohl das eine Lüge ist. Und obwohl Alasdair jedes einzelne meiner Worte hören kann.

„Das ist ja empörend“, raunt Sara mit anzüglicher Stimme.

„Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste …“ Ich spreche weiter, ohne genau zu wissen, warum. „Ich stelle mir gerade vor, wie du vor mir sitzt. In einem luftigen Kleidchen.“

„Hm …?“

„Und wie ich mit der Hand langsam an der Innenseite deines Schenkels nach oben streiche … Ist das nicht erst recht empörend?“

„Absolut. Ich bin schockiert.“ Sara legt eine genau berechnete Pause ein, bevor sie fortfährt: „Ich fände es noch viel unverzeihlicher, wenn du jetzt mit der Hand über deinen Oberschenkel fährst, bis du zwischen deinen Beinen angekommen bist.“

Das kann ich nicht machen, will ich sagen. Mein verhasster Nachbar steht auf dem Balkon und beobachtet jede meiner Bewegungen.

Doch statt diese Worte auszusprechen, lege ich die Hand auf mein Bein und lasse sie langsam hinauf gleiten. Unwillkürlich zuckt mein Blick zu der Fensterscheibe, zu Alasdairs Spiegelbild. Er hat den Bleistift zum nächsten Strich angesetzt, steht jedoch regungslos da und starrt mich unverwandt an.

Unsere Blicke treffen sich im Fenster.

Das Blut schießt so plötzlich in meine Körpermitte, dass ich erschrecke. Eine unübersehbare Erektion beult meine Jeans aus.

„Und, bist du ein braver Junge?“, haucht Saras Stimme aus dem Telefon.

„Nein.“ Ich räuspere mich. „Ganz und gar nicht.“ Mit einem Mal fällt mir das Sprechen erstaunlich schwer. Spätestens jetzt sollte ich so schnell wie möglich in der Wohnung verschwinden, erkenne ich. Dennoch gelingt es mir nicht, aufzustehen.

Stattdessen sehe ich regungslos dabei zu, wie sich Alasdair über die Brüstung des Balkons schwingt und mit einem geschmeidigen Sprung so mühelos hinter mir auf der Terrasse landet, als habe er gerade nur einen niedrigen Gartenzaun überquert.

Wie hypnotisiert beobachte ich sein Spiegelbild.

„Tom? Sag mir, was du jetzt gerade tust“, fordert Sara.

Aber mir fehlen die Worte. Mein Kopf ist erschreckend leer.

Dann steht Alasdair dicht hinter mir. Sehr dicht. Ich spüre die Wärme seines Körpers und sehe den Schatten, der über mich fällt.

„Meine rechte Hand gleitet langsam über deine Schulter bis zum Ausschnitt deines Kleids“, flüstert er mir ins Ohr. Souffliert mir, als hätte ich keine Ahnung, was ich sagen soll.

Das habe ich ja auch nicht.

„Tom, mein Süßer? Bist du noch da?“ Wieder Sara.

Und obwohl mir mehr danach ist, augenblicklich die Flucht zu ergreifen, wiederhole ich tatsächlich Alasdairs Worte.

Sara belohnt mich mit einem wohligen Seufzen.

Ich keuche indes laut auf. Denn kaum habe ich die Worte ausgesprochen, gleitet Alasdairs rechte Hand über meine Schulter bis zum Ausschnitt meines T-Shirts. Seine Finger brennen sich förmlich in meine Haut und mein Herz rast, als hätte ich soeben einen Marathonlauf hinter mir. Fassungslos und hilflos sitze ich auf dem Stuhl.

Verschwinde. Sofort! rät mir mein Verstand.

Erneut höre ich Alasdairs Flüstern: „Ganz langsam schiebe ich meine Hand tiefer, umkreise deine Brustwarzen, berühre sie aber nicht. Noch nicht.“

In der darauffolgenden Stille höre ich nur mein wild pochendes Herz und meinen schweren Atem.

Alasdair wartet ab. Wenn ich seine Worte wiederhole, wird er sie in die Tat umsetzen, wie auch schon die vorherigen. Dessen bin ich mir voll und ganz bewusst.

Ich muss also einfach nur den Mund halten. Dann wird er verstehen, dass ich seine Berührung nicht will.

„Ganz langsam schiebe ich meine Hand tiefer, umkreise deine Brustwarzen, berühre sie aber nicht. Noch nicht“, höre ich mich zu meinem Entsetzen sagen.

Saras Reaktion entgeht mir vollkommen. Ich bin viel zu sehr mit meiner eigenen beschäftigt, als ich Alasdairs Hand auf meiner Brust spüre. Er bewegt sich sanft, vorsichtig und so quälend langsam, dass es mir beinahe unerträglich scheint. Mein Kopf sinkt kraftlos nach hinten, findet Halt an Alasdairs Bauch. Er ist hart und nachgiebig zugleich, hebt und senkt sich in schnellen Atemzügen.

Unsere Blicke treffen sich und ich erkenne ein Funkeln in seinen blauen Augen. Herausfordernd und von einem wilden Hunger erfüllt.

Dann streift sein Zeigefinger beinahe beiläufig meine linke Brustwarze und mir wird für einen kurzen Moment schwarz vor Augen.

„Ich will, dass du wieder deine Oberschenkel berührst“, flüstert mir Alasdair zu. Sein Tonfall duldet keinen Widerspruch und ich gehorche fast automatisch.

„Streichel dich.“

Ich tue, was er sagt.

„Immer weiter nach oben.“

Ich folge seiner Anweisung. Auch wenn ein Teil von mir über meine heftige Reaktion auf Alasdair unverändert schockiert ist.

Immer weiter wandern meine Hände nach oben und meine Hüfte reckt sich unwillkürlich ein wenig in die Höhe. Beinahe habe ich meine Erektion erreicht, sehne mich dieser Berührung mit einer Lust entgegen, die ich noch nie zuvor verspürt habe. Dennoch zwinge ich mich zu langsamen Bewegungen.

„Stopp“, höre ich auf einmal wieder Alasdair.

Diesmal tue ich nicht, was er verlangt. Also packt er meine Arme und hält sie fest.

„Lass mich!“, fordere ich atemlos, aber er lacht nur leise.

„Du willst also deinen Schwanz berühren?“, fragt er schließlich. Alleine sein Tonfall jagt weitere Wellen der Erregung durch meinen Körper.

Ich kann nur schwächlich nicken.

„Dann öffne deine Hose und schiebe sie bis zu den Knien hinunter!“

Alasdair gibt meine Arme frei. Seine rechte Hand bahnt sich wieder ihren Weg unter mein T-Shirt, die linke streicht über meinen Hals, mein Kinn, berührt meine Lippen, die sich unwillkürlich öffnen. Ein kehliges Stöhnen entweicht mir, als er seinen Daumen in meinen Mund schiebt.

Mit heftig zitternden Fingern reiße ich meinen Gürtel auf, öffne den obersten Knopf meiner Jeans und zerre sie über meine Beine nach unten.

„Und jetzt die Boxershorts!“ Alasdairs Daumen stößt mit gleichmäßigen Bewegungen in meinen Mund, bewegt sich in einer provokanten Geste zwischen meinen Lippen. Wodurch sich meine Erregung nur noch weiter steigert. Ich sauge an ihm und umkreise ihn mit der Zunge. Die letzten Reste der Vernunft gehen unter in einer wahrhaft überwältigenden Empfindung.

Ohne Zögern ziehe ich auch die Boxershorts über meine Knie und entblöße mich vor Alasdair. Mein Schwanz ist so hart, dass es schmerzt.

Wieder versuche ich mich anzufassen und wieder packt mich Alasdair, bevor ich es tun kann. In einer unaufhaltsamen Bewegung zieht er meine Hände hinter die Stuhllehne und hält sie dort fest. Ich stöhne gequält und frustriert auf.

„Willst du dich berühren?“, fragt Alasdair und seine Stimme klingt wie die pure Versuchung.

„Ja, verdammt!“, keuche ich.

„Und weißt du auch, was ich will?“

„Was?“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und stemme mich gegen seinen Griff. Aber ich habe keine Chance gegen ihn.

„Ich will …“, haucht Alasdair. „… dass du kommst. Jetzt!“

Seine Worte durchdringen mich, intensiver als jede Berührung.

Überrascht keuche ich auf. Dann komme ich so heftig, dass mir beinahe die Sinne schwinden.

 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Unter mir spüre ich die Unnachgiebigkeit des Stuhls wie eine rettende Insel. Ich spüre Alasdairs Bauch an meinem Hinterkopf, spüre den Atem, der durch meine Kehle strömt und mein Herz, das sich langsam wieder beruhigt.

Mein Verstand taucht wieder auf aus dem Wirbel von Lust und Leidenschaft. Und umso klarer mein Kopf wird, desto stärker breitet sich Entsetzen in mir aus.

Ich versuche, mich mit dem in Verbindung zu bringen, was soeben geschehen ist und kann es nicht. Will es nicht!

Schlagartig richte ich mich auf und greife nach dem Telefon. Die Verbindung ist noch immer aktiv. Ich drücke den roten Hörer. Reflexartig und ohne nachzudenken. Ohne zu fragen, ob Sara noch immer dran ist.

Was hat sie gehört? Der Gedanke wirbelt durch meinen Kopf, bis mir klar wird, dass Sara mein geringstes Problem ist.

Ich springe vom Stuhl auf, stolpere über die Hose, die noch immer an meinen Knöcheln hängt. Hastig zerre ich sie hinauf, ignoriere Alasdair, der irgendetwas sagt, stürme ins Wohnzimmer und knalle rücksichtslos die Terrassentür zu.

 

Ich stehe unter der Dusche, lasse heißes Wasser auf mich herunter prasseln und seife mich nun schon zum fünften Mal ein, als könne ich damit die Erinnerungen von mir waschen. Was natürlich durch und durch sinnlos ist. Die verräterischen Spermaspuren sind schon längst von meinem Körper verschwunden, aber immer wieder meine ich Alasdairs Finger zu spüren. Auf meiner Brust, meinem Hals, an meinen Armen, in meinem Mund. Und es ist kein unangenehmes Gefühl. Ganz und gar nicht. Schon längst habe ich wieder eine Erektion, die immer größer und härter wird.

Wut und Verzweiflung treiben mir Tränen in die Augen.

„Scheiße!“, brülle ich gegen das Prasseln des Wassers an und sinke an der gefliesten Wand entlang zu Boden. Den Kopf zwischen den Knien vergraben, fange ich an zu weinen. Zum ersten Mal seit – ich kann mich gar nicht mehr erinnern.

Wiederholt klingelt es an der Tür. Noch lang anhaltender und ausdauernder als zuvor.

Als ob das irgendetwas ändern würde. Ich lasse dich mit Sicherheit nicht rein.

Endlich hört das Klingeln auf und ich bin wieder alleine mit mir. Zumindest denke ich das. Bis es auf einmal an der Badezimmertür klopft.

Erschrocken halte ich den Atem an, tue so, als sei ich nicht da. Was vollkommen unsinnig ist, da das Wasser läuft und bis gerade eben auch mein erbittertes Schluchzen noch deutlich hörbar gewesen sein muss.

„Tom?“ Es ist tatsächlich Alasdair.

Wie zum Teufel ist der in die Wohnung gekommen? Ich stelle mich weiter tot.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

Klar doch. Ging mir nie besser. Und jetzt verschwinde.

Schweigen.

„Kann ich reinkommen?“

Schweigen.

„Tom?“

„Verschwinde!“

„Ich will nur sicher gehen, dass du ok bist.“

„Das hast du getan. Und jetzt… Raus. Aus. Meiner. Wohnung!“

Die letzten Worte schreie ich, danach breitet sich wieder Schweigen aus. In mir steigt schon die leise Hoffnung auf, dass Alasdair mich endlich in Ruhe lässt. Eine Hoffnung, die fast im selben Moment schon wieder zerschlagen wird.

„Ich kann nicht einfach gehen, Tom. Entweder kommst du jetzt da raus, oder ich komme zu dir rein.“

„Das wagst du nicht!“ Auf einmal wird mir sehr bewusst, welchen Anblick ich biete: nackt, erregt und verheult unter der Dusche kauernd. „Ich habe die Tür abgeschlossen!“, lüge ich.

„Das hast du nicht.“

„Bleib draußen.“

„Sicher – wenn du rauskommst.“

„Fick dich!“

„Tom …“

„Was denn, keine spöttische Antwort diesmal?“

„Ich will nicht mir dir streiten, Tommy.“

„Dann lass es, Ally-Schatz.“

Auf gewisse Weise tut mir das »Gespräch« mit Alasdair sogar gut, stelle ich plötzlich fest. Mit dem Zorn kehren auch meine Lebensgeister zurück. Ich stehe auf und drehe das Wasser ab. „Gib mir ein paar Minuten“, sage ich. „Und wenn du auch nur einen Schritt über diese Türschwelle tust, wirst du es bitter bereuen!“

Ich höre Alasdair lachen. Nichts Neues. Und verspüre den Drang, ihm eben dieses Lachen aus dem Gesicht zu schlagen. Auch nichts Neues. Wenn nur alles andere auch beim Alten wäre.

Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich mir eingestehen, den Moment zu fürchten, in dem ich Alasdair wieder Auge in Auge gegenüber stehe. »Stehen« ist ein gutes Stichwort, bemerkt meine bösartige innere Stimme und ich versetze ihr einen gedanklichen Schlag. Reiß dich zusammen, weise ich mich an. Und hör verdammt nochmal auf, über diesen leidlichen, kleinen Unfall auf der Terrasse nachzudenken. Oder über Alasdairs Finger. Oder seine Stimme. Oder seinen Körper. Oder …

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Schluss damit.

Am Waschbecken spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Aber natürlich bringt das kaum etwas. Meine Augen sehen furchtbar verquollen aus und werden das wohl auch noch eine Zeitlang. Kurz überlege ich, die Badezimmertür einfach zu verbarrikadieren. Ein sinnloses Unterfangen allerdings, da sie sich zum Gang hin öffnet. Da müsste ich sie schon irgendwie festbinden. Und würde mich endgültig zum Affen machen.

Ich stoße ein frustriertes Seufzen aus, halte meine Hand nochmals unter kaltes Wasser und schiebe sie dann zwischen meine Beine.

Der Effekt ist kaum besser als bei meinen verquollenen Augen. Also ziehe ich mich an, hole noch einmal tief Luft und verlasse notgedrungen das Bad in dem Zustand, in dem ich mich nun einmal gerade befinde. Wenn Alasdair auch nur ein Wort darüber verliert, werde ich ihn erwürgen!

 

Mein unwillkommener Besucher lehnt an der Wand gegenüber dem Badezimmer. Seine Haltung hat etwas sehr Lässiges an sich, doch zu meiner größten Überraschung scheint durch seine gewohnt selbstbewusste Miene ein Hauch von Unsicherheit.

Das ist, verdammt nochmal, auch richtig so. Der Kerl soll sich gefälligst bei mir entschuldigen.

Meinen letzten Gedanken spreche ich laut aus – nur, um es sogleich wieder zu bereuen.

Denn Alasdair erkundigt sich mit ruhiger Stimme: „Und wofür genau soll ich mich denn entschuldigen?“

Ich setze zu einer wütenden Antwort an und weiß auf einmal nicht, was ich sagen soll.

Entschuldige dich dafür, dass du mich erfolgreich verführt hast?

Dass du mich dazu gebracht hast, vor dir die Hosen runterzulassen?

Dass ich wegen dir einen Orgasmus hatte, ohne meinen Schwanz auch nur berührt zu haben

Schließlich rausche ich wortlos an Alasdair vorbei ins Wohnzimmer. Natürlich folgt er mir, wenn auch deutlich langsamer.

„Du bist quasi hier eingebrochen!“, fällt mir ein Vorwurf ein, den ich ihm problemlos vorhalten kann.

„Dein Bruder hat mir einen Schlüssel für Notfälle gegeben.“

„Dass ich unter Dusche stehe, kannst du wohl kaum als Notfall bezeichnen.“

„Ehrlich gesagt war ich mir da keinesfalls sicher, Tom. Du bist einfach abgehauen. Und du sahst dabei nicht so aus, als ginge es dir gut.“

„Natürlich geht es mir nicht gut. Du hast mich einfach begrabscht!“, bricht es nun doch aus mir heraus. Erst als meine Worte verhallen, merke ich, dass ich geschrien habe. Ganz plötzlich wird mir schwindlig.

Bevor ich irgendwie reagieren kann, ist Alasdair bei mir, hat mich am Arm gepackt und zum Sofa gezogen. „Hinsetzen“, befiehlt er und drückt mich mit sanfter Gewalt auf das lederne Polster. Da mich meine Beine ohnehin kaum noch tragen, protestiere ich nicht.

Glücklicherweise setzt sich Alasdair nicht neben mich. Dafür aber auf den Wohnzimmertisch, der direkt vor mir steht. Das macht es kaum besser. Unsere Knie berühren sich beinahe und als er sich vorbeugt, ist sein Gesicht auf einmal sehr nah vor meinem.

Es kostet mich größte Mühe, nicht zurückzuweichen. Aber ich will jetzt nicht nochmals Schwäche zeigen. Meine Zähne knirschen, während ich Alasdair verbissen anstarre.

„Du siehst aus, als würdest du mir am liebsten den Schädel einschlagen“, stellt er mit einem leisen Lächeln fest.

„Sag bloß“, knurre ich. „Ich sehe übrigens nicht nur so aus.“

„Du bist ganz schön widerspenstig.“

„Und du verdammt aufdringlich.“ Absichtlich presse ich meine Knie gegen seine, obwohl mir dabei beinahe der Schweiß ausbricht. „Musst du mir unbedingt derart auf die Pelle rücken? Da drüben steht ein Sessel. Setze dich dorthin, oder du fliegst hochkant aus der Wohnung!“ Ich bin insgeheim stolz, jegliches Zittern aus meiner Stimme ferngehalten zu haben. Ja, ich finde sogar, ich klinge ziemlich überzeugend und selbstbewusst.

Leider zeigt sich Alasdair gänzlich unbeeindruckt. Er beugte sich noch ein Stück zu mir und versucht meinen Blick einzufangen. Ich weiche ihm aus und starre stattdessen auf die kleine Mulde zwischen seinen Schlüsselbeinen. Eine Stelle, an der ich für sanfte Berührungen ganz besonders empfänglich bin. Verdammt! Mein Blick zuckt zu seinem Kinn. Es ist erwartungsgemäß unrasiert und für einen kurzen Moment bin ich versucht, mit den Fingerspitzen über die dunkelbraunen Härchen zu fahren. Dann meldet sich mein Verstand wieder zurück. Gerade noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhindern.

„Wir sollten über das reden, was auf der Terrasse passiert ist“, stellt mein ungeliebter Nachbar fest.

Ich lasse mich in die Rückenlehne des Sofas fallen, unterstreiche die Geste mit einem möglichst entnervten Seufzen, damit keinesfalls der Eindruck entsteht, ich wolle nur Alasdairs Nähe ausweichen.

„Oh, bitte sag, dass du nicht einer von den Typen bist, die immerzu über alles reden müssen“, knurre ich.

„Nicht über alles, aber über Notwendiges.“

„Das trifft sich ja hervorragend.“ Ich lege meinen Kopf in den Nacken und belasse ihn dort. „Es ist meiner Meinung nach nämlich mehr als notwendig, die Gestaltung der Wohnzimmerdecke zu diskutieren“, behaupte ich.

Dummerweise übergeht Alasdair diese Bemerkung einfach. „Es tut mir leid, wenn ich dich auf der Terrasse überrumpelt habe, Tom.“

„Dieses Weiß ist doch insgesamt etwas zu langweilig, oder nicht?“

„Aber wenn du behauptest, es nicht genossen zu haben, lügst du.“

„Kleine blaue Elefanten könnten das Ganze etwas aufpeppen. Und in jeder Zimmerecke eine Sonne. Mit orangefarbenen Strahlen.“

„Tom!“

„Findest du das mit den Strahlen übertrieben? Man kann sie auch weglassen. Oder schwarz färben. Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten …“

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Alasdair vom Tisch aufsteht. Genau das wollte ich doch, oder? Warum beschleicht mich dann ein derart ungutes Gefühl?

Die Antwort auf diese Frage erfolgt sogleich. Denn Alasdair verlässt nicht das Wohnzimmer, sondern stützt sich rechts und links neben meinem Kopf auf der Sofalehne ab.

Gar nicht gut.

Seine Kiefermuskeln zucken und die Augen schießen zornige Blitze in meine Richtung. „Manchmal würde ich deinen sturen Kopf am liebsten in einen Kübel eiskaltes Wasser tauchen, um dich zur Vernunft zu bringen!“ Seine Stimme klingt gepresst, mühsam beherrscht. Zwischen seinen ausdrucksstarken Augenbrauen hat sich eine steile Falte gebildet, die ich nun wie hypnotisiert anstarre.

„Danke, gleichfalls“, bringe ich heraus und räuspere mich. „Nur würde ich in deinem Fall ein paar hungrige Piranhas ins Wasser schmeißen.“

„Piranhas mögen kein eiskaltes Wasser.“

„Perfekt, umso schlechter wird ihre Laune sein.“

„Du brauchst beileibe kein kaltes Wasser, um jemanden zur Weißglut zu treiben.“

„Das nehme ich als Kompliment.“

„Mh, wie wäre es mit einem echten Kompliment?“ Die steile Falte löst sich auf, Alasdairs gesamtes Gesicht wirkt plötzlich anders.

Gelöster, weicher, sinnlicher. Ein heiseres Krächzen entringt sich meiner Kehle. Sinnlich? Wohl eher der misslungene Versuch, sinnlich zu wirken. Wenn überhaupt. Eher peinlich. Abstoßend!

„Was ist los, Tommy? Auf einmal so sprachlos? Willst du mich nicht noch ein wenig über die Gestaltung der Wohnzimmerdecke aufklären?“

„Du weißt meine Ideen sowieso nicht zu schätzen.“

„Auch wenn du es mir nicht glauben magst – ich weiß so einiges an dir zu schätzen.“ Mit einem Mal ist auch Alasdairs Stimme … - abstoßend!

„Vermutlich gehört mein unwiderstehlich gutes Aussehen dazu“, versuche ich zu scherzen. Unglücklicherweise kommen die Worte in einem peinlich heiseren Tonfall hervor.

Alasdairs Mund öffnet sich leicht und seine Zungenspitze gleitet in einer scheinbar abwesenden Geste über die Oberlippe. Fasziniert folgen meine Augen der feuchten Spur.

Dieser Mistkerl hat tatsächlich verboten schöne Lippen. Natürlich kein Vergleich zu Sara, stelle ich sofort klar. Und natürlich ist alleine der Gedanke an sie schuld daran, dass mein gesamter Körper kribbelt und mein Atem schon wieder schwer und stoßartig durch meine Kehle fliegt.

„Dein unwiderstehlich gutes Aussehen ist gewiss nicht zu verachten“, antwortet Alasdair sanft.

„Sara findet mich verdammt heiß!“, teile ich ihm mit und er lacht leise.

„Das wage ich nicht zu bezweifeln.“

Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut.

„Und ich finde sie auch verdammt heiß!“

„Ist das so?“

„Klar! Sie ist eine der schönsten Frauen, mit denen ich bisher im Bett war. Und ich hatte schon einige attraktive Freundinnen. Und Affären und One-Night-Stands mit schönen Frauen.“ Mir fällt auf, wie stark ich das Wort »Frauen« betone und wie lächerlich das klingt. Viel zu gezwungen. Aber ändern kann ich daran jetzt auch nichts mehr.

Also rede ich einfach weiter: „Meine erste Freundin hatte ich mit fünfzehn. Natürlich wollte ich schon viel früher eine. Aber ich war damals etwas zurückhaltend. Fast schüchtern. Kann man sich das vorstellen? Naja, auf jeden Fall habe ich dann mit fünfzehn Isabelle kennengelernt. Sie war neunzehn. Irgendwie gerate ich immer an ältere Frauen. Ist das nicht seltsam? Isabelle war toll. Schön. Ein bisschen laut vielleicht. Aber trotzdem süß. Und bei Weitem nicht so distanziert, wie alle anderen Mädchen, die ich so kannte. Meine Freunde waren alle der Meinung, dass ich ihr gefalle. Also habe ich sie bei unserer dritten Begegnung geküsst und …“

Wie von selbst dringen die Worte aus meinem Mund. Ich weiß sehr wohl, dass ich plappere, kann aber aus irgendeinem Grund nicht damit aufhören.

Bis Alasdairs Hand mich plötzlich zum Schweigen bringt.

Im ersten Moment bin ich zu perplex, um irgendwie zu reagieren. Dann reiße ich meinen Kopf zur Seite. Oder versuche es zumindest. Aber Alasdair hält mich fest.

„Pst. Halt still und sei leise!“, zischt er mir zu.

Ich beiße ihm so kräftig in die Hand, wie ich nur kann und schmecke Blut.

Mit einem unterdrückten Fluchen lässt Alasdair mich los.

Ich winde mich unter seinen Armen hervor und springe vom Sofa auf. Meine Selbstbeherrschung ist beinahe am Ende. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, den Mistkerl vor mir zu schlagen und dem, einfach davon zustürmen, stehe ich da, die Hände so sehr zu Fäusten geballt, dass es schmerzt.

Alasdair richtet sich ebenfalls auf. Sein Blick geht an mir vorbei, trifft etwas, das ihn erbleichen lässt.

Dann verabschiedet sich die Realität.

Er packt meine Schultern und stößt mich bei Seite. Etwas Dunkles zischt an mir vorbei. Ein brennender Schmerz durchzuckt mein Gesicht und auf einmal erfüllt mich das Gefühl der Bedrohung, das ich bereits in der Partynacht in meinem Schlafzimmer empfunden habe. Doch dieses Mal ist es so mächtig und überwältigend, dass mir der panische Schrei in der Kehle stecken bleibt.

Das Licht im Raum beginnt zu flackern, als scheine nicht die Sonne ins Zimmer, sondern eine alte, halb kaputte Glühbirne. Und mit jedem Flackern wird die Dunkelheit intensiver.

Ich bin starr vor Schreck.

Alasdair hingegen bewegt sich Schritt für Schritt auf ein Ziel zu, das ich nur erahnen kann. Ein düsteres Ziel ohne Form und Gestalt. Ein Wesen aus purer Finsternis. Ein Ding, dem sich jeder auch nur im Ansatz vernünftige Mensch keinesfalls nähern würde.

Offensichtlich hat Alasdair nun gänzlich den Verstand verloren. Oder ich. Denn das, was sich gerade vor meinen Augen abspielt, kann unmöglich der Realität entsprechen.

Vielleicht träume ich ja nur.

Der Gedanke ist ungemein verlockend und würde so vieles erklären. Eine naheliegende Antwort. Naheliegend aber falsch.

Worte erfüllen den Raum. Unverständlich und seltsam fern, als würde ich einer gedämpften Unterhaltung lauschen. Doch zugleich erfüllt mich jeder einzelne Ton mit einer fast unerträglichen Intensität. Ich bin versucht, meine Ohren mit den Händen zu verschließen und weiß zugleich aus einem unerklärlichen Instinkt heraus, wie sinnlos solch ein Verhalten wäre.

Diese Worte kann man nicht ausschließen.

Es dauert lange, oder fühlt sich zumindest so an, bis mir klar wird, woher diese Laute stammen.

Alasdair.

Während er sich diesem Ding, dieser Finsternis, nähert, murmelt er unablässig vor sich hin. Beschwörend. Wie der dunkle, unheimliche Mann in einem dunklen, unheimlichen Film.

Und gerade als ich sicher bin, dass mich nun nichts mehr überraschen kann, lichtet sich die Finsternis um das Etwas und ein junges Mädchen, kaum älter als zwölf Jahre, wird sichtbar.

Szene zwei … Auftritt des unheimlichen, düsteren Kindes … die Erste … uuund Action!

Ihre Augen sind groß, nahezu riesig und vollkommen schwarz. Als ruhe nun die gesamte Dunkelheit in ihnen. Der Rest des Mädchens jedoch wirkt auf erschreckende Weise normal. Ein blaues Kleid, am Saum leicht verdreckt, Lackschuhe mit Schmetterlingen an den Riemchen und ein sorgsam gebundener Pferdeschwanz, der sich hier und da zu lösen beginnt.

Für einen winzigen Augenblick wischt die kindliche Erscheinung des Wesens jegliche Bedrohlichkeit bei Seite und ich spüre das dringende Bedürfnis, mich schützend vor das Mädchen zu werfen, das Alasdair furchtsam und verwirrt entgegen sieht.

Dann trifft mich ihr Blick und wischt jegliche ritterliche Anwandlung bei Seite.

Sie verzerrt ihren kindlichen Mund zu einem grausigen Lächeln und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.

Was auch immer da in meinem Wohnzimmer lauert – es ist weder schutzbedürftig noch harmlos.

Alasdair steht nun direkt vor dem Wesen, doch es ignoriert ihn. Der schreckenserregende Blick hat mich gefunden und will nicht mehr weichen.

Schneller, als meine Augen folgen können, hat das Mädchen Alasdair umrundet und stürmt auf mich zu. Ein Schwall eisiger Kälte umklammert mich, lähmt meinen Körper. Kleine, zierliche Hände packen mein Hemd und dort, wo sie durch den Stoff hindurch meine Haut berühren, trifft mich jäher Schmerz. Ich schreie und schlage instinktiv nach dem Mädchen. Ich treffe es im Gesicht. Rosige, zarte Haut. Jung und unschuldig. Ein Atemzug voll Reue und Schreck. Dann ergreift mich wieder der Schmerz. Und diesmal ist es, als durchstoße mir jemand mit einem brennenden Messer die Handflächen. Mehrmals. Erbarmungslos. Ich brülle und stolpere hilflos zurück.

Das Mädchen folgt mir. Habe ich es zuvor noch mit ungläubigem Schreck betrachtet, wie etwas, das furchtbar und doch unwirklich erscheint, ist meine Angst nun durch und durch echt. Wie soll ich mich gegen etwas zur Wehr setzen, dessen Berührung so unerträglich schmerzhaft ist?

Während ich zurückweiche, suchen meine Hände tastend nach etwas, das ich als Waffe verwenden könnte und finden doch nur das Sofakissen. Ich greife danach und halte es schützend vor mich. Ein reichlich untauglicher Schild, der reichlich lächerlich aussehen mag. Aber zumindest Letzteres ist mir gerade vollkommen egal.

Das Mädchen lächelt noch immer, als wolle es mir die Unsinnigkeit meines Verhaltens vor Augen führen. Es lächelt auch dann noch, als sich ihm von hinten eine Hand auf die Schulter legt und die andere unters Kinn. Einer kurzen, kraftvollen Bewegung folgt ein widerwärtiges Knirschen, als das Genick des Wesens bricht.

Es passiert so schnell, dass ich im ersten Moment das Geschehen gar nicht realisiere. Der kleine, kindliche Körper fällt in sich zusammen wie eine Marionette, der man unversehens die Fäden gekappt hat.

Alasdair lässt seine Hände wieder sinken.

„Du hast sie umgebracht!“ Ich starre ihn an und kann keinen klaren Gedanken fassen. Der leblose Körper auf dem Wohnzimmerfußboden wirkt ganz und gar nicht mehr bedrohlich. Es ist ein kleines Mädchen in einem blauen Kleid.

„Nicht sie, sondern es. Und nicht umgebracht, sondern vernichtet.“

„Was auch immer das war – du kannst diesem Wesen doch nicht einfach das Genick brechen!“

„Ganz richtig. Einfach war es keineswegs.“

Noch bevor ich zu einer Erwiderung anheben kann, die weder nett, noch versöhnlich oder gar verständnisvoll ausgefallen wäre, spricht Alasdair ein einziges Wort. Es ist von überwältigender Klarheit und Schönheit. Unbegreiflich vollkommen. Ein Wort, das nichts beschreibt, nichts darstellt oder abbildet. Es benötigt keinen Bezugspunkt und ist keinerlei Regeln unterworfen. Es verändert sich ständig, ohne jemals anders zu sein. Es erklärt sich selbst und ist doch unerklärlich.

Für einen winzigen Augenblick verstehe ich all das. Im nächsten Moment habe ich es wieder vergessen und sehe nur, wie sich der Körper des Mädchens verwandelt. Die Konturen verschwimmen, Dunkelheit bricht hervor. Kurz schwebt sie im Raum und verliert sich dann wie eine Rauchwolke im Wind. Der Anblick hat etwas erschreckend Faszinierendes.

„Das war kein Mädchen“, höre ich wieder Alasdairs Stimme. Diesmal bedient er sich normaler Worte.

Ich antworte trotzdem nicht.

„Ich musste sie vernichten“, fügt er hinzu.

Ich schweige noch immer.

„Vermutlich willst du wissen, was das war.“

Dessen bin ich mir ganz und gar nicht sicher. „Wie hast du das gemacht?“ Offensichtlich hat mein Mund sich dazu entschieden, doch etwas zu sagen.

„Was genau meinst du?“

„Dieses Wort.“

„Du hast es gehört?“

„Äh … ja?“

„Tatsächlich?“

„Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte. Ich habe nur geraten. Wie sollte ich auch etwas hören? Immerhin bin ich vollkommen taub. Habe ich davon noch nichts erzählt?“

„Also … das …“

„Was? Ich kann dich nicht hören. Taub, schon vergessen?“

„Tom? Halt den Mund.“

„Stumm auch noch? Kaum zu glauben. Ich bin wirklich zu bedauern.“

„Setz dich bitte aufs Sofa.“

„Bin ich eigentlich auch blind? Oder habe ich da eben ein beachtlich düsteres Mädchen in meinem Wohnzimmer gesehen?“

Alasdair packt mich kurzerhand an den Schultern und schiebt mich zum Sofa.

„Muss deine andere Hand nicht unter mein Kinn?“, gebe ich zu bedenken und höre das schreckliche Geräusch des brechenden Genicks in mir widerhallen.

„Dir würde ich die Hand aus gänzlich anderem Grund unters Kinn legen.“ Alasdair scheint sofort klar zu sein, worauf ich anspiele.

Worauf er anspielt, versuche ich allerdings gezielt zu ignorieren. „Du bist mir eine Erklärung schuldig!“, stelle ich klar und schüttele seine Hände ab.

„Die wirst du auch bekommen. Wenn du dich hinsetzt und ausnahmsweise einmal zuhörst.“

„Ich kann dich auch so sehr gut verstehen.“ Stur verschränke ich die Arme vor der Brust und bewege mich wieder einen Schritt von dem Sofa fort – obwohl ich mich am liebsten hingesetzt hätte.

„Gut, dann eben so.“ Alasdair seufzt und reibt sich die Schläfen. Eine Geste, die mich an Lars erinnert. Ob er inzwischen gut angekommen ist in … Ich stocke und runzele die Stirn. Wo genau findet das Symposium nochmal statt? Irgendwo in England? Lars muss mir davon erzählt haben. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass er es mehrmals getan hat. Ebenso sicher bin ich, dass ich ihm nicht ein einziges Mal aufmerksam zugehört habe.

Zu dumm.

„Woran denkst du?“, unterbricht Alasdair mein Grübeln.

„An deinen Tod.“

„Ich werde durch den Sturz von einem schneebedeckten Wolkenkratzer sterben, weil irgendjemand dort oben eine Bananenschale verloren hat, auf der ich mit meinen Ballettschuhen ausrutsche.“

„…“

„Oder an einer Erbse ersticken, deren scheinbar perfekte, grüne Haut einen kaum sichtbaren Defekt in Form eines Einhorns aufweist.“

„…“

„Oder von dir hinterrücks mit deinem Kopfkissen erstickt werden.“

„Das klingt doch schon viel realistischer.“

„Tut es das?“

„Allerdings.“

„Und wie lockst du mich in dein Bett, um mich hinterrücks mit dem Kopfkissen ersticken zu können?“

Kurz erwäge ich den Gedanken, das Sofakissen für diesen Zweck zu verwenden. Und zwar genau jetzt. Ein Blick in die entsprechende Richtung zwingt mich jedoch jäh in die Realität zurück, die ich am liebsten ausblenden und vergessen würde wie einen flüchtigen Traum.

Aber das ist nicht möglich.

Mit einem lauten Seufzen setze ich mich endlich und starre an Alasdair vorbei zur gegenüberliegenden Wand. „Erzähle es mir!“, fordere ich.

Alasdair setzt sich neben mich und beginnt zu sprechen. Ich höre ihm zu, ohne den Blick von der Wand zu nehmen.

„Dieses Ding mit dem Aussehen eines Mädchens war ein Wesen, das man als Schatten bezeichnet. Irgendwann einmal war es menschlich. Bis ein anderer Schatten kam, um es zu einem der ihren zu machen.“ Alasdair hält inne, als erwarte er Widerspruch von mir oder zumindest eine Frage. Als nichts dergleichen kommt, fährt er fort: „Ich weiß, das muss sich seltsam für dich anhören. Wie in einem Märchen oder einem Film. Aber du hast das Wesen gesehen. Diese Schatten gibt es tatsächlich.“

Schatten. Was für eine einfallsreiche Bezeichnung. Da müssen wahrlich kreative Köpfe am Werk gewesen sein.“, werfe ich nun doch ein.

Auch ohne es zu sehen, weiß ich, dass Alasdair die Augenbraue hebt.

„Ich kann es auch Egeas-Nevren Enielk nennen. Wenn das deinen Ansprüchen genügt.“ Seine Stimme klingt etwas gereizt, was mir sehr gut gefällt.

„Klar, warum auch nicht“, erwidere ich und lächele die Wand an. „Obwohl Bezeichnungen oder Namen in dem Fall nun wirklich keine Rolle spielen.“

„Egeas-Nevren Enielk“, wiederholt Alasdair, als würde dies durchaus eine Bedeutung haben. „Was auch immer. Es gibt viele dieser Wesen. Die meisten sind allerdings verhältnismäßig ungefährlich. Sie streichen im Dunkeln umher. Unerkannt und sich der eigenen Existenz nicht bewusst. Wirklich bitter kann es erst dann werden, wenn ein Meister sie bindet. Wenn sie also jemand mit besonderen Fähigkeiten seinem Willen unterwirft. Dann zehren sie von anderen Lebewesen, vorzugsweise Menschen, und spenden ihrem Meister dadurch Kraft. Lebenskraft.

Es gibt Meister, die ihren Quellen keine bleibenden Schäden zufügen wollen. Und es gibt solche, die vor einem Mord nicht zurückschrecken. Denn tötet ein Schatten sein Opfer, so verlängert sich das Leben des Meisters immens.“

„Aha … Und was hast du mit der ganzen Sache zu tun?“

„Ich jage jene Meister, die zu Mördern geworden sind.“

„Und wenn du einen gefunden hast? Was dann?“

„Dann halten wir Händchen und ich überrede ihn dazu, in Zukunft doch bitte, bitte nicht mehr so böse zu sein. Was denkst du denn?“

Nun blicke ich Alasdair doch an. In seiner Stimme schwingt ein Unterton mit, den ich bisher noch nie bei ihm gehört habe. Er klingt gefährlich. Und für einen kurzen Moment halte ich es für überaus sinnvoll, keinesfalls seinen Unmut auf mich zu ziehen. „Ok …“ Zu meinem Missfallen trägt auch meine Stimme ungewohnte Emotionen in sich: Vorsicht und Zurückhaltung. Ich räuspere mich und füge eilig hinzu: „Offensichtlich bist du aber kein besonders guter Jäger. Oder hattest du das Mädchen hierher eingeladen um mit ihr und deinen anderen imaginären Freunden Teetrinken zu spielen?“

„Offensichtlich habe ich den Schatten davon abgehalten, dich zu töten.“

„Und jetzt bin ich dir für den Rest meines Lebens Dank schuldig?“ Das hättest du wohl gerne.

„Natürlich.“

„Und muss tun, was auch immer du verlangst?“ Verdammt, ich rede mich mal wieder um Kopf und Kragen.

„Aber sicher doch. Immerzu und absolut alles.“

„Da kann ich mich ja gleich vom nächsten Wolkenkratzer stürzen.“

„Aber bitte von einem schneebedeckten.“

 

Inzwischen ist die Abenddämmerung hereingebrochen und Alasdair befindet sich noch immer in meiner Wohnung. Noch weniger als diese Tatsache behagt mir allerdings, was ich während der letzten Stunde erfahren habe. Laut Alasdair stellt es sich folgendermaßen dar:

Ein besonders drakonischer Meister namens Malgis hat seine Schatten auf ein Opfer losgelassen, das sie so lange verfolgen werden, bis es tot ist. Der erste Angriff wurde von einem sehr schwachen Schatten ausgeführt, der zweite schon von einem stärkeren und so wird es immer weitergehen. Normalerweise scheitert bereits der erste Angreifer nicht. Es sei denn, jemand wie Alasdair stellt sich ihm in den Weg. Aber von Mal zu Mal wird es gefährlicher werden.

Alasdair weiß schon seit einiger Zeit von der Bedrohung. Nur auf eine Frage konnte er erst heute die Antwort finden: Wer genau ist das Opfer? Er hatte Lars und mich in Verdacht. Aber nach dem Angriff des Mädchens …

„Warum ich?“ Meine Augen fixieren Alasdair, als sei er an allem Schuld.

„Das ist die wirklich interessante Frage.“

„Als ob dich das tatsächlich interessieren würde.“

„Oh, aber das tut es.“

„Verarschen kann ich mich alleine.“

„Das ist mir klar, Süßer.“

„Nenn mich noch EIN EINZIGES Mal so, und ich schmeiße dich hochkant aus der Wohnung!“

„Davon würde ich dir angesichts der Umstände dringlich abraten. Wenn der nächste Schatten auftaucht, sollte ich in deiner Nähe sein.“

„Ehrlich gesagt hätte ich lieber so ein mörderisches Ding hier, als dich.“

Alasdair seufzt. „So sehr ich diese Geplänkel mit dir auch genieße …“ Er erstickt mein Aufbegehren mit einer derart befehlenden Handbewegung im Kern, dass ich mir den bissigen Einwurf automatisch verkneife. „So sehr ich es auch genieße, haben wir nun Wichtigeres zu klären. Es geht hier um dein Leben, Tom. Mach dir das verdammt nochmal klar!“

„Ok.“ Ich kneife die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. So sehr ich auch versuche, es mir vorzustellen – der Gedanke daran, von einem Wesen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte auf Befehl eines Menschen, den es nicht geben dürfte, getötet zu werden, erscheint mir seltsam abstrakt. Ich spüre die Gefahr, und dann zugleich doch wieder ganz und gar nicht.

„Und was nun?“, frage ich schließlich.

„Nun werden wir der Frage auf den Grund gehen, warum gerade du das Opfer bist. Denn für das Ritual, das seine Schatten derartig auf dich fixiert, braucht Malgis nicht nur etwas von deinem Körper, wie zum Beispiel Blut oder Haare. Er benötigt dasselbe von jemandem, der dich als Opfer preisgibt. Diese dritte Person ist der Schlüssel zu deiner Rettung. Wir müssen das Ritual derart abändern, dass sie zum Ziel der Schatten wird.“

„So etwas kannst du?“

„Wenn ich etwas vom Körper der entsprechenden Person habe – ja.“

„Ok …“ Die wahre Bedeutung von Alasdairs Worten hat sich über mich gelegt wie ein giftiger Schleier. „Das alles ist dein Ernst, oder?“, frage ich und folge dem winzigen Funken Hoffnung, dass doch alles nur ein schlechter Scherz sein könnte.

„Es ist mein Ernst.“

„Also will irgendjemand meinen Tod?“

„Ja.“

Alasdairs schlichte Antwort gibt dieser Wahrheit eine furchtbare Unwiderruflichkeit, die mir wie ein Schlag in die Magengrube erscheint. Ich starre wieder gegen die Wand und versuche die Fassung zu bewahren.

„Das tut mir leid, Tom.“

„Verschone mich mit diesem Getue.“

„Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du dich jetzt fühlst.“

„Einen verdammten Scheißdreck kannst du!“, brülle ich Alasdair an. Er zuckt noch nicht einmal zurück.

„Du findest das Ganze vermutlich auch noch lustig!“, keife ich weiter.

„Siehst du mich lachen?“

„Nein, sehe ich nicht. Schon mal über eine Schauspielkarriere nachgedacht? Du scheinst da ja recht talentiert zu sein.“

„Hast du schon einmal über eine Karriere als unqualifizierter Hotline-Mitarbeiter nachgedacht? Du verstehst es meisterlich, mir den letzten Nerv zu rauben und redest die meiste Zeit nur Müll.“

„Oh, entschuldige bitte vielmals. In Zukunft werde ich all meine Energie darauf verwenden, deinen Ansprüchen zu genügen.“

„Das wirst du zum Glück mit Sicherheit nicht tun.“

„Oh, du stehst also auf Müll?“

„Ich stehe auf dich.“

Einatmen. Ausatmen. Einatmen …

Alasdairs letzte Worte hängen schwer in der Luft. Es ist eigentlich die perfekte Vorlage für die eine oder andere gemeine Bemerkung. Eigentlich. Aber erstens will mir beim besten Willen nichts einfallen. Und zweitens … Keine Ahnung. Mein Kopf ist schlichtweg leer.

Wieder einmal herrscht Stille in der Wohnung. Bis Alasdair plötzlich laut auflacht. „Jetzt weiß ich auf jeden Fall, wie ich dich zum Schweigen bringe“, meint er. Die Augen blitzen noch immer belustigt.

Ich räuspere mich. „Bei Hagel fliegen die Elefanten besonders tief.“

„Oha. Und ich dachte, das würde nur für Waschbären gelten.“

„Wie kommst du darauf? Die Viecher haben doch nur zwei Schnäbel.“

Wir blicken uns an. Lange. Und mit einem Mal muss ich lachen. Es beginnt als leichtes Beben in meinem Bauch, klettert die Kehle hinauf, nimmt erst mein Gesicht in Besitz und dann den ganzen Körper. Ich lache so laut und so ausdauernd, dass sich mein Magen verkrampft und Tränen aus meinen Augen quellen.

Als ich mich endlich wieder beruhigt habe, fühlt sich mein Kopf unendlich leicht an. Mir ist schwindlig. Aber zumindest kann ich wieder klar denken. „Ich will nicht, dass du mich anmachst“, stelle ich klar und wappne mich innerlich bereits für den Widerspruch, der unweigerlich kommen wird.

Doch zu meiner Überraschung gibt sich Alasdair sofort geschlagen. „In Ordnung.“ Er schürzt die Lippen und fängt meinen Blick. „Ich werde nichts tun, das du nicht willst.“

„Ok … Um gleich mal allen Missverständnissen vorzubeugen – ich will NICHT, dass du mich anmachst, anflirtest, anfasst, anschmachtest, anspringst, oder was auch immer sich dein verqueres Hirn ausmalt.“

„Wenn du das sagst.“

„Ich sage das nicht nur. Ich verlange es!“

„Gut.“ Alasdair zwinkert mir zu. „Oder vielmehr schlecht. Gib mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.“

Ich greife nach dem Sofakissen und schlage es Alasdair um die Ohren. Ein zugegebenermaßen kindisches Verhalten. Aber es fühlt sich verteufelt gut an. „Keine verdammte Anmache!“

„Mein hochgeschätzter Tom. Das gerade war nur eine einfache Feststellung. Wenn ich dich tatsächlich anmache, wirst du das merken …“ Alasdair legt das Kopfkissen bei Seite und streicht den Bezug sorgfältig glatt.

Ich entscheide mich, seine letzte Bemerkung zu ignorieren. Die Fronten sind geklärt.

„Warum konntest du den Schatten eigentlich anfassen?“, frage ich, obwohl mir dieses Thema keineswegs behagt. „Ich meine, warum hat dir die Berührung nicht weh getan?“

„Wie kommst du darauf, dass sie das nicht getan hätte?“

„Was?“

„Die Berührung eines Schattens in seiner menschlichen Form ist für jeden furchtbar schmerzhaft. Umso mehr, desto mächtiger der Schatten ist.“

„Aber du hast nicht einmal mit der Wimper gezuckt!“

„Ich wusste, was mich erwartet. Und ich hatte keine Wahl. Erst habe ich den Schatten durch wahre Worte in seine menschliche Form gezwungen und ihn dann vernichtet. Anders hätte ich ihm nichts anhaben können.“

„Wahre Worte?“

„Das ist schwer zu erklären. Es sind beschwörende Worte, deren Kraft in der Natur der Dinge liegt.“

„Aha …“

„Wie gesagt: Schwer zu erklären.“

„Du würdest einen miserablen Lehrer abgeben.“

„Du hast diese Worte doch gehört. Oder etwa nicht?“

Das habe ich tatsächlich. Mit einem unbehaglichen Gefühl erinnere ich mich an düstere, schwer zu fassende Klänge und diesen einen, der so unfassbar perfekt gewesen war.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung ... Nein. Habe ich nicht.“ Aus irgendeinem Grund will ich die Wahrheit nicht eingestehen.

Alasdair glaubt mir nicht. Inzwischen kann ich seine Mimik ausreichend gut lesen, um das sofort zu erkennen. Aber zum Glück lässt er das Thema auf sich beruhen.

„Und nun?“, frage ich zum zweiten Mal am diesem Abend.

Was nun …?

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