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Danke Nick

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Rückblickend ist es ein Wunder, dass ich diese Geschichte, meine Geschichte, heute noch erzählen kann. Genauso gut könnte ich tot sein.

Doch der Reihe nach. Mein Name ist Samy und ich bin jetzt zweiundzwanzig Jahre alt.

Mit fünfzehn bin ich von zu Hause abgehauen, weil ich meinen prügelnden Vater und meine saufende Mutter nicht mehr ertragen habe. Über einen Chat hatte ich einen Typen in Berlin kennengelernt, bei dem ich würde unterkommen können. Von jetzt auf gleich schnappte ich mir mitten in der Nacht ein paar Klamotten und das gerade überwiesene Hartz IV meiner Erzeuger und nahm den nächsten Zug gen Hauptstadt. Dort angekommen, wurde ich auch gleich von Thorsten, meiner Chatbekanntschaft, am Bahnhof abgeholt und bei ihm aufgenommen.

Anfangs war auch alles ganz okay. Er war super nett zu mir, hat sogar jeden Tag für mich gekocht und mich gratis bei ihm wohnen lassen. Ich war froh, dass ich jemanden gefunden hatte, der mich so nahm, wie ich bin. Ab und an hatten wir auch Sex. Erwähnte ich schon, dass ich auf Männer stehe?

Doch dann wendete sich das Blatt schlagartig. Eines Tages kam er in Begleitung eines älteren Herren nach Hause, der mir zur Begrüßung gleich mal zwischen die Beine fasste. Ich wollte gerade einen richtig bösen Spruch bringen, aber Thorsten fuhr mir einfach über den Mund. Bevor ich überhaupt kapierte, was genau hier gespielt wurde, zog Thorsten mich ins Badezimmer und erklärte mir, dass ich den Abend mit dem Herren allein verbringen würde. Und er gab mir sehr deutlich zu verstehen, dass es sich hierbei nicht um einen Fernsehabend oder um Smalltalk handeln sollte. Wenn er mit mir schlafen wollen würde, sollte ich dies gefälligst tun.

Bevor ich auch nur ansatzweise protestieren konnte, kam gleich der nächste Hammer: Dieser alte Sack würde 500€ für die Nacht hinlegen. Und ich sollte Thorsten endlich mal Geld für Unterkunft und Verpflegung geben.

Immer noch völlig geschockt und unfähig, klar zu denken, willigte ich in den Deal ein.

Das war der Anfang meiner Karriere als Stricher. Nach der ersten Nacht mit dem notgeilen Schwein betäubte ich mich nachdem er gegangen war mit Alkohol. Und auch die nächsten Male, wenn ich gegen Geld mit jemandem geschlafen hatte, soff ich mich zu, als gäbe es kein Morgen. Doch irgendwann reichte mir der Alkohol nicht mehr. Oder anders gesagt, besoffen bekam ich keinen mehr hoch. Die Lösung kam von Thorsten in Form einer Tüte mit einem weißen Wundermittel, das meine Ausdauer steigern sollte. Und so kam zu meiner Stricherkarriere auch noch eine Laufbahn als Kokser dazu.

Im Laufe der Zeit machte ich einen Haufen Kohle mit bezahltem Sex. Aber davon ist nichts übrig geblieben, denn ich investierte alles in Kokain, Alkohol und teure Klamotten. Doch auch in meinem zarten Alter von mittlerweile siebzehn Jahren gingen die Folgen nicht spurlos an mir vorüber. Ich magerte immer weiter ab und meine Augenringe wurden größer und dunkler.

Und so kam es, wie es kommen musste: Durch mein Erscheinungsbild gingen immer mehr gut betuchte Freier, die Stammkunden von mir waren, zu anderen, frischer aussehenden Strichern. Mein Marktwert fiel wie der Börsenkurs am schwarzen Freitag. Und dann kam der Punkt, an dem mich niemand mehr wollte.

Ich konnte weder die Miete bei Thorsten abliefern, noch etwas für das Essen beisteuern. Ganz abgesehen von meinen Drogen. Und auch das Verhältnis zwischen mir und Thorsten wurde immer schlechter. Sex hatten wir schon ewig nicht mehr. Und auch die letzte streitfreie Unterhaltung zwischen uns ist schon Monate her gewesen.

Dann kam mein achtzehnter Geburtstag. Und das Geschenk, das Thorsten mir gemacht hat, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich kam von meinem letzten „Flatratefick“ nach Hause, völlig fertig und auf halbem Entzug. Vor der Tür stand eine Reisetasche mit meinen Klamotten und darauf lag ein Zettel: „So mein Lieber, du bist jetzt erwachsen. Kümmere dich ab jetzt um dein eigenes Leben. Ich bin nicht länger dein Ersatzvater.“

Herzlichen Glückwunsch, dachte ich und klingelte wie ein Irrer, denn mein Schlüssel passte nicht mehr ins Schloss. Nach zwei Stunden Sturmklingeln gab ich es auf. Wo sollte ich jetzt hin?

Die Bahnhofsmission war das erste, was mir einfiel. Doch kaum angekommen, war ich so schockiert von den dort vorherrschenden Zuständen und vor allem dem Publikum, dass ich dieses Etablissement sofort wieder verließ. So lief ich völlig ohne Plan durch die Straßen, bis mich ein Typ ansprach und wissen wollte, ob er mir irgendwie helfen könne, denn offensichtlich sah ich doch etwas fertig aus. Wenn auch nicht wie ein Penner. Aber „hilfebedürftig“. Ich weiß nicht warum, aber er hatte eine vertrauenerweckende Ausstrahlung. Und so ließ ich mich von Nick, als der er sich vorstellte, auf einen Kaffee einladen und erzählte ihm meine Geschichte. Er hörte mir geduldig zu und stellte nur an wirklich wichtigen Stationen meines Lebens kurze Fragen. Als ich ihm alles erzählt hatte, schlug er dann vor, dass ich die Nacht bei ihm verbringen könne. Ohne groß nachzudenken, und verfallen in mein altes „Strichermuster“, ging ich mit ihm mit, froh darüber, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Als wir bei ihm ankamen, tranken wir noch zwei Flaschen Wein zusammen und wollten dann schlafen gehen. Aber natürlich kam, was kommen musste: Wir hatten Sex miteinander. Aber das erste Mal seit Monaten hatte ich wirklich Spaß dabei. Er war total zärtlich und nicht so hart und rücksichtslos wie all meine Freier bisher.

Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Morgen kam die nächste Überraschung. Nick weckte mich mit einem Frühstück im Bett. Zusammen aßen wir schweigend. Doch dann kam für mich der nächste Knüller: Er fragte mich, ob ich bei ihm bleiben möchte. In seiner Wohnung. Mit ihm gemeinsam wohnen. Sofort gingen alle Alarmglocken bei mir an. Denn genau diese Geschichte hatte ich schon mit Thorsten durch. Panisch schwang ich mich aus dem Bett, schnappte mir meine Klamotten und flüchtete aus dem Schlafzimmer auf der Suche nach meiner Reisetasche. Nach etwas Sucherei fand ich sie endlich im Wohnzimmer unter dem Tisch und wollte durch den Flur zur Wohnungstür rennen. Doch Nick versperrte mir den Weg. Ich begann innerlich panisch zu werden und suchte schon verzweifelt nach einer Art Waffe. Doch ich fand nichts, was mich noch panischer werden ließ. Aber Nick schien zu spüren, was in mir vorging. Er kam langsam auf mich zu und erklärte mir, dass ich keine Angst haben müsse. Ich dürfe gehen, wann immer ich wollte. Er wolle nur noch eine Sache loswerden: Wenn ich irgendwie Hilfe bräuchte, dann wäre er immer für mich da. Völlig ohne Hintergedanken oder Forderungen, weder finanzieller noch sexueller Natur. Er sagte mir, er habe den Sex mit mir wirklich genossen. Aber er habe es nicht als Gegenleistung betrachtet.

Nach einigem Zögern haben wir uns dann hingesetzt und sehr lange geredet. Er bot mir an, mir zu helfen von meiner Sucht weg zu kommen. Und das war das erste Mal, dass ich spürte, dass jemand an meinem Charakter und nicht an meinem Körper interessiert war.

Trotzdem war meine Sucht anfangs stärker als mein Vertrauen in Nick und seine guten Absichten. Ich begann, da ich ja keinen Job und damit kein Geld hatte, ihn zu bestehlen, um mir wenigstens ab und an mal Kokain zu besorgen. Ich versuchte immer, Sachen von ihm zu verticken, ohne dass er es merkte. Aber natürlich hat er es so gut wie immer gemerkt, aber nie etwas gesagt.

Zum Glück wirkte sein Einfluss langsam aber sicher auf mich und ich begann, immer weniger von ihm zu stehlen. Irgendwann, ich war etwa neunzehn oder zwanzig, hörte es dann ganz auf. Er hatte einen Job als Lehrer für Biologie und Chemie und brachte das Geld nach Hause und wir hatten uns unausgesprochen darauf geeinigt, dass ich dafür den Haushalt schmiss. Es ist kaum zu glauben, aber mit der Hilfe von Nick habe ich den Entzug alleine geschafft.

Und dann kam DER Abend. Nick sagte beim Sex „Ich glaube, ich liebe dich“. Zuerst war es für mich wie ein Schlag ins Gesicht, denn er war für mich der erste wirkliche Freund in meinem Leben. Und ich hatte einfach Angst, dass dieses Statement unsere Freundschaft kaputt machen und alles wieder von vorne anfangen würde.

Aber am nächsten Tag wachte ich auf, sah ihm in die Augen und wusste, ich liebte ihn auch. Und was soll ich sagen? Nach fast sieben Jahren bin ich das erste Mal glücklich. Ich habe meinen Nick, den ich über alles liebe, nehme keine Drogen mehr, trink, wenn überhaupt ein Glas Sekt im Jahr und bin mitten in der Ausbildung zum Bürokaufmann.

Und nächstes Jahr werden wir heiraten.

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