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Weit weg

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Vorwort

Genießen wir die schönen Stunden unseres Lebens. Verbringen wir die Zeit mit unseren Freunden und schätzen wir jede Minute, die wir zusammen mit den Menschen erleben können, die uns das Wichtigste auf der Welt sind.

Nicht jeder hat soviel Glück.

Auch etwas Nachdenkliches gehört zum Leben, um es als solches begreifen zu lernen. Vielleicht geht es Euch ja nach dem Lesen genau wie mir nach dem Schreiben dieser kleinen Geschichte. Vielleicht schenkt ihr den Menschen, die Euch wichtig sind, ein Lächeln mehr und genießt es, ihre Nähe zu spüren.

Ciao Andy

 

Der Regen kann den Schmutz der Stadt nicht fortspülen.

Die feinen Wassertröpfchen laufen die Scheibe an meinem Zugabteil hinunter. Sie vermischen sich mit dem Staub auf ihr und bilden dreckige kleine Rinnsale.

Ich sitze alleine in meinem Abteil, mein Kopf schmerzt.

Hoffentlich fährt der Zug bald weiter.

Bloß weg hier aus dieser Stadt, aus diesem Land.

So weit weg, wie möglich.

Ich will alles hinter mir lassen, alles vergessen.

Könnte ich das doch bloß.

Die letzten Momente bei mir zu Hause haben sich in mir eingebrannt, wie glühend heißes Eisen. Sie haben eine Leere hinterlassen, die mich in sich aufzusaugen droht.

Ich falle in einen unendlichen Abgrund.

Um mich herum sind nur Intoleranz und Gewalt.

Es tut so weh.

 

Der Zug ruckt kurz und bewegt sich nun ratternd über die Schienen.

 

Mir ist übel.

Vorsichtig, mit weichen Knien bewege ich mich zur Toilette.

Dort angelangt, hat sich meine Übelkeit ein wenig gelegt.

Ich starre in den Spiegel.

Meine Haare sind zerzaust.

Meine linke Augenbraue ist noch ein wenig blutverschmiert.

Der Rand meines Auges hat sich blau-violett verfärbt.

Mein Kopf schmerzt.

Das, was ich dort im Spiegel sehe, ist die Hilflosigkeit, die Leere in mir.

Ich kenne meine eigenen Augen nicht mehr.

Mir schaudert.

 

Ich spüle mein Gesicht mit kaltem Wasser ab und gehe wieder in mein Abteil.

 

Der Regen fließt jetzt schräg, in wahren Bächen die Scheibe entlang.

Der Zug rattert gleichmäßig und monoton über die Gleise.

Langsam fallen mir die Augen zu.

Ich spüre das Meer, höre die Wellen rauschen.

Ich schlafe ein.

 

»Dirk, wir müssen vorsichtig sein.«

»Ach komm schon, wir leben im 21. Jahrhundert. So schlimm kann dein Vater doch nicht sein.«

»Wenn du wüsstest.«

»Hey, schau nicht so betrübt. Denk nicht an deinen Vater. Wir haben uns und das ist das, was zählt. Dein Alter kann uns gestohlen bleiben. Was er denkt, kann uns doch ganz egal sein.«

»Eigentlich hast du ja recht. Aber wenn ...«

Dirk streicht mir durch die Haare und umarmt mich.

Seine Nähe gibt mir ein wenig meiner inneren Ruhe zurück.

Ich bin so froh, dass wir zueinander gefunden haben.
Unsere Liebe lässt mich die täglichen Streitereien mit meinem Vater vergessen.

Jedoch der Gedanke, mein Vater könnte erfahren, dass sein Sohn schwul ist, lässt mich aus Angst vor ihm zusammenzucken.

Dirk hält mich fest.

Er streichelt mir sanft über das Gesicht.

»Hat er dich wieder angeschrien. Oder ...«

»Nein, geschlagen hat er mich diesmal nicht. Aber ich schaffe das langsam nicht mehr. Es wird immer schlimmer. Seit meine Mutter weg ist, ist er einfach nur noch gemein zu mir. Aber das weißt du ja.

Ich freue mich schon so auf den Sommer, wenn wir zusammen in die Ferien fahren.«

»Au ja, ich freue mich auch riesig. Und bis dahin sind es ja nur noch acht Wochen. Dann geht es los. Nur du und ich. Und keiner wird uns das verderben.

Hey, ich liebe dich.«

»Ach Dirk, ich habe dich auch so lieb.«

 

»Was meinst du, ob Heike etwas gemerkt hat?«

»Wieso? Wann denn?«

»Na gestern. Ich glaube, sie hat gesehen, wie wir uns angelächelt haben.«

»Ja und? Wir werden uns doch anlächeln können.«

»Na klar. Aber bei deinem süßen Lächeln ist es leicht zu erraten, dass das mehr ist, als nur ein ganz einfaches Lachen.«

»Meinst du? Und wenn schon, Heike ist eigentlich in Ordnung. Ich glaube nicht, dass die das weiter tratscht.«

»Ja stimmt. Das mit Markus hat sie auch nicht weitererzählt.«

»Dirk, es ist gleich um fünf. Du musst deinen Bruder noch abholen, der wartet bestimmt schon.

Wie alt ist er jetzt eigentlich.«

»Der kommt dieses Jahr in die Schule, er ist jetzt sechs.«

»Ist ein aufgewecktes Kerlchen, dein Bruder.«

»Ja, stimmt. Er mag dich übrigens auch und fragt oft, wann du mal wieder vorbeikommst. Komm doch einfach mit, ihn abholen. Er freut sich bestimmt und ich muss nicht so lange ohne dich auskommen.«

»Mmh. Das würde ich gern. Ich würde am liebsten immer bei dir sein. Ich denke wirklich jede Minute an dich.«

»Du kannst nicht. Ich weiß. Dein Vater ist sonst wieder stinksauer, wenn du nicht zu Hause bist. Soll ich nicht doch mal mit meiner Mutter reden. Der ihre Freundin arbeitet beim Jugendamt.«

»Nein! Nur das nicht. Ich glaube das würde alles nur noch schwieriger machen. Vielleicht wird das ja von alleine wieder besser. Mit der Zeit. Und Zeit haben wir ja.

Du musst jetzt aber los.«

Wir stehen beide von den Treppenstufen auf, halten uns gegenseitig unsere Hände und sehen uns lange in die Augen.

Dirks Augen sind so klar und liebevoll. Er lächelt mich an und gibt mir damit unendlich viel Kraft.

Noch einmal umarmen wir uns und geben uns einen zärtlichen Kuss.

 

In dem Moment wird die Tür aufgestoßen.

Ich schrecke zusammen und starre auf den Hauseingang.

Dort steht mein Vater mit weit aufgerissenen Augen.

Ohne ein Wort vorher zu sagen, trifft mich sein Schlag.

Ich taumele, Dirk hält mich fest.

Mein Vater packt Dirk bei den Sachen und zerrt ihn zur Tür.

Dort schlägt er ihn mit seiner Faust ins Gesicht.

Ich will dazwischen gehen, stehe aber wie gelähmt da und kann nicht mal um Hilfe rufen.

Durch die Wucht des Schlages wird Dirk nach hinten geworfen.

Er verliert das Gleichgewicht und fällt rücklings die steilen Betonstufen hinunter.

Ich kann mich endlich wieder bewegen und laufe so schnell ich kann zu ihm hin.

Er liegt vor der untersten Stufe und bewegt sich nicht.

Sein Kopf blutet.

Ich weiß nicht, was ich machen soll, wie ich ihm helfen kann.

Mir laufen die Tränen die Wangen hinunter.

Ich habe so eine Angst.

So eine scheiß Angst.

 

»Dirk, sieh mich doch an. Bitte.

Ich liebe dich.

Bitte, bitte.«

Irgendjemand ruft nach einem Arzt.

Um uns herum drängen sich plötzlich viele Leute.

Oben auf den Stufen sehe ich meinen Vater wie versteinert da stehen.

Jemand schiebt mich beiseite.

Ich will zurück zu meinem Dirk.

Ein Sanitäter hält mich fest.

Der Arzt und zwei weitere Sanitäter versuchen Dirk zu helfen.

Sie schauen erst mich, dann den Mann, der mich festhält an und schütteln den Kopf.

Ich sehe Dirk. Meinen Dirk.

Der Sanitäter zieht mich weg.

Mit einer grauen Decke wird Dirk zugedeckt.

Endlich kann ich mich losreißen und laufe zu ihm hin.

Regungslos liegt er dort am Boden.

Ich ziehe die Decke von seinem Gesicht.

In diesem Moment begreife ich, was geschehen ist.

Das darf einfach nicht sein.

So schnell ich kann, laufe ich davon.

So weit weg, wie nur möglich.

 

 

Der Zug fährt mit lautem Poltern und Ruckeln über eine Weiche, ich werde wach.

Es ist so kalt.

In meinen Gedanken sehe ich Dirk vor mir.

Meinen Dirk.

Ich kann es nicht ertragen.

Ich will nur bei ihm sein.

 

Mit gut hundert Stundenkilometern rauscht der Zug durch die Nacht.

Das Abteil ist jetzt leer.

Der Schaffner hatte nur eine geöffnete Wagentür vorgefunden.

Ein tragischer Unfall, wird es am nächsten Tag in der Zeitung heißen.

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