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Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn

Teil 2

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„Schöner Name, der paßt zu Dir.“ „Danke.“ Die Stimmung war ohnehin angespannt und ich wußte auch nicht, was ich sagen sollte, also wagte ich, eine Frage zu stellen, die mir schon seit gestern nicht aus dem Kopf ging. „Das ist jetzt vielleicht etwas überfallmäßig, aber woher wußtest Du eigentlich, daß ich auch ins Dampfbad kommen würde?“ Er sah mich an, aus dem Lächeln wurde ein Grinsen.

„Ich wußte es nicht. Und eigentlich dachte ich auch schon, Du würdest nicht kommen.“

„Äh, ja, ich mußte mich erst sortieren nach dem peinlichen Auftritt in der Sauna. Und ehrlich gesagt, ins Dampfbad bin ich nur, weil das der Ort ist, an dem man sich am besten verkriechen kann. Immerhin sieht einen bei dem ganzen Dampf keiner. Hätte ich gewußt, daß Du da drin bist, wäre ich sicher nicht rein gegangen.“

Diese Eröffnung schien ihn zu überraschen, er hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. „Du bist mir gar nicht nachgegangen?“

„Nein. Mein Eindruck war, daß Du extrem genervt warst, weil Dich da irgend so ne Schwuchtel anstarrt.“ Ich brauchte etwas zu rauchen, bot ihm auch eine Zigarette an. Zu meiner Freude lehnte er nicht ab. Ich gab ihm Feuer, er genoß sichtlich den ersten Zug, ehe er weitersprach.

„Genervt war ich, das stimmt. Aber nicht, weil Du gestarrt, sondern weil Du nichts gesagt hast. Ich meine, Du starrst mich den ganzen Nachmittag über an und stehst dann nur, entschuldige, dumm rum und kriegst keinen Ton raus. Es wäre mir lieber gewesen, Du hättest mich angesprochen.“

„Den ganzen Nachmittag?“ Das hielt ich für etwas übertrieben, alles in allem mochten es vielleicht 5 Minuten gewesen sein. Moment mal, wie konnte er das überhaupt wissen, er hatte doch geschlafen, oder?

„Ja, zweimal im Ruheraum“, er hatte nicht geschlafen. „dann auf dem Gang und dann noch in der Sauna.“

Ich hatte, soviel begann ich, zu begreifen, ein Talent dafür, von diesem Kerl in peinliche Situationen gebracht zu werden. Und da ich permanent rot zu werden nicht wirklich für eine meinem Alter angemessen Reaktion hielt, beschloß ich, es ab sofort mit Humor zu nehmen. Ich setzte ein Grinsen auf und sagte: „Ich dachte, Du schläfst, sonst hätte ich Dich doch nie so intensiv betrachtet.“

Er zog an seiner Zigarette. „Ja, intensiv war es. Ich hätte nicht mehr viel länger bewegungslos liegen können.“ Dann zwinkerte er mir zu und zeigte wieder dieses Grinsen.

„Wow! Zugezwinkert hat mir seit 20 Jahren niemand mehr. Macht Dich verdammt sexy - und eigentlich wollte ich das jetzt auch nur denken.“

„Ach warum denn? Komplimente darfst Du sehr gerne laut aussprechen.“ Noch ein Zwinkern, noch ein Grinsen.

„Außerdem“ beeilte ich mich, zum Thema zurückzukehren, „waren das höchstens ein paar Minuten, die ich Dich angeschaut habe.“ Er zog seine rechte Augenbraue hoch – süß! – und dann an seiner Zigarette – sexy!

„Ein paar Minuten? Dann warst Du wohl da auch schon mal kurz weggetreten. Die erste Inspektion hat knappe 15 Minuten gedauert, die zweite auch über 10. Wie gesagt, noch etwas länger und ich hätte mich bewegen müssen. Und dann sagst Du noch nicht mal was.“

Ich wurde unsicher, konnte das sein? Er wirkte nicht, als wollte er einen Witz machen. Aber so lange? „Wenn Du’s schon gemerkt hast, hättest ja auch was sagen können!“ Es sollte eine flapsige Bemerkung sein, hatte aber eine unerwartete Wirkung. Jetzt war es an ihm, rot zu werden. Und das nicht zu knapp. Eine mehr als angenehme Erfahrung, auch wenn ich ihm das so nicht sagte.

Er wollte etwas sagen, zögerte. „Ich… äh, ich wußte nicht… was ich sagen sollte. Ich hab sowas…“ er sah jetzt tatsächlich weg, konnte den Blickkontakt nicht aufrecht erhalten. Das Schwein ganz tief in meinem Inneren genoß den unerwarteten Triumph „ … noch nie gemacht.“

„Was hast Du noch nie gemacht?“ Triumph, die Zweite! Roter konnte ich vorhin auch nicht gewesen sein. Nur, daß es bei ihm vermutlich weitaus süßer aussah, als bei mir.

„Na das halt, anonymen Sex. Und dann noch in der Öffentlichkeit.“

„Also mir kamst Du ziemlich professionell vor!“ – Die Zunge muß ab! – „Entschuldige, so war das jetzt nicht gemeint!“ Ich war über mein eigenes loses Mundwerk erschrocken. Wider Erwarten nahm er es aber tatsächlich als das etwas ungelenke Kompliment, als das es gedacht gewesen war, schaffte es jetzt auch wieder, mich anzuschauen.

„Dann hat es Dir also gefallen?“

„Hattest Du nicht den Eindruck?“

„OK, war ne blöde Frage, vergiß…“ weiter kam er nicht, mein Lachen unterbrach ihn.

„Dein Gesichtsausdruck eben war großartig! Na und ob es Dir gefallen hat, brauche ich ja nicht zu fragen, Deine Reaktionen waren deutlich genug. Ich hab die Bescherung auf meinem Bauch erst hinterher entdeckt.“ Das konnte ich jetzt genießen. Und ich verheimlichte ihm auch nicht, daß ich genau das tat. Mein triumphierender Blick dürfte Bände gesprochen haben. Er quittierte ihn mit einem Schmunzeln, wurde dann aber schnell ernst.

„Wo wir schon beim Thema sind“ er zögerte, wurde spürbar unsicher, rückte seinen Kopf näher zu mir und senkte die Stimme: „Ja, es hat mir gefallen. Wahnsinnig gut sogar, aber… hast Du eigentlich… ich meine, bist Du… krieg ich noch ne Kippe?“ Ich nickte, er bediente sich. Zwei tiefe Züge, eher er einen neuen Anlauf nahm: „Ach Scheiße, machst Du sowas öfter?“

Die Bedienung kam und fragte, ob wir noch etwas trinken wollten. Wir orderten jeder ein Wasser und die Bedienung verschwand. Ich ahnte, worauf er hinauswollte und riskierte einen Schuß ins Blaue: „Fragst Du, weil Du’s wirklich wissen willst? Oder weil Du Angst hast, Dir was geholt zu haben?“ Jetzt hatten wir tatsächlich vertauschte Rollen. Er saß auf seinem Platz, schaute vor sich hin und wußte nicht recht, wohin mit sich. Mehr als „Ja“ brachte er nicht über die Lippen.

Die Bedienung brachte unser Wasser, wir beachteten sie kaum. Seine rechte Hand lag auf dem Tisch. Ich griff sie mit meinen beiden Händen, hielt sie fest und sagte: „Ich bin sauber, wegen mir mußt Du Dir keine Sorgen machen. Aber riskant war das trotzdem.“

Die Erleichterung war ihm anzusehen. Seine linke Hand legte sich auf meine beiden Hände, ein leichter Druck. Angenehm, trocken. „Ich weiß, das war auch nicht so geplant.“ Erfreut stellte ich zwei Dinge fest: Er glaubte mir und er hatte kein Problem mit Berührungen in der Öffentlichkeit.

„Warst Du deshalb dann auch so plötzlich verschwunden? Weil Du Dir Sorgen gemacht hast?“

Er nickte. „Ja. Im Dampfbad konnte ich nicht anders, ich wollte es. Wollte Dich schmecken. Als es dann vorbei war, war das … hat sich das wie ein Schlag angefühlt. Mir war einfach nur noch elend.“ Er stockte, schien nicht zu wissen, wie er weiterreden sollte.

„Das war, also ich hab ja schon gesagt, das war das erste Mal. Fantasiert habe ich darüber schon länger, aber gestern sollte es passieren. Ich hatte fest vor, meine Fantasie soweit abzuändern, daß ich nichts Riskantes mache. Und ganz bestimmt nicht schlucke. Als es dann so weit war, konnte ich nicht anders. Das erste Mal und dann gleich volles Risiko. Das mußte ich erstmal verarbeiten. Eigentlich muß ich das immer noch, aber ich hab das Gefühl, ich glaub’ Dir.“

„Um sicher zu gehen, wirst Du ne Weile warten müssen, aber dann solltest Du ‘nen Test machen. Dann hast Du Gewißheit.“

So saßen wir die nächsten Minuten still, jeder hing seinen Gedanken nach. Die Irritation darüber, wie wir hier saßen, überkam uns beide gleichzeitig. Unsere Hände lösten sich voneinander und aus dem angenehmen Schweigen wurde ein beklommenes. Wir nahmen Zuflucht bei unseren Wassergläsern.

Aus dem Bauch heraus wagte ich für mich selbst völlig überraschend den Sprung ins kalte Wasser. „Das eben, das war schön.“ Ich suchte seinen Blick. Vermutlich hatte ich mich jetzt endgültig zum Idioten gemacht.

„Ja, das war es.“ Sprach's, lächelte mich an, griff sich mit seiner rechten meine linke Hand und wir schwiegen weiter. Zufrieden.

Irgendwann unterbrach ich die Stille. „Wieso hast Du meine Einladung angenommen?“ – Ich bin froh, daß Du’s getan hast.

„Warum hast Du mich eingeladen?“ – Na danke.

„Das ist nicht unbedingt üblich nach so Begegnungen wie gestern.“ – Antworte mir gefälligst nicht mit einer Gegenfrage!

„Hast Du da Erfahrung?“ – Was wirfst Du mir vor? Beantworte meine Frage!

„Naja, ich bin jetzt nicht ständig dort.“ – Wenigstens in der letzten Zeit nicht, ja.

„Wenn das so unüblich ist, wieso hast Du mich dann eingeladen?“ – Danke, Du mich auch! Ich geh dann.

„Ich kann’s Dir nicht sagen, ehrlich. Eigentlich wollt’ ich Dir was schreiben, damit diese albernen gegenseitigen Profilbesuche aufhören. Dann kam mir die Idee mit der Tappse. Es mußte schnell gehen. Ich konnte es mir nicht erlauben, lang drüber nachzudenken. Dann hätt’ ich es nämlich gelassen.“ – Biete ihm nur ruhig noch mehr Stoff für Gegenfragen.

„Warum?“ – Hartnäckige Ratte. Süße Ratte!

„Hatte nicht eigentlich ich Dir eine Frage gestellt?“ – Attacke!

„Hm, stimmt.“ – Und? Was ist?

„Na ich sag ja, das ist nicht unbedingt üblich, zumindest bei mir nicht. So zufällige Begegnungen belasse ich ganz gern anonym. Und so, wie Du rangegangen bist, dachte ich halt, Du hältst das auch so.“ – Scheiß Antwort.

„Warum?“

„Weil man nicht außerordentlich gekonnt 'nem wildfremden Mann einen bläst, ihn küßt, dann blitzartig verschwindet und am nächsten Tag mit ihm im Café Händchen hält.“ – Denken, DENKEN! Nicht sprechen…

„Ich bin nicht man.“ – Ich auch nicht.

„Sondern?“ – Soll nochmal jemand behaupten, ich sei kompliziert.

„Ich bin ich. Und ich lade Dich ein, mich kennen zu lernen.“ – ???

Sicher wären wir noch länger so gesessen, wenn uns nicht die Bedienung unterbrochen hätte. Schichtwechsel, sie wollte kassieren, wie sie uns erstaunlich souverän mitteilte. Mit keinem Wimpernzucken reagierte sie auf unsere sich immer noch haltenden Hände. Vielleicht wurden „Wir“ doch langsam so etwas wie Normalität. Kann auch sein, daß es schiere Professionalität war, aber ich wollte lieber von der ersten Variante ausgehen und gab ihr ein fürstliches Trinkgeld. Ihre Freude wirkte echt.

Diese Unterbrechung war für uns beide Signal zum Aufbruch. Wir hatten 3 Stunden zusammen verbracht.

Vor dem Café standen wir nun beide etwas unbeholfen herum. Was tun? „Tja, und nun? Hast Du noch was vor heute?“ Hatte er.

„Schade. Und wann soll ich Dich dann kennenlernen?“ Das war glatt gelogen, in Wahrheit war es mir sogar ganz recht. Ich brauchte etwas Zeit, um mir ein paar Gedanken zu machen. Dieses Treffen war ganz und gar nicht so verlaufen, wie ich es erwartet hatte.

„Ja, finde ich auch, aber…“ Jetzt fand ich es jetzt doch schade „es ich kann das nicht absagen. Aber hey, hast Du morgen Zeit?“ Hatte ich. „Prima. Gehen wir shoppen?“

„Shoppen?“

„Ja. Hast Du n Auto?“ Hatte ich. „Dann hol’ mich um 9 ab. Ich wohne am Altmarkt 18, drüben beim Westbahnhof. Aber ich komm runter zur Bushaltestelle, das ist besser mit dem Auto.“

„Hm, OK.“ Derart überfallen brachte ich nicht mehr Antwort zustande. Das bemerkte er jetzt wohl auch.

„Oh, hab ich Dich jetzt damit überfahren? Tut mir leid, willst Du lieber was anders machen?“ Er sah süß aus wie er versuchte, zerknirscht zu wirken, daher übersah ich es großzügig, übergangen worden zu sein. „Nee, shoppen ist OK. Ich hol Dich ab.“

„OK, ich freu mich.“ Sprach es, küßte flüchtig meine Lippen, drehte sich um und ging. Blieb stehen, drehte sich zu mir um, sah mich an. „Bis morgen, Süßer.“ Noch ein Zwinkern und weg war er.

Die zehn Minuten Fußweg nach Hause verbrachte ich tief in Gedanken. War der dabei, mir den Kopf zu verdrehen? Kein Zweifel, Timon hatte das Zeug dazu. Aber wollte ich das? Paßte mir das ins Konzept meiner selbstgewählten Depression? Beides ließ sich würde sich wohl nur schwer unter einen Hut bringen lassen.

In meiner Wohnung angekommen verspürte ich Lust, Klavier zu spielen. Ich setzte mich an meinen Flügel, legte meine Hände auf die Tasten und ging mit geschlossenen Augen in meinem Inneren auf die Suche nach einer Melodie. Fündig wurde ich zu meiner großen Überraschung bei Mozart. KV 311, zweiter Satz. Ein reizendes kleines G-Dur-Stück. ‚Andante con espressione’. Ich hatte es lange nicht gespielt.

Frühsommer in Südfrankreich, vor 4 Jahren. Wir sind seit 3 Wochen hier. Zuerst ein internationaler Wettbewerb in Nizza, der ‚Prix d’Or de Nice’, den ich mit Bravour gewinnen konnte. Der erste deutsche Gewinner seit Roland, vor mittlerweile 14 Jahren. Mein Debüt mit Hummels As-Dur-Konzert.

Ein echter Coup, bevorzugt werden bei derartigen Wettbewerben die Konzerte von Chopin gespielt. Im Zweifelsfall auch Mozart oder Schumann. Aber Hummel? Einige meiner Konkurrenten haben das tatsächlich als unfair empfunden. Lächerlich! Die Musikauswahl war ausdrücklich freigestellt und ich halte Hummels Konzert in Sachen Virtuosität gegenüber denen von Chopin für ebenbürtig, in Bezug auf musikalische Substanz sogar für überlegen. Um ehrlich zu sein, das Gezeter der Unterlegenen interessiert mich nicht.

Und jetzt eben als Belohnung für den Sieg eine Woche „Musizierurlaub“, wie Roland es nennt. Das bedeutet nicht etwa Urlaub vom Musizieren, sondern Urlaub, um zu musizieren.

Er hat ein Haus, mehr schon eine kleine Villa, angemietet, etwas oberhalb von Nizza, in der schroffen Hügellandschaft der französischen Mittelmeerküste. Die Villa stand erhöht, etwas entfernt sieht man das Mittelmeer und am Horizont zeichnet sich die Silhouette Korsikas ab. Heute ist unser letzter Tag hier. Wir haben 6 Tage lang musiziert. Frei. Improvisiert, uns Ideen wie Bälle zugeworfen. Allein, ungestört, ungezwungen. Die Stimmung war unbeschwert, nie hatten wir das Gefühl, zu arbeiten.

Es ist ein sonniger Vormittag, ich sitze am Flügel im Übungsraum. Die gesamte Fensterfront des Raumes besteht aus mehreren komplett aufklappbaren Flügeltüren. Sie sind offen. So entsteht der Eindruck, der Raum würde direkt in die Natur draußen übergehen. Roland kommt, ein Notenheft in der Hand. Er gibt mir die Noten.

„Spiel das!“

Ich werfe einen Blick auf die Noten, erkenne das Stück. Nichts, was zu meinem Bühnenrepertoire gehört, aber trotzdem ein Stück, das ich seit langem liebe und für mich allein immer wieder gerne spiele. Diese Art Musik wird von Roland für gewöhnlich komplett ignoriert. Entsprechend groß ist meine Überraschung.

„Mozart! Ich soll Mozart spielen?“ Ich weiß nur zu gut um Rolands Abneigung gegenüber Mozarts Sonaten. Allenfalls seine Klavierkonzerte läßt er gelten, führt sie allerdings selbst nie auf.

„Spiel es, bitte!“

„Was ist mit Dir?“ Er wirkt verstört, etwas, das ich von ihm nicht kenne.

„Nichts, spiel!“

Ich spiele.

„Nochmal, hör nicht auf!“ Er steht hinter mir, seine Hände liegen auf meinen Schultern. Er haucht einen Kuß auf meine Haare. Ich drehe mich um, sehe ihn an. Ehe ich etwas sagen kann, legt er mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. „Hör nicht auf!“

So spiele ich weiter, immer wieder dies kleine Andante. „Spürst Du den Frieden, der von dieser Musik ausgeht? Die Größe? Das, Gregor, spüre ich, wenn ich mit Dir zusammen bin.“

Seit vier Jahren ist Roland mein Lehrer, mein Konzertexamen habe ich seit knapp zwei Jahren in der Tasche. Dieser private Meisterkurs dient dem Zweck, mich zur künstlerischen Reife zu führen, es soll nach ihm keinen Lehrer mehr geben. So wie ich es sehe, ist unser gemeinsamer Weg weitestgehend beendet und seit einigen Monaten haben wir neben der professionellen auch eine intime Beziehung.

„Was willst Du mir sagen?“ Ich verstehe nicht. Unsere Beziehung ist innig, ja sogar harmonisch. Aber das rührt ausschließlich von unserer Übereinstimmung in Sachen Musik her. Tiefergehende persönliche Gefühle spielen keine Rolle. So hat er es mir von Anfang an gesagt und auch ich definiere unsere Beziehung so. Inzwischen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß für ihn letztlich nur die Musik wichtig ist und so etwas wie Liebe nicht in seinem Lebensplan vorgesehen ist. Ganz im Gegensatz zu mir. Für mich steht fest, daß Liebe genau das ist, was ich will. Schon deshalb bin ich innerlich längst dabei, mich von Roland zu lösen.

Ich respektiere, ja verehre ihn als Künstler und akzeptiere ihn als Bettgefährten, aber ich liebe ihn nicht. Ich habe mich mehr als einmal mit anderen Männern getroffen und ich weiß sehr gut, daß Roland höchst selten alleine schläft.

Deshalb verstehe ich jetzt beim besten Willen nicht, was er mir sagen will. „Noch einmal: Was willst Du mir sagen? Daß Du mich auch weiterhin in Deinem Bett haben willst? Auch, wenn ich nicht mehr Dein Schüler bin? Reichen Dir die anderen nicht?“

Wenn ich jemals in meinem Leben jemanden bis ins Innerste verletzt habe, dann in diesem Moment. Er verliert jegliche Kontrolle über seine Gesichtszüge, sinkt in sich zusammen. Tränen schießen ihm in die Augen.

Mir wird die Situation unheimlich, vor mir steht ein Mann, der mir völlig unbekannt ist. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, also gehe ich in die Offensive.

„Roland, was ist los mit Dir? Was soll das? 6 Tage lang leben wir wie im Paradies und jetzt ziehst Du diese Show ab? Faselst von Frieden und Größe wegen eines kleinen Mozart-Stücks. Ausgerechnet Du!“

Er rennt aus dem Raum, fluchtartig. Kommt zurück, weinend.

„Ich liebe Dich, Du Arschloch!“

Erst am Abend sehe ich ihn wieder, er sieht mitgenommen aus, älter. So gebeugt habe ich ihn noch nie erlebt. Er bleibt stumm, also muß ich etwas sagen. Ich entscheide mich für Direktheit. „Du liebst mich nicht, ich weiß nicht, ob Du überhaupt fähig bist, einen Menschen zu lieben.“ Er schaut mich an, bleibt immer noch stumm, also rede ich weiter. „Du magst mich wahrscheinlich, nein sicher sogar, aber das ist auch schon alles. Und wäre ich nicht Dein williger Schüler, gäbe es selbst das nicht. Und Du gehst gern mit mir ins Bett. Mit mir und ich weiß nicht, wievielen anderen sonst. Das ist keine Liebe. Wenn überhaupt, dann wirst Du jetzt sentimental, weil Du weißt, daß unser gemeinsamer Weg so gut wie beendet ist.“

Er sieht mich weiterhin an stumm an. Auch ich weiß nichts weiter zu sagen und schaue stumm zurück. Schließlich öffnet er den Mund, um zu sprechen, besinnt sich, schließt den Mund wieder. Ein zweiter vergeblicher Ansatz, ehe er es schafft, „Du hast recht“ zu sagen. „Macht es Dir was aus, allein zurück zu fahren? Ich würde gern noch etwas hier bleiben und mir ein paar Dinge durch den Kopf gehen lassen.“ Er klingt gefaßt. Nüchtern, nicht unfreundlich.

„Ja, das geht in Ordnung.“

„Danke. Wir sehen uns dann in einer Woche. Zu arbeiten hast Du ja genug. Mach weiter am Hummel. Das Konzert wird Dein Markenzeichen sein. Um Preise zu gewinnen, reicht es schon, aber Du kannst da noch mehr rausholen. Und wir haben nur ein halbes Jahr, um uns auf Japan vorzubereiten.“ Japan. Der eben gewonnene Wettbewerb ist Teil einer Serie solcher Wettbewerbe, die auf allen Erdteilen ausgetragen werden. Dieser war sozusagen die Kontinentalmeisterschaft. Der Gewinner, also ich, bekommt, neben einem nicht unansehnlichen Preisgeld, die Chance, sich mit den Siegern der übrigen Erdteile zu messen, diesmal eben in Japan.

Ich will schon „ja, mache ich“ antworten, als ich sehe, wie er stutzt, noch etwas sagen zu wollen scheint. Ich sehe ihn fragend an, er zögert.

„Ich… sollte mich wohl dran gewöhnen, Dir keine Anweisungen mehr zu geben. Aber wenn Du meinen Rat annehmen willst, dann arbeite weiter an dem Konzert. Es paßt zu Dir, perfekt. Du kannst da den ganz großen Wurf landen.“

Wie er da so sitzt fühlte ich etwas. Mitleid? Vielleicht. Es ist offensichtlich, daß es ihm schwer fällt, etwas anders denn als Anweisung zu formulieren. Ich kann nicht anders, muß zu ihm gehen. „Steh mal auf.“ Er steht auf, ich nehme ihn in den Arm. „Dein Rat wird mir immer willkommen sein. Und er ist viel mehr wert als Anweisungen.“ Ich spüre, wie er die Umarmung erwidert, mich an sich zieht und mich festhält. Der Moment ist intimer als alles, was wir je im Bett getrieben haben.

Ich zuckte zusammen. Keinen Meter von mir entfernt stand Johann Casper. „Herr Casper!“ Er lächelte.

„Hallo Gregor. Du spielst wieder?“

„Seit 2 Wochen. Sporadisch, die Lust kommt und geht. Die Hände sind noch steif. Was machen Sie hier?“

„Ich höre meinem Lieblingsschüler zu und stelle erfreut fest, daß er nicht alles aus meinem Unterricht vergessen hat. Du hast diese Sonate zum ersten Mal bei mir gespielt, weißt Du noch?“

„Ja, natürlich weiß ich das noch. Ich meine, was Sie hier drin machen. Wie sind Sie reingekommen?“ Ich kannte diesen Mann seit über 20 Jahren und konnte unmöglich böse auf ihn sein. Trotzdem wollte ich ob seines Eindringens in meine Privatsphäre ärgerlich klingen. Letztlich klang ich schroffer als gewollt. Es beeindruckte ihn aber erwartungsgemäß nicht.

„Dann solltest Du Dich klarer ausdrücken.“ Er lächelte immer noch. An diesen Satz erinnerte ich mich deutlich, den hatte ich schon früher immer zu hören bekommen. Herr Casper liebte eindeutige Formulierungen. Und er liebte es, andere auf nicht eindeutige Formulierungen hinzuweisen. „Aber um Deine Frage zu beantworten, ich wollte Dich besuchen, und Dich um etwas bitten. Die Haustür stand offen, Deine Wohnungstür ebenfalls. Ich hab’ Dich spielen gehört und konnte nicht widerstehen. Es freut mich, daß Du Dich der Musik wieder annäherst. Sie gehört zu Dir.“

„Wie lange sind Sie schon hier?“ Ich versuchte immer noch, verärgert zu klingen, merkte aber, wie mir dies immer weniger gelang. Also schaltete ich um und zeigte meine wahren Gefühle. „Ich freu’ mich, Sie zu sehen.“

„Das wiederum freut mich. Und ich bin seit etwas über einer Stunde hier. So schön das Stück auch ist, noch viel länger hätte ich es nicht ertragen. Obwohl ich zugeben muß, daß Du es hervorragend spielst. Einige meiner Nachfolger scheinen etwas von Ihrem Geschäft zu verstehen. Eine ganze Menge sogar, um genau zu sein. Verrat’ mir, welcher von ihnen hat Dir beigebracht, Gefühl in Dein Spiel zu legen? “

Jetzt war es endgültig wieder wie früher. Ich konnte nicht anders, mußte aufstehen und meinen geliebten Klavierlehrer umarmen.

„Sie wissen genau, daß Sie das waren. ‚Gefüüüüühl, Gregor, Gefüüüüühl’ mit mindestens 5 ‚ü’ waren, glaube ich, Ihre Worte damals.“

„Und ich hatte recht! Hast Du ein Glas Wein für mich?“ Ganz der alte, schüchtern war er noch nie gewesen.

„Rot?“

„Was sonst?“ In der Tat, ganz der alte.

„Lemberger mit Trollinger?“ Ich mußte grinsen, diese Unterhaltung hatten wir schon oft geführt.

„Erst auf meiner Beerdigung!“ Aus dem Grinsen wurde herzliches Lachen.

„Schön, daß sich manche Dinge nicht verändern. Setzen Sie sich doch schon mal, ich hole den Wein.“

„Aber sagen Sie, “ rief ich durch die Küche, während ich den Wein entkorkte, „habe ich wirklich über eine Stunde gespielt?“

„Ja. Und es sah nicht so aus, als ob Dich etwas unterbrechen könnte.“

Erstaunlich, anscheinend neigte ich in der letzten Zeit verstärkt zu geistigen Aussetzern. Kein gutes Zeichen. Oder doch?

„Kann schon sein, ich war tatsächlich ziemlich in Gedanken.“ Ich war wieder im Wohnzimmer angekommen. Casper hatte sich auf das Sofa gesetzt, ich hatte aber anderes im Sinn. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden Sie nochmal aufstehen? Ich würde lieber woanders sitzen. Bringen Sie noch die Gläser?“ Ich wies auf die entsprechende Schranktür und bedeutete ihm, mir zu folgen.

„Darf ich etwa ins Allerheiligste?“

„So heilig ist das nicht, lediglich für besondere Gäste reserviert.“

„Welche Ehre.“ Dieser Mann schaffte es immer noch, alles, aber auch alles mit einem Schmunzeln zu sagen. Wir durchquerten das Wohnzimmer und ich öffnete eine etwas kleinere Tür.

„Bitte nach Ihnen!“

Wir betraten das Schmuckstück meiner Wohnung, einen rundum verglasten Erker. Keine eigene Heizung, keine eigene Lichtquelle, aber dafür mit fantastischem Blick auf die Stadt. Es gab gerade genug Platz für 2 Sessel und ein kleines Tischen. Ich stellte den Wein ab, Casper die Gläser. Auf dem Tisch stand ein Kerzenleuchter, ich zündete 2 der 4 Kerzen an und goß dann den Wein ein.

„Was trinken wir?“

„Einen apulischen Primitivo.“

„Du hast Geschmack!“

„Worauf trinken wir?“

„Auf was, wenn nicht auf die Musik könnten wir beide trinken, Gregor? Auf die Musik!“

„Auf die Musik!“

Wir tranken, der Wein war tatsächlich sehr gut. In der folgenden Stille hatte ich Gelegenheit, meinen alten Lehrer im Kerzenschein genauer zu betrachten. Er war alt geworden, mußte inzwischen über 70 sein. Man sah es ihm an, das Haar war lichter, auch seine Körperhaltung schien etwas gebeugter zu sein. Aber aus den Augen strahlte nach wie vor Energie.

„Unterrichten Sie noch?“

„Selbstverständlich. Das ist der Grund, warum ich hier bin.“

„Ach?“ Ich sah ihn fragend an.

„Der Wein ist hervorragend! Du weißt vielleicht, daß ich schon länger Malheur mit den Bandscheiben habe.“ Ich mußte lachen.

„Was ist?“

„Entschuldigung. Malheur, ich hab’ das Wort lang nicht mehr gehört. Reden Sie weiter, bitte.“

„Ich habe also Malheur mit den Bandscheiben. Nach monatelangem Beknien – mit DEN Bandscheiben! – habe ich meinen Arzt endlich so weit, daß er mir eine Kur gönnt. 6 Wochen. Und das heißt, daß ich für die Zeit einen Ersatzlehrer für meine Schüler brauche. Du wirst natürlich bezahlt.“

„Natürlich!“ Ich schaffte es, äußerlich ruhig zu bleiben, aber meine Gedanken rasten. Seit gerade zwei Wochen schaffte ich es überhaupt wieder, mich ab und zu an den Flügel zu setzen und da erwartete dieser alte Mann, daß ich mal eben so für ihn als Lehrer einsprang?

„OK, ich mache es.“ Was ist?

„Du machst es?“

Sensationell, bereits der zweite Mensch am heutigen Tag, der mich lauthals zum Lachen brachte. „Bleiben Sie bitte GENAU so sitzen, ich hole meine Kamera. Ihr dummes Gesicht ist Gold wert!“

„Gregor Sebastian Huth, werd ja nicht frech!“ Das Glitzern in seinen Augen strafte den strengen Ton Lügen. „Meinst Du das ernst, Du machst es?“

„Ja, ich denke schon. Ganz ehrlich, ich wollte nein sagen, aber aus meinem Mund kam wohl was anderes. Und ja, ich denke, es wäre eine gute Idee.“ Dachte ich das? Das war mir neu. Ich schenkte Wein nach und wir saßen eine Weile schweigend in unseren Sesseln, genossen den Wein und den Blick auf die Stadt.

„Gregor, Gregor. Ganz ehrlich, ich hätte es mir schlimmer vorgestellt. Insgeheim hatte ich Angst, Du würdest mich hochkant rauswerfen, sobald Du meine Bitte hörst.“

„Die Angst war nicht unbegründet, ganz bestimmt nicht. Hätten Sie mich das gestern gefragt, wäre vermutlich genau das auch meine Reaktion gewesen.“

„Und was ist seit gestern passiert?“

„Timon.“

Sein Blick sprach Bände. Also begann ich zu erzählen. Casper war seit jeher stolz auf seine freigeistige Haltung, die 68er hielt er bestenfalls spielende Kinder. Und so brauchte ich auch den Sex im Dampfbad nicht zu verschweigen. Seine Reaktion war dann auch wie erwartet:

„Wenn Du mich jetzt damit schockieren willst, muß ich Dich enttäuschen. Sowas hab ich schon vor 50 Jahren gemacht. Und zwar ohne Dampfbad. Wenn auch selten mit einem Mann.“ Er sagte es nicht ohne eine gewisse Freude.

„Du bist verliebt. Und er auch.“ lautete seine Analyse, nachdem ich zu Ende erzählt hatte. Ich zuckte mit den Schultern, was sollte ich schon antworten?

„Erzählen Sie mir was über meine, ich meine Ihre Schüler.“

„Ganz harmlos, Du wirst keine Probleme haben. Es ist keiner dabei, der auch nur einen Funken Deines Talentes hätte.“

„Sie wissen, daß ich meine Hände nur noch unzureichend bewegen kann?“

„Nochmal: Keine Sorge.“

„Wieviele sind’s denn?“

„27, ich habe kräftig ausgedünnt auf meine alten Tage.“

„27? Ausgedünnt? Da bin ich ja die ganze Woche beschäftigt.“

„Und? Hast Du Angst, daß Dein Timo zu kurz kommt?“

„Timon!“ verbesserte ich.

„Entschuldige!“ Spöttisches Grinsen.

„Und wann soll’s losgehen?“

„Ich fahre morgen Nachmittag in die Kur, der erste Schüler kommt morgen früh um 9.“

„Bitte?“

„Wärst Du so nett, Deine Kamera zu holen? Dein dummes Gesicht ist Gold wert!“ Schuldig blieb dieser Mann nie etwas. „Nein im Ernst, ich fahre wirklich morgen, aber den Unterricht für morgen und Freitag habe ich abgesagt. Es geht nächste Woche für Dich los, wenn Du einverstanden bist.“

„Was, wenn ich nein gesagt hätte?“

„Dann wäre der Unterricht, wie ursprünglich geplant, für 6 Wochen ausgefallen. Auch kein Weltuntergang.“

Er gab mir seinen Schülerplan, die Stunden waren recht gleichmäßig über die Woche verteilt. „Wäre es zu viel verlangt, die Stunden bei Dir abzuhalten? Ich nutze die Zeit meiner Abwesenheit, um die Handwerker für eine Grundsanierung ins Haus zu lassen. Da wär’s ziemlich laut.“

„Ja, das geht klar, kein Problem. Sie müssen den Leuten nur sagen, wo sie mich finden.“

Er goß uns Wein nach, die Flasche war leer. „Hast Du noch eine?“

„Ja. Brauchen wir die?“

„Ich denke schon.“

Irritiert ging ich los und holte noch eine Flasche. Als ich mich wieder setzte, bemerkte ich Caspers plötzlich ernster gewordenen Gesichtsausdruck. „Moment noch, ich hab was vergessen.“

Wenn mich mein Gefühl nicht sehr trog, würde ich gleich dringend die moralische Unterstützung meiner Zigaretten benötigen.

Casper warf einen mißbilligenden Blick auf die Zigaretten, sagte aber nichts. Ich setzte mich.

„Gregor, was ist passiert? Das war kein Unfall, oder?“

„Lesen Sie keine Zeitung? Da stand doch alles, schon fast peinlich genau.“ Vielleicht sprang er ja darauf an.

„Ja, ich hab es gelesen. Und ich glaube es nicht.“ Er sprang nicht darauf an.

„Ihre Frage kommt nicht unerwartet. Ich warte schon länger darauf, daß Sie mich das fragen. Wieviel wissen Sie?“

„Da bin ich mir selbst nicht sicher. Laut Zeitungsbericht sind aufgestapelte Baumstämme in Bewegung geraten. Deine Hände waren drunter. Beschädigte Sehnen in beiden Händen, Du kannst nicht mehr konzertieren.“

Ich nickte, das war die Kurzfassung dessen, was in den Zeitungen gestanden hatte.

„Aber ich halte das für ausgemachten Blödsinn“ setzte er nach.

Ich zündete mir eine Zigarette an und begann, zu erzählen.

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