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Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn
Teil 6
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Informationen
- Story: Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn
- Autor: Astardis
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory
Inhaltsverzeichnis
Samstag
Der sich schon am Vortag ankündigende Wetterumschwung war eingetreten, im Sturm klappernde Fensterläden weckten mich kurz vor vier Uhr morgens. Ich mußte zur Toilette. Spürte auf dem Weg zurück ins Bett schon, daß ich zu wach war, um sofort wieder einzuschlafen. So ging ich nach unten. Im Kamin war noch etwas Glut, ich schaffte es, ein Feuer daraus zu machen.
Die Wärme zog mich an. Ich suchte mir ein paar Decken und Kissen zusammen und baute mir auf dem Boden vor dem Kamin ein provisorisches Lager, zündete mir eine Zigarette an. Mein Leben war im Begriff, eine neue Richtung einzuschlagen. Timon hatte es im Auto auf den Punkt gebracht; wollte man mich mit einem Wort beschreiben, wäre ‚Selbstmitleid’ die treffendste Wahl gewesen. Und jetzt? Wie weggeblasen. Sicher, der große, tragfähige Zukunftsplan ließ weiter auf sich warten, aber ich war wenigstens bereit, mir Gedanken darüber zu machen.
Obwohl ich ihr böse sein wollte, war ich insgeheim über Reas Vorgehen amüsiert. Sie hatte das generalstabsmäßig geplant, ich sah es inzwischen klar vor mir. Sie wollte mich mit dem ganzen Hartz-Blödsinn so weit in die Ecke treiben, daß ich nicht mehr anders konnte, als aktiv zu werden. Fast genial dann der Einfall, Casper einzuspannen. Er dürfte seinen Auftritt als Deus ex machina genossen haben. Verdammt, er hatte mir ja sogar noch einen Hinweis gegeben. Und Timon? Konnte er auch? Nein, das war abwegig. Er war einfach nur das Sahnehäubchen, damit konnte Rea nichts zu tun haben. Stimmte es, was ich Casper erzählt hatte? War Timon der Grund für meine überraschende Zusage? Nein. Ehrlicherweise mußte ich zugeben, daß ich auch ohne Timon wohl zugesagt hätte. Allein, um der amtlich verordneten Wohnungssuche zu entgehen.
Der zweite Teil des Abends mit Casper fiel mir wieder ein. „Das war doch kein Unfall!“ Ich hatte ihn noch fragen wollen, wie er darauf kam, es dann aber im Verlauf des Gesprächs schlicht vergessen. Das würde ich nachholen müssen. Casper sagte nichts ohne Grund, das wußte ich.
Ich saß noch einige Minuten vor dem Kamin, schaute in die züngelnden Flammen und genoß es, mich darin fallen zu lassen. Schließlich fühlte ich mich wieder in der Lage, zu schlafen. Ich ging zurück ins Bett. Timon schlief immer noch. Ich legte mich zu ihm, suchte seine Körperwärme. Er reagierte im Schlaf, schmiegte sich an mich. Ein lange vermißtes Gefühl von Geborgenheit machte sich in mir breit, ich schlief ein.
„Dem lag immer noch das Drama eurer letzten Zusammenarbeit schwer im Magen. – Das war doch kein Unfall!“ Casper.
Ich sitze am Flügel im Aufnahmestudio in Straßburg. Roland und ich hören uns die entstandenen Aufnahmen an. Henri Herz, „Fantaisie Méxicaine“, viel würden die Techniker nicht nachzubearbeiten haben. Ein drolliges, charmantes Stück, effektiv beendet Herz es mit der von ihm für das damalige Mexiko komponierten Nationalhymne. In der nationalromantisch verklärten damaligen Zeit eine Garantie für Jubelstürme nach der Aufführung. Ich höre mich selbst spielen, eine grandiose Schlußsteigerung, rauschende Läufe über breiten Akkorden, der unvermeidliche doppelte „Schramm-Schramm“-Schlußakkord.
„Du bist gut, das ist fantastisch.“ Er sieht nicht aus, als würde er sich freuen.
„Das hast Du mir schon einmal gesagt, vor vier Jahren.“
„Damals warst Du auch schon gut, ja. Aber kein Vergleich zu jetzt. Daran ist nichts mehr zu verbessern, laß uns weitermachen.“
„Was denn noch? Wir sind durch.“
„Thalberg.“
„Roland, nein. Es reicht für heute. Das hat Zeit, die Stücke stehen jetzt doch gar nicht zur Debatte.“ Ich habe genug, es ist mir kein besonderes Vergnügen, mich selbst spielen zu hören und hier ist die Stimmung schon wieder ohne erkennbaren Grund deutlich unterkühlt.
„Es reicht niemals, also los!“ Er drückt ein paar Knöpfe, schiebt ein paar Regler nach oben und ich höre mich wieder selbst. Thalberg, eine Fantasie über Mozarts ‚Don Giovanni’. Ein episches Stück, 16 Minuten lang. Eines von Thalbergs besten. Auch eines seiner bekannteren und somit eigentlich nichts für dieses Projekt. Wegen seiner Qualität und der potentiell verkaufsfördernden Wirkung haben wir aber entschieden, es mit aufzunehmen. Oder besser, Roland hat es entschieden.
Thalbergs spezielle Technik hat mich seit jeher fasziniert. Die Daumen beider Hände spielen unabhängig eine Melodie, während die übrigen Finger die Begleitung besorgen. Die Wirkung ist frappierend, es klingt, als sei eine dritte Hand auf der Tastatur. Der klangliche Effekt wird mit haarsträubend schwieriger Technik erkauft. Extreme Spannweite der Hände ist notwendig, um das Geforderte akkurat ausführen zu können. Meine großen Hände erleichtern mir dies.
Das berühmte Menuett aus Mozarts Oper bildet die Schlußmelodie, in vollen Akkorden in Tenorlage gespielt. Ein fast 5-minütiges, ununterbrochenes Crescendo, umrauscht von Arpeggien über die gesamte Tastatur.
Ich komme zum Schluß, bin selbst über die Qualität dieser noch in keinster Weise nachbearbeiteten Aufnahme überrascht. Die wenigsten Leute wissen es, aber das, was am Ende auf der CD zu hören ist, ist nur in den seltensten Fällen aus einem Guß. Häufig werden die besten Passagen aus mehreren Versuchen zusammengeschnitten, um die perfekte Qualität zu erreichen, die gewünscht wird. „Vielleicht sollte ich das Stück in mein Bühnenprogramm aufnehmen. Wenn ich es schaffe, das so zu spielen, muß die Wirkung überwältigend sein.“ Ein spontan geäußerter Satz.
Roland steht wortlos auf, verläßt den Raum.
Ich wußte, daß ich gestreichelt wurde, bevor ich es wirklich merkte. Der Schlaf zog sich ganz allmählich zurück, das Gefühl einer Hand auf meiner Haut blieb trotzdem bestehen. Langsam realisierte ich, daß dies kein Traum war. Ich drehte mich auf den Bauch, signalisierte stumm, wo ich gestreichelt werden wollte. Timons Hand strich über meinen nackten Rücken. Ich genoß die sanften, kreisenden Bewegungen. In einer einzigen großen Bewegung schaffte er es, keine Stelle meines Rückens auszulassen. Ich drehte mein Gesicht in seine Richtung. Öffnete die Augen und sah in seine. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast, so nah lag er bei mir. Sein Gesicht näherte sich mir noch weiter, unsere Lippen berührten sich. Eine sanfte, fast nebensächliche Berührung. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht.
„Dich behalt’ ich.“ Ich hatte meine Augen immer noch geschlossen, lag entspannt im Bett, Timons Kopf auf meiner Schulter.
„Wirst mich auch eh nicht mehr los, trotzdem, wie wär’s mit Aufstehen?“
„Schon?“
„Schon? Es ist Mittag.“
„Unmöglich, ich bin doch erst aufgewacht.“
„Ja klar. Schau mal auf die Uhr.“ Es stimmte. „Wir waren eben drei Stunden beschäftigt, weißt Du?“
„Drei Stunden?“
„Mhm. Als ich Frühstück gemacht hab’, war es neun. Danach habe ich Dich geweckt. Jetzt ist es zwölf durch.“
„Ich glaub’ nicht, daß ich viel verpaßt habe. Mit der Nummer eben kann kein Frühstück konkurrieren. Drei Stunden? Wow, Du bist gut. Wo lernt man das?“
„Naturtalent, nehme ich an.“ Ein weiteres strahlendes Grinsen. „Ist leicht bei Dir. Komm, wir stehen auf.“ Unwillig folgte ich ihm. Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch eine Weile liegen zu bleiben oder auch noch eine Runde Sex anzuhängen.
Timon bog in Richtung Bad ab, ich ging nach unten in die Küche. Wirklich, da stand ein weiteres üppiges Frühstück bereit. Ein prüfendes Riechen an der Kaffeekanne. Drei Stunden alter Kaffee, nicht eben ein Traum. Ich machte neuen. Warf zum ersten Mal einen Blick aus dem Fenster. Es regnete in Strömen, weiter oben schneite es wohl entsprechend heftig. Der Sturm hatte zwar nachgelassen, die Nachwirkungen waren aber noch zu spüren.
„Mhm, wird heute wohl auch nichts mit Skifahren.“ Timon hatte die Küche erreicht, es aber so wenig wie ich nicht für nötig befunden, sich etwas anzuziehen. Wo waren nur meine Zigaretten? Richtig, noch beim Kamin. Im Vorbeigehen strich ich über seine nach wie vor makellos glatte Brust. Offenbar war es doch Natur.
„Ja, bei dem Wetter können wir gar nicht raus, wir sind eingesperrt. Da hätt’ ich mir das mit der neuen Ausrüstung auch sparen können.“
„Nö, das war schon gut so. Sonst wüßte ich wahrscheinlich immer noch nicht, wer Du bist. Außerdem war das sehenswert, wie Du in dem Laden umschwärmt worden bist. Stört Dich das gar nicht?“
„Die werden dafür bezahlt. Außerdem glaube ich nicht, daß es irgendjemanden hilft, wenn ich ihm auch noch klarmache, daß mir seine antrainiert unterwürfige Haltung unangenehm ist. Damit weise ich ihn doch nur nochmal extra drauf hin.“
„Aha. Wieder so eine ganz spezielle Logik.“
„Egal, Kaffee.“ Mir war noch nicht nach derart tiefgründigen Diskussionen. So gut mir Timon auch tat, mein Gehirn hatte sich längst daran gewöhnt, erst nach der zweiten Tasse Kaffee wirklich zu arbeiten.
Wir frühstückten schweigend. Da wir das Haus ohnehin nicht würden verlassen können, feuerte ich den Kamin an, dann ging ich unter die Dusche.
Als ich wieder nach unten kam, inzwischen dann doch angezogen, saß Timon auf dem Sofa, sah nachdenklich in Richtung Kamin.
„Was ist?“ – Noch mehr Gesprächsbedarf?
„Nichts. Mir ist nur eben eingefallen, Du hast noch kein Wort über das Gefängnis gefragt.“ Das also. In der Tat hatte ich daran schon den einen oder anderen Gedanken verschwendet, aber nicht gewußt, wie – und ob überhaupt – ich das Thema am besten zur Sprache bringen sollte. „Interessiert Dich das gar nicht?“
„Mich interessiert alles von Dir“ – red nicht so kitschig! – „aber wenn Du’s nicht von selbst erzählst, wird das schon seinen Grund haben. Willst Du drüber reden?“
Er sah mich an. Unsicher. „Ich weiß es nicht, ehrlich. Was würdest Du wissen wollen?“
Der Ball lag wieder bei mir. Was wollte ich wissen? „Puh, keine Ahnung. War’s schlimm? Ok, vergiß das, ne blödere Frage kann man wohl kaum stellen, sorry.“
Er lächelte. „Entschuldige Dich nicht immer, wenn Du was Spontanes sagst, ich find das süß. Nein, die Frage ist ok.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was heißt schon schlimm? Es ist halt ein Gefängnis. Die fehlende Freiheit ist schlimm, ja. Man merkt erst dann, wieviele kleine Freiheiten man sich draußen einfach so nehmen kann.“
Mir brannte tatsächlich eine konkrete Frage unter den Nägeln, ich wagte es nicht, sie deutlich zu formulieren und tastete mich vorsichtig heran. „Und… wie ist das, so mit lauter Männern?“
Er lachte laut auf, grinste mich an. „Du meinst Sex? Vergewaltigung?“ Ertappt, das hatte ich in der Tat gemeint. „Nichts davon. Ich weiß es nicht, hatte ich Glück oder sind das alles nur Horrormärchen, bei uns gab es das jedenfalls nicht. Es gab schon mal Aggressionen, ja. Aber nichts so Gravierendes. Da waren sogar ein, zwei Typen, mit denen hätte ich mir vorstellen könne, daß was läuft. Aber keine Chance, oder ich hab’ mich wenigstens nicht getraut, sie anzusprechen. Dort mußte dann doch nicht jeder wissen, daß ich schwul bin. Sonst noch Fragen?“
„Zu dem Thema, nein. Ich will Dich da nicht ausfragen. Du erzählst es mir, wenn Du Lust hast. Aber ne andere Frage hätte ich noch, ja. Welches ist eigentlich jetzt der echte Timon? Der unverfälschte? Der coole, taffe Typ aus dem Dampfbad und dem Cafe? Oder der in Tränen aufgelöste von hier?“ Ich setzte mich zu ihm aufs Sofa, legte meine Füße in seinen Schoß.
Er lächelte, nickte. „Ja, da sind Unterschiede, ich weiß. Naja, es sind schon beide echt. Ich bin schon so, wie ich in der Sauna war. Ich kann mir nehmen, was ich will, wenn ich es will. Aber das hier, das war ich auch. Als Du mir Deine Zuneigung gezeigt hast, war das fantastisch. Von Situationen in der Art habe ich im Knast geträumt, weißt Du. Und hinterher dann, als ich raus war, habe ich mehr als einmal erlebt, wie mich Leute wegen der Haft abgelehnt haben. Und dann hab’ ich es einfach mit der Angst bekommen, daß Du auch so reagieren würdest. Und das wär’ dann richtig hart gewesen. Da kam alles auf einmal. Erst die Freude, dann die Angst. Ich wirke vielleicht nicht so, aber daß mir jemand sagt, daß ich ihm etwas bedeute, daß mir ein Mann das sagt, das … ich könnt’ schon wieder heulen, wenn ich nur dran denke.“
„Küß mich lieber, Heulen macht Falten.“ Er tat es, schaffte es, nicht zu heulen dabei. „Was hast Du nach dem Knast gemacht?“
„Naja, das war nicht so einfach. Gelernt habe ich mal Werbekaufmann. Die Jobsuche war nicht so besonders, vier Jahre Knast machen sich im Lebenslauf nicht gut. Mein Vater hat mir dann einen Job besorgt. Und in den hab’ ich mich fürs Erste vertieft. Erstmal festen Boden unter die Füße kriegen. Ab und zu hab’ ich mal versucht, jemanden kennenzulernen. Und das war eben nicht so besonders erfolgreich. Dienstags hatte ich immer nen freien Nachmittag, da war ich in der Sauna. Und dann kamst Du.“
„Du auch, auf meinen Bauch.“
„Was dagegen?“
„Nö. Was war mit Deinen alten Freunden? Wie haben die reagiert?“
Er streichelte meine nackten Füße. „Das war ok, da gab es wieder Kontakte, mit den meisten jedenfalls. Aber da war halt kein schwuler Mann dabei.“ Er wechselte das Thema. „Erzähl mir was von meinen Vorgängern!“
„Deine Vorgänger? Meine Lover?“ Er nickte. „Da gibt’s nicht viel zu erzählen, überwiegend waren das Gelegenheitsbekanntschaften, kaum mal was länger als eine Woche. Von Roland weißt Du ja, vor ihm hat mich das nie interessiert. Ab und zu Sex, ansonsten war mir mein Klavier genug. Nach Roland auch erstmal wieder. Vor zwei Jahren kam Marcel, mit dem hatte ich offiziell eine Beziehung. Aber halt nur offiziell, man muß diese Form ‚Beziehung’ dann auch mit Inhalt füllen. Bei uns ist sie leer geblieben. Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, daß ich ein absolut treuer Mensch bin, wenn ich liebe. Wenn das stimmt, dann habe ich noch nie geliebt. Bis zu Marcel war das kein Thema, das waren ja auch noch nicht mal Beziehungen. Aber bei ihm hätte es anders sein sollen, das war ja ne Beziehung. Es war aber nicht anders, den ersten Sex außerhalb hatte ich nach drei Wochen. Und das war kein einmaliger Ausrutscher. Ich hab’ das dann nach einem knappen Jahr beendet. Aber ich bleibe dabei, ich will lieben und ich will auch eine Beziehung haben. Kitschig, altmodisch, weißes Brautkleid und Mendelssohn in der Kirche. Und Du dazu im Frack.“
Es dauerte eine Weile, bis das eben Gesagte zu ihm durchdrang. „Ich im Frack? Du willst… mit mir?“
„Vielleicht ohne Brautkleid und Frack und ganz sicher ohne Mendelssohn, aber ja, ich will mit Dir. Ich meine… wenn Du auch willst.“
Er strahlte. „Fick mich!“
„Bitte?“
„Fick mich!“ – Auch eine Art, eine Beziehung zu begründen.
„Sorry, das war jetzt ein ganz plötzlicher Anfall.“ Er lag unter mir.
„Macht ja nix, ich mach’ das gern.“ Ich küßte seinen Nacken.
„Das hab’ ich gemerkt, ja. Aber ich könnt’ mich dran gewöhnen. Paß mal auf, ich lieg hier auf was Feuchtem.“ Er drehte sich unter mir weg, ich glitt vollends aus ihm.
„Und Du siehst, es ist noch alles heil. Das macht doch Mut für gelegentlich vertauschte Rollen, oder?“
Er sah mich zweifelnd an. „Wie, ich soll Dich?“
„Mhm. Aber später, jetzt muß erst Dein Fleck da weg, Casper mag das sicher nicht so gern auf seinem Sofa. Hol’ mal ein feuchtes Zewa.“
Er ging in die Küche, brachte das Gewünschte, rubbelte die feuchten Stellen ab. „Ich weiß ja nicht, Du weißt doch, daß ich nicht unbedingt S hab’.“
Er hatte es wieder geschafft, mich zum Lachen zu bringen. „Und ich bin nicht die eiserne Jungfrau. Mußt ja nicht gleich losrammeln wie die Feuerwehr, das geht schon. So viel hast Du auch nicht zwischen den Beinen.“ Das war gelogen, ich hielt die Aussage trotzdem für angemessen. „Außerdem fehlt mir das einfach, ich hab’ fast immer nur Kerle abgekriegt, die aus dem Passivsein ne Religion machen. Ich hab’ auch meine Bedürfnisse – unter anderem Kaffee, ich hatte schon zwei Stunden keinen mehr. Machst Du mir welchen? Ich will duschen.“
„Schon wieder? Äh…, hätt’ ich vielleicht vorher duschen sollen? War das jetzt irgendwie… schmutzig?“ Zur Abwechslung wurde er mal wieder rot, was mir ein Grinsen entlockte.
„Ja total, schau doch.“ Er schaute tatsächlich, reichlich irritiert. „Wie schön, mein Kalb ist wieder da. Mach’ Dir keinen Kopf, Sex muß spontan sein. Wenn ich was Steriles will, geh’ ich ins Krankenhaus. Und beruhige Dich, ich muß nicht duschen, ich will einfach. Und selbst wenn ich müßte, was soll’s? Also los, mach Kaffee.“
Ich kam zurück aus dem Bad, Kaffee duftete mir verlockend entgegen. Timon stand, immer noch nackt und eine Kaffeetasse in der Hand, am Küchenfenster und sah nach draußen. „Das wird heute wohl nicht mehr besser mit dem Wetter, schau!“
„Macht nichts, ich hab’ hier Beschäftigung genug.“ Meine Hand lag auf seinem Hintern.
Er drehte sich um, mit strahlenden Augen. „Du magst mich tatsächlich, oder?“
„Kann man sagen, ja.“ Ich goß mir Kaffee ein. „Ich glaub’, ich hab’ Dich gesucht.“ Eine unreflektierte Aussage. Trotzdem durch und durch wahr, wie ich feststellte.
„Und ich hab’ Dich gefunden. Ich geh’ dann auch mal duschen.“ Er ging, ließ mich für zehn Minuten mit Kaffee und meinen Gedanken allein.
„Und was machen wir jetzt?“ Er war zurück, erstmals bekleidet heute, die bereits vertraute graue Jogginghose.
„Nachher koch’ ich uns was, darauf hab’ ich Lust. Und vorher fickst Du mich. Irgendwann dazwischen werde ich Casper anrufen, ich muß ihn was fragen. Und jetzt trinken wir Kaffee. Hast Du noch Zigaretten?“ Er hatte, wenn auch beunruhigend wenige. „Ok, Planänderung, während ich telefoniere, gehst Du Zigaretten holen.“
„Suchtbolzen.“
„Ja und? Alles Kompensation. Oder soll ich Dich jedesmal rannehmen, wenn ich Lust auf Dich hab’?“ – Schachmatt!
„Mach doch!“ – Zu früh gefreut.
„Das verkraftest Du nicht.“ – Aber jetzt.
„Zieh Dich aus!“
„Ich rauche.“
„Also hast Du Lust auf mich.“ – Schachmatt.
„Potenzprotz.“
„Lebst Du noch?“ Er stand hinter mir, nach wie vor in mir.
Ich grunzte zufrieden, schaute aus dem Küchenfenster. „Sollte ich wohl eher Dich fragen, ist noch alles dran?“
„Jepp, alles heil.“
„Hey, der Patient ist geheilt.“ Er zog sich aus mir zurück. „Mmmmmh, ich liebe das.“
„Ah schön, ich bin mir vorhin schon komisch vorgekommen, als ich das gleiche gedacht hab’.“
„Hast Du?“
„Mhm. Tut mir leid, ich hab’ da wohl noch etwas Nachholbedarf. Ich weiß nicht immer so ganz genau, wie sich was anfühlen muß.“
„Im Zweifelsfall so wie eben. Au! Ich kann nicht mehr laufen.“
Er schaute mich erschrocken an. „Wegen mir? War ich so grob?“
„Ein Scherz, Schatz, das war ein Scherz. Du warst überhaupt nicht grob, Du warst toll. Alles ok. Ich geh’ dann mal wieder duschen.“
Ich kam zurück, Timon ging ebenfalls duschen. Da war noch etwas Kaffee übrig. Ich verschwendete einen flüchtigen Gedanken an meinen ausufernden Kaffeekonsum, verwarf ihn und goß genüßlich die schwarze Flüssigkeit in meine Tasse. Die Dinge entwickelten sich prächtig. Grandioser Sex mit einem großartigen Kerl, der noch dazu offenbar unter Beziehung mehr verstand als gemeinsam vertriebene Langeweile.
„Brauchen wir noch was außer Zigaretten?“ Er war zurück.
„Ich nicht.“
Casper zu erreichen erwies sich als einfacher als befürchtet, ich wurde zu ihm durchgestellt.
„Casper!“
„Huth! Wieso sind Sie nicht bei einer Anwendung?“
„Gregor, schön. Ich hatte schon zwei heute. Das ist hier wie in der Kaserne, Aufstehen bei Sonnenaufgang. Gräßlich! Wie geht’s Euch? Seid ihr in meinem Haus?“
„Sind wir. Und es geht uns gut, obwohl wir bisher nicht zum Skifahren gekommen sind. Das Wetter.“
„Schnee und Regen, ja, ich hab’s gelesen. Wieso rufst Du überhaupt an? Man sollte meinen, zwei frisch Verliebte hätten was Besseres zu tun.“ Er klang verschmitzt.
„Haben wir auch, keine Sorge. Timon ist mal eben einkaufen im Dorf. Und ich wollte Sie etwas fragen. Wollte ich bei unserem Gespräch letztens schon, hab’s aber dann vergessen. Sie haben gesagt, mein Unfall sei kein Unfall gewesen. Wie meinen Sie das?“
Schweigen, er schien zu überlegen. „Ach das, ja. Das war falscher Alarm. Ich habe mich da wohl in was verrannt. Nicht der Rede wert. Deine Erzählung hat die Dinge aufgeklärt. Du sagst ja, Du warst allein.“
„Inwiefern? Was soll es denn gewesen sein, wenn kein Unfall?“
Er zögerte. „Warum ist das jetzt so wichtig? Wieso willst Du das wissen?“
„Weil ich… weil ich schon seit dem Unfall das Gefühl habe, daß da noch etwas ist. Irgendetwas, das ich nicht weiß oder verdränge oder was weiß ich. Und jetzt kommen Sie und sagen das. Ich versteh’ gar nicht, wie ich vergessen konnte, direkt nachzufragen.“
„Was meinst Du, was soll da noch sein? Was hast Du vergessen?“
Bei meiner Antwort hätte ich gern sein Gesicht gesehen. „Ich weiß es nicht. Das ist einfach ein Gefühl. Ich bin mir absolut sicher, obwohl ich keine Ahnung habe, um was es geht. Ich weiß nur, daß da noch etwas ist. Sagen Sie mir bitte, was Sie gemeint haben!“
Er seufzte. „Also gut. Aber das war wirklich nur so eine fixe Idee, Du hast sie selber widerlegt. Ich erzähl’s Dir. Ich hatte das Gefühl… glaub mir, es fällt mir nicht leicht, das auch nur zu sagen… ich hatte das Gefühl, jemand könnte da etwas nachgeholfen haben.“
„Nachgeholfen? Wie kommen Sie auf die Idee? Das ist lächerlich. Wer sollte denn… es haben doch kaum fünf Leute gewußt, daß ich dort bin.
“Ja, wie komme… wie kam ich auf die Idee? Ich hab’ Dir schon gesagt, daß Roland…“
„Roland? Was hat der denn damit zu tun? Meinen Sie vielleicht, daß er hinter mir her war?“ Eine lächerliche Vorstellung, entsprechend schroff klangen meine Worte.
„Laß mich Dir erzählen, Gregor, bitte! Ich weiß selber nicht, was ich glaube – also Roland war vielleicht ein Dreivierteljahr vor Euren Aufnahmen bei mir. Stand plötzlich vor der Tür, nach mehr als einem Jahr Sendepause. Er wolle mir etwas zeigen und meine Meinung hören. Das kam schon… überraschend, meine Meinung war ihm, denke ich, in den letzten Jahren nicht mehr besonders wichtig.“
„Das stimmt nicht, er hat viel von Ihnen geredet, immer.“ Ich klang immer noch schroff, inzwischen mehr aus Verärgerung über Caspers langes Reden. Worauf wollte dieser Mann nur hinaus?
„Mag sein, mein Eindruck war ein anderer.“ Es hörte sich sehr überzeugt an. „Jedenfalls, er hat mir dann Massen von Noten gezeigt, die er in irgendwelchen Archiven gefunden hat. Und er hat mir lang und breit erklärt, was er damit vorhat. Schließlich sollte ich ihm sogar helfen, einige Stücke auszusortieren. Er meinte, er habe sich schon zu lange damit befaßt und es fehle ihm jetzt die notwendige Objektivität.“ Ich suchte nach Zigaretten, es waren nur noch zwei da. Es wurde Zeit, daß Timon zurückkam. „Nun, die Objektivität hat ihm offensichtlich gefehlt, aber auf einem anderen Gebiet. Mir war aufgefallen, daß er so ziemlich jeden Pianisten von Rang wenigstens im Auge hatte, teilweise auch schon engagiert. Nur Dich nicht. Auf meine Nachfragen hat er ausweichend reagiert, schließlich hat er es zugegeben.“ Er seufzte.
„Was zugegeben?“ Ich verstand immer noch nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte. Und ich verlor langsam die Geduld.
„Was ich immer schon vermutet habe. Daß er ein viel sensiblerer Mensch ist, als man denkt. Als er uns auch denken lassen will. Die Reaktionen auf seine, nein, auf Eure letzte gemeinsame Arbeit haben ihn tief getroffen. Es war ja nicht nur Bergmann, kaum jemand hatte auch nur ein gutes Wort für seine Einspielungen übrig. Und nicht wenige haben, wie Bergmann, Dich auf Rolands Kosten gelobt. Das hat er zugegeben. Wie verletzend das für ihn war. Und daß er in Bezug auf Deine Teilnahme an den neuen Aufnahmen unsicher war. Aus eben diesem Grund. Er wollte nicht, daß sowas nochmal passiert.
Ich hab’ versucht, ihn in der Hinsicht zu beruhigen, so gut es ging. Gesagt, daß Dir da sicher kein Vorwurf zu machen ist, was man da halt so sagt. Du hättest ihn da sehen sollen, vor mir saß ein sprichwörtliches Häufchen Elend. Ich denke, auch wenn er das so nicht gesagt hat, daß er wirklich Angst davor gehabt hat, noch einmal mit Dir verglichen zu werden. Und dabei zu verlieren. Ich habe Dir das schon mal gesagt, Du bist besser als er. Und er weiß das, er weiß das… und die letzten Kritiken haben ihm gezeigt, daß auch andere das so sehen. Du kennst ihn, Gregor. Du mußt doch wissen, wie wichtig ihm sein Ruf als bester Pianist der Welt ist.
Ja, dann haben wir noch eine Weile geredet. Ich hab’ ihm schließlich vorgeschlagen, Dich Herz spielen zu lassen. Durchaus mit Hintergedanken, wenn ich ehrlich bin. Ich wußte ja, daß Roland die vorhergehende CD einspielen würde. Und jeder, aber auch wirklich jeder halbwegs vernünftige Kritiker hätte dann erkennen müssen, daß Rolands Aufnahmen Deinen überlegen sind. Schlichtweg, weil Czerny meilenweit über Herz steht, da kann auch der beste Pianist keinen Vergleich gewinnen. Damit wäre allen geholfen gewesen.
Er wollte es sich überlegen und ist dann bald gegangen. Das Ergebnis der Überlegungen kennen wir ja, Du hast gespielt.“
Mir riß endgültig der Geduldsfaden. Dieses ganze Gerede führte offensichtlich ins Leere. „Schön und gut. Daß er mich nicht dabeihaben wollte, ist für mich eine neue Erkenntnis. Auch, daß er mir anscheinend immer noch die Verrisse der letzten CD übelnimmt. Obwohl ich davon in Straßburg nichts bemerkt habe und sowieso auch gar nichts dafür kann. Trotzdem frage ich Sie: Was hat das um Gottes Willen mit meinem Unfall zu tun? Roland war doch gar nicht dabei, als es passiert ist.“ Ich zündete mir die letzte Zigarette an, hoffte inständig auf Timons schnelle Rückkehr. Diese Situation schrie nach Zigaretten. Sitzen konnte ich nicht mehr, ich lief inzwischen planlos durchs Wohnzimmer, Caspers wirre Ausführungen gingen mir auf die Nerven. Wurde er doch langsam alt? „Und außerdem“ setzte ich fort, „reden Sie die ganze Zeit von vor dem Unfall. Ich will nicht unhöflich sein, aber meinem Akku geht langsam der Saft aus. Und mich interessiert im Moment auch mehr der Unfall selbst. Und wieso Sie glauben, daß es kein Unfall war. Sie reden und reden. Und sagen nichts.“ Eine neue Erfahrung, ich konnte mich nicht erinnern, meinen alten Lehrer schon einmal getadelt zu haben. Sofort beschlich mich das schlechte Gewissen deswegen.
„Entschuldigen Sie, so war das jetzt nicht gemeint. Ich bin durcheinander, was Sie mir da erzählen, ergibt keinen Sinn. Das hat doch alles überhaupt nichts miteinander zu tun.“
„Nein, entschuldige Dich nicht, Du hast ja Recht. Ich hätte besser meinen Mund gehalten.
Aber jetzt muß ich Dir wohl alles erzählen, sonst hältst Du mich für völlig verrückt. Das tust Du vielleicht trotzdem, ich weiß es nicht. Ich mußte so weit ausholen, damit Du verstehst, wie ich auf den Gedanken gekommen bin. Wie auch immer… Roland hat mich ein paar Tage nach Deinem Unfall angerufen. Er war völlig wirr, da war kaum noch ein klarer Satz. Hat etwas erzählt von ob ich jetzt zufrieden sei und das sei meine Schuld und er sei am Ende. Und er hat geweint. Nein, das war hysterisches Heulen. Ich kenne Roland seit über 30 Jahren, aber so habe ich ihn noch nie erlebt. Ich bin gar nicht zu Wort gekommen, er hat einfach aufgelegt.“ Er seufzte, klang müde. „So, jetzt weißt Du, was ich meine. Ich habe lange über das alles nachgedacht. Wie könnte ich an einem Unfall Schuld haben? Verstehst Du?“
Ich verstand nicht. „Nein, ehrlich gesagt.“
Er seufzte. „Gregor, ich war es, der Dich vorgeschlagen hat. Zuerst dachte ich, Roland meint das. Daß Du ja gar nicht dort gewesen wärst und also auch nicht hättest verunglücken können, wenn ich Dich nicht vorgeschlagen hätte. Aber dann hab’ ich darüber nachgedacht. Und es ist mir immer unwahrscheinlicher vorgekommen. Warum hätte Roland deswegen am Ende sein sollen?
Und dann bin ich dahintergekommen. Dachte ich wenigstens. Wenn er nun, aus welchem Grund auch immer, etwas damit zu tun hatte, dann würde sein wirrer Anruf Sinn machen. Dann wäre ich tatsächlich schuld. Verstehst Du jetzt?“
Ich verstand. Und konnte nicht anders, als zu lachen. „Herr Casper, nichts für Ungut, aber die ganze Geschichte ist Blödsinn. Schon deshalb, weil, wie schon mehrfach betont, Roland nicht mal in der Nähe war, als ich abgerutscht bin. Ich war da allein im Wald.“
„Ja, das hast Du gesagt.“
„Außerdem, wieso sollte Roland das tun? Wir hatten unsere Probleme, ja. Aber nur, weil ein schräger Vogel wie Bergmann sich auf ihn eingeschossen hat, bringt Roland mich nicht um. Da verbindet uns doch etwas mehr. Tut mir Leid, aber Sie haben sich da ziemlich verrannt.“ Ich fand das inzwischen sehr amüsant. Dafür hatte es sich doch gelohnt, mir die elendig lange Vorgeschichte anzuhören. „Und jetzt vergessen Sie am besten die ganze Geschichte, vor allem Rolands Anruf. Roland macht öfter Dinge, die keiner versteht. Er hat mich im Krankenhaus besucht, der Auftritt war wenigstens genau so merkwürdig. Ich hab’s schon lange aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen. Roland ist Roland, das muß man einfach akzeptieren. Ist Ihnen das nie aufgefallen?“
„Doch, ja. Sicher. Aber das am Telefon war anders. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ich kenne ihn vielleicht nicht besser als Du, aber doch wenigstens länger. Und auch, wenn Du in dieser Sache Recht hast, ich weiß, daß er sich verändert hat. Und das nicht zum Guten. Ich weiß es nicht Gregor, es ist nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn. Und Roland wirkt auf mich seit einiger Zeit einfach nicht mehr normal. Darum war es wahrscheinlich für mich auch so einfach, mir das alles so zusammenzureimen.“
Erfreut registrierte ich, wie sich die Tür öffnete. Timon war zurück, zwei Einkaufstüten in den Händen. Er ging in die Küche, stellte die Tüten ab. Ich lief zu ihm und durchsuchte sie nach Zigaretten. Fand sie. Zündete mir eine an und genoß die entspannende Wirkung des ersten Zuges. „Tut mir Leid, Ihre Theorie hält einfach nicht. Er wollte mich nicht umbringen. Und was den Rest angeht, er ist nicht wahnsinnig, er ist nur Roland.“
„Vielleicht, ja. Wenn Du es sagst…“
Ich wollte das Thema beenden. „Übrigens werden wir noch über Sie und Rea zu reden haben. Das war ziemlich hinterfotzig!“
Er klang erleichtert, ging scheinbar gerne auf den Themenwechsel ein. „Du weißt es?“
„Natürlich, ja. Timon hat mir die Augen geöffnet und anschließend hat Rea gestanden. Aber das erzähle ich Ihnen später mal, ich muß jetzt Schluß machen, der Akku macht’s nicht mehr lange. Genießen Sie die Kur und vergessen Sie Ihre Mordtheorien, ist besser!“
„Ja vielleicht. Bestimmt. Nimm es mir nicht übel, ich mach’ mir halt Sorgen um Euch. Um Roland. Und um Dich. Genießt Euer Wochenende.“
„Danke, machen wir. Und nein, ich nehm’ es Ihnen nicht übel. Über’s Ziel hinausgeschossen sind Sie trotzdem. Tschüß, Herr Casper.“ Ich legte auf. Froh, dieses seltsame Gespräch hinter mir zu haben.
Timon war zurück, präsentierte die erstandene Rauchwaren. „Wer ist wahnsinnig? Wer bringt Dich um?“
Ich sah ihn an. „Drück’ mich mal, bitte!“ Er tat es. Es fühlte sich gut an. „Das war Casper. Ich glaub’, langsam werden alle verrückt. Er denkt ernsthaft, Roland wollte mich umbringen. Daß mein Unfall gar keiner war, sondern ein Anschlag von Roland. Oder er hat es wenigstens gedacht, ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich überzeugt habe.“
„Wie das denn? Ich denk’, Du warst allein?“ Er hielt mich immer noch fest.
„Eben. Drum ist das ja alles schreiender Blödsinn. Aber er war ziemlich überzeugt davon.“
„Du nicht?“
„Nein, natürlich nicht. Ich war allein, außerdem kenne ich Roland. Das paßt nicht zu ihm. Und jetzt sei so gut, laß uns das Thema wechseln, das war mit Casper schon anstrengend genug. Ich will darüber gar nicht nachdenken. Das ist pure Zeitverschwendung.“ Ich löste mich von ihm.
„Ok, wie Du willst. Ich hab noch ne Frage zu dem Thema, kann sie aber auf später verschieben. Guter Kompromiß?“
„Pah, Kompromiß. Dann frag’ halt. Aber hilf mir dabei in der Küche. Lieber Karotten schälen oder Fleisch braten?“ Er entschied sich für das Fleisch.
„Wie kommt Casper auf die Idee?“ Ich erzählte ihm von dem eben beendeten Telefonat.
„Und wie erklärst Du Dir dann Rolands Anruf bei Casper? Klingt doch schon merkwürdig, oder?“
„Wie soll ich mir das erklären? Roland IST merkwürdig. Alles an ihm, daran gewöhnt man sich. Ich hab’ Dir doch von ihm erzählt. Erklären kann man das nicht, das muß man einfach akzeptieren. Ich kann mir nur vorstellen, daß er Casper vorwirft, mich ins Boot für diese Aufnahmen gebracht zu haben. Er wollte mich wohl ursprünglich gar nicht dabei haben, wurde aber von Casper überredet. Und naja, wäre ich nicht dort gewesen, hätte ich auch nicht verunglücken können. Das wird es wohl sein, auch wenn Casper selbst denkt, daß das nicht als Erklärung ausreicht.“ Ich deutete auf den Kühlschrank. „Da ist ne Flasche Wein drin, mach die mal auf, bitte.“ Er tat es, reichte mir ein Glas. „Was weiß ich, was er mit diesem Anruf bezweckt hat. Ich könnte Dir von noch mehr derartigen Auftritten erzählen. Von einem weißt Du ja, damals in Nizza, seine verquere Liebeserklärung. Und denk an sein Erscheinen im Krankenhaus!“
„Nimmst Du das nicht ein bißchen zu leicht? Ok, Du warst alleine im Wald, aber ist das nicht trotzdem alles komisch? Auch wenn Du Recht hast, wieso sollte er durch Deinen Ausrutscher im Wald derart mitgenommen sein?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Siehst Du, genau deshalb wollte ich über das Thema nicht reden. Wenn man anfängt, über den Mann nachzudenken, wird man nicht mehr fertig. Du hast im Auto schon selbst festgestellt, daß ich wenig über ihn als Mensch zu sagen habe. Verstehst Du langsam, warum das so ist? Ich hab’ doch nie behauptet, daß ich ihn verstehe, will es inzwischen auch gar nicht mehr. Bei jeder unserer letzten Begegnungen gab es Ärger. Und wenn diese Scheiße hier“ ich hob meine Hände „für irgendetwas gut ist, dann dafür, daß es jetzt keinen weiteren Ärger mehr geben wird.“
„Dann hätte er, wenn wir Caspers Theorie mal einen Moment lang ernst nehmen, sein Ziel erreicht.“ Er wirkte völlig ernst, als er das sagte, verzog keine Miene.
„Oh bitte, nicht Du auch noch. Nochmal zum Mitschreiben: Ich war faul, wollte eine Abkürzung nehmen. Bin ausgerutscht. Jemand hatte sein Holz schlampig aufgestapelt. Ich bin dagegen geknallt, es ist über mir zusammengestürzt und sonst war nichts. Nichts, ok?“ Ich stutzte. Nichts? Hatte ich nicht selbst die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, da müsse noch etwas gewesen sein? Der falsche Traum fiel mir ein, in dem Roland mit mir im Wald gewesen war.
„Was ist?“
„Nichts. Ihr macht mich verrückt mit diesen Geschichten. Ich dachte gerade… schon seit dem Unfall bin ich der Überzeugung, daß in der Geschichte ein winziges Puzzlestück fehlt. Irgendetwas, das ich nicht weiß. – Aber ganz sicher nicht das!“ Ich wischte den Gedanken beiseite. „Und jetzt ist wirklich Schluß damit, endgültig.“ Demonstrativ stand ich auf.
„Wann fahren wir überhaupt zurück? Morgen oder Montag?“ Gut, er hatte den von mir angeordneten Themenwechsel offenbar akzeptiert. Ich goß mir Wein nach. „Eher morgen abend, ich habe Montag meinen ersten Unterricht, das wird sonst zu viel Streß. Mußt Du nicht arbeiten?“
„Nö, hab’ noch bis Mittwoch frei.“ Die nunmehr lockere Stimmung war ein angenehmer Kontrast zu dem vorausgegangenen Gespräch.
Timon holte Holz, ich lag, Wein und Zigarette genießend, vor dem Kamin. Er kam zurück. „Ich hab’ nachgedacht.“ Er stellte den Korb mit Holz ab und legte sich zu mir. „Meinst Du nicht, Du solltest mal mit Deinem Roland reden?“
Ich drehte mich auf die Seite, sah ihn an. „Das ist nicht mein Roland. Und über was reden? Soll ich ihn fragen, warum er sich aufführt, als wäre er nicht ganz dicht?“ Ich versuchte nicht, meinen Unwillen zu verstecken, dieses Thema erneut zu diskutieren. Es schien ihn aber nicht sonderlich zu interessieren, was ich wollte.
„Nicht mit diesen Worten, aber inhaltlich schon, ja. Überleg’ doch mal… er richtet Dir ein Konto ein, beschuldigt Casper… und Du sagst doch selbst, daß da noch irgendetwas ist.“ Er goß sich Wein ein, nahm einen Schluck, ehe er weitersprach. „Glaubst Du nicht, daß es Zeit ist, da ein paar Dinge zu klären?“
Ich knurrte unwillig, setzte mich auf, sah ins Feuer. „Das bringt nichts, vergiß es. Mit dem kann man nicht reden. Worüber denn auch? Was weiß denn ich, vielleicht fühlt er sich selbst schuldig, immerhin war es seine Hütte und auch seine Idee, daß ich dort hingehe. Soll ich ihn fragen, ob er mich umbringen wollte?“
„Jetzt werd’ nicht aggressiv.“ Er legte seinen Arm um mich und zog mich an sich. „Das mußt ihn nicht unbedingt fragen, klar. Aber zum Beispiel, warum er dieses Konto eingerichtet hat. Oder findest Du das normal?“
„Normal, normal… er ist nicht normal.“ Ich hatte mich anfänglich dagegen gewehrt, mich zu Timon ziehen zu lassen, letztlich aber nachgegeben. Ich legte meinen Kopf in seinen Schoß, den Blick in Richtung des Kamins gerichtet. „Er gefällt sich seit jeher in der Rolle des extravaganten Künstlers, gibt den ungarischen Zigeuner, dabei stammt er aus dem Sauerland. Mein Gott, vielleicht ist das alles auch nur ne Masche. Vielleicht steckt überhaupt nichts dahinter. Aber in Ordnung, damit Du Ruhe gibst, rede ich mit ihm. Gib mir mal mein Telefon.“ Es hing zum Aufladen an der Steckdose.
„Jetzt?“ Er reichte mir mein Handy.
„Wieso nicht? Er wird wohl kaum schlafen. Oh, eine Nachricht.“ Auf dem Display erschien eine Meldung, ein Anruf war eingegangen, auf die Mailbox. Ich hatte nach dem Gespräch mit Casper die Rufumleitung aktiviert. Ich hörte die Mailbox ab.
„Was ist?“
„Es war ein Fehler, ich hab’s doch gewußt! Hätt’ ich das Scheißding bloß nicht in die Hand genommen.“ Er schaute mich verständnislos an. „Das war ein Chris – Gott, ich hasse Kurznamen. Keine Ahnung, wer das ist. Es geht um Roland, anscheinend ist er verschwunden, was auch immer das heißt. Der Typ steht jetzt bei mir vorm Haus und sucht Roland. Bei mir! Theater!“ Ich war aufgestanden, nahm mir eine neue Zigarette.
„Und jetzt?“
Ich wählte Rolands Nummer. Nichts. Seine Handynummer, die Mailbox. Ich verzichtete darauf, eine Nachricht zu hinterlassen. „Keiner da. Verschwunden! Wo soll der schon hin verschwinden?“
„Ruf doch diesen Chris an.“
Ich seufzte, klappte das Handy wieder auf. Rief Chris’ Nummer auf und wählte. Während die Verbindung aufgebaut wurde, schaltete ich den Lautsprecher ein, damit Timon mithören konnte. „Ich werde es bereuen!“
„Ja hallo?“ Er nahm fast sofort ab.
„Gregor Huth.“
„Ah! Danke, daß Du… Sie zurückrufen.“
„Bleib beim Du, schon ok. Was ist denn los? Was ist mit Roland? Und wer bist Du überhaupt? Wie kommst Du an meine Nummer?“
„Achso ja, entschuldige. Mein Name ist Chris Schilling…“
„Christian? Christoph? Christopher?“ fiel ich ihm ins Wort.
„Was? Äh, Christoph, warum?“
„Weil ich diese albernen Kurznamen nicht mag. Also, Christoph, dann erzähl’ mal!“
„Deine Nummer hab’ ich von Roland, ich bin sein… sein Freund.“ Sein Zögern bei diesen letzten Worten war mir nicht entgangen. Und auch ich zögerte jetzt. Mir vorzustellen, daß Roland jemanden hatte, der sich als sein Freund bezeichnete, irritierte mich.
„Sein Freund? Seit wann geht das schon?“
„Seit etwa einem Jahr. Wir haben uns…“
„Schon gut“ unterbrach ich ihn, „geht mich doch gar nichts an. Entschuldige die Frage, ich war nur überrascht. Was ist jetzt mit Roland? Was heißt verschwunden? Und wieso suchst Du ihn bei mir?“
„Er ist verschwunden, einfach weg. Vor einer Woche habe ich ihn zuletzt gesehen. Das kommt öfter vor, daß er sich ein paar Tage nicht meldet, ich hab’ mir nix dabei gedacht. Vorhin waren wir aber verabredet. Und er ist nicht gekommen. Da bin ich in seine Wohnung gegangen, ich hab’ nen Schlüssel, falls mal was wäre. Und da lag ein Brief für mich. Nur ein Zettel eigentlich. Hier, hör zu: ‚Chris, ich muß weg. Es geht nicht mehr, zu viel ist passiert. Gregor wird Dir alles erklären. Roland’ mehr nicht.“ Seine Stimme klang belegt, anscheinend kämpfte er mit den Tränen. „Was meint er damit? Was sollst Du mir erklären?“ Ich schwieg, was sollte ich auch antworten? „Gregor? Was? Erklär’ mir das!“
„Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Ich hab’ Roland zum letzten Mal vor einem halben Jahr gesehen und seitdem auch nichts mehr von ihm gehört. Tut mir leid, Christoph, ich kann Dir nicht helfen.“ Ich mußte dieses Gespräch dringend beenden. In meinem Hinterkopf fingen merkwürdige Gedanken an, sich zu bilden.
Er atmete hörbar aus. „Gregor, ich hab’ Angst, daß er… wo will er denn hin? Wo könnte er sein?“
„Christoph, nochmal: Ich weiß es nicht. Ich sage Dir doch, ich hab’ seit einem halben Jahr nichts von Roland gehört oder gesehen. Ich war auch wirklich mit mir selbst beschäftigt. Hör zu, ich bin hier in Österreich, komme morgen abend zurück. Mein Akku macht irgendwann schlapp, ich kann nicht mehr lange telefonieren. Wann mußt Du zurückfahren?“
Er brauchte einen Moment, um den Gedankensprung nachzuvollziehen. „Das eilt nicht, mit meinen Klausuren bin ich schon durch, es sind so gut wie Semesterferien.“
„Ok, wo bist Du jetzt gerade?“
„Immer noch bei Dir, also vor Deinem Haus. Warum?“
„Wie wäre das, Du bleibst bis morgen abend und dann unterhalten wir uns in Ruhe. Ich hab’ jetzt echt keinen blassen Schimmer, was ich Dir sagen soll. Vielleicht fällt mir bis morgen was ein. Du kannst bei mir schlafen, wenn Du willst.“
„Bei Dir? Aber Du bist doch gar nicht da…“
„Meine Nachbarin hat nen Schlüssel für den Notfall. Die Haustür müßte offen sein, probier mal.“
„Ja aber… ich kann doch nicht bei Dir schlafen. Ich schlaf’ im Auto. Das geht schon.“
„Blödsinn, wozu denn? Stell Dich nicht so an. Ist die Tür auf?“
„Wenn Du meinst… danke. Ja, ist auf.“
„Ok, dann geh in den zweiten Stock. Die erste Tür, Du mußt aber klopfen, sie hat die Klingel oben abgestellt.“
„Mhm, ok. Ich klopfe.“ Ich hörte es, kurz darauf hörte ich Sabines Stimme, wohl gedämpft durch ihre geschlossene Wohnungstür.
„Sag ihr, wer Du bist und daß ich am Telefon bin. Wenn sie aufmacht, gib sie mir mal.“
Die Diskussion dauerte gut eine Minute, wurde vermutlich im ganzen Haus gehört. Zur Abwechslung würde ich einmal Thema der Waschküchengespräche sein. Schließlich hatte ich Sabine am Ohr. Ich erklärte ihr kurz, worum es ging, sie gab Christoph den gewünschten Schlüssel.
„Ok, das hat ja geklappt. Geh rein und mach’s Dir gemütlich. Die Tür neben der Küche, da geht’s ins Gästezimmer. Naja, jedenfalls steht da ein Gästebett drin, Gästezimmer wäre übertrieben. Hör mal, Mein Akku macht jetzt wirklich gleich schlapp, wir sehen uns dann morgen. Fühl Dich wie zuhause, nur keine Hemmungen. Und mach Dir nicht zu viele Sorgen wegen Roland, der macht sowas öfter. Schlaf gut.“ Ich legte auf, bevor Christoph die Chance hatte, noch einmal wegen Roland nachzuhaken.
„Du läßt wildfremde Leute alleine in Deine Wohnung?“
Ich zuckte mit den Schultern, es war eine spontane Idee gewesen. „Hatte das Gefühl, es ist richtig. Außerdem kann er kaum Schaden anrichten. Was keiner sehen soll, ist sicher weggeschlossen und die Schlüssel sind gut versteckt. Er könnte höchsten ein paar Dosen Ravioli klauen.“
„Was hältst Du davon? Kannst Du Dir das erklären? Ist das ein Abschiedsbrief?“
Ich lachte lustlos. „Wie oft denn noch? Nein, ich kann mir Roland nicht erklären. Aber immerhin hat er’s geschafft, mir den Abend zu verderben. Ist noch Wein da?“ Eine unbestimmte Frustration breitete sich in mir aus. Ich ging an den Kühlschrank, fand noch eine Flasche Wein, die dritte des heutigen Abends. Einen kurzen Gedanken verschwendete ich an den drohenden morgigen Kater, beschloß aber, auf meine mitgeführten Schmerzmittel zu vertrauen, falls es wirklich dazu kommen sollte. Timon schien ähnlich zu denken, er nahm dankend auch noch ein Glas.
„Halte mich für verrückt, aber Caspers abenteuerliche Theorie ergibt immer mehr Sinn, oder?“ Ich sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts. „Denk mal nach, spinn einfach vor Dich hin. Du hast mir erzählt, daß da etwas in Bezug auf den Unfall ist, das Du nicht greifen kannst. Könntest Du Dir dieses Szenario so ganz grob vorstellen? Roland war dabei, als der Unfall passiert ist. Hat ihn, ich weiß nicht, wie, ausgelöst. Du hast aber überlebt, man hat Dich gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Anschließend packt ihn das schlechte Gewissen. Er versucht, es mit Geld zu beruhigen. Hast Du nicht gesagt, er habe ‚Lebwohl’ gesagt im Krankenhaus? Ist das ein normaler Abschiedsgruß für ihn?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mit einem schlechten Gewissen zu leben, ist so eine Sache für sich. Du sagst, er pflegt das Image des extravaganten, vermutlich auch sensiblen Künstlers. Wahrscheinlich ist er das auch wirklich. Er hat es ein halbes Jahr lang versucht und schließlich erkannt, daß es nicht geht. Jetzt bringt er sich um. Ist das so völlig abwegig, daß Du nicht mal drüber nachdenken willst?“
Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort, öffnete eine neue Schachtel Zigaretten. In weiser Voraussicht hatte Timon gleich eine ganze Stange gekauft. Tief inhalierte ich den Rauch, genoß das entspannende Ausatmen. Timon hatte einmal mehr ausgesprochen, was auch mir seit Christophs Anruf durch den Kopf ging. „Nein, es ist nicht völlig abwegig, aber ich kann es mir nicht vorstellen, will es auch nicht. Wenn ich den Gedanken wirklich mal aufgreife, aber wirklich nur theoretisch… dann muß ich zugeben, daß es… nicht völlig undenkbar ist. Aber was soll das dann heißen, ich werde Christoph alles erklären? Was denn erklären? Das sind doch nur wilde Spekulationen hier.“
„Spekulieren wir noch ein bißchen weiter. Was, wenn Dein Gefühl stimmt? Wenn Du etwas verdrängst? Unterdrückte Erinnerungen oder was weiß ich… vielleicht genau das, daß Du nämlich gar nicht allein warst, daß Roland dabei war. Es gibt eine gute Chance, daß derartige Erinnerungen früher oder später an die Oberfläche kommen. Und wenn ich das weiß, weiß es Roland auch. Weiß er überhaupt, daß Du denkst, Du seist allein gewesen?“
Das war eine gute Frage. Ich war verstört, Timons Fantastereien ergaben, so man bereit war, sich darauf einzulassen, mehr Sinn als mir lieb war. „Ich weiß es nicht, von mir nicht. Er kennt sicher die Version aus den Zeitungen, da wurde ja genau das geschrieben, woran ich mich erinnere. Im Krankenhaus haben wir nicht drüber geredet.“
„Dann hat er also seither in einer ständigen Ungewißheit gelebt. Weißt Du, was er getan hat? Wirst Du Dich daran erinnern? Das muß ein ziemlicher Druck sein, unter dem er da gelebt hat. Aber das sind jetzt wirklich Spekulationen.“ Er sagte das ganz gelassen.
Ich konnte mir eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. „Das andere etwa nicht?“
Er ging darüber hinweg. „Was anderes, aus welchem Grund könnte er das tun?“
„Immer noch gesponnen meinst Du? Casper hat da sowas gesagt. Roland könnte eifersüchtig gewesen sein. Mich für besser gehalten haben. Es gab da in Straßburg so eine Szene, die könnte, KÖNNTE man so deuten. Wir haben uns zusammen ein Stück von mir angehört, ich muß zugeben, ich war brillant. Habe dann noch irgendwas gesagt von wegen, das sollte ich in mein Bühnenrepertoire aufnehmen. Er ist wortlos aus dem Raum gestürmt. Er hat mir vor ein paar Jahren mal gesagt, daß ich gleich gut, aber niemals besser sein dürfe als er. Sonst müsse er mich töten. Aber hey, das war ein Scherz! Außerdem halte ich mich nicht für besser, er ist mir mindestens ebenbürtig, in vielem vermutlich überlegen.“
„Das denkst Du. Er sieht das vielleicht anders. Und Eifersucht ist ja wohl das klassische Motiv überhaupt, oder?“
„Und auch das kitschigste, ja. Wirklich, Timon… man kann sich das so zusammenspinnen, ok, aber wahrscheinlich ist es deshalb noch lange nicht.“
„Aber möglich? Denkbar?“ – Hartnäckige Ratte.
„Möglich, ja. Auch denkbar, sicher. Gibst Du jetzt Ruhe?“ Wider Willen mußte ich lächeln. Er schien sich in der Rolle des Detektivs zu gefallen. „Ich meine, das ist jetzt wirklich eine ganz wilde Spinnerei. Die Geschichte hat zig Löcher.“ Ich ging zu ihm, nahm ihn in meine Arme. „Drück mich mal! – Und eigentlich will ich auch viel lieber über Dich nachdenken als über Roland. Du interessierst mich wesentlich mehr.“
Er erwiderte meine Umarmung, ignorierte aber meinen Versuch, das Thema ganz abzuhaken. „Was hältst Du von Chris?“
Ich seufzte ergeben. „Von Christoph? Keine Ahnung. Seine Sorge klang echt, er hat mir leid getan. Dieses Schreiben von Roland klang nicht unbedingt liebevoll, was mich nicht überrascht. Wenn sich da nicht viel geändert hat, wird Christoph in der Beziehung nicht viel zu lachen gehabt haben. Wenn man das überhaupt Beziehung nennen kann. Gehen wir ins Bett?“ Ich war wirklich müde, der Wein wirkte. Abgesehen davon wollte ich auch dringend dieses Gespräch beenden. Timon hatte keine Einwände.
Sonntag
Die Nacht hatte einen erneuten Wetterumschwung gebracht, von tristem, verregnetem Grau hin zu strahlend blauem Himmel und Sonnenschein. Nach einem herrlichen Tag auf der Piste saßen wir nunmehr im Auto. Seit mittlerweile einer Stunde ging auf der Straße nichts mehr, der übliche Sonntagabend-Stau vor dem Pfänder-Tunnel.
Nach einer weiteren Stunde hatten wir endlich den Tunnel passiert und näherten uns der Grenze. Mußten noch einmal ein quälendes Tempolimit von 60 Kilometern pro Stunde über uns ergehen lassen, ehe uns endlich vertraute blau-weiße Autobahnschilder aufatmen ließen.
„Leg doch nochmal Moby ein, bitte. Ich muß ganz dringend mal kurz rasen.“ Ich tat ihm den Gefallen. Er beschleunigte, zog nach links und genoß sichtlich das Gefühl von Freiheit, nach drei Stunden österreichischen Tempolimits und Stau.
Wir fuhren mittlerweile wieder gemächlich, das Verkehrsaufkommen ließ ohnehin nicht viel mehr zu. „Ich hab’ mir noch gar keine Gedanken gemacht, was ich Christoph sagen soll“, griff ich schließlich das Thema wieder auf, das ich den Tag über erfolgreich verdrängt hatte. „Im Prinzip hat ihn Roland da völlig ins Leere laufen lassen. Ich kann hier gar nichts erklären.“
„Mhm, daran habe ich auch schon gedacht. Und fällt Dir sonst was ein? Wo er sein könnte?“
„Du meinst, falls er nicht einfach spontan verreist ist, was ich nach wie vor für nicht unwahrscheinlich halte? Nein, da fällt mir auch nix ein. Jedenfalls nichts, was Christoph nicht schon selbst eingefallen sein wird. Die sind immerhin seit einem Jahr zusammen.“ Ich zündete mir eine Zigarette an, griff nach links, kraulte Timons Nacken. Er quittierte es mit einem Schnurren. „Ich könnte ihm natürlich wirklich diese haarsträubende Geschichte erzählen, die Du und Casper da zusammengesponnen habt.“
„Mach Dich nicht darüber lustig. Ich weiß selbst, daß das eine gewagte Theorie ist, aber Du nimmst mir das alles ein bißchen zu leicht. Aber ist ja auch egal jetzt, jedenfalls wirst Du dem Kerl irgendetwas sagen müssen. Ich kann mir denken, daß dem nicht besonders wohl in seiner Haut ist. Dieser Brief ist schon komisch formuliert. Das klingt nicht wirklich so, als ob Roland mal eben für zwei Wochen in Urlaub gefahren wäre.“
Ich gab es ungern zu, aber er hatte Recht. Tatsächlich hatte ich mir schon ähnliche Gedanken gemacht. „Der Brief ist wirklich ungewöhnlich, das stimmt. Darauf kann ich mir auch keinen Reim machen. Und deshalb sollten wir alle einfach mal davon ausgehen, daß sich alles ganz harmlos erklären läßt, zu spekulieren bringt ja eh nichts. Aber es stimmt schon, ich werde Christoph irgendwas sagen müssen. Und deshalb werde ich jetzt mal telefonieren.“
Ich beendete das Gespräch. „Fahr mal bei nächster Gelegenheit rechts ran, bitte.“ Ich zündete mir eine Zigarette an. Ließ mein Fenster runter. „Mach Deins bitte auch runter, ich brauch’ Durchzug. Ich erinnere mich jetzt. Und Roland ist tot.“
Ich liege auf dem durchnäßten Waldboden, meine Knöchel schmerzen. Roland kommt auf mich zu.
„Du kannst nicht aufstehen?“
„Nein, hilf mir.“
„Ja, ich helfe Dir.“ Er streckt mir seine Hand entgegen. „Hier, versuch jetzt, aufzustehen.“ Er zieht mich ein Stück hoch, ich belaste meine Knöchel. Spüre den Schmerz erneut aufflammen, sinke zurück.
„So geht das nicht, ich kann unmöglich so aufstehen.“ Ich greife nach einem der in den Boden gerammten Holzpfähle, die den aufgestapelten Stämmen Halt geben sollen, um mich näher an den Holzstapel zu ziehen. Keine gute Idee, er gibt unter meinem Zug deutlich nach. Erschrocken lasse ich los. „Hilf mir mal, zieh mich da rüber, damit ich mich anlehnen kann. Hast Du ein Telefon dabei?“ Er nickt. Mein Kopf ist allmählich wieder klar. „Also laufen kann ich nicht, dann wirst Du wohl jemanden anrufen müssen, damit man mich hier holt. Jetzt hilf mir doch mal, ich bin klatschnaß.“ Ich stütze mich mit den Händen auf, erreiche eine sitzende Position.
Er steht da, schaut auf den Haltepfahl. Ich bemerke seinen Blick. „Das wird schon halten, ich bleibe einfach hier sitzen und dann wird mich jemand tragen müssen. Oder willst Du das machen?“
Er sieht mich an, mit seltsam abwesendem Blick. „Ja, ich helfe Dir.“ Er tritt hinter mich, greift mir unter die Arme. Zusammen schaffen wir es, mich soweit nach hinten zu bewegen, daß ich mich einigermaßen an den Holzstämmen anlehnen kann. Er tritt einen Schritt zur Seite, rüttelt prüfend an dem Pfahl. Ich registriere es. „Laß das! Das Ding ist nicht besonders stabil. Hier ist alles aufgeweicht.“ Er macht weiter. „Roland!“ Der Pfahl bewegt sich, Roland drückt ihn nach vorne, vom aufgetürmten Holz weg. Ich spüre in meinem Rücken, wie die Stämme in Bewegung geraten.
Er springt zur Seite. „Mach’s gut.“
Nach zehn schweigend verbrachten Minuten kam ein Rastplatz in Sicht, Timon steuerte ihn an. Während der Fahrt hatte er kein Wort gesagt, jetzt drehte er sich zu mir. „Er ist tot? An was erinnerst Du Dich?“
„Komm, wir steigen aus.“ Wir gingen ein paar Schritte, fanden eine Bank, setzten uns. „Ihr hattet Recht. Casper hatte Recht. Es war kein Unfall.“ Ich erzählte es ihm.
„Mach’s gut?“ Er war näher zu mir herangerückt, seine Hand lag beruhigend auf meinem Hinterkopf.
„Ja. Einfach Mach’s gut. Dann ist er weggegangen. Das ging so schnell, ich konnte nur noch versuchen, meinen Kopf so gut es eben ging mit den Händen zu schützen. Dann war ich ziemlich schnell weg, hab’ wohl doch am Kopf etwas abgekriegt. Ich hatte ja auch ne Gehirnerschütterung – sollte ich jetzt nicht heulen? Heulen sie im Film in solchen Situationen nicht immer?“ Ich war in der Tat erstaunt über meine Gelassenheit. Allenfalls war ich erleichtert. Ich spürte erst jetzt richtig, wie schwer das ungelöste Rätsel, die nicht greifbare Ahnung auf mir gelastet hatte.
Er bewegte leicht seine Finger durch meine Haare, kraulte meinen Kopf. „Keine Ahnung, wie man da reagiert. Wenn Du heulen willst, dann heul’ halt.“
„Will ich ja nicht, das ist es ja.“
Er zuckte mit den Schultern, gab mir einen Kuß auf die Wange. „Dann wird’s schon richtig sein. Und er ist tot? Hat sich umgebracht?“
„Ja. Vorgestern schon. Das vorhin am Telefon war Raffaele von unserer gemeinsamen Plattenfirma. Ich hab’ mir gedacht, wenn einer weiß, wo Roland ist, dann er. Die standen eigentlich in ständigem Kontakt. Jedenfalls hat Roland sich umgebracht, offenbar in dem Haus in Nizza, in dem wir vor ein paar Jahren zusammen waren. Die Hausmeisterin hat ihn gefunden und dann Raffaele angerufen, der hatte das Haus wohl angemietet. Offenbar ist da firmenintern was schief gelaufen, an sich hätte ich längst informiert worden sein sollen… in dem Moment, als er mir das gesagt hat, habe ich mich erinnert. Das war, als ob jemand einen Vorhang weggezogen hätte. Plötzlich war die Erinnerung da, absolut klar. Das Arschloch wollte mich tatsächlich umbringen. Jetzt ist er tot.“ Ich stand auf, hätte gern irgendetwas weggekickt, konnte aber nichts entdecken. So bekam der neben der Bank stehende Mülleimer einen kräftigen Tritt ab. Und noch einen.
„Hey!“ Timon stand ebenfalls. „Es wär’ mir lieb, wenn Du erst dann durchdrehst, wenn Deine Therapeutin dabei ist. Ich fühl’ mich dem nicht wirklich gewachsen.“
Es wirkte, brachte sogar ein kurzes Lächeln auf mein Gesicht. „Hast ja Recht. Dann nimm mich mal in den Arm. Bist Du dem gewachsen?“
Er war es. „Was… ist mit Christoph? Hat den niemand informiert?“
An den hatte ich beim Telefonat mit Raffaele gar nicht gedacht. „Weiß ich nicht. Kann gut sein, daß von dem gar niemand gewußt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Roland jemandem davon erzählt hat. Das war wohl für Roland vor allem was, um seine Triebe abzureagieren.“
„Scheiße, dann müssen wir ihm das jetzt sagen?“
„Mhm, das ist wirklich scheiße. Wird uns wohl nichts anders übrig bleiben.“ Wir setzten uns wieder. Er gab mir eine Zigarette. „Jetzt ist das Was zwar gelöst, aber das Warum bleibt immer noch im Dunkeln.“ Ich verspürte Lust, den Mülleimer weiter zu bearbeiten, beherrschte mich aber. Wo eben noch Erleichterung, fast Freude war, machte sich jetzt Frust breit. „Ich wüßte schon gern, was ich verbrochen habe… unbewußt habe ich mich wohl tatsächlich irgendwie schuldig gefühlt.“ Ich erzählte ihm von den wirren Bildern, die mich im Halbschlaf zu Brahms’ Musik heimgesucht hatten.
„Vielleicht war es wirklich das, daß er neidisch war. Wer weiß… sowas wie der Lehrer wird nicht damit fertig, daß sein Schüler plötzlich besser ist als er selbst. Sowas gibt’s doch. Das wirst Du vielleicht nie erfahren.“
Ich nickte. „Ja, vielleicht. Komm, wir fahren. Bringen wir’s hinter uns. Ich fahre.“
„Sicher?“
Die Sorge in seinem Gesicht rührte mich. „Ja, sicher. Mir geht’s gut. Besser, als es mir vielleicht gehen sollte. Komm!“
Den Rest der Fahrt verbrachten wir in Gedanken versunken. Nach zweieinhalb Stunden stellte ich das Auto hinter dem Haus ab. Wir blieben im dunklen Auto sitzen. „Wie sagen wir’s ihm?“
Timon atmete hörbar aus. „Wohl am besten ganz direkt. Ich weiß nicht, wie man jemanden, den man nicht kennt, sowas schonend beibringt.“
„Direkt also, ok. Dann los. Gepäck holen wir später oder morgen.“ Wir stiegen aus, betraten durch den Hintereingang das Haus. Gingen nach oben. Ich öffnete meine Wohnungstür. Kein Licht.
„Es ist fast Mitternacht, vielleicht schläft er schon.“ In seiner Stimme schwang Hoffnung mit.
Ich machte Licht. „Ich schau mal nach.“ Ich ging zum provisorischen Gästezimmer, klopfte an.
„Ich bin hier“ hörte ich eine schwache Stimme aus dem noch dunklen Wohnzimmer. „Roland ist tot.“
„Woher weißt Du?“ Eine andere Frage war mir nicht eingefallen. Es wurde hell, Timon hatte den Lichtschalter gefunden. Endlich sah ich Christoph. Er saß zusammengekauert auf dem Sofa. Eine zierliche Gestalt, soweit ich erkennen konnte. Kurze blonde Haare und ein hübsches Gesicht, dem man allerdings ansah, daß er die letzten Stunden viel geweint haben mußte. Er sah verwirrt von mir zu Timon. Ich stellte uns vor. „Ich bin Gregor, das ist Timon, mein Freund.“
„Ja, ich kenne Dich. Hallo Timon.“ Er sprach leise. Ich wußte nicht, wie ich weitermachen sollte. Timon sprang in die Bresche. „Du weißt es also schon. Mein Beileid.“
Christophs Augen wurden feucht, er kämpfte die Tränen nieder. „Hast Du ihn gekannt?“ Timons Verneinung nahm er nickend zur Kenntnis. „Trotzdem danke.“
Wein kam mir in den Sinn. Ich konnte einen Schluck vertragen und die anderen vermutlich auch. Ich öffnete eine Flasche des Weines, den ich auch mit Casper getrunken hatte und schenkte schweigend drei Gläser ein, ehe ich mich neben Christoph auf das Sofa setzte. Timon setzte sich in einen Sessel gegenüber.
Wir saßen ein paar Minuten schweigend da, beäugten uns gegenseitig. Schließlich stellte ich die vielleicht unpassende, aber mir unter den Nägeln brennende Frage. „Woher weißt Du es?“
Er deutete auf das Telefon. „Heute kam ein Anruf, Dein Anrufbeantworter war auf laut gestellt. Ich hab es gehört.“
Ich ging zu dem Gerät, spielte die Nachricht ab. Meine Plattenfirma hatte mich also doch nicht vergessen. Und angesichts des derzeit gespannten Verhältnisses zwischen ihnen und mir war es der mir unbekannten Anruferin vermutlich nicht ungelegen gekommen, daß sie mir die Nachricht nicht persönlich überbringen mußte. Immerhin hätte sie mich ja auch auf dem Handy anrufen können. Ich ging zurück. „Tut mir leid, daß Du’s so erfahren hast. Ich weiß es selbst erst seit gut zwei Stunden – Christoph, Chris… das tut mir Leid für Dich, ganz ehrlich. Ist ne blöde Frage, aber wie geht’s Dir?“
Er nahm sein Glas, schwenkte intensiv dessen Inhalt, schien sich zu sammeln. Den Blick hielt er auf den Wein gerichtet, während er sprach. „Ich weiß es nicht. Nicht gut, natürlich. Aber das hier“, er deutete mit der freien Hand auf seine verquollenen Augen „ist nicht Trauer. Das ist Erleichterung und Scham.“ Er sah uns jetzt an, bemerkte unsere fragenden Blicke. Mit tonloser Stimme sprach er weiter. „Ja, ich bin froh, daß er tot ist… nein, nicht daß er tot ist, aber daß es vorbei ist. Roland war… nicht gut für mich. Ich hab’ ihn geliebt, er mich sicher nicht, aber das wollte ich mir nicht eingestehen. Verstehst Du, jetzt ist es vorbei. Und darüber bin ich froh. Und schäme mich dafür.“ Erneut traten ihm Tränen in die Augen, er ließ sie laufen, trank abwesend von seinem Wein.
„Da brauchst Du Dich nicht zu schämen. Ich kannte Roland zwar nicht, aber er war ein Arschloch. Darf man hier rauchen?“
Ich nickte. Fühlte mich äußerst unwohl. Sollte ich Christoph alles erzählen? Christoph zog die Nase hoch, zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und lächelte zaghaft. „Wenn ich das gewußt hätte, ich hab’ immer zum Fenster raus geraucht. Ein Arschloch, ja… das war er.“ Er sah mich an. „Du siehst nicht wahnsinnig traurig aus, weißt Du…“
Ich nickte. „Dazu hab’ ich auch keinen Grund. Aber, das würde ich Dir gern morgen erzählen, wenn das ok ist. Ich würde gern selber erst ein alles ein bißchen sacken lassen. Für mich ist die Situation auf ne ganz andere Art wenigstens genau so verfahren wie für Dich. Können wir das auf morgen verschieben?“
„Ja klar, kein Problem. Ich hatte eher Angst, Du würdest mich hochkant rausschmeißen, weil ich nicht angemessen trauere sondern im Gegenteil froh bin. Versteh’ mich richtig, ich bin traurig, irgendwie, aber ich weiß auch, daß das so besser für mich ist. Die große Liebe war ich für ihn nie, das war mir klar, er hat es mir sogar gesagt. Ich hatte ja den Verdacht, daß er Dich liebt, jedenfalls hat er ständig von Dir geredet. Aber am Anfang war er aufmerksam, sogar fast liebevoll. Im letzten halben Jahr hat er sich dann völlig verändert. War launisch, ja jähzornig. Und ich war für alles der Blitzableiter. Hier!“ Er stand auf, zog sein Sweatshirt nach oben und präsentierte uns seinen mit etlichen roten Stellen übersäten Oberkörper. „Das waren Zigaretten. Und das hier, man sieht es kaum noch „er zeigte auf eine etwas dunklere Hautstelle auf Höhe der Nieren, „war ein Fußtritt. Der Bluterguß war riesig, man sieht das jetzt nicht mehr. Da war ich mal mutig und hab’ ihm gesagt, daß ich das nicht will. Daß ich nicht sein Fußabtreter bin, das waren meine Worte. Er hat mir dann demonstriert, wie er das sieht.“ Er setzte sich wieder. „Verstehst Du, warum ich froh bin, von Euch zu hören, daß Ihr auch nicht trauert?“
Ich nickte, sprechen konnte ich nicht. Die Tränen, deren Ausbleiben mich vorhin verwundert hatte, kamen nun, wenn auch aus anderen Gründen. Ich brauchte ein paar Minuten, sie nieder zu kämpfen. „Vergiß, was ich vorhin gesagt habe, es kann doch nicht warten. Christoph, daran bin ich schuld. Du sagst, er hat sich vor einem halben Jahr verändert? Das paßt. Zu dem Zeitpunkt hat er versucht, mich umzubringen. Und ich vermute stark, seine Veränderung ist das Ergebnis dieses Versuchs.“ Es war heraus. Leichter, als ich gedacht hatte. Er brauchte die Frage nicht zu stellen, sein Gesicht sprach sie deutlich genug aus. Ich erzählte ihm die Geschichte. Als ich fertig war, schwieg er. Stattdessen sprach Timon. „Das wollte ich vorhin schon fragen, wieso war Roland überhaupt da? Du sagst doch, Du warst allein. Ist die Erinnerung auch schon falsch gewesen?“
„Nein, die war so weit richtig. An dem Tag stand Roland plötzlich in der Hütte. Einfach so. Er habe nichts zu tun und wolle mich besuchen. Dann sind wir gemeinsam spazieren gegangen.“
„Mhm, dann war das ja aber nicht geplant. Er konnte ja nicht wissen, daß Du abrutschen würdest.“
Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen. „Keine Ahnung, vielleicht war es spontan, vielleicht hätte er mich sonst erstochen oder erschossen, was weiß ich. Darüber will ich nicht nachdenken. Christoph, was sagst Du dazu?“ Er hatte uns weiterhin schweigend zugehört. Auch jetzt schwieg er, überlegte sich offenbar seine Worte genau, ehe er bitter lachte.
„Was ich dazu sage? Ich kann mir das vorstellen, es macht Sinn. Das erklärt die Veränderung. Aber ich glaube auch nicht, daß er das groß geplant hat. Vermutlich war die Situation einfach entsprechend günstig. Ein Kurzschluß, wie auch immer man das nennen will.“
„Ja, das denk’ ich eigentlich auch. Ich konnte mir lange gar nicht vorstellen, daß an der Geschichte von Casper überhaupt etwas dran sein sollte. Und ein geplanter Mord paßt wirklich nicht zu Roland.“
Timon mischte sich ein. „Chris, sag mir einfach, wenn ich zu weit gehe, aber… wieso hast Du Dir das gefallen lassen? Daß er Dich mißhandelt hat?“
Der Angesprochene hatte seine Zigarette gerade ausgedrückt, zündete sich aber direkt eine neue an und nahm ein paar Züge, bevor er antwortete. „Ja warum? Bis gestern hätte ich nicht einmal zugegeben, daß er mich überhaupt mißhandelt. Ich weiß es nicht, ich habe mir wohl wirklich eingebildet, daß ich ihn liebe. Seit heute, seit dem Anruf weiß ich, daß das nicht stimmt. Ich nehm’ an, ich hab’ mir den Roland der ersten Zeit zurückgewünscht. Den liebevollen, bei dem ich mir Hoffnungen machen konnte, ihn vielleicht mal ganz für mich zu gewinnen. Frag mich nicht, ich kann’s Dir nicht sagen. Aber das ist ja nicht ungewöhnlich, sowas liest man doch oft. Und denkt sich dann immer, daß man selbst sich das nie gefallen lassen würde.“ Er lächelte freudlos.
In stiller Übereinkunft beschlossen wir, für diese Nacht das Thema zu beenden. Ich goß uns allen noch etwas Wein nach und wir plauderten noch ein wenig über uns, ehe wir ins Bett gingen.
„Unsere erste gemeinsame Nacht in Deinem Bett. Die wird ziemlich unvergeßlich bleiben, oder?“ Timon schmiegte sich von hinten an mich.
„Mhm, könnte sein. Was hältst Du von Christoph?“
„Schwierig. Ich glaub’, er macht es sich jetzt ein bißchen zu einfach. So ganz ohne Trauer wird das wohl kaum abgehen. Auch, wenn er wirklich keinen Grund dafür hat. Aber wenn man liebt, ist das wahrscheinlich nicht so einfach… ich glaub’, ich mag ihn. Scheint ein netter Kerl zu sein.“
„Ja, glaub’ ich auch. Trotzdem, ich fühl’ mich unwohl. Auf ne ganz vertrackte Weise bin ich dran schuld, daß Roland ihn mißhandelt hat.“
Er zog mich fester an sich. „Schlag Dir das aus dem Kopf. Christoph ist darauf vorhin nicht eingegangen und er hatte Recht damit. Es ist einfach nur Blödsinn. Er hat das vielleicht wirklich wegen Dir gemacht, irgendwie, aber Du kannst ganz sicher nix dafür. Gar nichts. Und jetzt wird geschlafen, sonst erschrecken Deine Schüler morgen. Wann geht’s überhaupt los?“
„Ach Du Scheiße, die Schüler. Der erste kommt in fünf Stunden.“ Den Beginn der Klavierstunden hatte ich komplett verdrängt.
„Na dann… gute Nacht.“
Der Wecker klingelte um sieben. Müde, aber mit halbwegs klarem Kopf ging ich in die Küche.
„Guten Morgen.“ Christoph lächelte mich an. Er sah übermüdet aus, wirkte aber dennoch lebendiger als gestern. Seine Augen waren nicht mehr verquollen, offenbar hatte er nicht mehr geweint. „Kaffee?“ Er goß mir eine Tasse ein.
„Schwarz bitte, ja. Danke. Wieso bist Du schon auf? Herrlich, wenn einem jemand Kaffe macht.“ Ich setzte mich ihm gegenüber an den kleinen Küchentisch.
„Ich hab’ fast gar nicht geschlafen. Da ist mir einfach zu viel durch den Kopf gegangen.“ Ich nickte. „Und Du?“
„Ich hab’ in anderthalb Stunden Klavierunterricht zu geben. Als Vertretung für meinen alten Lehrer. Paßt mir jetzt wahnsinnig ins Konzept.“
Christoph grinste. „Kann ich mir vorstellen, ja. Kannst das nicht absagen?“
„Hab’ ich mir auch schon überlegt, aber es ist der erste Tag heute. Und das hält mich wenigstens beschäftigt, bis ich heute Abend mit meiner Therapeutin reden kann. Sonst würde ich nur den ganzen Tag grübeln.“
„Deine Therapeutin?“
„Ja. Die war im Urlaub. Das Gespräch war ohnehin geplant, aber jetzt ist es umso dringender. Vielleicht bringt sie ja ein bißchen Licht in Rolands Denken. Obwohl sie ja wahrscheinlich auch nur spekulieren kann. Aber das wenigstens fachkundig. Auch noch Kaffee?“
„Gerne, ja. Sag mal, dürfte ich da mit dabeisein, wenn Du mit ihr redest? Also wenn Dir das nicht zu privat ist, meine ich.“
„Sicher, kein Problem. So privat wird das nicht werden, jedenfalls sicher keine Therapiesitzung. Einfach ne Unterhaltung. Die eigentliche Therapie ist eh vorbei, in den letzten Wochen haben wir mehr meine Zukunft geplant. Und heute will ich sie auch nur auf den neuesten Stand bringen. Das wäre vielleicht sogar gut, wenn Du dabei bist. Kannst ja auch einiges dazu sagen.“
Er lachte. „Nur nichts Gutes, fürchte ich.“
„Freut mich, daß Du mal lachst. Ich kenne Dich zwar nicht, aber trotzdem, es freut mich wirklich.“
„Ja, es tut auch gut. Viel zu lachen hatte ich nicht in der letzten Zeit.“ Er wurde ernst. „Sag mal, ich hab’ mir da was überlegt… hättest Du was dagegen, wenn ich noch ein bißchen hier bleibe? Ich glaube mittlerweile, ich habe ein Jahr lang mit einem Fremden zusammengelebt. Vielleicht kannst Du mir noch ein paar Dinge über ihn erzählen? Ich weiß nicht, wen ich dazu sonst fragen könnte.“
„Mhm, kann ich verstehen. Krieg’ ich ne Zigarette von Dir?“ Er schob seine Schachtel über den Tisch. Ich nahm mir eine. „Du kannst gern hierblieben, ja. Es ist nur, ich weiß nicht, ob ich Roland wirklich besser kenne als Du. Ich hab’ die letzten Tage festgestellt, daß ich von ihm eigentlich nichts weiß… aber ja, Du kannst gern bleiben. Vielleicht kriegen wir ja zusammen was raus… Kaffee ist alle, bist Du so gut und machst noch welchen? Ich muß unter die Dusche.“
Zehn nach acht kam ich zurück in die Küche. Auch Timon war inzwischen aufgestanden. Unaufgefordert schenkte er mir Kaffee ein. „Hier, wirst Du wollen, oder?“ Ich bekam den Kaffe und einen Kuß.
„Mmmh, so gefällt mir das. Danke.“ Er bekam einen Kuß zurück. „Wollt Ihr euch das eigentlich antun, hierzubleiben, wenn ich Unterricht mache?“
„Hab’ ich auch schon gedacht, stimmt. Ich könnte solange mal in meiner eigenen Wohnung vorbeischauen. Mein Zeug auspacken und so. Mein Bewährungshelfer wird sich auch freuen, von mir zu hören.“
„Bewährungshelfer?“ Christoph sah Timon erstaunt an.
„Lange Geschichte. Ich erzähl’s Dir, wenn Du willst. Kommst Du mit? Dann kann mein Schatz hier ungestört klimpern. Oder klimpern lassen.“
„Klimpern – paß bloß auf! Ich wollte Euch jetzt aber nicht vertreiben. Ihr solltet halt nur entweder hier oder weg sein. Jedenfalls nicht hin und her rennen. Hier, darfst auch mein Auto nehmen. Ich versuch’ mal eben noch, ob ich Rea erreiche. Wäre vielleicht besser, wenn wir uns persönlich unterhalten, statt am Telefon.“ Ich telefonierte.
„Ok, sie kommt so gegen acht heute abend. Paßt Euch das? Du willst auch dabei sein, oder?“ Ich sah Timon an.
„Ja sicher doch. Wir kommen dann einfach irgendwann im Lauf des Tages wieder. Wann bist Du fertig mit Unterricht?“
„Der letzte Schüler geht um halb fünf, aber kommt ruhig auch schon früher. Wie Ihr wollt.“ Es klingelte an der Tür. „So, es geht los. Schlüssel habt Ihr ja, bis dann.“ Noch schnell einen Kuß für Timon, dann ging ich zur Tür.
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