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Ein Jahr. Ich.

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Ein Jahr.

Es strahlt. Es lacht. Es jubelt.

Es weint. Es schreit. Es stirbt.

Ein Jahr.

Ich strahle. Ich lache. Ich jubel.

Ich weine. Ich schreie. Ich sterbe.

Ein Jahr. Ich.

Vor dem Fenster eine graue Häuserwand. Wie oft schon saß ich hier? Unter meinen Händen der Eichenschreibtisch. Klassisch. Schlicht. Über meinem Kopf die Designerlampe. Modern. Elegant. Das Zimmer war recht puristisch. Dieser alte Tisch von Opa, ein billiges Bett von IKEA, ein Schrank vom Vormieter. Die Wände ohne Schmuck, einfach weiß gestrichen. Vor dem Fenster eine graue Häuserwand.

Die Stadt hatte mich immer angezogen. Schon immer wollte ich hier hin. Da, wo das Leben ist, raus aus dem Kaff. Der Mief, er hatte mich zu ersticken gedroht. Von Individualität hatte ich geträumt, Freiheit, Weite, Anonymität. Wie sehr hasste ich Dorfgespräche, die Kleingeister in der Provinz, eine angeblich heile Welt, Fassaden. Der Dreck der Großstadt, die Künstler, Kultur, Bildung, Menschenmassen, die Wirklichkeit, das Pure dieser Stadt hatten mich angezogen. Köln. Frankfurt. Hamburg. Berlin. Träume.

Neunzehn Jahre. Solange hatte es gedauert, bis ich endlich meinen Traum leben konnte. Bis ich leben konnte.

Dieser Abend im letzten Herbst, vergessen werde ich ihn wohl nie. Wir waren alleine. Wir hörten Musik, ein stiller Song, etwas vom Klavier. Wir sind alleine. Wir hören Musik und ich greife nach der anderen Hand. Unsere Blicke treffen sich. Magie. Lähmung. Langsam bewegen sich unsere Gesichter zueinander. Ich höre die Musik schon nicht mehr. Die ganze Anspannung, sie entlädt sich. Verliebtheit. Trunkenheit. Um uns herum verschwimmt die Wirklichkeit. Nur wir. Die Hände, wie Spinnen rinnen sie an dem jeweils anderen Körper hinab. Ich will nur den anderen spüren, mich spüren, uns. Wir verschmelzen. Eine Flut von Impulsen durchschießt unsere Körper. Von oben nach unten, innen nach außen. Ein elektrischer Schlag, eine Explosion, ein Feuerwerk, ein Tornado. Zusammen fliegen wir, wir stürzen hinab. Nichts kommt dem hier gleich. Ich fühle zwei Arme, die mich umschließen. Ruhig geht unser Atem. Die Herzen pochen gegen die Brustkörbe. Ich öffne meine Augen. Eine einzelne Träne kann ich sehen. In diesen so wunderschönen grauen Augen sehe ich eine einzige Träne. Sie rinnt seine Wange hinab. Ich versuche ihn zu küssen. Er steht auf, zieht sich an, geht. Stille. Nichts. Ruhe. Einsamkeit. Wahnsinn. Überflutung. Verwirrung. Nun rennt an meiner Wange eine Träne hinab.

Der Abend war stumm verlaufen. Doch die nächsten Wochen waren noch stummer. An diesem Abend gab es kein Gespräch mit ihm und danach auch nicht. Wir konnten uns nicht in die Augen schauen. Jeder Moment konnte peinlich werden. Was hatten wir getan? Mein bester Freund. Es war als wäre er gestorben. Nein, schlimmer. Wir waren uns ferner als alle Lebenden und Toten es sich je sein werden. Wenn ich neben ihm stand, wusste ich in jeder Sekunde, dass ich ihn niemals haben konnte. Diese Art des Vermissens, sie ist die schlimmste.

Aus den stummen Wochen wurden noch stummere Monate. Immer weiter zog ich mich zurück. Es gab Tage, die so schwarz waren, dass ich dachte, dieses widerliche Provinznest würde mich bei lebendigem Leibe beerdigen. Mit dem nächsten Tag wurde ich nicht älter, nein, in meiner Vorstellung kam ich dem Tod nur wieder einige Stunden näher. Ich funktionierte. Irgendwie. Der Musterschüler. Eine Fassade, die ich hasste. Der junge Mann, der auf der Geige wunderschöne Klänge hervorbringen kann. Eine Fassade, die ich hasste. Der Kerl mit einer gewissen Anziehungskraft auf Mädchen. Eine Fassade, die ich hasste.

Alles, was ich wollte, war er. Der Junge, der mir den Verstand geraubt hatte. Dieses spitze Gesicht, eine Spur von Arroganz. Diese klaren grauen Augen, in denen immer ein Strahlen zu sehen war. Dieses feine schwarze Haar, immer gestylt. Wir kannten uns, seitdem wir in die Schule gingen. Wir waren unzertrennlich. Alles wussten wir voneinander. Und dann, auf einmal, diese wirren Gefühle. Ich wollte ihn umarmen. Wollte ihn küssen. Wollte ihn lieben?

Dieser Abend im letzten Herbst, vergessen werde ich ihn wohl nie. Denn er hat mich zu dem gemacht, was ich nun bin. Die Jahre davor hatte ich in einer heilen Welt gelebt. Eine Welt hinter Fassaden. Verlogen. Eine Welt, die ich hasste. Verlogen blieb die Welt auch danach. Immer noch Fassaden. Aber es war keine heile Welt mehr, denn ich wurde zu dem, der ich nun bin. Zumindest vor mir selber versteckte ich mich nicht mehr. Tief in mir gab es einen Ort, an dem ich frei war. Dort wohnte er, mein Ich, das danach schrie, entfesselt zu werden. In die Weite ziehen zu können. Raus aus dem Mief. Ab in die Stadt. Köln. Frankfurt. Hamburg. Berlin.

Neunzehn Jahre. Ja, so lange hatte es gedauert, bis ich ausziehen konnte. Weg, ab in die Ferne. Und mit mir mein Ich. Und ich glaubte an meinen Traum, die Freiheit, Individualität, Anonymität. An dem Abend im Herbst hatte ich strahlen, lachen, jubeln wollen. Danach weinte ich, ich schrie, ich glaubte zu sterben. Ich versuchte, meinen Traum zu leben, den Traum von der Großstadt, von der Freiheit, Individualität, Anonymität.

Vor dem Fenster eine graue Häuserwand. Unter meinen Händen der Eichenschreibtisch. Über meinem Kopf die Designerlampe. War das mein Traum? Hier war Leben, hier waren  Menschenmassen, Künstler, Kultur, Bildung, die Wirklichkeit, doch das Wahre fehlte. Er fehlt.

Ein Jahr.

Es strahlt nicht mehr. Es lacht nicht mehr. Es jubelt nicht mehr.

Es weint. Es schreit. Es stirbt.

Ein Jahr.

Ich strahle nicht mehr. Ich lache nicht mehr. Ich jubel nicht mehr.

Ich weine. Ich schreie. Ich sterbe.

Ein Jahr. Ich.

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