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Angst

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Eisiger Wind schlug mir entgegen, als ich die düstere, menschenleere Straße entlanglief. Nur das Licht der Laternen erhellte ein wenig die ansonsten sehr finstere Nacht. Kein Stern war zu sehen, da sich eine dicke Wolkendecke über der Stadt zusammengeballt hatte. Plötzlich fielen die ersten Tropfen auf den Asphalt. Binnen kurzer Zeit war nicht nur die Straße von einem nassen Film überzogen, auch ich war bis auf die Knochen durchweicht. Die Haare klebten mir am Kopf und die nasse Hose an meinen Beinen. Die Tropfen, die über mein Gesicht liefen, vermischten sich mit meinen Tränen. Ich hatte meine Hände tief in meinen Manteltaschen vergraben und den Kragen hochgeschlagen. Jeder Schritt fiel mir schwer, doch ich wollte nur noch eines: So schnell wie möglich weg von diesem Ort. Nein, so hatte ich mir den Abend nicht ausgemalt.

Ein paar Stunden zuvor war ich glücklich von der Uni nach Hause gekommen. Es war Freitag und ich freute mich darauf, dass ich am Abend Sven, meinen Freund, wiedersehen würde. Wir hatten uns  schon die ganze Woche über, der Prüfungsphase des Semesters sei Dank, kaum zu Gesicht bekommen. Aber heute war ja Freitag und vor uns lag ein zweisames Wochenende. Wir hatten beschlossen, dass wir die nächsten zwei Tage einfach mal wegfahren würden. Irgendwohin. Dorthin, wo der Weg uns hinführt und der Wind uns hin weht. Nur wir zwei. Keine Termine, die uns im Nacken sitzen, keine Freunde, die uns auf die Nerven gehen würden. Natürlich mochten wir unsere Freunde, aber schließlich brauchten wir auch einfach ein bisschen Ruhe und Zeit für uns.

In den vergangenen Wochen war unsere Beziehung ein bisschen auf der Strecke geblieben. Unsere Freunde hatten in letzter Zeit des Öfteren unsere Hilfe benötigt.  Außerdem standen, wie schon gesagt, die Prüfungen ins Haus. Das bedeutete, dass wir die ansonsten schon sehr knapp bemessene gemeinsame Zeit noch drastischer kürzen mussten, damit jeder von uns genügend Freiraum zum Lernen hatte.

Aber heute hatte ja die ganze Lernerei endlich ein Ende. Die meisten Prüfungen lagen hinter uns und vor uns ein bisschen Glück und viel gemeinsame Zeit. Also machte ich mich ungefähr um acht auf den Weg zu Sven. Meine für das Wochenende bereits gepackte Tasche hatte ich dabei. Als ich vor der Haustür stand, schallte mir aus dem Gebäude gedämpft Musik entgegen. Ich klingelte. Nach kurzer Zeit betätigte jemand den Türöffner und ich betrat das Haus. Die Musik wurde immer lauter, je näher ich der WG meines Freundes kam.

Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt und ich betrat den Flur. „Hey, du auch hier. Das ist ja cool", begrüßte mich Björn, der Mitbewohner meines Freundes. „Komm doch mit in die Küche, dort sind schon ein  ganzer Haufen Leute. Nimm dir was zu Trinken und mach’s dir bequem.“ „Ähhh … ich wusste gar nicht, dass ihr heute Abend hier ‘ne Party macht", meinte ich leicht überrumpelt. „Naja, ist auch eher so spontan entstanden. Sven meinte, dass er genug von der ganzen Lernerei hätte und gern mal wieder ein bisschen feiern wollte. Naja, da haben wir ein paar Leute angerufen.“ „Ach so.“

Ich setzte mich, nachdem ich mich meiner Schuhe, meines Mantels und meiner Tasche entledigt hatte, in Bewegung. In der Küche, der Quelle der lauten Musik, angekommen, sagte ich erst mal allen Anwesenden hallo und nahm mir dann ein Bier. Es waren ungefähr 15 Leute da. Aber wen ich nicht sah, war Sven. Also schnappte ich mir Björn. „Sag mal, weißt du eigentlich wo mein Freund ist?“ „Der ist bestimmt in seinem Zimmer. Wollte sich noch was anderes anziehen oder so", meinte mein Gegenüber mit einem Schulterzucken. „Aha, na dann werde ich mal gucken, was er so treibt.“

Ich stand auf und bewegte mich in Richtung von Svens Zimmer. Ich lauschte zunächst an der Tür. Nichts war zu hören. Vielleicht hatte er sich ja nochmal ganz kurz hingelegt und war eingeschlafen? Also öffnete ich ganz leise. Vielleicht konnte ich ihn überraschen?

Das Zimmer war hell erleuchtet. Mein Blick fiel auf das Bett. Was ich dort sah, ließ mich Augen und Mund weit aufreißen.  Mein Herz blieb für eine Sekunde stehen. Auf dem Bett saß Sven. Aber er war nicht allein. Neben ihm befand sich ein junger Kerl. Und mit eben diesem knutschte und fummelte mein  Freund aufs Heftigste herum.

Der Schock, der mich überrannt hatte, lähmte mich, so dass ich die Bierflasche, die ich immer noch in der Hand hielt, los ließ. Sie fiel polternd auf den Boden und der Inhalt verteilte sich auf dem Teppich. Von dem Geräusch erschreckt, fuhren Sven und der Andere auseinander. „Scheiße“, sagte Sven, der mich mit schreckensgeweiteten Augen ansah. Der andere sah ihn wiederum fragend an. „Sven, wer is’n das?“

Meine Augen verschwammen. Noch bevor einer von beiden irgendetwas tun konnte, knallte ich die Tür zu und lief in den Flur, die Tränen von meinem Gesicht wischend. Ich zog schnell meine Schuhe an und warf mir den Mantel über. Gerade versuchte ich ihn zuzuknöpfen, was mir aber nicht gelang, weil meine Hände zu stark zitterten, da stand Sven vor mir. „Ich …“ Weiter kam er nicht, da hatte er schon meine Hand im Gesicht kleben. Er rieb sich mit einer Hand über die gerötete Stelle und sah mich ungläubig an. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben.

Ich drehte mich schnell um und rannte aus der Tür, ins Treppenhaus und hinaus auf die Straße. Erst als ich schon eine ganze Zeit gelaufen war, bemerkte ich, dass meine Tasche wohl noch bei Sven im Flur stand. Doch dorthin wollte ich nun nicht zurück. Nicht nachdem … Ich machte eine kurze Pause und blickte in den dunklen Nachthimmel. Meine Gedanken schossen kreuz und quer durch mein Gehirn. Sie überschlugen und verknoteten sich. Ich schüttelte meinen Kopf, um das Chaos darin wieder etwas zu ordnen. Vergebens. Und zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu regnen.  „Gott … bin ich blöd …“, sagte ich selbst zu mir. Dabei rieb ich mit beiden Händen über mein Gesicht.  Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Nein, das hatte ich ganz sicher nicht erwartet. Nicht von Sven, der eigentlich immer ehrlich zu mir war. Tausend Bilder schossen durch mein Gehirn. Immer wieder glitten meine Gedanken zu Sven. Tja, so konnte man sich in einem Menschen täuschen. Langsam durchweichte der Regen meine Kleidung.

Ich setzte mich wieder in Bewegung. Die wichtigsten Sachen hatte ich sowieso in meinen Manteltaschen. Also konnte ich jetzt sofort nach Hause gehen und mich dort erst mal zurückziehen. Hier wollte, nein, hier musste ich so schnell wie möglich weg.

Ich war nur wenige Straßen weiter gekommen, als das Vibrieren meines Handys mich erschreckte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und sah, dass Sven mir geschrieben hatte. ‚Wo bist du? Komm zurück … bitte.‘ Mit zittrigen Fingern verstaute ich das Telefon wieder in der Tasche, nachdem ich es ausgeschaltet hatte. Erneut rannen Tränen wie Sturzbäche über mein Gesicht. Trauer und Wut schnürten mir die Kehle zu. Ich fing an zu rennen. Ich rannte und rannte, bis ich völlig außer Puste war und stehenbleiben musste, um wieder zu Atem zu gelangen.

Als ich aufsah, bemerkte ich, dass ich genau vor dem Haus stehengeblieben war, in dem ich wohnte. Also richtete ich mich auf, zog den Schlüssel aus meiner Tasche und öffnete mit zittrigen Händen die Haustür. In meiner Wohnung angekommen, riss ich mir die nassen Klamotten runter, ging ins Badezimmer und ließ mir ein heißes Bad ein. Zitternd saß ich auf dem Rand der Wanne und wartete darauf, dass sie sich füllte.

Im Wasser merkte ich, wie kalt mein Körper doch durch den Regen geworden war. Langsam entspannten sich meine Glieder. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und tauchte sanft in den Fluten unter. In diesem Moment wollte ich nichts mehr sehen, hören oder fühlen. Das heiße Nass umspielte mich. Und plötzlich stiegen die Bilder dieses verfluchten Abends wieder vor meinem inneren Auge auf. Sie umtanzten meine Gedanken und schienen mich verhöhnen zu wollen. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, sie nicht zu sehen, desto stärker drangen sie mir ins Bewusstsein. Ich merkte, wie mein Hals sich langsam zuschnürte und meine Augen sich mit Tränen füllten. Ich bekam keine Luft mehr.

Ruckartig stieß ich meinen Kopf durch die Wasseroberfläche und zog gierig die Luft ein. Nach ein paar hastigen Zügen verlangsamte sich meine Atmung wieder auf das normale Niveau und so lehnte ich mich erneut zurück. Mit einer Hand strich ich mir das nasse Haar aus dem Gesicht und rieb mir die Augen. Ich starrte auf die Fliesen an der Wand mir gegenüber. Meine Gedanken kreisten um das, was ich gesehen hatte. Langsam rollte eine Träne meine Wangen hinab. Niemals hätte ich von Sven gedacht, dass er hinter meinem Rücken …

Ich schob den Gedanken beiseite, stieg hastig aus der Wanne und ließ das Wasser ab. Danach rieb ich mich mit einem Badetuch trocken, bis meine Haut rot war und brannte. Nachdem ich es zum Trocknen aufgehängt hatte, ging ich in mein Zimmer und schlüpfte dort in ein paar bequeme Klamotten. Zuerst wollte ich mich auf mein Bett werfen, aber überlegte es mir anders und ging in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Ich fühlte mich die ganze Zeit so, als ob ich neben mir stehen würde. Mein Kopf war leer. Keine Gedanken kreisten darin. Ich starrte auf den Küchentisch, an dem ich mich niedergelassen hatte. Langsam versank ich in den Kissen, die auf dem Sofa lagen.

Ich fand mich in meinem Zimmer wieder. Letztendlich wusste ich nicht mehr, wie ich von der Küche dahin  gekommen war. Ich saß auf dem Bett und umklammerte mit beiden Händen den Teepott. Die Flüssigkeit darin war inzwischen erkaltet und so stellte ich ihn auf den Nachttisch. Mein Blick ging auf die Uhr. Sie zeigte Mitternacht an. Ich rechnete kurz nach und stellte fest, dass ich mindestens eine Stunde so dagesessen haben musste. Eine ganze Stunde, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Eine Stunde, die ich einfach nur dagesessen und vor mich hingestarrt haben musste. Mir fiel meine Kleidung ein, die ich irgendwo fallen gelassen haben musste.

Ich ging ins Bad und hing die nassen Klamotten, die noch im Flur gelegen hatten, zum Trocknen auf. Dabei zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Einen kurzen Moment überlegte ich, es wieder einzuschalten. Aber ich entschied mich dann doch dagegen. Vielleicht hatte Sven nochmal versucht,  mich zu erreichen, vielleicht auch nicht. In diesem Augenblick schien es mir vollkommen gleichgültig. Ich war schrecklich müde und wollte einfach nur noch ins Bett, um nichts mehr sehen, hören oder fühlen zu müssen. Also zog ich die Vorhänge vor meine Fenster und mich bis auf die Boxershorts aus. Ich legte mich auf die Matratze und zog mir die Bettdecke über den Kopf.      

Gegen 7:00 Uhr erwachte ich nach einer traumlosen Nacht. Alle meine Glieder schmerzten und das Aufstehen fiel mir sehr schwer. Nein, erholsam war mein Schlaf nicht gewesen. Nachdem ich mich im Bad für den Tag fertig gemacht und einen Kaffee getrunken hatte, ging es mir schon wieder besser. Ich fühlte mich dazu bereit, mich den Ereignissen des letzten Tages zu stellen und schaltete mein Handy ein.

Sven hatte mindestens 20 Mal versucht, mich zu erreichen und mir einige SMS geschrieben. Ich überflog sie rasch. Eigentlich sagten sie immer wieder das gleiche aus: ‚Komm doch bitte wieder her; das war ein Versehen, was ich da gemacht habe; es tut mir schrecklich leid; bitte verzeihe mir, dass ich dir weh getan habe; Bitte …‘ . Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte und entschied mich letztendlich dafür, Sven zu schreiben, dass er so schnell wie möglich meine Tasche hier vorbeibringen sollte. Mehr nicht, da in meinem Kopf immer noch die gleiche schreckliche Leere von gestern herrschte.

Keine fünf Minuten später kam seine Antwort: ‚Bin in 20 Minuten da.‘ Ok. In 20 Minuten musste ich mich ihm also stellen. In mich kam wieder etwas Leben und so ging ich in die Küche und nahm mir noch einen Kaffee. Dazu drehte ich mir eine Kippe und verzog mich zum Rauchen auf den Balkon. Ich lehnte mich über die Brüstung und starrte in den Garten, den die Nachbarn aus dem Erdgeschoss so liebevoll pflegten. Aber in diesem Moment war mir das alles gleichgültig.

Die Zeit floss zäh. Sekundenweise tröpfelte sie vor sich hin. Minuten dehnten sich scheinbar zu Stunden. Ich hörte das Gezwitscher der Vögel, das Geplapper der Menschen und das Geknatter der anspringenden Autos. Aber das alles erreichte mich nicht wirklich. Ich wartete nur auf den Klang der Türklingel.

Endlich. Die Klingel.

Ich stürzte an die Gegensprechanlage und betätigte den Türöffner. Danach stellte ich mich in den Rahmen der offenen Wohnungstür und schaute ins Treppenhaus. Ich hörte Schritte die Stufen heraufkommen. Dann bog Sven um die Ecke des Geländers. Er hob seinen Kopf an und schaute auf die Türöffnung. Seine Augen waren ganz rot und zugeschwollen. Bestimmt hatte er geheult. Er bewegte sich sehr langsam, als ob ihm jeder Schritt schwer fallen würde. Dann richteten sich seine Augen auf mich. Tränen liefen seine Wangen hinunter und er wischte sie sich mit dem Handrücken ab. Ich trat zur Seite und ließ ihn herein. Die Tasche, meine Reisetasche, plumpste aus seiner Hand auf den Boden. Er versuchte mich zu umarmen, doch ich wehrte ihn ab und schüttelte den Kopf. Daraufhin sackte er in sich zusammen und schloss die Augen. Immer mehr Tränen liefen seine Wangen hinab. Ich drehte mich um und ging in die Küche. Sven folgte mir.

„Kaffee?“, fragte ich leise. „Ja, bitte", antwortete er mit tränenerstickter Stimme und ließ sich auf dem Sofa nieder und stütze seine Ellenbogen auf den Küchentisch, der vor ihm stand. Ich machte ihm einen Pott voll und füllte auch gleich meinen wieder auf. Dann setzte ich mich ihm gegenüber an den Tisch. „Warum, Sven? Warum hast du mich hintergangen?“ Ich blickte ihm fest ins Gesicht. Er zuckte mit seinen Schultern. „Ich weiß, dass wir in letzter Zeit ‘n paar Probleme hatten. Aber wieso machst du mit diesem Typen rum. Wieso? Ich begreif‘ das einfach nicht. Genüge ich dir denn nicht? Bin ich zu hässlich? Magst du meine Art nicht? Ist dir mein Verhalten unangenehm? Liebst du mich nicht mehr? Hast du mich überhaupt geliebt? Oder warst du nur mit mir zusammen, weil ich gerade da war? Sag mir doch bitte irgendwas, damit ich das verstehen kann. Ich werde echt sonst noch verrückt.“  Ich redete mich gerade richtig in Rage. In meinem Kopf herrschte mit einem Mal ein totales Chaos. Alle möglichen und unmöglichen Gedanken kreisten darin umher. Meine Gefühle fuhren mit mir Achterbahn. Ich spürte Wut aber auch Verzweiflung und Trauer.

„Nein, ich liebe dich immer noch. Ich bin …war … mit dir zusammen, weil ich dich liebe. Das musst du mir glauben.“ Erschrocken riss Sven die Augen auf. „So, das nennst du also Liebe?“, fuhr ich dazwischen. Er zuckte zusammen, als ob ihn ein Peitschenhieb getroffen hätte. Ja, ich hatte ihn mit diesen Worten verletzt, wollte ihm weh tun, wollte, dass er genau solchen Schmerz spürte wie ich. Aber auf der anderen Seite tat es mir weh, ihn so zu sehen. Er saß in sich zusammengesunken da und wischte sich immer wieder mit der Hand über sein verquollenes Gesicht. Beständig liefen einzelne Tränen seine Wangen hinab. Mein Herz schrie danach, ihn an mich zu drücken und zu trösten.

Aber das konnte ich nicht tun. Es hätte sich nicht richtig angefühlt, einfach so alles unter den Teppich zu kehren. Und das hätte ich mit einer solchen Geste nur bewirkt. Nein, jetzt musste geredet werden, auch wenn das Schmerzen mit sich bringen würde.

„Ich weiß auch nicht, warum ich das getan habe. Fred war da und er sah so gut aus.  … Und er flirtete mit mir. Du und ich sind …waren … über zwei Jahre zusammen. Zwei Jahre lang gab es immer nur uns beide … Irgendwie habe ich gerade in der letzten Zeit immer wieder gedacht, dass es da draußen noch so viele tolle Männer gibt. Weißt du, immer wieder tauchte dieser Gedanke auf. Ich habe ihn immer beiseite geschoben und gedacht, dass das doch dumm ist und ich einen wundervollen Freund habe, den ich liebe und der mich liebt. Aber irgendwie hat das an mir genagt. Ich habe wohl gedacht, dass ich irgendwas … verpassen könnte.“ „Verpassen …“, schnaubte ich verächtlich. „Klar hättest du was verpasst. Aber dafür hast du doch mich gehabt. Ist es dir so wichtig, deinen Spaß zu bekommen, so dass du mir lieber weh tust, als eine Chance ungenutzt zu lassen? Ist es das für dich, was du unter einer Beziehung verstehst? Man fickt miteinander, hat vielleicht auch tiefere Gefühle füreinander aber nimmt trotzdem alles mit, was man kriegen kann? Einfach so? Weil man geil ist und Bock darauf hat, mal was anderes zu haben?“ Langsam versagte meine Stimme. Zum Schluss gab ich nur noch ein heiseres Krächzen von mir. Ich merkte, dass meine Augen sich mit Tränen füllten und eine davon sich bereits ihren Weg über meine Wange bahnte. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und atmete tief durch, um mich wieder zu beruhigen.

„Ich verstehe das nicht, Sven. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich sowas nicht will und mit so ‘nem Verhalten nicht umgehen kann. Ich habe dich darum gebeten, es mir zu sagen, wenn du unzufrieden bist. Hattest du Angst, mit mir zu reden?“, krächzte ich. „Ich habe gedacht, dass ich dich mit meiner Unsicherheit nur nervös machen würde. Und ich hatte Angst. Richtig schlimme Angst davor, was du machen würdest. Ich habe gedacht, dass ich dich verlieren würde, wenn ich dir alles sage.“ „So hältst du mich bestimmt nicht", unterbrach ich Sven. Er senkte bei meinen harten Worten seinen Blick. Mit einer zittrigen Stimme, die immer wieder brach, begann er zu reden:

„Ich weiß. Ich habe dir weh getan. Und das tut mir schrecklich leid … Ich hätte gleich mit dir reden sollen. Das seh‘ ich jetzt ein. Wenn ich könnte, dann würde ich alles ungeschehen machen, aber ich kann leider nicht.  …Ich liebe dich immer noch. Du gibst mir das, was kein anderer mir geben kann. Das weiß ich jetzt. Und ich weiß auch, dass du jetzt erst mal deine Zeit brauchst, um über alles nachzudenken.  …Ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen.“ Seine Augen hatten sich bei den letzten Worten auf mich gerichtet. In ihnen sah ich ehrliche Reue. Und Liebe. Aber auch eine tiefe Traurigkeit. Anscheinend tat ihm das alles wirklich sehr leid. Aber konnte ich ihm einfach so vergeben?

„Sven, du hast mich wirklich schwer verletzt. Und ich kann dir im Moment einfach nicht mehr vertrauen. Gib mir bitte Zeit, über alles nachzudenken.“  Seine tieftraurigen Augen schauten mich an. Aber da war auch eine Spur Hoffnung zu sehen. „Ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst.“  Sven stand langsam auf. „Ich geh‘ dann mal besser.“

In diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn nicht so einfach gehen lassen durfte. Ja, er hatte mir verdammt weh getan. Aber er bereute das und es tat ihm weh, dass er mich verletzt hatte. Aber konnte ich ihm verzeihen? Vergessen konnte ich nicht, das stand fest. Aber konnte ich mich wieder auf ihn einlassen?

In mir lief ein Kampf ab. Zwei Parteien stritten miteinander. Sollte ich ihm vergeben? Ja, er hatte mich sehr enttäuscht. Er hatte genau das getan, was ich absolut nicht tolerieren konnte, nicht tolerieren wollte. Aber es tat ihm aufrichtig leid. Er hatte sich bei mir entschuldigt und eingesehen, dass er Mist gebaut hatte. In Bruchteilen von Sekunden stand meine Entscheidung fest.  „Willst du nicht erst noch deinen Kaffee austrinken?“ „Okay … wenn du mich so lange noch ertragen kannst", antwortete er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Seine Augen strahlten für einen kurzen Moment.

Sven ließ sich wieder auf das Sofa gleiten. Er nahm einen Schluck Kaffee. Ich beobachtete ihn dabei. Sein schönes Gesicht war durch das viele Weinen aufgequollen, seine Nase gerötet und seine tollen braunen Haare standen wirr vom Kopf ab. Trotzdem war er für mich immer noch wunderschön. Vor mir saß nicht mehr der strahlende Held, für den ich ihn immer gehalten hatte. Er war nicht mehr dieser makellose Typ, der immer alles richtig machte. Vor mir saß ein total verzweifelter Kerl, der sich seiner Schuld bewusst geworden war.

Gerade das machte ihn aber für mich wieder zum Helden. Sven hatte seine Fehler eingestanden. Er war mir gegenüber ehrlich und aufrichtig gewesen. Er versteckte sich nicht hinter irgendwelchen Ausreden sondern zeigte, dass er die Konsequenzen ertragen wollte. Und ich liebte ihn, das war mir jetzt deutlich bewusst geworden.

Ich stand auf. Er schaute mich fragend an. Meine Schritte führten um den Tisch. Ich ließ mich auf dem Sofa neben Sven nieder. Auf seinen verdutzten Blick hin, lehnte ich mich an ihn an und sein Arm legte sich zögernd um mich. Mein Kopf rutschte auf seine Brust. Ich schloss die Augen und atmete seinen Geruch ein. Das tat so gut. Hier, an seiner Brust, in seinen Armen hatte ich mich immer so wohl und geborgen gefühlt. Daran hatte sich nichts geändert. Sein Griff wurde langsam sicherer und fester.  Ich drehte mich zu ihm und legte meine Arme um seinen Körper. Er rutschte noch ein Stück auf mich zu und zog mich in seine Umarmung. Ich konnte seine Wärme und seine Liebe fühlen. In meinem Inneren begannen tausende Schmetterlinge nervös zu flattern. Es war, als ob ich Sven jetzt das erste Mal so richtig wahrnehmen würde.

Langsam hob ich meinen Kopf, begann ganz sacht zu lächeln und öffnete meine Augen. In seinem Blick lag so viel Liebe und Zuversicht. Mit meiner Hand streichelte ich zart sein Gesicht. Zuerst strich ich mit meinen Fingern über seine Wange und wischte die Tränenspur weg, die immer noch zu sehen war. Dann zeichnete ich seine schönen Augenbrauen nach und fuhr mit einer Fingerspitze über seinen Nasenrücken. Die ganze Zeit hatte Sven seine Augen geschlossen und schien diese kleinen Gesten sehr zu genießen. Er atmete ruhig und lächelte. Als ich mit einem Finger über seine Lippen strich, schnappte er danach und erwischte ihn tatsächlich. Als ich versuchte, meinen Finger wieder zurückzuziehen, kam  ein Grollen aus seiner Kehle und ich lachte auf. Das führte wiederum dazu, dass Sven grinsen musste und seine Augen öffnete, die mich vorwitzig und zugleich liebevoll anblitzten.

Ich zog meinen Finger aus seinem Mund und streichelte mit der ganzen Handfläche seine Wange. Er legte seinen Kopf in diese Berührung und schloss erneut die Augen. Langsam näherte ich mein Gesicht seinem, bis sich unsere Lippen ganz sacht berührten. Ich hauchte einen zarten Kuss auf seinen Mund und zog danach meinen Kopf ein Stückchen zurück. Sven öffnete seine Augen und sah mich voller Liebe an. Dieser Blick verursachte einen Wärmeschauer, der mir über den ganzen Körper lief und eine Gänsehaut zurückließ. Dann kam Sven mir ein Stück entgegen. Unser nächster Kuss wurde leidenschaftlicher und blieb doch zärtlich. Endlich konnte ich die Starre, die mich die ganze Zeit gefangen gehalten hatte, vollständig abstreifen. Ich zog ihn noch fester in meine Umarmung und auch Sven drückte mich stärker an sich. Langsam rutschte ich auf seinen Schoß.

Jetzt, hier bei ihm konnte ich mich komplett fallen lassen. Langsam rollte eine Träne aus meinem Auge und die Wange hinab. So sacht, wie der Kuss entstanden war, löste sich Sven auch wieder von mir. Er strich mit seiner Hand die Träne von meiner Wange und sah mich fragend an. „Ich liebe dich", konnte ich nur noch hauchen, bevor er mich erneut an sich zog und meinen Mund mit Küssen bedeckte.

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