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Simon - Mein Leben und ich
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Informationen
- Story: Simon - Mein Leben und ich
- Autor: Ben W.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Kurzgeschichte
Gut. Da saß ich nun in der Bibliothek. In der Abteilung Soziologie. Oh man. Da hatte ich mir ja ‘ne tolle Suppe eingebrockt. Eigentlich könnte ich jetzt so schön irgendetwas von Goethe oder Schiller auseinander nehmen und die alten Interpretationsansätze auf den Kopf stellen. Aber nein, es musste ja unbedingt etwas mit Geschlechterforschung zu tun haben. Am besten noch ein zeitgenössischer Text. Tja, den hatte ich dann auch bekommen. Und dazu ein riesiges Fragezeichen. Es gab hier einfach zu viele Bücher, die sich mit DEN Fragen schlechthin beschäftigten: Was ist ein Mann? Was ist eine Frau?
Das System verfluchend, hatte ich mich an einem wunderbar sonnigen Montag mit dem Rad auf den Weg gemacht. Wer, um Himmels Willen, hatte sich nur den Rotz ausgedacht, dass die Abschlussarbeit mitten im Semester geschrieben werden müsse. Nebenher hatte man ja auch noch den regulären Unterricht, was auch einige Referate beinhaltete. Abgesehen davon … irgendwo, an irgendeiner Stelle, wollte man dann doch mal sein bisschen Freizeit genießen und leben. Man ist ja schließlich kein bloßes Arbeitstier, auch wenn das Studium Spaß macht und interessant ist.
Eine Traube von Studenten bevölkerte die Treppe zur Bibliothek. Ob jemand von denen auch gerade mit seiner Bachelor-Arbeit beschäftigt war? Schnell scannte ich die Leute. Hmmm … die meisten natürlich von der Sorte „Ich-bin-ja-so-was-von-alternativ-und-deswegen-so-cool“. Leute … Kartoffelsäcke als Kleidungsstücke sehen einfach nicht schön aus! Dazu noch seit mindestens einer Woche nicht mehr gewaschene Haare und ‘ne Umhängetasche aus Filz … Schnell wandte ich mich ab und erklomm die Stufen zum Inneren des Heiligtums der Bücher. Nach ein paar Schritten stand ich vor den Spinden, um mein Zeug, zumindest das, was ich nicht brauchen würde, zu verstauen. Na super … wenn man mal ‘nen Euro braucht … Ich kramte in meiner Umhängetasche. Es ist schon eigenartig, dass immer dann Dinge zu Tage treten, die man schon seit einer Ewigkeit gesucht hat, wenn man eigentlich auf der Suche nach etwas ganz anderem ist. Ich fand ein Päckchen Taschentücher (erst ein paar Tage zuvor hatte ich mich bei Cora, meiner besten Freundin, durchgeschnorrt), eine Kopfschmerztablette und ein Salbeibonbon, für den Fall, dass ich mal wieder ein Kratzen im Hals verspürte. Alles Dinge, die ich erst in letzter Zeit gebraucht hätte. Letztendlich fand ich dann doch noch ein passendes Geldstück.
Die Tage vorher hatte ich mit Literaturrecherchen zu Hause verbracht. Bequem vor den PC gelümmelt, vertrödelte ich so einige Stunden und konnte nebenbei noch anderes erledigen. Ich beantwortete Mails, schaute mir neue Fotos von Freunden an und auch andere Seiten mit bewegten Bildern ließ ich nicht aus. Ein Hoch auf das Internet!
Ablenkung ist was Feines. Zumindest so lange, bis man auf die Uhr schaut und feststellt, dass man schon den halben Tag mit anderen Dingen als dem eigentlichen Vorhaben verschwendet hat. Also wieder rein in den WebOPAC! Ich wurde von einem Wust an Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln schier erschlagen. Ich hasse das Internet!
Letztendlich hatte ich dann doch meine Auswahl an Lektüre getroffen. Und so kam ich also einen Tag später in die Abteilung Soziologie der Bibliotheca Albertina. Die Bücher waren schnell gefunden (naja, schnell für jemanden, der eigentlich normalerweise in der Abteilung Germanistik sitzt) und mit einem schwankenden Stapel von 15 Büchern, die sich in einem mehr oder weniger desolaten Zustand befanden, bewaffnet, strebte ich einem der dort stehenden Tische zu. Nachdem ich die Bücher abgelegt hatte, ließ ich mich mit einem Seufzer der Frustration auf einen Stuhl plumpsen.
Widerwillig griff ich nach dem ersten Buch und begann zu lesen. Es ist schon komisch. Man weiß, dass eigentlich genau jetzt der Zeitpunkt ist, an dem man sich konzentrieren müsste. Aber bereits das leiseste Geräusch dient der Ablenkung, als ob man nur darauf gewartet hätte, dass irgendetwas passiert. Und egal was es ist: es ist definitiv interessanter als das, was man eigentlich machen müsste, auch wenn nur der Nebenmann mit den Füßen scharrt.
Genauso ging es mir. Naja … mein Nebenmann scharrte nicht mit den Füßen. Er schnaubte kurz amüsiert. Scheinbar empfand er das, was er gerade las, als komisch.
Ich riskierte einen kurzen Seitenblick. Hmmm … nicht schlecht. Markante Nase, Drei-Tage-Bart, groß, leicht muskulös und schöne braune Augen. Einfach genau mein Typ. Nur die langen Locken waren nicht so mein Fall. Aber ihm stand das. Modetechnisch war er zwar nicht auf dem neuesten Stand (muss ja auch nicht sein, jeder soll das anziehen, was ihm gefällt und steht), aber auch nicht in die Kategorie „Ich-bin-ja-so-was-von-alternativ-und-deswegen-so-cool“ einzuordnen. Er war einfach normaler Durchschnitt – Jeans, schlabbriges T-Shirt und Sneakers.
Aus dem kurzen Seitenblick wurde dann doch ein intensives Mustern. Zum Glück war der Typ richtig in seine Lektüre vertieft. Sonst hätte er das bestimmt bemerkt und ich wäre mal wieder rot angelaufen, was ich übrigens recht häufig mache.
Ich bin nun mal ziemlich schüchtern, wenn es um Männer geht. Über sie mit meiner besten Freundin reden ist kein Problem. Doch wenn ich denn mal einen ganz niedlich finde … oi … das geht gar nicht. Ich werde zu einem verklemmten stotternden Etwas. Den ersten Schritt zu machen, ist für mich nicht möglich. Anders sieht es dann schon aus, wenn ich angequatscht werde. Das kommt aber nicht allzu häufig vor. Ich bin fast zwei Meter groß und wirke … hmmm … sagen wir mal … etwas arrogant. Bin ich aber nicht. Ich scheine die Menschen einzuschüchtern, was auch schon mal ganz praktisch sein kann. Ich lache heute noch über das komische Gesicht der Tante von der Hausverwaltung. Wäre sie nicht so eingeschüchtert gewesen, dann würde ich wahrscheinlich immer noch irgendwelchen Krempel von meiner alten Wohnung abbezahlen. Was kann ich denn dafür, dass die Kochplatten des Herdes schon nach einem Jahr und trotz guter Pflege rosten? Jetzt aber zurück zur eigentlichen Geschichte.
Es vergingen einige Minuten, bis ich mich zusammenriss und mich wieder meinen Büchern zuwandte. Trotzdem musste ich immer mal wieder den süßen Typen anstarren. Jetzt fielen mir noch seine tollen Knutsche-Lippen auf. Wie gerne würde ich da mal … Er legte sein Buch zur Seite und stand auf. Schnell starrte ich wieder in meine Lektüre. Jetzt bloß nicht … Bingo! Ich wurde rot. Leuchtend rot. Mein ganzes Gesicht und auch die Ohren, alles knallig rot. Mein einziger Gedanke war: ‚Hoffentlich schaut er sich nicht zu genau um, wenn er geht.‘ Ich riskierte einen kurzen Blick über die Buchkante.
‚Mist …Scheiße, Scheiße, Scheiße …‘ PANIK! Er schaute mir geradewegs in die Augen und ich starrte wie gebannt zurück. Seinen Blick aber konnte ich nicht deuten. Er verzog auch keine Miene. Mir perlte der pure Angstschweiß von der Stirn. Nach ein paar Augenblicken entschied er sich dann doch gnädiger Weise zu gehen.
Sogar nachdem er schon ein paar Sekunden verschwunden war, versuchte mein Puls immer noch Rekordhöhen zu erklimmen. Meine Atmung ging schnell und auch der Angstschweiß wollte nicht versiegen. Nach und nach kam ich aber schließlich doch wieder zur Ruhe. ‚Das war eben echt peinlich … man o man … Wieso muss der auch gerade jetzt mich anstarren? Schon seltsam …‘ Vielleicht hatte der Typ mich ja doch bemerkt. Leider bin ich beim Beobachten nicht ganz so subtil. Auffällig trifft es eher. Wenn mir jemand gefällt, dann starre ich ihn an und verliere mich in den Details. Ich würde mich echt gerne mal beim Beobachten beobachten. Garantiert ein Bild für die Götter – glasiger Blick, sabbernd und leicht gerötetes Gesicht.
Toll, ganz toll. Ich hatte es mal wieder geschafft, mich zu blamieren. Aber wie heißt es so schön? Einmal blamieren am Tag festigt den Charakter! ‚Zum Glück werden wir uns nicht mehr über den Weg laufen. Wozu Großstädte doch gut sind!‘ Ja, so dachte ich und widmete mich wieder meinen Büchern. Für die nächsten Stunden arbeitete ich konzentriert. Doch irgendwann war ich dann auch mal erschöpft. Also hieß es für mich: Ab in den Kopierraum, der Rest wird zu Hause erledigt.
Mit einem dicken Stapel von Kopien bewaffnet, schritt ich hocherhobenen Hauptes aus dem Raum der giftigen Dämpfe. Wieso kommt eigentlich keiner vom Personal auf die Idee, dass es vielleicht dann doch mal ganz angebracht wäre, ein oder zwei Fenster im Kabuff mit den Kopiergeräten zu öffnen? Oder ist es Balsam für ihre sadistischen Seelen, einen Haufen junger fast erstickter Menschen beim Kampf mit der Ohnmacht zu beobachten?
Als ich endlich wieder auf meinem Rad saß und nach Hause fuhr, zogen dicke Wolken am Himmel auf. ‚Bitte, lass es jetzt bloß nicht …‘ Platsch. Der erste Tropfen hatte genau gesessen. Mitten auf den Kopf war er mir gefallen und lief mir jetzt in den Nacken. Ich schüttelte mich. Was für ein ekliges Gefühl es doch ist, wenn ein Regentropfen langsam in den Nacken rinnt. ‚Ok … solange es nur ein paar Tro …‘ Und schon fing es an, wie aus Kübeln zu gießen. ‚Na toll … Der Tag ist wirklich echt super …‘ Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch über die Hälfte des Weges vor mir. Klatschnass kam ich dann in meiner Wohnung an. Schnell warf ich meine Tasche in die Ecke und pellte mich aus den jetzt echt stramm sitzenden Klamotten. Nackig wie ich war, ging ich erst mal ins Bad und rieb mich mit einem Handtuch wieder trocken.
Zurück in meinem Zimmer, zog ich mir mein bequemstes Zeug an. Im Schlabberlook gammelt sich’s doch am besten! ‚Und jetzt erst mal ‘nen Kaffee und ein paar Kekse dazu!‘ Mit einem dampfenden Kaffeepott und einer Keksschachtel bewaffnet, setzte ich mich vor meinen PC. So kann ich wirklich Stunden verbringen und merke nicht mal, wie die Zeit verrinnt. Ein paar E-Mails schreiben hier … ein paar Videos gucken da … ein paar Spiele spielen dort … Es gibt so viele Möglichkeiten, was man alles tun kann.
Irgendwann entschied ich mich dann doch, dass ich mal an meinen Texten weiterarbeiten sollte. Schließlich musste ich meine Arbeit irgendwann auch mal abgeben. Und je eher ich mit schreiben anfangen konnte, desto besser. Die meisten Texte waren echt gut und passten hervorragend zu meinem Thema. Aber ich hatte mir auch einiges kopiert, was nur von irgendwelchen Vollidioten geschrieben worden sein konnte. An allem sind doch die Männer schuld! Das klingt doch ganz nach …
Und schon meldete sich das Telefon zu Wort. Meine beste Freundin meinte, dass es mal wieder für einen nachmittäglichen Kaffeeschwatz an der Zeit wäre. Und so verabredeten wir uns nach ca. einer Stunde intensiven und lebensnotwendigen Neuigkeitenaustauschs für den nächsten Tag.
Cora und ich trafen uns an unserem üblichen Treffpunkt. Vom Bahnhof aus gingen wir in Richtung Innenstadt. Die Frage nach einer passenden Lokalität war schnell geklärt. Wir holten uns einen Kaffee zum Mitnehmen und begaben uns in den „Park“ bei der Thomaskirche. Auf einer Bank ließen wir uns nieder und beratschlagten zunächst, was wir denn alles tun wollten. Als erstes musste der nächste H&M erstürmt werden. Ich brauchte dringend neue Klamotten, genau wie mein Gegenüber. Also rein ins Gewühl. In solchen Läden kann ich echt Stunden verbringen. Allerdings muss auch die Gesellschaft stimmen. Ich kann nicht mit jedem so lange shoppen gehen! Cora und ich liegen einfach auf einer Wellenlänge. Ich weiß, was ihr gefällt (naja zumindest meistens) und sie weiß, was mir gefällt, bzw. gefallen sollte.
Zwischen den Klamottenständern berichtete ich nun von meinem gestrigen Erlebnis in der Bibliothek. Cora hörte sich alles geduldig an. Sie kennt das schon von mir. Ich schwärme öfters ein bisschen von einem Typen. Aber wenn es darum geht, ihn anzusprechen, kneife ich. Jedes Mal versucht sie mich mit einer engelsgleichen Geduld dazu zu bewegen, das Objekt meiner Begierde doch endlich mal anzuquatschen. Sie sagt dazu meistens: „Geh doch einfach mal hin und frag was vollkommen Belangloses. Versuch ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dann wirst du ja sehen, ob er dir da auch ein bisschen Interesse entgegen bringt. Wenn ja, dann kannst du ja mal fragen, ob ihr euch auf einen Kaffee oder so was in der Stadt treffen wollt. Und dann wirst du schon sehen wohin sich das entwickelt.“ Tja … wenn das mal so einfach wäre.
Und auch dieses Mal versuchte sie, mich dazu zu bewegen, dass ich doch endlich einmal einfach so einen Typen anquatschen würde. „Ich weiß doch nicht, ob er auch Interesse an mir hat. Wieso soll ich ihn einfach stören? Kann doch sein, dass er mich total doof und aufdringlich findet. Vielleicht hat er keine Lust, einfach so angelabert zu werden?“ Cora meinte: „Und was ist, wenn er dich auch total niedlich findet? Vielleicht ist er sich auch nicht sicher, ob er dich ansprechen soll. Vielleicht ist er auch schüchtern und wartet nur darauf, dass du den ersten Schritt machst. Wenn du ihn nicht anquatschst, dann wirst du es nie erfahren.“ „Aber wahrscheinlich werde ich ihn eh nie wieder sehen! So viel Glück hab‘ ich nicht.“, erwiderte ich. „Ach Quatsch. Red‘ dir doch nicht so ‘n Mist ein. Du hast genauso viel Glück, wie jeder andere auch. Und wenn du ihn nicht wieder triffst, dann lass dir das eine Lehre sein. Lass doch nicht einfach eine Chance nach der anderen verstreichen.“ Cora hatte ja Recht. Aber leider bin ich in Bezug auf mein eigenes Leben gern hin und wieder …naja … eigentlich meistens, pessimistisch eingestellt.
Es ist schon komisch. Für andere bin ich oft die erste Anlaufstelle, wenn irgendwo der Schuh drückt. Das Thema, was meistens bei solchen Kummerkastenaktionen auf den Tisch kommt, ist Beziehungskram. Es heißt dann: Sam, ich bring Wein mit, wir müssen über die Liebe reden. Ich bin echt gut darin, anderen zu sagen, was sie tun sollen. Meistens funktioniert das dann auch. Aber selbst mal etwas Beziehungsähnliches auf die Reihe zu bekommen … tja das überschreitet dann doch meine Fähigkeiten. Rede ich mir zumindest ein. Der beste Beweis für meine Theorie ist, dass ich seit sieben Jahren solo bin. Inklusive Abstinenz. Selbstbespaßung zählt nicht.
Ach so: Ich hab‘ mich ja noch gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Ich bin Sam, eigentlich Samuel, und studiere B.A. Germanistik im sechsten Semester. Bald habe ich das (hoffentlich) hinter mir und kann dann zu M.A. Germanistik übergehen. Nun aber zurück zum eigentlichen Geschehen.
Cora und ich standen also nun mal wieder im H&M und diskutierten über meine nicht vorhandene Fähigkeit, eine Konversation mit einem männlichen gutaussehenden Wesen anzufangen. Ich hielt gerade ein voll schräges Teil hoch, um es Cora zu zeigen. „Kuck‘ doch mal. Wäre das nix für dich? Ist doch voll geil mit den quietschbunten Streifen. Hihihi.“ Ich konnte mich vor Lachen kaum noch halten. Das T-Shirt sah aber auch zum Schießen aus. Außerdem kannte ich den Geschmack meiner besten Freundin nur zu genau. Und sowas stand nicht gerade auf ihrer ‚Das-steht-mir‘- Liste. Sie quittierte meinen Lachflash mit einem kritischen Blick. Ok. Heute war ihr wohl nicht so sehr nach Quatsch machen.
„Jetzt mal ganz ehrlich, Sam. Was soll denn das noch mit dir werden, wenn du niemals jemanden anquatschst und dich immer weiter in dein Schneckenhaus verkriechst? Willst du denn mal ganz alleine enden? Ich weiß doch, dass dich das wurmt, dass du keinen Kerl abbekommst. Also mach doch was dagegen. Ist denn das wirklich für dich so schwer, einfach mal so ‘ne Schnitte anzulabern? Mich hast du doch auch von Anfang an in Grund und Boden gebrabbelt!“ O weh. Jetzt machte Cora sich mal wieder Sorgen um mich. Mein schlechtes Gewissen keimte langsam in mir auf.
Immer wenn ich mal wieder Kummer habe, dann kann ich zu Cora kommen. Sie hört mir zu und hilft mir, wo sie nur kann. Nur bei dieser einen Sache, da mache ich irgendwie immer dicht. Für sie scheint es das einfachste der Welt zu sein, einen Kerl anzusprechen. Doch für mich ist es der blanke Horror. Sie gibt sich jedes Mal viel zu viel Mühe, mir das auszureden und jedes Mal bekomme ich ein schlechtes Gewissen, denn ich verspreche ihr jedes Mal hoch und heilig, dass ich den nächsten endlich anquatschen werde. Und jedes Mal breche ich mein Versprechen.
„Cora, ich weiß. Aber du kennst mich doch. Bei Mädels ist das was ganz anderes für mich. Ihr seid nicht so furchtbar kompliziert wie Kerle. Und erst recht kompliziert ist die Sache, wenn sich dann noch herausstellt, dass der Typ da vor mir hetero ist.“ Sie verzog nur ihr Gesicht als Antwort. „Jaja. Ich weiß, ich weiß. Aber das ändert nichts daran, dass, wenn du niemanden endlich mal ansprichst, du wahrscheinlich nie jemanden abbekommst.“, ließ sie sich dann doch zu einer Äußerung hinreißen. Ich weiß ja, dass sie Recht hat. Trotzdem ist es für mich schwer.
„Ich weiß, dass dir das weh tut.“ Sie schaute mich jetzt direkt an. Ihr Blick ging direkt in meine Seele. Sie kennt mich einfach zu genau. „Sam, du bist einfach nicht dazu gemacht, allein zu sein. Und weil du so lang einsam warst, denkst du jetzt, dass es für dich ein Normalzustand ist. Aber das muss nicht so sein. Ich merk‘ doch, dass es dir jedes Mal weh tut, wenn du irgendwo ein glückliches Pärchen siehst. Du versuchst das zwar zu überdecken, indem du zynisch wirst. Aber tief in deinem Inneren, da willst du genau das Gleiche wie alle anderen auch. Du willst endlich jemanden, der dich liebt und das nicht nur als Freund.“ In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet und ich musste schwer schlucken. Mich so tief zu berühren, schafft meist nur Cora. Sie kennt mich einfach zu genau.
Ich räusperte mich und sagte dann mit belegter Stimme: „Ich weiß doch.“ Und nach einer kurzen Pause, in der ich verschämt zu Boden starrte, fragte ich sie schließlich: „So, wie sieht’s aus? Willst du jetzt diese exorbitant hässlichen Teile hier kaufen, oder wollen wir lieber in den nächsten Laden?“ „Wärst du mir sehr böse, wenn ich dich jetzt schon allein lassen müsste?“, fragte mich Cora mit einem gequälten Gesichtsausdruck. „Ich wollte mich dann noch mit so ‘nem tollen Typen treffen. Und dafür müsste ich erst nochmal nach Hause und mich ein bisschen herrichten.“ „Nein, natürlich nicht. Komm, los, hopp!“, lachte ich sie an. Sie schaute mich leicht irritiert an. „Hey komm, ich freu mich doch für dich, wenn du endlich mal ‘nen Typen findest, der dich nicht nur verarscht! Ich hab‘ dich doch lieb!“ In der letzten Zeit war nicht nur ich auf der Strecke geblieben. Cora zog im Moment Arschlöcher an, wie Licht die Motten. ‚Na hoffentlich ist es diesmal kein Arschloch! Sonst muss ich wieder stundenlang Aufbauarbeit leisten‘, dachte ich. Ok, das macht mir nichts aus. Ich finde es schön, dass ich ihr helfen kann. Ich höre Cora gerne zu und nehm‘ sie in den Arm, wenn sie getröstet werden will. Aber es tut mir einfach weh, wenn ihr weh getan wird.
Also verließen wir den Laden mit unseren neuesten Errungenschaften und machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, setzte sich Cora in die Straßenbahn und ich schwang mich auf mein Rad. Zu Hause angekommen, es war kurz vor 19:00 Uhr, entschied mein Magen, dass es mal wieder Zeit wäre, etwas zu essen. Also machte ich die Tür zum Kühlschrank auf, um sie gleich wieder zu schließen. ‚Mist. Nix da. Oh Schei …benkleister. Wieder mal vergessen einzukaufen. Na dann mal los, ab in den nächsten Lebensmittelladen!‘, dachte ich, als ich die gähnende Leere erblickte. Also zog ich mir wieder meine Schuhe und meine Jacke an, schnappte meine Tasche (zum Glück habe ich immer ein paar Stoffbeutel darin – der Umwelt zuliebe), mein Portemonnaie und stiefelte los. Zum Glück ist der Laden nur zehn Minuten entfernt.
Mit leerem Magen soll man nicht einkaufen! Ja, das ist wirklich wahr. Ich war dann doch vom Anblick des zu zahlenden Betrags leicht schockiert. Aber egal. Jetzt war keine Zeit, um sich aufzuregen. Es hieß nur schnell wieder nach Hause kommen, bevor mir vor lauter Hunger schlecht und dann schwarz vor Augen würde.
Endlich wieder in meiner Wohnung, fing ich gleich an, mir etwas zu kochen. Da hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Türschloss der Wohnungstür drehte. ‚Ahh, wenn das Phillipp ist, dann kann er ja gleich mitessen, wenn er will.‘ Phillipp ist der Mensch, mit dem ich mir die Wohnung teile. Er ist echt ein ganz lustiger Typ. Und auch wenn wir uns immer Mal streiten, kommen wir sehr gut miteinander aus.
Ich lief in den Flur und da stand, wie schon gedacht, Phillipp. „Hey Phill. Ich bin gerade am Kochen. Willst du was mitessen?“ „Klar, was gibt’s denn?“ „Nix besonderes. Nudeln mit Hackfleisch.“ „Klingt doch nicht schlecht. Außerdem bin ich fast verhungert. Ich hoffe, dass du genug gemacht hast.“ „Es wird schon reichen“, sagte ich mit einem Lachen. Tja. Phillipp ist klein und total schlank, isst dafür aber ziemlich große Portionen. Ich beneide ihn. Ich muss immer darauf achten, was ich zu mir nehme. Es gab Zeiten, da brauchte ich ein Brot bloß anzugucken und schon hatte ich es auf der Hüfte.
Phill machte sich, nachdem er seine Jacke aufgehängt und die Schuhe ausgezogen hatte, gleich nützlich und deckte den Tisch. Wenig später saßen wir schon und schaufelten die Nudeln und das Hackfleisch in uns rein. Ein paar Minuten aßen wir still. Nachdem aber der gröbste Hunger gestillt war, berichteten wir einander vom Tag. Gut, bei mir gab es nicht allzu viel zu erzählen. Besonders die Geschichte mit dem süßen Typen ließ ich aus. Mein Mitbewohner war zwar tolerant, aber trotzdem musste er nicht alles wissen. Er erzählt mir ja netterweise auch nie, wenn er mal wieder ein Mädel toll findet. Außer es ist was Ernsteres. Dann kommt er schon zu mir und ich höre mir seine Sorgen an. Ich erzählte also nur wenig. Dafür redete Phill umso mehr.
„Also der Professor … nee. Sowas Langweiliges. Und nach jedem zweiten Wort macht er ‚ähhh‘. Es ist irgendwie unmöglich, ihm auch nur eine viertel Stunde lang zuzuhören. Und dann noch unsere Nachbarin. Die saß heute früh auf dem Balkon … Hast du schon mal ein Schwein mit Lockenwicklern gesehen? Ach so: Heute hat Simon angerufen.“ „Hmm? Simon? Müsste ich den kennen?“, unterbrach ich den Wortschwall. „Nee. Simon ist ein alter Freund von mir. Leider haben wir nur mal hin und wieder Kontakt, da er irgendwie immer unterwegs ist. Naja auf jeden Fall zieht er hierher. Irgendwo um die Ecke ist seine neue Wohnung.“ „Aha. Wie schön, dann seht ihr euch vielleicht jetzt mal öfters.“ „Fände ich schön. Aber ich kenn‘ ihn. Er hat immer was zu tun und reist in der Gegend herum. Naja am Freitag zieht er her.“ Es entstand eine eigenartige kurze Pause. Irgendwie war mir das nicht geheuer. Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass das noch nicht alles war.
Ich schaute Phill an. „Phillipp? Ist noch was?“ Er wurde rot. „Hmmm …brauch …und dann habe … Hilfe …“, nuschelte er so vor sich hin. „Was willst du von mir? Wenn du so in deinen Bart brummelst, dann kann ich gar nix verstehen.“, sagte ich. „Naja Simon kennt hier niemanden weiter. Seine anderen Freunde haben am Freitag auch keine Zeit zu helfen. Naja und da habe ich mich angeboten. Und ich hab‘ gesagt, dass ich da ‘nen Mitbewohner habe, der vielleicht auch helfen kann. Das wäre echt super von dir, wenn du da helfen könntest. Ich bin wahrscheinlich keine große Hilfe beim Schleppen von Möbeln. Aber du kannst ja ziemlich zupacken.“ Irgendwie hatte mich also mein Gefühl nicht getrügt. Der große starke Samuel sollte also mal wieder ran und einem Freund aus der Patsche helfen.
„Ich habe Freitag nix weiter vor. Ist also kein Problem. Außerdem wohnt er ja um die Ecke, wie du sagst.“, meinte ich. „Oh toll! Ich wusste doch, dass du mich nicht hängen lässt! Ich ruf‘ dann gleich mal Simon an und sag‘ ihm, dass du dabei bist.“, freute sich Phill. Er sprang auf und lies mich mit dem dreckigen Geschirr zurück. Zum Glück besitzen wir einen Geschirrspüler. Ich räumte also die Küche allein auf und zog mich dann in mein Zimmer zurück. Keine fünf Minuten später klopfte Phill an meine Tür. „Komm rein.“, rief ich. Phillipp öffnete die Tür und kam in mein Zimmer. „Aaaaalso: Simon freut sich total, dass wir ihm helfen. Und deswegen auch schon mal ein ganz großes Danke im Voraus. Wir sollen am Freitag 15:00 Uhr bei ihm sein. Er steht dann schon da.“ „Ok. Alles klar. Hoffentlich hat er nicht allzu viele Möbel und schwere Kisten im Gepäck“, meinte ich. „Nein, das glaub‘ ich nicht. Er wohnt ja schließlich erst mal nur für ein halbes Jahr hier. Da wird er sich schon ein bisschen einschränken mit dem, was er hierher mitnimmt.
Und so standen wir am Freitag pünktlich um drei vor Simons neuer WG. Phill zog sein Handy aus der Hosentasche und rief seinen Freund an. Kurze Zeit später hörten wir das Geräusch eines Menschen, der eilig Treppen herunter rennt. Ich stand an die Hauswand gelehnt da. Die Tür hatte ich nicht im Blick, da der Eingang des Hauses ein Stück in das Gebäude hinein versetzt liegt. Also konnte ich zunächst diesen Simon nicht sehen. Doch dann trat er um die Ecke und mich traf fast der Schlag. Zwei wunderschöne große grün-blaue Augen leuchteten mir entgegen. Der Mund mit den tollen Knutsche-Lippen war zu einem Lächeln verzogen und der längere dunkelblonde Pony hing ihm in sein wunderschönes Gesicht. Er war ungefähr so groß wie ich; naja gut, etwa zehn Zentimeter kleiner. Seine Statur entsprach nicht dem gängigen muskelbepackten Ideal. Aber für mich war er einfach nur eines: Perfekt.
Ich konnte kaum richtig denken und musste mir ein Grinsen verkneifen. Hoffentlich merkte er nicht, dass ich ihn mit Herzchenaugen anstarrte. Er gab mir höflich die Hand und meinte: „Hi, ich bin Simon.“ Seine Hand fühlte sich warm und trocken an. Am liebsten hätte ich gar nicht mehr losgelassen aber ich riss mich zusammen. „Hi, ich bin Sam. Eigentlich Samuel aber alle nennen mich Sam.“ „Ich finde das voll toll von dir, dass du mir einfach so hilfst.“ „Is‘ doch kein Ding. Phill hat mir erklärt, dass du dich in einer personellen Notlage befindest. Naja und ich hatte eh nix Besseres vor.“ ‚Oh du Lügner‘, schoss es mir durch den Schädel. ‚Natürlich hast du was Besseres vor, als Kisten und Möbel zu schleppen! Du bist doch kein Packesel. Aber für diesen Schnuckel würdest du auch noch ganz andere Sachen machen‘, schoss es mir durch mein Gehirn. Zum Glück blieb mir das Kopfkino erspart, denn Simon führte uns zu dem Transporter, mit dem er seine Sachen hergefahren hatte.
„Da, das ist alles, was ich mitgenommen habe. So viel ist das ja nicht. Das müssten wir bestimmt schnell schaffen. Und wenn alles klappt, dann kann ich heute Nacht schon hier schlafen“, sagte Simon ganz optimistisch. Ich schaute in den Laderaum und konnte nur seine Worte bestätigen. Ich sah Teile eines Bettes, eine Kommode, vier oder fünf Umzugskartons, eine große Matratze und ein langes Paket. ‚Viel hat der echt nicht mitgenommen. Der hat bestimmt noch ein Zimmer zu Hause bei Mutti.‘ „Jo, dann lass uns mal anfangen“, meinte ich. Simon kletterte in den Wagen und gab Phill und mir jeweils einen Karton in die Arme. Dann nahm er selbst einen, kam aus dem Auto raus, schloss die Tür und verriegelte den Transporter.
Phill und ich liefen ihm den Weg in seine Wohnung hinterher. Dabei hatte ich einen guten Blick auf seinen Allerwertesten. ‚Hmmm …schön rund und knackig. Oh man, sieht der geil aus … Pfui … hör sofort auf, so was zu denken! Der Typ ist hetero! Das ist nix für dich, da gibt’s am Ende bloß wieder Tränen und ein gebrochenes Herz. Außerdem ist er für dich tabu – er is’n guter Freund von Phill!‘, dachte ich.
Oben angekommen, schaute ich mir den Flur der Wohnung erst mal genau an. Und das, was ich sah, begeisterte mich nicht wirklich. Die Auslegware war ziemlich fleckig und das gelbe Sofa machte auch einen besprenkelten Eindruck. Anscheinend war jemandem da ein Missgeschick mit Tomatensoße passiert. Ich zog die Luft ein. Puh … das roch absolut nicht nach Veilchen. Ich würde es eher als eine Mischung aus alten Klamotten, Bratenfett, Klo und nicht gelüftete Wohnung beschreiben. Simon ging geradewegs auf eine Tür zu und verschwand im dahinterliegenden Zimmer. Phill und ich folgten ihm. Hätten wir es mal lieber gelassen.
Das Zimmer sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen gebrauchte Klamotten herum und aus dem offenen Wäschepuff lachte mich eine nicht mehr ganz saubere Unterhose an. Die Auslegware war hier ebenfalls fleckig. Die Fenster waren fast schon blind vor Dreck. Auch standen noch einige Möbel herum. ‚Ach du heilige Sch … Ist das widerlich! Bäh … und dann … oh mein Gott. Hier liegt ja noch ‘n Schlüppi rum. Oh man … Irgendwie sieht das aber gar nicht danach aus, dass hier bald jemand neues einzieht. Wie will denn Simon heute Nacht hier schlafen? Sein Vormieter schafft es doch niemals, innerhalb weniger Stunden den Raum hier leerzuräumen und wieder in einen bewohnbaren Zustand zu bringen.‘ Meine Gedanken kreisten um Simon und den Zustand des Zimmers. Nein, heute Nacht konnte er keinesfalls hier schlafen.
Nachdem wir die Kartons in eine halbwegs freie Ecke des Raumes gestellt hatten, lief ich schnell wieder nach unten. In diesem Muff wollte ich es nicht länger als nötig aushalten. Simon und Phill kamen zügig hinter mir her. Wir holten die nächsten Kisten aus dem Auto. Simon setzte sich wieder in Bewegung. Bevor jedoch Phill ihm folgen konnte, hielt ich ihn zurück. „Phill, dir ist doch auch klar, dass Simon da heute Nacht nicht schlafen kann. Hast du gesehen, wie dreckig und eklig das ganze Ding ist?“ „Klar. Und deswegen wollte ich dich eigentlich fragen, ob Simon heute bei uns übernachten kann. Aber wenn du mich schon so fragst, dann hast du wohl selbst daran gedacht“, meinte Phill. „Zwei Dumme, ein Gedanke“, lachte ich. „Na dann. Wenn wir hier fertig sind, dann kannst du ihm ja die frohe Botschaft verkünden.“
Wir ackerten noch ungefähr eine Stunde, dann war das Auto leer. Ich will hier nicht groß um Mitleid heischen aber mir taten noch Tage später die Arme weh. Wie kann ein einfacher zweitüriger Schrank, der noch nicht mal zusammen gebaut ist, so viel wiegen und so unhandlich sein?
Jedenfalls hatten wir es dann irgendwann endlich geschafft und Simons Besitz war in diesem … Raum … untergebracht. Phill fragte ihn dann: „Sag mal, wo willst’n du eigentlich heute Nacht schlafen? Da oben geht ja wohl schlecht. Müsste der Typ nicht eigentlich das Zimmer schon geräumt haben?“ „Ja, eigentlich müsste er schon raus sein. Aber die anderen Leute in der WG haben mich schon vorgewarnt, dass er wohl ziemlich verpeilt ist. Naja irgendwo wird es hier ja wohl ein Hostel geben“, meinte Simon mit einem Lächeln im Gesicht. Er schien sich wirklich keine Sorgen zu machen. „Sam und ich haben vorhin schon mal darüber gesprochen und wenn du willst, dann kannst du auch gerne bei uns übernachten. Wir haben in der Küche ein Schlafsofa. Da kannst du erst mal gerne drauf schlafen und musst nicht in ein Hostel gehen.“
Simons Augen wurden groß. „Nee, das kann ich doch nicht einfach so annehmen. Das ist doch echt nicht nötig, dass ich euch noch mehr Arbeit mache, als ihr bisher schon mit mir hattet.“ „Nu quatsch mal nicht doof rum. Das ist doch für uns kein Ding, dass du ein zwei Nächte bei uns schläfst. Hier kannst du jedenfalls nicht pennen. Und ein Hostel wird auf die Dauer auch nicht gerade angenehm sein. Außerdem kostet das auch wieder Geld“, meinte Phill. Simon setzte an, etwas zu erwidern aber ich würgte das Ganze einfach ab: „Also, du kommst jetzt einfach mit zu uns. Keine Widerrede, nicht nach dieser ganzen Schinderei.“ Simon lachte: „Ok. Alles klar, dann beuge ich mich mal meinem Schicksal, bevor mich der Zorn der Rachegöttin trifft.“ Er sah mir bei diesem Satz direkt in die Augen.
Irgendwie wusste ich nicht, wie ich die ganze Situation bewerten sollte. Auf der einen Seite half ich einem ‚Freund‘ aber auf der anderen Seite wusste ich, dass die nächsten Tage für mich eine Qual werden würden. Da hatte ich diese Sahneschnitte direkt vor meiner Nase, aber ich konnte doch nicht so einfach darüber herfallen. Phill würde mich lynchen, wenn ich einen Freund von ihm angraben würde, der außerdem hetero ist. Phill hatte mir nämlich davon berichtet, dass Simon eine Freundin hätte. Außerdem kam zu diesen Überlegungen wieder meine verdammte Schüchternheit hinzu. Simon einfach wie einen normalen Kumpel behandeln, ja, das sollte für mich kein Problem darstellen. Mich aber ein bisschen an ihn heran zu machen, nein, das war unmöglich.
In unserer Wohnung angekommen, pflanzten wir drei uns erst mal in die Küche. Simon stellte seinen großen Rucksack, in den er schnell ein paar Klamotten, Waschzeug und ein Handtuch gestopft hatte, in eine Ecke des Raumes. Bei einer heißen Tasse Kaffee erzählten wir ein bisschen aus unserem Leben. Smalltalk eben. Als es dann gegen 19:00 Uhr ging, fragte ich Phillipp und Simon, ob sie denn nicht langsam Hunger hätten. „Ja, doch. Ein bisschen Hunger hätte ich schon“, meinte Simon. „Ein bisschen? Ich hab‘ Hunger wie ein Wolf! Haben wir eigentlich noch was Gescheites im Kühlschrank, was wir ganz schnell kochen können?“, versetzte Phill. „Naja, wir haben noch ein paar Eier und Milch. Mehl ist auch noch da und auch noch Apfelmus. Ich könnte also Eierkuchen machen“, meinte ich. „Das wäre toll. Die habe ich schon lange nicht mehr gegessen“, sagte Simon. „Na dann will ich mal loslegen. Deckt ihr schon mal in der Zwischenzeit den Tisch.“
Nach dem Essen konnten wir drei kaum noch ‚Piep‘ sagen, da wir wirklich Unmengen von Eierkuchen verdrückt hatten. Phill fläzte sich auf dem Sofa und Simon und ich reckten uns auf den Stühlen. „Also, ich brauch jetzt noch ein bisschen Bewegung. Das war echt viel zu viel, was ich da in mich hineingeschoben habe“, japste ich. „Na was willst du denn machen?“, fragte Phill. „Es ist zwar schon nach neun, aber ‘ne Runde im Park würde ich gern noch spazieren gehen. Habt ihr Lust mitzukommen?“ „Och, gegen so ein kleines bisschen Bewegung hätte ich auch nix einzuwenden. Aber sollen wir nicht hier vorher noch aufräumen?“, meinte Simon und schaute mich mit seinen großen Augen an. „Na, das ist ja schnell erledigt. Das dreckige Geschirr stellen wir in den Geschirrspüler und fertig. Wir dürfen bloß nicht vergessen hier noch zu lüften. Schließlich musst du heute Nacht noch hier schlafen“, sagte Phill an Simon gewandt. „Na dann mal los“, meinte ich.
Eine viertel Stunde später verließen wir das Haus und latschten langsam in Richtung Park. Die Straßenlaternen erhellten den ansonsten ziemlich düsteren späten Abend. Obwohl spätes Frühjahr, war es doch etwas frisch, so dass wir Jacken angezogen hatten. Der Himmel war bedeckt und der Mond leuchtete nur schwach durch den Wolkendunst. Nach zehn Minuten waren wir am Anfang des Parks angelangt. „Welchen Weg sollen wir jetzt gehen?“, fragte Simon. Zwei standen uns zur Wahl. Eigentlich unterschieden sie sich nicht sonderlich hinsichtlich der Richtung. Der eine lief jedoch genau neben der Straße entlang, die den Park begrenzte. Der andere umrundete den Park und war zur Straßenseite hin mit Bäumen begrenzt, so dass auch der Straßenlärm nur gedämpft zu hören war. Aber um diese Uhrzeit fuhren sowieso kaum Autos dort entlang, so dass wir die nächtliche Ruhe und Schönheit des Parks genießen konnten. Phill meinte: „Lasst uns mal den inneren Weg nehmen.“ „Alles klar“, sagte Simon. Ich nickte nur. Simon lief zwischen Phill und mir. So zogen wir los.
Wir waren nur wenige Schritte gelaufen, als es in den Baumwipfeln über uns raschelte und eine Fledermaus aus dem Blätterdach hervorbrach. Sie flog über unsere Köpfe hinweg, direkt in den Nebel hinein, der links von uns über die Wiese waberte. Wir blieben stehen und schauten dem Tier hinterher. Nachdem sie in die Nähe der Bäume gekommen war, die die Wiese auf der anderen Seite begrenzten, war sie unseren Blicken entschwunden. „Oh man. Die hat mich jetzt aber doch ein bisschen erschreckt“, sagte Simon. „Hmmm … guckt euch doch mal an, wie der Mond durch den Nebel aussieht. Die Bäume da hinten sind auch kaum zu sehen. Was für eine Suppe!“ Dieser Ausruf kam von keinem anderen als Phill, der mit großen Augen die Umgebung anschaute. „Mir fällt dazu ein passendes Gedicht von Anette von Droste-Hülshoff ein: Der Knabe im Moor“, sagte ich.
„Oh schaurig ist‘s übers Moor zu gehn, /Wenn es wimmelt vom Heiderauche, /Sich wie Phantome die Dünste drehn /Und die Ranke häkelt am Strauche, /Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, /Wenn aus der Spalte es zischt und singt, /O schaurig ist‘s übers Moor zu gehn, /Wenn das Röhricht knistert im Hauche!“*, fiel mir Simon ins Wort. Ich schaute ihn an und er blickte mir direkt in die Augen.
Für einen kurzen Moment hielt die Welt für mich an. Kein Blinzeln, kein Atemzug und keine andere Bewegung zerstörte diesen Moment. Ich versank tief in den grün-blauen Gewässern meines Gegenübers und konnte für diesen einen Augenblick auf den Grund seiner Seele schauen.
Simon wisperte: „Ja, daran habe ich auch gerade gedacht.“ „Zwei Doofe, ein Gedanke“, flüsterte ich. Wir grinsten uns noch kurz an. Dann wurde ich rot und musste mich ganz schnell von Simon abwenden. Ich senkte meinen Blick auf den Weg zu unseren Füßen. Mein Herz schlug in schnellem Takt und durch meine Eingeweide flatterten Schmetterlinge. ‚Oh man. Wieso muss der auch noch so toll sein. Es reicht doch schon, dass er gut aussieht‘, dachte ich. Da spürte ich einen kurzen Moment lang etwas Warmes an meinem Handrücken. Ich sah hin und bemerkte, dass sich Simons Hand in nächster Nähe zu meiner befand. ‚Hat er jetzt etwa meinen Handrücken gestreichelt? Oder hab‘ ich schon Halluzinationen und werde langsam bekloppt?‘ Meine Gedanken überschlugen sich förmlich.
Wir drei setzten unseren Weg fort. Phillipp hatte, wie es schien, von unserem kleinen Zwischenfall nichts mitbekommen, denn er schwafelte fröhlich vor sich hin. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn meine Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, ob die Berührung und der Blick vorhin nur in meinem Kopf stattgefunden hatten, oder ob sie Realität waren. Simon lachte über die Geschichte, die Phill gerade von sich gegeben hatte. Inzwischen befanden wir uns mitten im Nebel. Kalt und zugleich feucht umschloss er uns. Die Kleidung wurde langsam klamm und Phill meinte, dass er frieren würde. Also sagte ich: „Na dann lasst uns mal wieder heim gehen. Ich hatte genug Bewegung und frische Luft. Außerdem hast du Recht, Phill. Es wird wirklich langsam ein bisschen frisch.“
„Der große Sam friert?“, schmunzelte Simon. „Naja, ich friere nicht wirklich. Aber ein bisschen frisch ist es trotzdem“, stellte ich richtig. „Na dann ist es ok. Dann muss ich dir ja wohl nicht meine Jacke geben“, meinte Simon und zwinkerte mich an. Darauf konnte ich erst mal nix erwidern. Ich war einfach sprachlos. Ich blinzelte verwirrt und mein Mund klappte auf und zu, ohne dass ich einen Ton von mir gab. So was hatte ich nun wirklich nicht erwartet, auch wenn es nur als Scherz gemeint war. Und ein Scherz musste das zweifellos gewesen sein. Kein Hetero würde so einen Spruch in so einer Situation ernst meinen. Phill hatte es jedenfalls so aufgefasst und lachte lauthals los: „Na klar. Und was kommt als Nächstes? Händchenhalten? Nee nee, Jungens. Lasst uns mal Dampf machen, damit wir bald nach Hause kommen. Ich friere nämlich wirklich und außerdem bin ich hundemüde.“ „Jo, zu Befehl, Chef!“, alberte Simon herum. Ich räusperte mich kurz und meinte dann: „Wie wär’s denn dann zu Hause mit einer schönen heißen Schokolade? Das wärmt uns wieder auf.“ „Au jaaaaa!“, riefen meine Begleiter einstimmig und hocherfreut. Dann machten wir uns auf den Rückweg.
In unsrer Wohnung angekommen setzte ich als erstes die Milch für die heiße Schokolade auf. Nachdem das Getränk fertig war, pflanzten wir uns in die Küche und quatschten noch ein bisschen. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es schon auf Mitternacht zuging. Ich streckte mich: „Mein Gott, ist das spät. Ich werde mich jetzt aber langsam mal hinlegen.“ „Hmmm, das mach‘ ich auch. Gibst du bitte Simon Bettzeugs?“, gähnte Phill. „Klar, ich such dir alles zusammen, dann müssen wir ja noch das Sofa ausklappen und beziehen“, sagte ich an Simon gewandt. „Wenn ihr das macht, dann kann ich ja in der Zwischenzeit ins Bad.“, grinste uns Phill an. „Jo, mach‘ das mal. Wir schaffen das hier schon allein“, sagte Simon.
Also holte ich für Simon das Benötigte aus meinem Zimmer (zum Glück habe ich immer ein paar Bettdecken, Kopfkissen und die nötige Bettwäsche da – es könnte ja Besuch über Nacht bleiben) und bezog mit ihm das Sofa in der Küche. Dann warteten wir, dass Phill das Bad freigeben würde. „Willst du dann zuerst ins Bad? Du siehst unheimlich müde aus“, sagte ich zu Simon. „Ja, sehr gerne!“, erwiderte er mit einem dankbaren Lächeln.
Also verschwand er, nachdem Phill rauskam, im Badezimmer. Phill wünschte mir und Simon eine gute Nacht und ging in seinen Raum. Ich setzte mich in mein Zimmer und fing an, in einem Buch zu lesen. Die Tür war nur angelehnt, so dass ich hören konnte, was sich im Flur abspielte. Nach etwa 15 Minuten hörte ich Schritte. Es klopfte an meiner Tür und ich sagte: „Komm rein.“ Die Tür öffnete sich und im Rahmen stand ein bis auf die Boxershorts nackter Simon. Das Wasser tropfte aus seinen Haaren und rann über seinen Körper. Ich musterte ihn und musste schlucken. Der Anblick, den ich ihm bot, muss wieder einmal sagenhaft gewesen sein: halb auf dem Bett liegend, halb sitzend mit einem Buch, was langsam sich von allein schließt, der Mund offen und die Augen weit aufgerissen, dabei den gierigen Blick nicht wirklich unterdrückend.
Dann räusperte ich mich und versuchte krampfhaft meinen Blick zu seinem Gesicht zu lenken, was mir auch endlich gelang. Er grinste und seine Augen blitzten mich frech an. Der Typ hatte das alles mitbekommen und schien die Situation echt zu genießen! „Du kannst ins Bad. Ich bin fertig“, sagte Simon. Er strich sich über die Brustmuskeln um scheinbar das Wasser wegzuwischen. Dabei musterte er mich jedoch. Ich schluckte und sagte mit krächzender Stimme: „Ja, alles klar. Danke.“ Dann drehte ich mich schnell weg und suchte meine Schlafsachen zusammen. „Na dann gute Nacht und Danke nochmal für alles“, meinte Simon. „Ja, ist doch kein Ding, das mach‘ ich … ähhhhh … machen wir doch gerne. Dir auch eine gute Nacht“, meinte ich halb über die Schulter gewandt zu ihm.
„Jo, dann bis Morgen. Ich werde mich jetzt hinhauen. Aber erst mal werde ich noch mit meiner Freundin telefonieren.“, meinte Simon. Diese Worte versetzten mir einen Stich ins Herz. Tja, Simon hatte eine Freundin. Und die liebte er wahrscheinlich sehr. Zum Glück hatte ich ihm meinen Rücken zugewandt. Sonst hätte Simon gesehen, wie sehr mich seine Worte verletzt hatten. Ich riss mich jedoch zusammen und antwortete mit einer, wie ich hoffte, möglichst festen Stimme: „Ja, mach das. Na dann, bis morgen.“ Danach ging er in die Küche. Ich huschte ins Bad und machte mich für die Nacht fertig. Dabei kreisten meine Gedanken um Simon. Hatte er echt … Ja, was denn eigentlich? Geflirtet? Oder hatte ich da mal wieder was hineininterpretiert, was gar nicht da war? Hatte ich mich getäuscht? Dafür sprach, dass er eine Freundin hatte. War ich wieder einmal so doof gewesen und hatte mich in einen Mann verguckt, bei dem nicht mal der Hauch einer Chance bestand, dass es ihm ähnlich ging? Mit solchen Gedanken ging ich zu Bett. In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht.
Am nächsten Morgen wurde ich gegen 8:00 Uhr wach. Ich schlich über den Flur, um mich im Bad herzurichten. Dabei dachte ich über den vergangenen Tag nach. ‚Du bist so ein Vollidiot‘, schimpfte ich mich in Gedanken. ‚Es ist doch klar, dass so jemand wie Simon vergeben ist und nix von dir will! Warum hörst du nicht endlich damit auf, ständig darauf zu hoffen, dass du jemanden abkriegst. Sieh lieber zu, dass du dein Leben auf die Reihe kriegst und die Bachelorarbeit ordentlich bestehst! Ach man … das ganze Grübeln über die Sache hat doch keinen Sinn.‘ Ich spritzte mir eine ordentliche Ladung kalten Wassers ins Gesicht, um mich wieder in die Realität zurückzuholen.
Dann zog ich mich an und wartete, bis die anderen, zumindest Simon, aufgestanden waren. Lange musste ich mich nicht gedulden, denn schon eine halbe Stunde später hörte ich die Küchentür. Ich wartete, bis ich diese erneut wahrnahm. Dann ging ich in die Küche. Dort saß Simon auf dem schon wieder zusammengebauten Sofa und las in einem Buch. Mein Morgengruß wurde von ihm freundlich erwidert. Dazu schenkte er mir ein breites Lächeln. „Was trinkst du denn zum Frühstück? Kaffee? Tee? Kakao?“, fragte ich ihn. „Kaffee wäre super!“, antwortete Simon. „Warte, ich helfe dir beim Tischdecken.“ Zusammen richteten wir ein schönes Frühstück her. Dabei redeten wir wenig, lächelten uns aber immer wieder zwischendurch an. Als wir fertig waren, kam Phillipp in die Küche geschlurft. „‘n Morgen allerseits. Oh cool. Ihr habt schon den Tisch gedeckt. Das ist ja ein Service. Könnte ich eigentlich jeden Tag so haben.“ Für diese frechen Worte knuffte ich Phill in die Seite. „He, ich sag‘ doch schon gar nix mehr“, lachte er.
Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall verlief die Mahlzeit recht ruhig. Die erste Zeit redeten wir wenig und fütterten lieber unsere knurrenden Mägen. Dann fragte ich Simon: „Und? Was steht denn heute alles so auf dem Plan?“ „Naja ich werde dann erst mal meinen Vormieter anrufen und fragen, wann er denn gedenkt seinen Krempel komplett aus dem Zimmer zu räumen. Eigentlich war ja abgemacht, dass ich gestern hätte rein können“, meinte er. „Wenn dem nicht so ist, dann kannst du natürlich auch heute Nacht wieder hier schlafen.“, sagte ich mit einem Blick zu Phill, der zustimmend nickte. „Das ist voll toll von euch beiden. Man, da muss ich mich dann aber gehörig revanchieren. Ihr seid super!“, freute sich Simon und grinste Phill und mich an.
Nach dem Frühstück versuchte Simon seinen Vormieter zu erreichen. Nach ein paar Versuchen schaffte er es tatsächlich diese Schlafmütze ans Telefon zu bekommen. Phill und ich zogen uns in unsere Zimmer zurück. Nach etwa 15 Minuten klopfte es an meiner Tür. „Komm rein“, rief ich. Die Tür ging auf und Simon betrat mein Zimmer. Ich saß gerade am Schreibtisch und bearbeitete einen der Texte, die ich mir vor ein paar Tagen aus der Bibliothek mitgebracht hatte. „Kann ich kurz mit dir reden?“, fragte Simon. „Klar, was gibt’s denn?“, stellte ich eine Gegenfrage. „Ich brauch mal grade jemanden, bei dem ich mich auskotzen kann“, sagte Simon. Er sah ganz geknickt aus. Ich wies mit einer Hand auf mein Bett und er ließ sich darauf fallen. ‚Hmmm … und wieso kommst du dann zu mir und gehst nicht zu Phill? Wir kennen uns gerade erst seit gestern und nur einen Raum weiter sitzt ein Mensch, den du schon seit Jahren kennst‘, dachte ich. Sein Anblick ließ mich alle meine Vorbehalte vergessen. Vor mir saß ein Mensch, zugegeben, ein Mensch, in den ich mich verknallt hatte, der ein offenes Ohr brauchte.
„Und? Was hast du auf dem Herzen?“, fragte ich Simon. „Also, ich habe doch gerade mit meinem Vormieter telefoniert“, fing er an zu berichten. „Und der meinte gerade, dass er wohl noch ein paar Tage braucht, um das Zimmer zu entleeren und wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen.“ An dieser Stelle riss ich die Augen weit auf und zog die Augenbrauen nach oben. Ich hatte gestern schon so ein ungutes Gefühl gehabt, als ich das Zimmer gesehen, vielmehr gerochen hatte. „Oh man. Ich hatte eigentlich gedacht, dass er das bereits erledigt hat. Ich meine: Immerhin zahle ich seit heute Miete! Eigentlich müsste ich das Geld für die Zeit die er braucht von dem Typen zurückfordern … Jedenfalls hatte ich eigentlich gedacht, dass der ganze Umzug einfacher werden würde. Und jetzt hänge ich erst mal da. Na ganz toll!“ „Du kannst ja erst mal hier bleiben. Vielleicht braucht der Typ auch nicht so lange. Hat er irgendwas gesagt, wie viele Tage er noch braucht?“, meinte ich. „Naja, er sprach von drei bis vier Tagen. Keine Ahnung, was der so lange noch macht. Aber danke noch mal, dass ihr mich bei euch wohnen lasst. Auch wenn es jetzt wohl ein wenig länger wird, als zuerst gedacht“, sagte Simon und schaute mir in die Augen. Und was machte ich? Ich verlor mich wieder in diesen wunderschönen grün-blauen Gewässern. Wahrscheinlich verzierte ein leicht debiles Grinsen mein Gesicht. Toll, ganz toll. ‚Kannst du dich denn nicht ein Mal zusammenreißen? Musst du immer so offensichtlich zeigen, dass dir jemand gefällt?‘, rief ich mich innerlich zur Räson. Ich räusperte mich und schaute schnell aus dem Fenster. Eine leichte Röte kroch in mein Gesicht.
„Hej, schau mal. Kein Wölkchen am Himmel. Das müsste man ja eigentlich ausnutzen.“, versuchte ich abzulenken. Ja, ich weiß. Ich bin immer total subtil. „Und was willst du heute machen?“, fragte Simon. „Hmmm … Wenn du durch den Park, in dem wir gestern waren, durchgehst und dann am Schloss vorbei und über die Straße, dann kannst du an dem Flüsschen dort immer weiter Richtung Nordosten laufen. Da kommst du dann durch einen weiteren Park und an einem weiteren Schloss vorbei. Wenn du dann immer noch ein Stück den Weg dort langläufst, dann landest du letztendlich bei einem Baggersee.“ „Und was willst du dort?“ Simon blickte mich skeptisch an. „Naja, ich habe da an ein kleines Picknick gedacht“, meinte ich. „Picknick? Oh toll! Sowas find‘ ich echt schön“, schwärmte Simon. „Willst du mitkommen?“ „Aber klar doch!“, freute er sich. Seine Augen blitzten vor Vergnügen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich in diesem Moment. Simon strahlte mich an. Er schien sich richtig zu freuen. Ob nun über das Picknick oder darüber, dass er mit mir etwas unternehmen würde, konnte ich nicht einschätzen. ‚Oh man … ein Picknick mit Simon. O weh … in was hab‘ ich mich denn da wieder hineingeritten? Was soll ich denn allein mit Simon am See? Ich mein‘ …da fallen mir schon ein paar Sachen ein, aber der Typ ist hetero! Außerdem hat er eine Freundin. Na vielleicht kommt ja Phillipp mit. Dann sieht die ganze Sache schon wieder anders aus‘, dachte ich. „Soll ich mal Phill fragen, ob er mitkommen will?“, wurden meine Gedanken von Simon unterbrochen.
Bumms! Und schon fand ich mich auf dem Boden der Tatsachen wieder. Irgendwie hatte ich ja gehofft und gedacht, dass Simon nur mit mir allein an den See gehen wollte. Aber dem schien nicht so zu sein. „Klar!“, meinte ich bloß und versuchte zu grinsen, was mir aber irgendwie nicht richtig gelingen wollte. Simon sprang sofort auf um Phill zu fragen. Nach ein paar Minuten stand er wieder vor mir. „Alles klar. Phill kommt mit“, strahlte er mich an. Auf der einen Seite war ich erleichtert. Auf der anderen Seite schwer enttäuscht. Ich hatte eigentlich vermutet, eher vergeblich gehofft, dass Simon den Tag nur mit mir verbringen wollte. Ich hatte mich mal wieder, trotz meiner eigenen Zurechtweisungen, der Illusion hingegeben, dass mich ein Typ interessant finden könnte.
Ich schob diese düsteren Gedanken bei Seite und sagte: „Schön. Na dann will ich mal ein paar Sachen zusammenpacken.“ „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Simon. „Naja, ich wollte ‘nen Salat und ein paar belegte Semmeln mitnehmen. Du kannst mir ja helfen, das ganze Zeugs anzurichten.“ „Alles klar. Ich helfe dir doch gerne“, strahlte Simon und zwinkerte mir zu allem Überfluss noch zu. ‚Weiß der eigentlich, was er mir gerade antut? Hat der Typ keine Ahnung davon, wie er auf mich wirkt? Der muss das doch mitbekommen haben, dass ich voll auf ihn abfahre. Subtil ist wirklich was anderes. Wenn ich da an letzten Abend denke … oh mein Gott.‘
Nach einer halben Stunde waren wir dann endlich soweit. Ich hatte den Rucksack mit den Brötchen und dem Salat auf dem Rücken. Phill trug zwei große Thermoskannen mit Kaffee und Simon hatte eine große Decke und das nötige Besteck und Geschirr in seinem Rucksack. So bepackt, zogen wir los. Wir kamen gut voran. Auf der gesamten Strecke zum See begegneten wir fast keinen Menschen. Wir quatschen die ganze Zeit über belanglose Dinge und alberten herum. Nach guten 45 Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Der See lag vor uns, wie ein glänzendes blau-grünes Tuch, umrandet von einigen saftig-grünen Bäumen und Büschen. Kleine Wellen waren zu sehen und an der einen Stelle schwammen ein paar Enten auf dem Wasser. „Man. Der Weg hat sich echt gelohnt. Das sieht hier voll toll aus. Wenn es noch ein bisschen wärmer wäre, dann könnten wir ja baden gehen!“, meinte Simon. Ich grinste.
Zum einen musste ich daran denken, wie es wohl wäre, mit Simon hier zu baden. Zum anderen freute ich mich darüber, dass ihm dieses Plätzchen gefiel. Tja, eine Großstadt muss nicht immer nur grau und dreckig sein!
Wir ließen uns auf der grünen Wiese, die neben dem See lag, im Schatten von ein paar Apfelbäumen nieder. Kaum ein Mensch hatte sich an diesem Tag hierher verirrt. Die Sonne schien sehr kräftig, sodass es auch im Schatten angenehm warm war. Wir packten die mitgebrachten Semmeln und den Salat aus, sowie den Kaffee und ließen es uns schmecken. Als unser Hunger gestillt war und wir die restlichen Sachen und das Geschirr wieder in den Rucksäcken verstaut hatten, meinte Phill: „Und jetzt ein kleines Mittagsschläfchen!“ Und schon hatte er sich ausgestreckt und die Augen geschlossen. „Au ja, das is‘ jetzt genau das Richtige.“ Simon schloss sich Phill an und machte sich neben ihm lang. Er befand sich genau zwischen Phill und mir. Ich schloss mich den beiden an und legte mich auch hin. Jedoch konnte und wollte ich nicht einschlafen. Ich finde, dass Mittagsschläfchen eher matschig machen. Hinterher ist man immer viel müder als vorher!
Keine fünf Minuten später atmete Phill bereits tief und regelmäßig. Er war also schon ins Land der Träume abgetaucht. Simon hatte zwar die Augen geschlossen, aber ich merkte, dass er noch nicht eingeschlafen war. Ich schaute in den Himmel und beobachtete die Wolken, die nur sehr langsam vorbeizogen. Dabei verlor ich mich ein wenig in meinen Gedanken, die fast ausschließlich um Simon kreisten.
Ich zuckte kurz zusammen, als ich spürte, wie mich etwas berührte. Kleine Stromstöße durchzuckten mich. Als ich meinen Kopf ein Stückchen angehoben hatte, sah ich, dass Simon im Schlaf meinen Arm streichelte. Schlief er wirklich oder war er doch wach? Ich grübelte ein bisschen und wagte es zuerst nicht mich zu bewegen. Dann drehte ich doch meinen Kopf zu Simon um. Dieser hatte sich mir zugewendet. Er schlief. Seine Augen waren geschlossen und er atmete tief und gleichmäßig. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Hand hatte inzwischen meinen Arm verlassen und suchte sich einen Weg auf meine Brust, wo sie schließlich liegen blieb. Zusätzlich robbte Simon, wohl unbewusst, näher an mich heran und schmiegte sich an meinen Körper. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Diese Berührung war für mich auf der einen Seite wunderschön, denn der Mensch, in den ich mich verknallt hatte, kuschelte mit mir, auch wenn das wahrscheinlich nur aus Versehen geschah. Auf der anderen Seite musste ich mich wirklich ernsthaft zusammenreißen, um nicht einen Kollaps zu bekommen. Mir wurde erst heiß und dann wieder kalt. Schweiß brach auf meiner Stirn aus und mein Mund wurde ganz trocken. Jetzt stieg mir auch noch Simons toller Duft in die Nase. Ich war nahe daran, vollkommen durchzudrehen. In meinem Bauch erhob sich eine Horde kleiner Schmetterlinge und flatterte aufgeregt hin und her.
Ich atmete tief ein und genoss seine Berührung. Ich schloss die Augen und schmiegte mich ebenfalls an Simon. Egal war jetzt, was die anderen dachten. Egal war auch, dass Simon sich wohl nur aus Versehen an mich schmiegte. Ich beschloss einfach diesen Moment zu genießen. Meine freie Hand legte ich auf die von Simon. Ich streichelte sie und spielte ein bisschen mit seinen Fingern. Das hatte zur Folge, dass Simon im Schlaf unwirsch brummelte. ‚Oh man, ist das süß.‘ Ich musste grinsen. Plötzlich bemerkte ich, dass sich seine Hand wieder bewegte. Er griff ganz sacht nach meiner Hand und unsere Finger verschränkten sich. Durch meinen Körper jagten Stromstöße und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten noch wilder durcheinander. Ich genoss dieses Gefühl. Wir lagen ein paar Minuten so da. Ruhig atmete Simon mir ins Ohr.
Doch dann drehte er sich wieder auf den Rücken und die Verbindung unserer Hände brach genauso sanft, wie sie zustande gekommen war. ‚He, was ist denn jetzt los! Bleib gefälligst hier und kuschel noch ein bisschen mit mir!‘, schimpfte ich in Gedanken. Simon würde sich bestimmt nach dem Aufwachen an nichts mehr erinnern können. Schade, aber ich wollte ihm auf keinen Fall sagen, dass er mit mir geschmust hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das so toll finden würde.
Trotzdem hatte ich den Augenblick in vollen Zügen genossen. Ich lag noch ungefähr zehn Minuten da. Meine Arme hatte ich hinter meinem Kopf verschränkt und auf meinem Gesicht war ein grenzdebiles Grinsen zu sehen. Dann merkte ich wie Phillipp und auch Simon langsam aufwachten. Ich drehte mich auf die Seite und blickte in Simons Augen. Dieser Blick ging mir durch und durch. Seine wunderschönen Augen glitzerten mich an. „Na? Gut geschlafen?“ „Ja. Ich hatte einen sehr schönen Traum“, sagte er. „Na dann, schieß mal los“, meinte ich. „Nö, sonst geht mein Traum nicht in Erfüllung“, grinste mich Simon ganz frech an. Ich grinste zurück und zog die Augenbrauen nach oben. „Aha, na dann behalt‘ ihn mal für dich“, sagte ich. Ich musste ziemlich stark den Drang unterdrücken Simons Gesicht zu streicheln und mit meinen Fingern über seine Nase zu fahren. Für einen kleinen Moment blieb die Welt stehen. Alles war für mich perfekt. Keine trüben Gedanken verdunkelten diesen Augenblick. Ich schaute Simon in die Augen und verlor mich erneut in dieser grün-blauen Tiefe. Ja, ich hatte mich bis zur Schwachsinnigkeit in diesen wundervollen Mann verliebt. Es gibt ein wunderbares Wort, um das zu beschreiben, was ich zu diesem Zeitpunkt fühlte – Herzorgasmus.
Und dann war dieser perfekte Moment auch schon wieder vorbei und die Welt nahm langsam ihre ewige Bewegung wieder auf. Phillipp gähnte und fragte nach der Uhrzeit. Es war bereits nach drei. „Oh man. Sind wir also doch schon so lange hier. Wie wäre es denn, wenn wir uns mal langsam auf den Rückweg machen würden?“, fragte mein Mitbewohner. „Hast du heute noch was vor?“, fragte Simon. „Ja, ein paar Freunde haben mich heute Abend eingeladen. Wenn ihr mögt, dann könnt ihr ja gerne mitkommen“, erwiderte Phill. „Klar, das klingt nicht schlecht. Ich würde sehr gerne mitkommen“, meinte Simon. „Dann geht ihr beiden mal. Ich werde mich heute Abend wieder über die Texte für meine Bachelorarbeit hermachen“, sagte ich. „Och schade. Aber wenn du noch was heute machen musst …“ Simon sah mich mit einem leicht enttäuschten Gesichtsausdruck an.
‚Oh man. Kann dieser Kerl nicht einfach mal sagen, dass er was von mir will? Ich meine, wenn es denn so sein sollte und ich mir nicht wieder was einbilde! Aber dieses Grinsen gerade eben wieder – da muss doch irgendwas sein. O bitte, bitte. Lass ihn etwas für mich empfinden. Aber nicht nur Freundschaft. Das wäre echt Scheiße‘, dachte ich in dem Moment, als wir drei uns erhoben, die Sachen zusammenpackten und uns wieder auf den Heimweg machten.
Die restlichen Stunden bis Phillipp und Simon aufbrechen würden, verbrachten wir drei auf dem Balkon und quatschten. Irgendwie wurde es mit Simon nie langweilig. Ich meine, mit Phill kann ich auch immer viel quatschen. Aber so mit Simon und Phill im Doppelpack rumzublödeln, war noch eine Spur besser. Außerdem, wenn man in jemanden verliebt ist, dann will man doch demjenigen auch nahe sein, oder? Gegen 19:00 Uhr machten die beiden sich langsam zum Aufbruch bereit. Eine Stunde später schon hatte ich die gesamte Wohnung für mich alleine. Eigentlich hatte ich gar keine Lust mich mit den Texten für meine Bachelorarbeit auseinanderzusetzen.
Aber irgendwie schaffte ich es dennoch, mich aufzuraffen und ein paar Texte durchzuarbeiten. Ich muss gestehen, dass es mir zeitweise sehr schwer fiel, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab und verweilten bei Simon. Ich ging im Kopf immer wieder das Erlebte durch - seine Worte, seine Blicke und seine Berührungen. Konnte es sein, dass er auch mehr für mich empfand? Dem gegenüber stand die Tatsache, dass er eine Freundin hatte. Außerdem war es wirklich möglich, ja geradezu wahrscheinlich, dass ich wieder etwas hineininterpretierte, was eigentlich gar nicht da war. Tja, so war es mir schon häufig mit irgendwelchen Kerlen passiert, in die ich mich verguckt hatte. Gegen Mitternacht hatte ich dann auch genug und ging zu Bett, nachdem ich mich im Bad für die Nacht fertig gemacht hatte.
Am nächsten Morgen wachte ich erst gegen 10:00 Uhr auf. Ich schlich in den Flur, denn ich wollte Simon nicht wecken, der ja wahrscheinlich noch in der Küche schlief. Trotzdem: ich musste aufs Klo. Ich schaute durch die Glastür in die Küche und sah, dass er sich noch im Bett räkelte. Ich musste schmunzeln. Wahrscheinlich waren sie erst vor sieben oder acht Stunden wieder hier gelandet. Dann betrat ich das Badezimmer und erledigte meine tägliche Morgentoilette.
Nachdem ich den Raum verlassen hatte, schaute ich nochmal durch die Glastür in die Küche. Simon war aufgestanden und saß nun, bereits angezogen, auf einem Stuhl am Tisch. Er hatte sein Handy am Ohr und schien aufgeregt hineinzusprechen. Ich ging wieder in mein Zimmer und legte mich, nachdem ich mich angezogen hatte, noch einmal aufs Bett. Nach zehn Minuten hörte ich Schritte auf dem Flur und jemanden im Bad verschwinden. Ich stand auf und verließ mein Zimmer. Vielleicht war es ja Simon gewesen. Dann könnte ich ja in die Küche gehen und frühstücken. Allmählich bekam ich nämlich Hunger.
Die Küche war leer. Also konnte ich schon mal anfangen das Frühstück vorzubereiten. Ich hatte gerade die Kaffeemaschine eingeschaltet, als Simon die Küche betrat. Er strahlte mich nach seinem Morgengruß an. „Was’n los? Du siehst so glücklich aus?“, fragte ich und lächelte ihn an. „Ich habe gerade mit meinem Vormieter gesprochen. Und weißte was? Ich kann heute endlich in mein Zimmer ziehen!“ „Das ist ja voll toll.“, freute ich mich für Simon. „Ich kann dann gleich nach dem Frühstück in mein Zimmer und meine Möbel aufbauen“, sagte er. „Na dann lass uns mal schnell den Tisch decken. Vielleicht kommt Phill auch gleich noch, dann können wir ja wieder zusammen frühstücken.“
Wir waren gerade damit fertig geworden, den Tisch zu decken, als ein total verpennter Phillipp auftauchte. „‘n Morgen“, gähnte er und bekam dabei seine Augen fast nicht auf. Er setzte sich zu uns an den Tisch und wir begannen mit dem Frühstück. Viele Worte wurden dabei nicht gewechselt. Phill war zu müde und Simon und ich hingen jeweils unseren eigenen Gedanken nach. Simon klärte Phill darüber auf, dass er nun doch schon heute in sein WG-Zimmer einziehen konnte. Ich schwieg.
Auf der einen Seite freute ich mich für Simon, dass er nun endlich in seine WG einziehen konnte. Außerdem war er so auch aus meinem direkten Umfeld erst einmal raus. Ich hätte ihn also nicht mehr so direkt vor meiner Nase und könnte so meine Gefühle für ihn erst einmal sortieren. Der Zustand, in dem ich mich im Moment befand, war einfach nicht gut für mich. Ich konnte mich kaum noch auf meine eigentliche Arbeit konzentrieren und dachte fast nur noch über Simon nach. Auf der anderen Seite jedoch würde ich ihn garantiert vermissen. Sein Lächeln, sein frecher Blick und sein Lachen würden mir fehlen. Wenn man verliebt ist, dann will man schließlich dem anderen sehr nahe sein. Zumindest in den meisten Fällen.
‚Schluss mit der ewigen Nachdenkerei!‘, schimpfte ich mit mir selbst. ‚Freu dich doch für Simon. Außerdem ist er nicht aus der Welt. Er wohnt doch nur ein paar Straßen weiter. Und außerdem ist es wahrscheinlich besser so. Er ist aus deinem direkten Umfeld raus, du musst ihn nicht ständig sehen und kannst vielleicht die ganze Sache zumindest ein bisschen neutraler bewerten. Ist eh besser, wenn du etwas Abstand zwischen euch bringst. Sonst tust du dir nur wieder weh. Simon hat ja ‘ne Freundin!‘
Ich war so sehr in Gedanken, dass ich wohl erst sehr spät bemerkte, dass mich Simon und Phill anschauten. „Hallo, Samuel. Bist du noch da?“, fragte Phill. „Ja, äh. Hast du mich was gefragt? Entschuldige, ich war gerade in Gedanken“, meinte ich leicht irritiert. „Ich habe dich gefragt, ob du mir eventuell beim Aufbau von meinen Möbeln helfen könntest. Phill hat heute leider schon was vor.“, sagte Simon. „Ja, klar. Ich hab‘ Zeit“, sagte ich. Mein Verstand meldete sich natürlich erst nachdem ich ihm die Hilfe zugesichert hatte zu Wort. ‚Wie war das doch gleich mit Abstand zwischen euch bringen?‘ Ich und meine große Klappe! „Hey cool! Danke!“, strahlte mich Simon an. Ich schluckte und nickte nur.
Nach dem Frühstück brachen wir noch nicht gleich auf, sondern ließen uns Zeit. Als wir losgingen, war es kurz nach 15:00 Uhr. Die Strecke von unsrer WG zu der von Simon hatten wir in wenigen Minuten hinter uns gebracht. Und nun standen wir vor der Tür zum Zimmer des Grauens. Wir schauten uns an und dachten wohl das Gleiche. Als Simon die Tür aufstieß hielten wir unwillkürlich die Luft an. Vorsichtig lugten wir in den Raum. Ich erwartete eklige Flecken auf dem Boden und herumliegenden Müll.
Wir wurden jedoch positiv überrascht. Langsam stieß ich die Luft aus meinen Lungen und atmete ein. Hmmmm … da roch nichts muffig oder eklig. Wir traten in den Raum. Er war bis auf Simons Sachen leer. Außerdem schien auch jemand geputzt zu haben. Der Teppich war anscheinend ebenfalls gesäubert worden. Keine Flecken waren zu sehen. „Hey, das sieht ja echt gut aus!“, meinte ich. „Ja, das stimmt. Ich bin echt froh, dass ich mich für dieses Zimmer hier entschieden habe. Da waren zwar auch noch ein paar andere tolle Räume, aber in diesen WG’s haben mir die Mitbewohner einfach nicht zugesagt. Ich mag zwar Menschen, die nicht mit der Masse schwimmen. Aber ich brauche ein gewisses Maß an Sauberkeit und Zuverlässigkeit. Naja, beides hat wohl auf meinen Vormieter nicht zugetroffen aber dafür trifft es auf den Rest zu. Vielleicht lernst du sie ja alle irgendwann noch kennen. Im Moment ist ja niemand weiter hier“, erzählte Simon. „Schön, wenn du ein gutes Gefühl hast. Ja, die richtigen Mitbewohner zu finden, ist echt schwer. Hätten Phill und ich uns damals nicht kennengelernt … oh man. Ich würde wahrscheinlich immer noch in meiner ersten WG hocken und total unglücklich sein. Die Typen da waren so … bäh. Das war einfach nur unschön“, sagte ich. Simon lächelte mich an. „Schön dass du und Phill so gut miteinander klarkommt und zusammen wohnt. Sonst hätten wir uns wahrscheinlich auch nicht kennengelernt.“ Wieder lächelte mich Simon so an, dass in meinen Eingeweiden sich ein Pulk Schmetterlinge erhob und wild durcheinander flatterte.
Eine feine Röte kroch in mein Gesicht und ich musste meinen Blick senken. Mein Lächeln spannte sich von einem Ohr zum anderen als ich flüsterte: „Ja, das wäre wirklich schade gewesen, wenn wir uns nicht getroffen hätten.“ Ich schaute von unten verlegen zu Simon hoch, der mich angrinste und mir zuzwinkerte. Mein Herz machte in diesem Moment wahre Freudensprünge. Ja, ich war in diesen Typen total verknallt. Auch wenn es nicht wahrscheinlich sein konnte, dass er ebenso für mich empfand. Trotzdem schaltete sich an dieser Stelle mein Kopfkino ein. Ich stellte mir in diesem Moment vor, wie wir uns näher kämen. Simon würde seinen Arm um mich legen und mich nah an sich heran ziehen. Sein Arm würde meine Taille umfassen und seine Hand auf meinem Po ruhen. Ich würde seinen Herzschlag ganz nah an meinem spüren. Mit der anderen Hand würde er zärtlich meine Wange streicheln. Wir würden uns tief in die Augen blicken und wir würden wissen, was der andere in genau diesem Moment empfindet. Sein Atem würde mein Gesicht streifen und langsam würden sich unsere Münder näher kommen … Ach, Tagträume sind doch was Schönes.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir uns nur anlächelten, meinte Simon: „Na dann lass uns mal loslegen.“ Ich musste wohl etwas verdutzt aus der Wäsche geschaut haben, denn er fügte noch hinzu: „Mit dem Möbelaufbau. Deswegen sind wir ja hier.“ Und Peng, schon schoss mir das Blut in den Kopf. Er hatte mich dabei erwischt, wie ich träumte. ‚Mist, Mist, Mist … das hätte jetzt nicht sein müssen. Scheiße, was denkt er jetzt von mir? Ich steh‘ nur da und glotz‘ ihn an und er hat bestimmt an was ganz anderes gedacht als ich. O Gott, ist das peinlich! Der hat bestimmt voll meine Herzchenaugen mitbekommen …‘, schimpfte ich mit mir. Ich durchquerte schnell den Raum und nahm mir ein Möbelpaket vor. „Na dann, fangen wir mal an.“, sagte ich. Simon folgte mir und zusammen begannen wir mit dem Möbelaufbau.
Wir arbeiteten ungefähr drei Stunden, dann war Simons Zimmer, zumindest möbeltechnisch, eingerichtet. Meiner Meinung nach sah es zwar etwas spartanisch aus, aber sonst gefiel es mir ganz gut. Simon strahlte, als er sich umsah. „Oh man. Sieht richtig gut aus. War zwar viel Arbeit, aber das Ergebnis entschädigt für alles. Jetzt muss ich mich nur noch ein bisschen einrichten. Aber das mach ich so nach und nach.“ Dann trafen mich Simons Augen. „Hey man, danke! Ohne dich wäre ich nie so schnell fertig geworden. Dafür muss ich mich noch bei dir revanchieren! Und natürlich auch bei Phill. Immerhin habt ihr mich einfach so bei euch für zwei Nächte aufgenommen.“ „Und wir hätten dich auch noch länger bei uns pennen lassen, wenn es nötig gewesen wäre. Ist doch alles kein Ding, ich helfe gerne“, meinte ich an Simon gewandt. Ich lächelte ihn an und freute mich mit ihm.
Dann klingelte plötzlich mein Handy. Ich schrak ein wenig zusammen, denn meine Gedanken hatten sich in diesem kurzen Augenblick schon wieder verselbstständigt. Am Telefon war Phill, der wissen wollte, ob Simon Lust hätte heute noch einmal mit uns zu essen. Ich gab die Frage an Simon weiter und dieser bejahte. Phillipp freute sich, wie nicht anders zu erwarten, über die Antwort seines Freundes. Er meinte, dass er schon mal einen Sekt kaltstellen wollte, damit wir auch ordentlich auf Simons neues Zimmer und die letzten schönen Tage anstoßen könnten. Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, machten wir uns auf den Weg zurück zu meinem Mitbewohner.
Es wurde noch ein lustiger Abend. Wir drei kochten zusammen; es gab Eierkuchen mit Apfelmus. Dabei standen wir uns jedoch mehr im Weg rum, als dass wir uns irgendwie behilflich sein konnten. Deswegen verdonnerte ich Phillipp dazu, die Sektflasche zu köpfen und Simon sollte den Tisch decken. Als das Essen endlich auf selbigem stand, stießen wir miteinander an. „Auf deine neue Wohnung und auf die letzten Tage, die echt voll schön waren“, sagte ich. „Ich hoffe nur, dass ich mich nicht so alleine fühlen werde, in meiner neuen WG. Ich hab‘ mich schon so sehr an euch gewöhnt“, erwiderte Simon. „Du kannst jederzeit vorbeikommen, wenn du dich alleine fühlst“, meinte Phill. Ich nickte bekräftigend. Simon sah uns dankbar an. Ich hatte das Gefühl, dass seine tollen Augen einen Moment länger bei mir verweilten als bei Phill.
Wir aßen und quatschten. Bald war die Sektflasche alle und wir köpften einen Wein. Simon erzählte ein wenig von sich: Warum er hierher gezogen war; dass er die Stadt bisher noch nicht so richtig kannte, aber dass das, was er gesehen hatte, ihm bereits sehr gefiel; weshalb er gerade in diese WG ziehen wollte und und und. Phill und ich erzählten ein bisschen aus unserem Leben und schließlich erfuhr ich auch ein paar Anekdoten aus der Zeit, die Phill und Simon miteinander verbracht hatten. Es war echt ein lustiger Abend. Wir lachten viel. Besonders als Phill und Simon erzählten, was sie so alles in ihrer Teenagerzeit angestellt hatten, konnte ich mich nicht mehr halten. Nur leider, wie das so üblich ist, geht die schöne Zeit, die Zeit, die man richtig gelebt hat, viel schneller um, als die, die man nur so vor sich hingelebt hat. Simon meinte also eine weitere Weinflasche später, es war so gegen Mitternacht, dass er nun langsam zu sich in die Wohnung wolle.
„Ich muss jetzt echt los. Oh man … das war schon wieder so ein voll toller Abend. Oi … das werde ich echt vermissen. Ihr beiden seid wirklich die liebsten Menschen, die ich kenne! Das nächste Mal muss ich euch aber einladen. Dann kommt ihr beiden mal zu mir, ja?“ Simon strahlte uns mit seinen tollen Augen an. „Klar! Wir wollen doch sehen, wie du dich so eingelebt hast. Aber schade, dass du schon los musst“, meinte Phill. „Naja, wenn ich noch länger bleibe, dann schlafe ich hier ein. Man … ich bin echt ‘n kleines bisschen betrunken …“ Ich wusste genau wovon Simon da sprach. Mir ging es genauso. Die beiden sahen mich aus kleinen Augenschlitzen an. Eigentlich ein sehr lustiges Bild, da beide mit sehr schönen großen Augen gesegnet waren, aber ich war einfach zu müde um darüber lachen zu können. Ich hatte ziemlich einen im Tee und mir fielen auch langsam die Augen zu. Eigentlich war ich ganz froh, dass ich nun endlich ins Bett gehen konnte. Phill ging es ähnlich. Das konnte ich sehen. Außerdem gähnte er schon seit einer ganzen Weile immer wieder.
Ich stand also auf und fing an, den Tisch abzuräumen. Da wir nicht viel Geschirr benutzt hatten, war ich schon nach wenigen Minuten damit fertig. Phill streckte sich und stand auf. „Leute, ich bin echt fix und alle. Macht es euch was aus, wenn ich jetzt gleich zu Bett gehe?“ „Nee, mach ruhig. Ich lass‘ dann Simon raus. Die Nachbarn werden wieder mal unten die Haustür zugeschlossen haben.“, erwiderte ich. Tja, unsere Nachbarn haben manchmal echt einen Sprung in der Schüssel. Jeden Abend schließen sie die Haustür so gegen 21:00 Uhr ab. Das bedeutet für uns, dass wir jedes Mal, wenn uns unser Besuch verlässt, aus dem zweiten Stock ins Erdgeschoss runter müssen. Eigentlich ist das nicht schlimm. Aber es ist lästig und außerdem ist das Treppenhaus, besonders im Winter, furchtbar kalt.
Phillipp umarmte Simon, der in der Zwischenzeit ebenfalls den Tisch verlassen hatte, noch kurz zum Abschied. Dann verschwand er im Bad. Ich hörte, dass die Dusche anging. Simon drehte sich zu mir und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Dann trat er in den Flur und zog sich seine Jacke und seine Schuhe an. Ich griff mir meinen Schlüssel vom Haken und öffnete die Wohnungstür. Simon trat in das Treppenhaus und ich folgte ihm. Keiner von uns sagte ein Wort.
Unten vor der Haustür angekommen, ließ mich Simon an dieselbe herantreten und aufschließen. Ich richtete mich auf und merkte, dass Simon ganz dicht bei mir stand. Ich schaute in sein Gesicht. Er grinste mich an und ich grinste zurück. Nein, Grinsen ist das falsche Wort. Es war eher ein Anlächeln. „Das war echt eine sehr schöne Zeit mit dir. Du bist so ein lieber Mensch. Du kanntest mich bis vor ein paar Tagen noch gar nicht und trotzdem hast du mich einfach so in deine Wohnung aufgenommen und mir geholfen, hast mir zugehört. So was habe ich noch nie erlebt. Jemanden wie dich habe ich noch nie erlebt. Oh man …“ Bei Simons Worten wurde ich dann doch etwas verlegen. Meine Wangen färbten sich leicht und ich schaute verlegen grinsend zu Boden. „Ach das ist doch kein Problem für mich gewesen.“ Meine Stimme war fast einflüstern. Ich schaute ihn an. Mein Blick traf seine Augen und wieder versank ich in diesen grün-blauen Gewässern. Ein Schmetterlingsschwarm erhob sich langsam in meinem Magen zum sanften Flug.
Langsam streckte Simon seinen Arm aus und mit seiner Hand berührte er meine Wange. Die Berührung war einfach atemberaubend. Kleine Stromstöße durchzuckten meine Haut. Eine wohlige Wärme ging von Simon aus. Ich schloss die Augen und lehnte mich in diese Berührung. So hatte mich schon lange niemand mehr angefasst. Ich roch den Duft der von Simon ausging. Der Pulk von Schmetterlingen in meinem Magen fing plötzlich an, in mir wie wild zu flattern. Meine Haut kribbelte und mein Herz schlug schneller. Dann öffnete ich wieder meine Augen. Simon war näher an mich herangetreten. In seinen Augen war so viel zu sehen, bevor sie allmählich zufielen, während sich sein Gesicht langsam auf meines zubewegte. Ich schloss meine Augen wieder, denn ich wusste was jetzt kam und ich war dazu bereit.
Sanft trafen seine warmen Lippen auf meine. Mein Herz wurde mit einem Schlag ganz ruhig und der Schmetterlingsschwarm schien inmitten seines Fluges erstarrt zu sein. Die Zeit blieb für ein paar Sekunden stehen. Genauso sanft wie der Kuss entstanden war, wurde er wieder von Simon gelöst. Einen Augenblick noch schauten wir uns in die Augen. Dann sagte er ganz leise: „Gute Nacht, mein Herz.“ Ich hauchte ihm „Gute Nacht.“ entgegen und schon war er verschwunden.
Für ein paar Sekunden stand ich ganz starr in der Dunkelheit des Treppenhauses und versuchte zu begreifen, was eben passiert war. ‚Simon hat mich geküsst. O MEIN GOTT! Simon hat mich geküsst. Krass …‘ Ich lehnte mich an die kalte Wand und rutschte an dieser auf den Boden hinunter. Immer noch konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, außer den, dass ich soeben von dem Mann geküsst worden war, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte. Sanft strich ich mit meinen Fingern über meinen Mund, auf dem ich immer noch Simons Lippen spüren konnte. Ich wusste absolut nicht, wie es dazu gekommen war, was Simon dazu getrieben hatte, mich zu küssen. Ich wusste nur eines, nämlich dass ich diesen Augenblick nicht einfach so vorüber gehen lassen durfte.
Ich sprang auf und öffnete hektisch die Tür. Wie viel Zeit war wohl vergangen, nachdem Simon das Haus verlassen hatte? Ich wusste es nicht. Also lief ich einfach blindlings in Richtung von Simons WG. Ich bog in die nächste Straße ein. Jemand ging vor mir – Simon.
Ich rannte auf ihn zu. Nach ein paar Augenblicken blieb er stehen und drehte er sich zu mir um. Er musste mich gehört haben. Ich kam ganz atemlos vor ihm zum Stehen und, die Hände auf den Knien abgestützt, rang ich nach Sauerstoff. „O Gott, was ist denn los? Komm erst mal zu Luft“, sagt er, als ich gleich mit reden ansetzen wollte, jedoch kaum einen Ton herausbrachte, da ich immer noch nach Luft schnappte. Ich versuchte, meinen Herzschlag wieder zu beruhigen und meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
Nach ein paar Augenblicken hatte ich es endlich geschafft. „Und jetzt erklär‘ mir bitte in Ruhe, warum du einfach so, ohne Jacke, mitten in der Nacht hinter mir her rennst“, meinte Simon mit einem Grinsen im Gesicht. „Simon, als du mich vorhin geküsst hast, ist mir klar geworden, dass ich eine solche Chance wohl nie wieder bekomme. Ich hab‘ die ganze Zeit gedacht, dass ich es mir wohl nur einbilde, dass du mit mir flirtest. Und ganz sicher bin ich mir immer noch nicht. Immerhin hast du eine Freundin. Ich meine … wir haben einiges an Alkohol getrunken und da macht man schon mal komische Sachen. Aber wenn ich mich jetzt nicht getraue, dann schaff‘ ich das niemals. Simon, ich habe mich in dich verliebt.“ Simon grinste mich an. „Ich habe niemals gesagt, dass ich eine Freundin habe, mit der ich zusammen bin.“ „Hä? Wie jetzt … aber du hast doch mit ihr telefoniert …“. Jetzt war ich vollends durcheinander. „Ja, ich habe mit einer Freundin gesprochen, meiner besten Freundin. Ich war niemals mit ihr zusammen. Wie sollte ich denn auch. Ich habe mich doch ratz batz in jemanden verliebt.“ Ich schaute Simon leicht irritiert an.
„In dich. Seitdem wir uns das erste Mal gesehen haben, gehst du mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn wir uns ‘n bisschen näher gekommen sind, hatte ich Angst, dass ich mich verraten hätte. Ich hab‘ schon mitbekommen, dass du mich auch ganz anziehend fandest. Aber ob du auch gefühlsmäßig auf der gleichen Welle schwimmst, wusste ich bis gerade eben nicht. Weißt du, ich will nicht schon wieder verletzt werden. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es dir ähnlich wie mir geht.“ Ich machte große Augen. Simon schien genauso wie ich zu fühlen. Er sehnte sich also auch nach einer festen ehrlichen Beziehung. „Simon, ich kenn‘ das Gefühl. Ständig ausgenutzt zu werden tut weh. Zu einer Beziehung gehören für mich immer Ehrlichkeit und Vertrauen. Ich weiß nicht, ob das mit uns was werden kann. Aber wir können es nur herausfinden, wenn wir es miteinander versuchen.“ Die letzten Worte hatte ich fast geflüstert.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich in Simons wunderschöne Augen sah. Darin lag eine tiefe Sehnsucht und auch Liebe. Ja, ich hatte mich vollkommen in diesen Mann verliebt. Langsam hob ich meinen Arm und streichelte seine Wange. Er schmiegte sein Gesicht in meine Hand und schloss dabei die Augen. Ein zufriedener Ausdruck lag auf seinem Antlitz. Er öffnete seine Augen und sah mich liebevoll an. Mit dem anderen Arm umfasste ich seine Taille und zog ihn näher an mich heran. Nur noch Zentimeter trennten uns voneinander.
Mit seinen Armen umschlang Simon meinen Körper und überwand so die Distanz zwischen uns. Sein Atem streifte mein Gesicht. Ich blickte tief in seine Augen. Worte waren jetzt nicht mehr nötig. Langsam kamen sich unsere Lippen näher. Als sie endlich aufeinander stießen, begannen die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder wie wild durcheinander zu flattern. Meine Hand rutschte von Simons Wange in seinen Nacken und zog ihn mehr in den Kuss hinein. Und was tat er? Er ließ sich das gefallen, fing an wohlig zu brummeln und drückte sich noch stärker an mich. Seine Wärme durchflutete nun auch meinen Körper.
Unser Kuss gewann mit der Zeit an Intensität. Simon hatte seinen Mund ein Stück geöffnet und strich mit seiner Zungenspitze über meine Lippen. Ich gewährte ihm Einlass. Er neckte meine Zunge, umrundete sie sanft und schien sie zu streicheln. Ich genoss dieses Gefühl. Dann übernahm ich und drängte seine Zunge in seinen Mund zurück und begann dort die Umgebung zu erforschen. Nach ein paar Minuten ließen wir ganz sachte voneinander ab und hauchten nur noch kleine Küsse auf die Lippen des anderen. Dazu schauten wir uns verliebt an. Simons Gesicht war von einer feinen Röte überzogen und seine Augen glänzten. Mein Herz machte vor Freude und Glück einen kleinen Hüpfer.
Langsam entknoteten wir unsere Körper. Verlegen schaute ich zu Boden. Die Intimität des vergangenen Momentes schien nun irgendwie zwischen uns zu stehen. Ein kalter Wind fegte durch die Straße und mich fröstelte. „O Gott … dir muss ja kalt sein. Du stehst hier schon die ganze Zeit ohne Jacke da.“ Simon machte Anstalten seine Jacke auszuziehen. Er hatte die Hand am Reisverschluss. Ich legte meine darauf. „Ist schon ok. Ich hab’s doch nicht weit bis zu mir.“ Diese kleine Berührung elektrisierte mich erneut und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Ok. Dann komme ich mit zu dir.“ Simon lächelte mich an. Er nahm meine Hand in seine und so liefen wir zu mir nach Hause.
* Droste-Hülshoff, Annette von: Der Knabe im Moor.
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