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Tempus Fugit
Teil 3
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Informationen
- Story: Tempus Fugit
- Autor: Björn
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
In das Licht
Die Angriffe waren noch in der selben Nacht eingestellt worden. Trotz des großen Schmerzes, den die mystische Bevölkerung erlitten hatte, trotz der unglaublichen Verluste, waren alle tief in ihrem Inneren froh, den Krieg beenden zu können. Naithans Worte hatte sie alle berührt. Mehr als einer war bereit zuzugeben, dass die Flamme des Zorns mehr als heiß in ihm gebrannt, ihn geblendet hatte. Naithans Worte waren wie Wasser gewesen, kalt, klar und besänftigend.
Doch nicht alle Wunden waren mit diesen Worten geheilt worden. Paul Abercrombies Stimmungen waren wechselhaft wie nie zuvor. Thomas Craine versuchte alles, um dem Anführer seiner Familie zu helfen, doch er musste sich zudem auch noch um Kathrin Mason kümmern und fühlte sich zwischen seinen beiden Freunden bald hin und her gerissen. Joshua Colani besuchte die drei regelmäßig, hörte ihnen zu und tat alles, um ihnen zu helfen, doch viel konnte der junge Priester nicht tun.
Eine Woche verging. Die Technokratie hätte wohl an ein Wunder geglaubt, wenn sie denn an so etwas überhaupt glauben konnte. Auch in den Nachrichten sprach man nicht mehr über die Serie schrecklicher Unfälle, die San Jose und die umliegenden Städte heimgesucht hatte. Schnelllebig war das Geschäft mit Nachrichten.
Es war Abend. Naithan saß mit Greg zusammen alleine in seinem Zimmer auf dem Bett. Sie saßen sich gegenüber, unterhielten sich über das Basketballspiel, das Greg am Nachmittag mit der Schulmannschaft gewonnen hatte. Es war knapp gewesen. Die gegnerische Mannschaft hatte einige sehr gute Spielzüge durchgezogen. Allein die Teamarbeit hatte ihnen zuletzt noch den Sieg beschert, knapp, aber sie hatten gewonnen. Naithan hatte sich das Spiel natürlich nicht entgehen lassen. Zusammen mit den drei Freunden Travis, Leon und Tyler hatten sie Greg angefeuert und seine Mannschaft bejubelt.
Nach dem Spiel war Greg sehr aufgekratzt und überdreht gewesen. Naithan hatte ihn mit nach Hause genommen, Greg verbrachte seit Zacks Tod kaum Zeit zu Hause. Es war ein wenig wild zugegangen und mehr als einmal hatte Naithan in einer Mischung aus Schmerz und Lust geschrien. Mit hochrotem Kopf und sehr verlegen, ja verschämt, hatte sich Greg anschließend entschuldigt. Naithan hatte daraufhin nur gelacht, sich allerdings gefragt, wie er im nächsten Sportunterricht die Spuren von Gregs Krallen auf seiner Brust würde erklären können, ganz zu schweigen von dem Biss an seinem Hals. Sein Körper fühlte sich an, wie nach einem Zehnkampf. Doch die mystische Kraft, die ihn durchfloss, hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Ein anderer wäre dem Ansturm seines Freundes wohl nicht gewachsen gewesen, nun zumindest ein Mensch nicht.
Greg hatte sich anschließend sehr fürsorglich um ihn gekümmert. Naithan musste sich eingestehen, dass er es genoss, von seinem Freund derart liebevoll umsorgt zu werden. Auch wenn er sich ein klein wenig schuldig fühlte, Gregs schlechtes Gewissen auszunutzen. Doch er sah einfach zu süß aus, wie er Naithan mit seinem verlegenen Blick musterte.
Sie hatten gegessen, ihre Hausaufgaben gemacht. Nun saßen sie, Greg eine Tasse Kaffee, Naithan eine Tasse Tee in der Hand, auf Naithans großem Bett und freuten sich an der Gegenwart des anderen.
»Wie geht es denn jetzt weiter?«, fragte Greg. »Ich meine, wenn sie herausfinden... die Familie... und...«, er sah Naithan an, blickte ihn fest an. »Ich will bei dir bleiben!«
Naithan wurde rot. »Ich... du...«, stammelte er. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles was mir einfällt klingt so... platt!«
Greg lächelte. Naithan stellte seine Tasse auf seinem Nachtisch ab, dann beugte er sich vor, gab Greg einen Kuss. »Ich liebe dich!«
Greg verlor sich in den Augen seines Freundes. Naithan nahm seine Hand. Sie sahen sich stumm an.
»Sagen wir es ihnen doch«, meinte Naithan. »Was sollen sie tun? Es ist unsere Entscheidung, oder nicht?«
Greg nickte, doch er schien nicht überzeugt. »Ja, das schon! Aber ich glaube nicht, dass Joshua oder Celeste es gut finden.«
»Das glaube ich auch nicht!«, antwortete Naithan mit einem unterdrückten Lachen. »Und trotzdem, es ist unsere Entscheidung. Und ich will dich, ich will Travis und Leon und Tyler. Und ich will, dass Joel zu uns gehört! Wir sind eine Familie!«
Greg seufzte. »Ich weiß das!«
Naithan drückte die Hand seines Freundes. »Dann soll es so sein! Ich werde mit Joshua reden!«
»Du?« Joshua sah ihn erstaunt an. »Du hast...?« Einen Moment glaubte Joshua seinen Ohren nicht trauen zu können. Er saß im Wohnzimmer der Familie Maguire, Naithan ihm gegenüber und wollte nicht glauben, was der Junge ihm gerade eröffnet hatte.
»Ja«, erwiderte Naithan schlicht. »Wir haben sie im Andenken an Dad gefeiert!«
»Aber, der Bund des Blutes, ich meine...«, Joshua schüttelte den Kopf. »Der Ritus ist alt!«
»Ich kenne den Ritus seit ich zwölf bin, Joshua! Und ganz sicher werde ich ihn nicht entweihen«, erklärte Naithan fest. »Wir haben den Ritus gemeinsam gefeiert. Travis, Leon, Tyler, Greg und Joel haben mich gebeten! Sie haben mich gebeten, die Position meines Vaters für unsere Familie einzunehmen!«
»Eure Familie?« Joshua starrte ihn an.
»Was ist der Ritus sonst wert, Joshua?«, fragte Naithan ruhig.
Der dunkelhäutige Mann erhob sich, trat an die große Fensterfront und blickte hinaus über die Dächer der Stadt. Naithan konnte sehen, wie schwer es dem jungen Priester fiel, die Worte zu akzeptieren. Schließlich wand sich Joshua Colani um. Er holte tief Luft, stieß sie laut aus, dann lächelte er.
»Fällst du eigentlich immer mit der Tür ins Haus, Naithan?«, fragte er kopfschüttelnd.
Naithan musste unwillkürlich grinsen. Mehrfach hatte ihn seine direkte Art in Schwierigkeiten gebracht.
Joshuas Augen blitzen, als er Naithans Lachen sah. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragte der Priester.
Überrascht sah Naithan ihn an. »Ich trinke eigentlich Tee!«
»Auch gut! Lass uns in die Stadt gehen. Ich brauche ein wenig Zeit. Und du kannst mir Gesellschaft leisten! Immerhin bist du für meine Verwirrung verantwortlich.«
Naithan erhob sich. »Ich sage Greg kurz Bescheid!«
Wenig später saßen Joshua und Naithan in der Straßenbahn und fuhren in die Innenstadt. Sie hätten auch die Untergrundbahn nehmen können, doch Joshua hatte die Straßenbahn angesteuert und Naithan hatte nicht protestiert. Zwanzig Minuten später stiegen sie aus. Joshua hatte ihm während der Fahrt von seinem letzten Klavierkonzert erzählt. Joshua war beruflich Komponist und spielte so hervorragend Klavier, dass er hin und wieder als Solist mit dem Philharmonieorchester in San Francisco auftrat. Seinen Lebensunterhalt verdiente Joshua mit Komponieren. Filmmusik, Werbespots, die verschiedensten Anlässe, Joshua Colani war in der Branche bekannt, seine Musik beliebt.
Sie stiegen in der Nähe der 5th Street aus. Joshua steuerte ein kleines Cafe, nicht weit von der Haltestelle entfernt, an. Es befand sich in einem Jugendstilhaus. Naithan sah sich neugierig um, als sie eintraten. Er kannte das Cafe nicht.
»Celeste hat es mir vor einigen Jahren gezeigt«, erzählte Joshua, während er einen ruhigen Tisch an einer Wand ansteuerte. Es gab große, breite Bänke mit dicken Polstern aus Leder, das schon etwas abgewetzt wirkte. Stühle aus dunklem, warmen Holz mit dicken Ledersitzflächen im Dunkelrot der ledernen Bänke, die Armlehnen schwer. Die Tische aus blank poliertem, schwarzbraunem Holz. Ein purpurroter Teppich bedeckte den Boden. Goldene Kronleuchter hingen von der Decke, matt, nicht blank poliert. Die Lampen schenkten ein warmes, gelbes Licht. Es wirkte ein wenig wie ein später Herbstnachmittag, bei dem das Licht golden scheint und das Land, von der Hitze der Sonne aufgeladen, sich langsamer bewegt, fast ein wenig andächtig.
Der dicke Teppich schluckte die Geräusche. So erschien es Naithan als würde er gleichsam schweben, während er Joshua folgte. Naithan warf seinen kurzen, schwarzen Mantel auf die Bank. Die Stühle waren sehr bequem. Er rutschte ein wenig hin und her, um die angenehmste Position zu finden. Joshua ließ den Kamelhaarmantel über den zweiten Stuhl fallen, setzte sich auf die Bank.
Eine junge Frau kam, um ihnen die Karten zu bringen. Sie lächelte freundlich. Joshua bestellte einen großen Milchkaffee. Naithan ließ einen Blick über die Karte streifen. Mit Überraschung stellte er fest, dass es eine Teekarte gab.
»Einen Assam mit Milch, bitte!« Die Kellnerin nickte höflich und ließ sie allein.
»Als ich Priester der Thunderbirds wurde, da kannte ich Celeste bereits einige Jahre. Dein Vater hatte mich alles gelehrt, was ich seiner Meinung nach wissen musste und sprach für mich. Dennoch, Celeste brauchte einige Zeit, um es zu akzeptieren.« Joshua sah versonnen hinaus auf die Straße, dann sah er Naithan mit seinen dunklen Augen an. »Ich war damals allerdings achtundzwanzig und keine neunzehn.«
»Ist das so wichtig?«, fragte Naithan.
»Es ist nicht nur so, dass du den Riten vorstehst, Naithan...«, Joshua unterbrach sich, als die Kellnerin mit ihrer Bestellung kam. Vor Naithan stellte sie ein kleines, silbernes Tablett mit einer Teetasse, einem kleinen Kännchen, Stövchen, Teesieb mit Tee und einem kleinen Kännchen Milch ab. Joshua erhielt eine große Schale Milchkaffee mit aufgeschäumter Milch. Ein Teller mit kleinen Keksen stellte die Kellnerin zwischen sie, lächelte und verschwand.
Naithan betrachtete das Arrangement vor sich voller Staunen. Niemals hätte er erwartet, den Tee derart serviert zu bekommen. Er ließ das Teesieb in die Kanne sinken, setzte den Deckel wieder auf. Joshua rührte Zucker in den Kaffee, nahm einen Keks und tunkte ihn in den Milchschaum. Ein kleiner Klecks Schaum blieb auf seiner Oberlippe haften. Naithan lächelte. Lasziv leckte Joshua den Milchschaum ab und Naithan wurde rot. Der Priester der Thunderbirds lachte leise.
»Lass dich nicht von mir verunsichern«, Joshua sah ihn ruhig an. »Ich will nur, dass dir klar ist, was auf dich zukommt, Naithan. Ich bin nicht der Priester meiner Familie, weil ich der Schüler deines Vaters war, noch weil die anderen mich erwählt haben. Es war meine Entscheidung und es ist allein deine Entscheidung jetzt.
Wenn du dich wirklich dafür entscheidest, triffst du eine Wahl. Du übernimmst Verantwortung. Kannst du die Geheimnisse behalten, die andere dir anvertrauen? Kannst du ihnen Mut machen, wenn du selber nicht weißt, woher du die Kraft nehmen sollst? Kannst du es nicht nur einmal, sondern immer wieder?« Joshua nahm einen Schluck Kaffee.
»Auch wenn ich nun schon seit vielen Jahren Priester bin...«, Joshua brach ab. Er schien zu überlegen. »Du erinnerst dich an den Tag, als du zu uns kamst, um uns aufzufordern aufzuhören?«
Naithan nickte.
»Es wäre meine Aufgabe gewesen, dies zu tun, Naithan!« Joshua seufzte. »Aber ich habe nicht auf meine innere Stimme gehört. Ich habe mich von den anderen mitreißen lassen, mich meiner Trauer und meinem Zorn hingegeben! Und wahrlich, ich weiß nicht, wie lange ich noch weiter gemacht hätte, wärst du nicht gewesen!«
Er sah Naithan fest an. »Verstehst du? Die anderen benötigten Hilfe, sie hätte mich gebraucht und ich habe nur an mich gedacht!« Joshua senkte den Kopf.
»Aber du hast doch...«, Naithan sah ihn an. »Ich meine, du hast sie überzeugt aufzuhören! Ohne dich... ich hätte es nie geschafft!«
Joshua lächelte. »Doch, das hättest du Naithan!« Er sah ihn an, unergründlich waren seine Augen. Naithan saß ihm fasziniert gegenüber. »Das hättest du...« Joshua nickte. »Ja, ich verstehe...« Unwillkürlich streckte er die Hand aus, über den Tisch. Naithan reichte ihm etwas zögernd seine.
»Wenn es wirklich dein Wunsch und Wille ist, Naithan, dann werde ich dir helfen, so gut ich kann!«
Naithan zögerte einen Moment. »Ich... erzähl mir bitte davon...«
Joshua Colanis Mund umspielte ein Lächeln. »Das werde ich!«
Aus den Schatten treten
Celeste de Alvo war gelinde gesagt schockiert. Vollkommen außer sich hätte es jedoch treffender beschrieben. Es war die Nacht vor der Tagundnachtgleiche, vor Equinox, der Sommersonnenwende. In der kommenden Nacht würden die Kinder des Feuers das große Fest feiern und dieses Jahr hatten sich Freunde und Familie aus Südamerika, wie auch aus anderen Städten der USA, angemeldet. Gemeinsam wollten sie mit ihren Brüdern und Schwestern das Feuerfest begehen.
Traditionell hatten sich die Familien der Kinder des Feuers von San Francisco am Vorabend des großen Festes versammelt, um sich zu besprechen. In der kommenden Nacht würde man feiern, doch der Tag und die Nacht zuvor trafen sich die Familien, um die Lage zu besprechen, offene Fragen zu klären und Rat zu halten.
Zwei Monate waren vergangen seit Zacks Tod. Zwei Monate war die Stadt nunmehr ohne Bischof. Joshua Colani war der einzige Priester in dieser Zeit in San Francisco gewesen. Seine Kollegin Rachel Star hatte mit ihrer Familie, den Wings of Thunderbird, die Aufgabe übernommen, die Technokratie im Auge zu behalten und war daher erst vor einer Woche mit ihrer Familie zurückgekehrt.
Heute Nacht nun hatten sich die Familien im großen Versammlungsraum der Kinder des Feuers eingefunden. Es war ein großer, geräumiger Raum im Keller eines Restaurants, das Joel gehörte, dessen Aufgabe es als Abt des amtierenden Bischofs gewesen war, die Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Die Räume waren groß, hell erleuchtet, mit einem festen Steinfußboden versehen. Es gab eine große Zahl Stühle. Im großen Versammlungsraum standen drei Tische in einer Reihe an der Wand, auf denen Speisen und Getränke aufgebaut waren.
Einundzwanzig Personen hatten sich eingefunden, sämtliche Kinder des Feuers der Stadt. Sie saßen im großen, lockeren Kreis um Joshua Colani herum. Dieser stand, ein wenig außerhalb der Kreismitte und schien völlig ruhig und gelassen. Ganz anderes als die meisten anderen Anwesenden.
William Ramakov, der Anführer der Wings of Thunderbird und Paul Abercrombie diskutierten aufgebracht mit Celeste de Alvo. Sally She-walks-on-water redete heftig auf die Priesterin Rachel Star ein. Neben Joshua Colani saßen Naithan und Greg, sowie ihre drei Freunde. Joel, Naithans Vater, versuchte Troy aus der Familie der Thunderbirds zu beruhigen.
Joshua Colani stand ruhig da und wartete, bis die Erregung abgeklungen war. Er musste lange warten, doch schließlich legte sich der Lärmpegel.
»Das ist absolut nicht das richtige...«, protestierte Celeste laut, doch unter dem sanften Blick von Joshua verstummte sie.
»Ich war noch nicht fertig«, erklärte Joshua ruhig. Die Kinder des Feuers sahen den Priester an.
»Dann lasst Joshua sagen, was er denkt«, sprach Rachel Star ruhig. Sie nickte Joshua, ihrem Kollegen zu.
»Ich freue mich heute Abend, nach langer Abwesenheit, Stacey Hitchcock wieder begrüßen zu dürfen!«, begann Joshua und nickte der brauhaarigen Frau, Mitglied von Tempus Fugit, zu, die sich neben Travis, ihren Sohn gesetzt hatte. »Wie ihr wisst, war sie für den letzten Monat in Mexico, um dort mit Consuelo Iguaran, unserer Erzbischöfin, zu sprechen und ihr zu berichten, was hier geschehen ist!«
Die Anwesenden nickten. Sie hatten Stacey schon vorher begrüßt.
»Stacey hat sich mit Paul und Thomas, sowie Kathrin besprochen. Gemeinsam haben sie sich bereit erklärt, die Aufgabe zu übernehmen, die Technokratie künftig im Auge zu behalten.«
Anerkennende Blicke kamen bei dieser Ankündigung von allen Seiten.
»Als letzte Überlebende der Kinslayer hat Kathrin eingewilligt, die Familie neu zu begründen! Die Kinslayer werden neu erstehen!« Joshua lächelte freudig. »Und ich freue mich sehr, dass ich offiziell nun verkünden kann, dass ich meine Schwester Stacey als Priesterin der Kinslayer willkommen heißen kann!« Joshua reichte Stacey die Hand.
»Mein Mutter!« Travis blieb der Mund offen stehen. Sämtliche Anwesenden brachen daraufhin in Gelächter aus. Selbst Stacey konnte nicht ernst bleiben. Sie musterte ihren Sohn kopfschüttelnd. »So schlimm?«
»Du hättest mir was sagen können!«
»Und mir den Spaß verderben, dein belämmertes Gesicht zu sehen?« Sie lachte und mit ihr die Anwesenden.
Joshua umarmte sie. »Willkommen, meine Schwester!«
»Danke, Bruder!« Stacey lächelte. »Consuelo, unsere Erzbischöfin, hat mich gebeten, die Kinslayer in ihrem Bemühen zu unterstützen. Das will ich gerne tun!«
Die Anwesenden klatschten und johlten.
Stacey ergriff Kathrins Hand und die beiden Frauen umarmten sich. Paul Abercrombie trat zu ihnen, dann Thomas Crain und dann, überraschend, Roger Daltry, ein Freund von Stacey und Paul, der bisher den Wings of Thunderbird angehört hatte.
»Die Familie Kinslayer lebt!«
Joshua Colani lächelte, dann wurde er ernst. »Tempus Fugit!«
»Joshua, das kannst du nicht ernst meinen!« Celeste de Alvo sprang auf. »Du kannst doch nicht... ich meine, es sind Kinder!«
»Sie sind Kinder des Feuers, wie wir selbst Celeste. Es ist ihr Wunsch und ihre Entscheidung!« Joshua Colani sah die Anführerin der Thunderbirds ruhig an.
»Rachel, sag du doch auch was dazu!« Celeste sah die Priesterin an.
Die Angesprochene erhob sich. Sie war eine Tochter der Nacht, doch nur wenig deutete darauf hin. Ihre Hautfarbe war ein wenig blass, ihre Augen schienen ein wenig tiefer zu liegen, doch ansonsten war sie eine junge Frau Ende zwanzig. Sie hinkte ein wenig, als sie zu Naithan trat. Dieser erhob sich. Sie blickte ihm in die Augen, fragend. Naithan erwiderte ihren Blick. Fragend legte Rachel den Kopf zur Seite.
Naithan schien einen Moment zu zögern, schien etwas sagen zu wollen und überlegte es sich anders. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Da lächelte Rachel, ergriff mit beiden Händen die seinen. »Liebe ist Stärke!«, begann sie. Da fiel Joshua Colani ein und ihm folgte Stacey Hitchcock. »Ehre ist Stärke! Treue ist Stärke! Freiheit ist Stärke!« Und sie traten zu Naithan.
»Sei uns willkommen, Bruder!« Und damit umarmten die drei Priesterinnen und Priester Naithan und hießen ihn willkommen.
Stacey Hitchcock lächelte. »Ich bin deine Patin, Naithan. Doch auch ich bin noch nicht lange genug eine Priesterin, als dass ich dir auf deinem Weg, den du nun gehst, eine große Hilfe wäre. Daher will ich dich fragen, wer soll dich auf dieser Reise begleiten?«
Naithan sah Joshua fragend an und dieser nickte, woraufhin Rachel Star lächelte. »Morgen ist die Nacht der Sommersonnenwende! Es soll dann geschehen!«
»Aber ihr könnt doch nicht allen Ernstes ein Kind zum Priester weihen!«, widersprach Celeste heftig.
»Wie Joshua bereits sagte«, entgegnete Rachel. »Es ist die Entscheidung der Familie, wen sie erwählen!«
»Familie?« Hasdrubal, ein ruhiger Alb, der selten etwas sagte, erhob sich. »Ist es denn eine Familie, von der wir sprechen?«
»Ja! Das sind wir!« Greg erhob sich. »Ich kenne die Gesetze und Regeln.« Er trat in die Mitte, vor die Versammelten.
»Ich werde meine Familie schützen, wie es meine Aufgabe ist, die mir meine Familie aufgetragen hat! So sage ich es heute und so soll es beschworen sein!«
»Und ich werde den Tempel unserer Familie aufrecht halten!«, erklärte Joel. »Unser Geist soll ihn erfüllen, unsere Seelen ihre Reinigung finden, unsere Liebe soll uns in ihm verbinden!« Der Vampir trat neben Greg.
»Das heilige Feuer soll unsere Familie erfüllen und ich will es tragen in die Herzen meiner Brüder und Schwestern, die ich liebe!«, sprach Naithan. Er hob die Hände. »Ich will sie aufrichten wenn sie fallen, sie bestärken wenn sie straucheln und ihnen mein Leben anvertrauen, denn sie sind meine Familie!«
Und zu ihnen traten Travis, Leon und Tyler und gemeinsam bildeten sie einen Kreis.
»Von dieser Nacht an - so schwöre ich aus freiem Willen und in tiefer Liebe, vor meinem Priester, meinem Paten, meinen Brüdern und Schwestern - sage ich mich los von allen Verpflichtungen, die ich gegenüber Erschaffer, Magister, Vater und Mutter, Kindern und Kindeskindern hatte. Eine Treuepflicht habe ich nur gegenüber meinem Paten, meiner Familie, meinem Priester, meinen Brüdern und Schwestern, den Kindern des Feuers. Ich schwöre, dass jedes Mitglied meiner Familie für mich wie ein Vater oder eine Mutter, wie ein Bruder oder eine Schwester, wie ein Sohn oder eine Tochter, geschaffen aus einem Blut mit mir, sein soll.
Ich schwöre, dass ich von diesem Tag an den Gesetzen der Kinder des Feuers gehorchen will.
Ich schwöre, dass ich jedem rechtmäßigen Befehl meines Anführers und Priesters gehorchen will. Ich schwöre, meinem Anführer und Priester treu zu dienen, niemals diese aber über die Liebe zum Heiligen Feuer in uns allen zu stellen.
Ich schwöre, dass ich von der heutigen Nacht an den Gebräuchen der Kinder des Feuers und den Traditionen der Familie Tempus Fugit Folge leisten werde, in denen mein Pate mich unterwiesen hat und dass ich an den Riten und Festen, die mich zu einem Teil der Kinder des Feuers und Tempus Fugit machen, teilnehmen werde.
Ich werde immer mein Ehrenwort halten. Wenn ich es breche, möge ich das Vertrauen und den Respekt aller Ehrenwerten auf immer verlieren. Ich will lieber sterben, als unehrenhaft zu handeln. Ich schwöre, dass ich alle Gleichen respektiere und anständig behandle. Ich will sie als meine Brüder und Schwestern lieben und ehren. Ich schwöre, dass keiner meiner Brüder und Schwestern, der den Kindern des Feuers durch Eid, Blut und Glauben angehört, sich vergeblich um Hilfe sich an mich wenden soll. Ich schwöre, dass ich niemals und unter keinen Umständen das Vertrauen, das meine Brüder und Schwestern mir entgegenbringen, missbrauchen werde. Ihre Hilfe, Freundschaft und Liebe werde ich ihnen mit Gleichem vergelten.
Ich schwöre, dass ich keinen meiner Brüder und Schwestern versklaven werde.
Ich schwöre, dass ich lieber sterbe, als die Freiheit, die ich mit der heutigen Nacht erlangt habe, wieder aufzugeben.
Ich schwöre, dass ich von diesem Tag an der Heiligen Flamme mit allem, was ich bin und habe, dienen werde, von ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Ich werde eher mein Leben opfern, als das Licht in uns zu verraten.
Und wenn ich ein Geheimnis der Kinder des Feuers verrate oder meinen Eid breche, dann werde ich mich der Strafe unterwerfen, die meine Brüder und Schwestern über mich verhängen, im Vertrauen auf ihre Gerechtigkeit und Liebe. Und wenn ich das nicht tue, dann möge sich die Hand eines jeden gegen mich erheben. Er soll mich erschlagen dürfen wie ein Tier, meinen Körper zerstören und meine Seele der Gnade des Ewigen Feuers überlassen.«
Nicht einen hatten diese Worte unberührt gelassen. Manchen standen Tränen in den Augen, andere hatten den Kopf gesenkt und sie alle hatten die Worte des Eides gehört, den ein jedes Kind des Feuers sprach, wenn es zu einem Vollmitglied wurde. Worte, die ein jedes Mitglied noch im Schlaf hätte sprechen können.
In einer Geste des Segens hoben die Priester die Arme und alle Anwesenden sprachen gemeinsam die Worte von dem Anbeginn der Kinder des Feuers. Die Worte, die all ihre Brüdern und Schwestern gesprochen hatten, durch die Jahrhunderte, immer und immer wieder, Schwur und Segnung zugleich.
»Liebe ist Stärke! Ehre ist Stärke! Treue ist Stärke! Freiheit ist Stärke!«
Equinox
Viele Jahre feierten die Kinder des Feuers in San Francisco nun schon die Sommersonnenwende im Golden Gate Park, zusammen mit ihren Freunden sowie Brüdern und Schwestern von überall her. Die Magier waren ebenso willkommen, wie die Freien Werwölfe und selbstverständlich waren alle Kinder des Feuers willkommen, die sich der Feier anschließen wollten, gleich woher sie auch kamen. Wie es bereits seit fünfzig Jahren Tradition war, hatte man die große Anlage des Golden Parks gemietet, eines abgeschlossenen Park inmitten des Parks. In diesem Park befand sich der Caern, den die Werwölfe sorgsam hüteten, tief verborgen in einer großen Höhle, die sich während eines Erdbebens aufgetan hatte. In dieser Höhle und vor ihr wurde das Feuerfest gefeiert.
Bereits zwei Wochen vorher hatten die unterschiedlichsten Helfer Holz zusammengetragen und aufgeschichtet, Bänke herbeigeschafft, Laternen in den Bäumen aufgehangen. Es war das große Fest der Kinder des Feuers, das Feuerfest.
Als die Sonne sich senkte und wie ein Feuerball in der Bucht verschwand, da flammte das Feuer hell lodernd auf. Laternen wurden angezündet. Trommeln schlugen, langsam schneller werdend, dumpf und donnernd, lauter und lauter. Andere Musiker fielen ein.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang erschienen die ersten Kinder der Nacht, um sich ihren Familien anzuschließen. Nicht ganz zwei Stunden nach Sonnenuntergang war es, als der letzte Vampir eintraf. Naithan saß mit seinem Vater Joel und seinen Freunden nahe des großen Feuers. Er wippte mit den Füßen im Takt der Musik. Joshua Colani, der Priester der Thunderbirds, schlug voller Enthusiasmus auf eine riesige Trommel ein, deren Donnern die Nacht erfüllte. Seine drei Mitpriester hatten ihn gebeten, die Zeremonie des Feuerfestes zu leiten.
Aus den Augenwinkeln sah Naithan, wie William Ramakov, der Anführer der Wings of Thunderbird, zu Celeste de Alvo eilte und ihr etwas zuflüsterte. Celeste sprang auf und eilte mit ihm davon, in Richtung des Eingangs. Naithan sah ihr stirnrunzelnd nach. Er hoffte, es würde keine unangenehmen Unterbrechungen geben. Das Feuerfest war heilig, doch die Technokratie würde das nicht kümmern.
Greg stieß ihn an, reichte ihm einen Becher Wein. Naithan nahm ihn. Er kassierte einen weiteren Rippenstoß, da er noch immer in die Richtung blickte, in welche Celeste verschwunden war.
»Hey!«, beschwerte er sich. Der Rest ging in einem sehr intensiven Kuss unter. Joel lies ein lautes Lachen hören. Er hatte die Szene belustigt verfolgt.
Eine Bewegung, wie eine Welle, ging durch die Versammelten. Köpfe wandten sich um, Menschen unterbrachen ihre Gespräche, die Trommeln erstarben und die Musik verstummte. Erstaunt erhoben sich die Freunde.
Joshua Colani sah von seiner Trommel auf, überrascht und ein wenig ungehalten. Sein Blick blieb an Celeste hängen, die gefolgt von William drei Fremde ans Feuer geleitete.
Die fragenden Gesichter der ihn Umgebenden machten Naithan klar, dass kaum einer die Fremden, zwei Männer und eine kleine, kräftige Frau, zu kennen schien.
Einer der Männer war Mitte vierzig, wie Naithan schätzte und schien griechischer Abstammung. Er hatte einen fast finsteren Gesichtsausdruck, doch er lächelte, wenn auch nur andeutungsweise. Naithan spürte mehr, als dass er es sah, dass der Mann ein Werwolf sein musste.
Die beiden anderen jedoch gaben ihm ein Rätsel auf. Die junge Frau trug ein feuerrotes Kleid. Ihr schwarzes, langes Haar hatte sie mit zwei Holzkämmen zu einem Knoten festgesteckt. Ihre Augen waren wie schwarze Kohlen. Sie trug eine kleine, schwarze Tasche mit sich und ihre Augen schienen überall zu sein.
Der Mann, Naithan schätzte ihn auf Anfang dreißig, schien ebenfalls spanisches Blut in den Adern zu haben. Er hatte schwarze, leicht lockige Haare, einen kleinen, dünnen und sauber rasierten Bart an Oberlippe und Kinn. Auffällig war eine Narbe auf seiner rechten Wange, die recht dünn war und aussah, wie zwei schmale Schnitte. Er war nicht sehr groß und trug eine schwarze, elegante Hose, schwarze, glänzende Schuhe, dazu ein weites Hemd aus dunkelblauer Seide. Einen Moment lang irritierte Naithan der Blick des Mannes, bis er herausfand warum. Der Fremde hatte blaue Augen, leuchtende, tiefblaue Augen. An den langen Fingern sah Naithan einen Siegelring mit einem blauen Stein. Über der Schulter trug der Fremde einen Rucksack aus Leder.
Ein lautes Krachen war zu hören, als Joel der Metallbecher, aus dem er getrunken hatte, aus der Hand fiel.
»Miguel!«
Der Fremde mit den blauen Augen sah herüber. Offenbar hatte er ein unglaublich gutes Gehör. Ein Lächeln malte sich auf die Züge des Fremden. Er winkte Joel zu.
»Guten Abend, meine Brüder und Schwestern«, sprach er in die Stille, in der nur das Knacken des Feuers zu hören war. »Ich hoffe, meine Begleiter und ich, sind heute Abend hier willkommen?«
Joshua trat von dem Podest herab. Sein Blick wanderte immer wieder zu der kleinen Frau. Er deutete eine unbeholfene Verbeugung an. »Natürlich, meine Brüder und Schwestern!« Mit großen Augen verbeugte er sich vor der kleinen Frau, die ihn mit ihren kohlschwarzen Augen musterte.
»Hallo Joshua, wir haben uns lange nicht gesehen!«
»Du warst viel zu lange nicht hier, Eminenz!«, rief Joel ihr zu.
Die Frau schoss herum. »Und dir haue ich gleich einen Bierkrug über den Kopf, wenn du mich jemals wieder so nennst, Joel!« Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
»Es ist uns eine Ehre, Consuelo!«, begann Joshua, doch die kleine Frau winkte ab.
»Ich bin unter Freunden, Joshua, lass mich lieber dir und euch allen meine Begleiter vorstellen!«
»Wer ist das?«, fragte Naithan leise seinen Vater. Greg und seine Freunde schoben sich unauffällig näher, um die Antwort ebenfalls zu hören.
»Consuelo Iguaran«, gab Joel leise zurück.
»Unsere Erzbischöfin?« Tyler staunte.
»Aus Mexiko?«, fügte Leon staunend hinzu.
»Liebe Freunde, ich habe die große Freude euch meine Begleiter vorzustellen«, sprach Consuelo weithin hörbar. »Dieser finstere Typ hier ist Alexandros, ein Bruder aus Spanien und dieser charmante Kerl hier neben mir«, sie deutete auf den Mann mit den blauen Augen. »Ich freue mich euch alle zu schockieren, indem ich euch Miguel Rodriguez-Oliver vorstelle, den Erzbischof von Iberien!«
Mit einem Lachen verbeugte sich Miguel Rodriguez-Oliver elegant.
»Ich dachte, ...«, der Erzbischof brach ab, lachte leise. »Die Erinnerung!«, erwiderte er, als er die fragenden Gesichter sah. »Wie meinte doch Vidoq, einer unserer Gründerväter, einst bei einem Fest, als ich noch ein junger Novize war: Ich dachte, hier gibt es ein Fest?!«
Die Versammelten starrten ihn an, dann begann Joel zu lachen. »Wohl gesprochen, Wanderer!« Er hob den Becher zu seinen Füßen auf. »Wein her! Gebt dem Mann nur den besten den wir haben, er weiß ihn zu schätzen!«
Die Trommeln begannen wieder zu dröhnen, kurz darauf setzte die Musik wieder ein.
Joshua Colani sprach lebhaft mit den beiden Erzbischöfen, reichte ihnen jeweils einen Becher Wein. Dann sprang er zurück auf das Podest, nahm die beiden großen Trommelstöcke wieder zur Hand. Donnernde Schläge erfüllten die Nacht.
Naithan sah neugierig zwischen Consuelo Iguaran und Miguel Rodriguez-Oliver hin und her.
»Woher kennst du den Erzbischof von Iberien?«, fragte Greg neugierig Joel.
»Von früher«, erklärte Joel. »Er und meine Patin Philippa sind sehr gut befreundet. Bevor ich nach San Francisco kam, lebte ich mit meiner alten Familie, den Angel del Muerte in Barcelona. Dann kam Celeste eines Tages mit diesem jungen Magier aus Irland an...«, er verstummte. Einen Moment lang erfüllte Schmerz sein Gesicht. »Ich glaube, in diesem Moment blieb mein Herz stehen!« Er lächelte wehmütig. »So lernte ich Zack kennen!« Joel nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Miguel war es, der Zacks Vorschlag unterstützte, nach Nordamerika zu kommen!« Joel nickte. »Hat ihn damals einige Mühe gekostet, die anderen Bischöfe von der Idee zu überzeugen. Ist damit ziemlich angeeckt bei Moncada.« Joel grinste. »Aber er weiß, wie er sich durchsetzen kann. Hat fast drei Jahre gedauert, dann hatte er genügend Zustimmung für den Plan.«
Joel lachte. »Bei dem Konklave müssen die Fetzen geflogen sein!«
»Erinnerungen, mein Sohn?«, kam es von der Seite.
Die Freunde sahen auf. Miguel Rodriguez-Oliver stand neben ihnen, einen Becher Wein in der Hand. Er lachte über das ganze Gesicht.
»Ja, Ehrwürdiger Vater!« Joel grinste breit.
Miguel lachte. Er sah Greg an. »Würdest du bitte mal kurz halten?« Er reichte Greg den Becher, dann trat er zu Joel und umarmte ihn. »Viel zu lange, mein Bruder!«, hörten sie ihn murmeln.
Joel erwiderte stumm die Umarmung.
Miguel trat einen Schritt zurück. Er nahm Greg den Becher mit einem dankbaren Nicken ab. Naithan hatte einen Moment lang das Gefühl, dass die Schatten um sie herum seltsam zu wabern schienen.
»Bist du wegen...«, Joel brach ab.
Miguel nickte. »Ich wollte schon früher mal herkommen, doch meine Bischöfe und meine Familie haben jedes Mal den Aufstand geprobt, wenn ich es auch nur vorgeschlagen habe, die USA zu besuchen.« Er sah sich um, nahm den Rucksack von der Schulter. Er öffnete ihn, entfaltete die Decke, die zusammengerollt darauf festgeschnallt gewesen war. Mit einem Schlenker breitete er sie aus, eine Ecke jedoch schlug um. Tyler wollte danach greifen um sie glatt zu ziehen, doch er fuhr erschrocken zurück. Ein kleiner Schattenarm hatte den Zipfel der Decke bereits gepackt und zurechtgezupft. Die Freunde starrten wie gebannt auf die Ecke der Decke.
»Daran gewöhnt ihr euch besser«, erklärte Alexandros mit tiefer, grollender Stimme. »Er macht immer solche Sachen. Ist in seiner Natur. Kann ganz schön erschreckend sein, das könnt ihr glauben!« Mit einem Grinsen ließ der kräftige Grieche sich hinter Miguel auf die Decke plumpsen. »Hat meine Freundin anfangs beinah um den Verstand gebracht!«
Tyler versuchte ein Lächeln. Etwas unheimlich schien es ihm jedoch.
Miguel sah entschuldigend in die Runde. »Gewohnheit, fürchte ich. Kommt, setzt euch. Es ist nicht wunderlicher als das, was Joel hin und wieder anstellt!«
Joel ließ sich neben ihm nieder. »Ein wenig schon. Die Schatten gruseln mich immer wieder. Vor allem, was du damit anstellst!«
Miguel grinste. »Dabei kennst du das beste noch nicht!«
Alexandros stöhnte auf. »Nicht hier, Miguel, bitte!«
Der Erzbischof grinste fast wie ein kleiner Junge. Leon fuhr plötzlich wie von der Tarantel gestochen quietschend auf. Hinter ihm war eine Hand aus einem Schatten aufgetaucht und hatte ihn leicht in den Hals gekniffen. Naithan traute seinen Augen kaum. Aus dem Schatten kam eine Hand, eine echte Hand. Jetzt winkte sie auch noch. Miguel lachte auf.
Die Freunde sahen, dass seine Hand in einem Schatten verschwand und auf unerklärliche Weise hinter Leon aus dem Schatten wieder erschien. Miguel zog die Hand zurück. Die Hand hinter Leon verschwand.
»Er kann das erst seit einigen Jahren!« Alexandros seufzte. »Kann in den Schatten verschwinden und einfach irgendwo anders auftauchen. Die ersten Wochen war es eine Katastrophe. Kaum brach die Nacht an, konnte man keinem Schatten mehr trauen. Aus jedem konnte dieser Verrückte erscheinen, allein um einen zu schocken und dann so zu tun, als wäre er schlicht durch die Tür eingetreten!«
Naithan musste unwillkürlich grinsen. Der Erzbischof schien durchaus Humor zu haben.
»Marcos hat ihm dann erklärt, dass er das gefälligst sein lassen soll.«
»Marcos?«, fragte Travis.
»Der Anführer meiner Familie«, erklärte Miguel.
Alexandros grinste breit. »Ich weiß nicht, was er diesem alten Fossil hier gesagt hat, aber es hörte auf.« Er lachte. »Kann manchmal recht überzeugend sein, das Narbengesicht!« Er sprang auf. »Und jetzt entschuldigt, ich muss mir was zu essen holen!«
»Ich komme mit«, rief Leon.
Die Freunde grinsten. Leon hatte immer Hunger. Nicht, dass die anderen wenig aßen, ein Werwolf hatte meist immer einen gesunden Appetit, aber Leon konnte ständig essen. Zur allgemeinen Belustigung nahm er dabei jedoch nicht ein Gramm zu.
Naithan lehnte sich an Greg, der die Arme um ihn legte. Miguel sah sie mit einem Lächeln an. Er schien einen Moment lang in große Entfernung zu blicken, dann wurden seine Augen wieder klar.
»Altes Fossil, fürwahr!«, brummte er.
»Wie alt seid ihr denn?«, fragte Tyler neugierig.
»Tyler!«, kam es mahnend von Joel.
Miguel winkte ab. »Lass nur, Joel.« Er nahm einen Schluck Wein. »Ich werde dieses Jahr genau vierhundertsiebenundneunzig Jahre alt, im Dezember!«
»Irre!«
Gregs Kommentar brachte alle zum Lachen. Miguel lachte am lautesten.
»Ihr seid also ein Vampir?«
Miguel nickte. »Als ich das letzte Mal in den Spiegel geblickt habe!« Woraufhin Joel laut herausplatze. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder halbwegs gefangen hatte. Lachtränen rannen seine Wangen hinab.
»Was ist jetzt daran so komisch?«, fragte Travis.
Miguel grinste. »Eine Spezialität meines Clans ist es, dass wir in dem Maße unser Spiegelbild nicht mehr im Spiegel sehen können, wie wir Kontrolle über die Schatten erlangen. Und sagen wir es so, es gibt vielleicht eine Handvoll meines Clans, die mich im Schattenspiel übertreffen!«
»Ihr habt kein Spiegelbild?« Naithan sah ihn staunend an.
Miguel schüttelte den Kopf. »Manchmal ziemlich schwierig, vor allem, wenn ich mich mal rasieren will!«
Die Freunde starrten ihn an, dann begann Naithan zu kichern.
»Für einen Erzbischof seid ihr aber ziemlich lustig«, meinte er frech.
Miguel lachte. »Okay, jetzt kennt ihr mich, aber ich euch nicht!« Er sah fragend in die Runde.
Joel lächelte. »Der vorlaute junge Mann ist mein Sohn, Naithan!«
Nun war es an Miguel zu staunen. »Ich hatte keine Ahnung!« Er schüttelte den Kopf. »Zack hat mir nie davon erzählt!« Er lachte erfreut auf.
»Das sind Tyler und Travis.« Joel blickte auf. »Und der Junge hier mit dem Berg Essen auf seinem Teller ist Leon!«
Mit einem hoch beladenen Teller ließ sich Leon zwischen ihnen nieder. Mit sichtlichem Genuss begann er das Essen zu vernichten. Die belustigten Blicke wurden jedoch noch größer, als sie sahen, was Alexandros auf seinem Teller balancierte.
»Und Naithans Freund hier ist Greg - unser Anführer.«
»Anführer?«, fragte Miguel. »Du meinst deiner Familie?«
Joel nickte zustimmend.
»Abt bist du noch, oder?«
Joel nickte zustimmend. »Ja!«
Miguel sah von einem zum anderen. »Priester?« Er seufzte. »Oder habt ihr noch keinen...?«
»Das wäre dann wohl ich«, erwiderte Naithan.
Von Miguel kam keine überraschte Reaktion, mit keiner Regung ließ er erkennen, dass er überrascht wäre oder gar verwundert. Er sah Naithan schlicht an. Seine Augen. Naithan verstand nicht, was mit diesen Augen los war. Mal waren sie klar, konzentriert und man hatte das Gefühl, dass der Mann, der durch sie blickte, mehr wahrnahm, als nur die einfache Umgebung und seinen Gegenüber, dann wurden sie dunkel. Es war, als würde man in einen tiefen Brunnen fallen. Sie wurden unergründlich, schienen in eine Weite zu blicken, eine Entfernung, die man nicht in Meilen bemessen konnte. Diese Augen sahen Naithan an, zugleich schienen sie meilenweit entfernt etwas wahrzunehmen. Es war ein wenig unheimlich.
Miguel lächelte, der Moment ging vorbei. »Ja, ich verstehe!« Er nickte ruhig. »Es ist heute Nacht, nicht wahr?«
Naithan nickte, ein wenig überrascht.
»Dann, mein Bruder, freue ich mich, dass mich mein Weg heute an dieses Feuer geführt hat.« Miguels Augen blitzten. Sein Blick wanderte empor zum Sternenhimmel und dem Mond, der mittlerweile aufgegangen war und hoch am Himmel hing. »Die Nacht schreitet voran, es ist Zeit, mein Bruder!«
Mit diesen Worten zog er seinen Rucksack zu sich heran, erhob sich. Alexandros wischte sich die Finger an einer Serviette sauber, sein Teller war leer. Er nickte den Freunden zu, dann folgte er dem Erzbischof.
Naithan sah ihnen fragend nach. Einen Moment lang fragte er sich, ob er dem Erzbischof folgen sollte. Dann jedoch blieb er sitzen. Greg strich ihm durch die Haare, Naithan lehnte sich an ihn. Er fühlte sich sicher in den Armen seines Freundes.
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