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Sommer in der City - ein Tag im Sommer 2003

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Inhaltsverzeichnis

 

Eigentlich geschrieben als Beitrag zur Nickstories-Sommer-Challenge 2005, aber leider zu kurz geraten.

I

Hot town, summer in the city

Back of my neck getting dirty and gritty

Been down, isn't it a pity

Doesn't seem to be a shadow in the city

All around, people looking half dead

Walking on the sidewalk, hotter than a match head

(Joe Cocker: Summer in the City, Copyright: The Livin' Spoonful)

Sommer. Ich hasse den Sommer. Nein, nicht meinen ehemaligen Klassenkameraden, der so mit Nachnamen heißt. Ich meine die Jahreszeit.

Es ist Anfang August. Jedes Jahr das gleiche Theater. Meine Freunde, meine Arbeitskollegen, meine Nachbarn...

Alle liegen im Juli und August irgendwo am Strand. Lassen sich die Sonne auf den eingeschmierten Bauch scheinen, genießen kühle Drinks am Pool oder bespaßen den quengelnden Nachwuchs in irgendwelchen Themenparks.

Und ich? Irgendwer muss ja der Trottel sein. Während die halbe Stadt frei hat und sich entweder in südlichen Gefilden oder in den Freibädern tummelt, sitze ich im Büro und darf die Kollegen vertreten. Familienväter oder alleinerziehende Mütter, sprich alles, was Kinder im schulpflichtigen Alter hat, darf im Sommer Urlaub nehmen. Meinereiner - ungebunden, kinderlos weil schwul - darf nicht.

Ruhig ist es gerade. Das Telefon steht still, lässt mich glücklicherweise ein paar Minuten verschnaufen. Auch die Kunden und Lieferanten sind im Urlaub. Oder haben bei dieser Hitze auch keine Lust, produktives zu leisten.

36 Grad sagt das Thermometer am Bürofenster, dabei ist noch nicht einmal Mittag. Ob man dem glauben kann, weiß ich nicht. Immerhin sind wir direkt am Fluss und es weht ein stetiger Wind. Aber es fühlt sich definitiv nach 36 Grad an. Das Hemd klebt mir am Körper, mein Schweiß rinnt in Bächen den Rücken herunter. Die überhaupt nicht blaue Donau wälzt sich träge stinkend durch ihr Bett. Gewässer fangen bei großer Hitze an, übel faulig zu riechen.

Aus dem Radio röhrt Joe Cocker. Summer in the City. Na toll! Ausgerechnet das muss das dritte Programm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt jetzt durch den Äther schicken. In meinem Kopf spielt die Getränke-Werbung von vor ein paar Jahren. Ein junger, relativ gut aussehender Mann sitzt am Straßenrand, schwitzt wie ein Schwein. Hmmm.

Können Schweine eigentlich schwitzen?

Egal, wen interessiert's.

Seine Schuhsohlen lösen sich auf dem heißen Asphalt auf, bleiben kleben und ziehen lange schwarze Fäden. Ein eiskaltes Getränk mit von der Flasche perlenden Kondensationstropfen gibt ihm die verdiente Abkühlung.

Ich bekomme bei diesen Gedanken auch Lust auf ein eiskaltes Getränk, schaue in den Kühlschrank und muss feststellen, dass ich den gestern schon komplett geplündert habe. Kein Kaltgetränk mehr drinnen. Mist. Bleibt lauwarmes Leitungswasser. Oder ich mache mir einen Tee. Und da werfe ich dann die letzten Eiswürfel rein.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass mir verdammt heiß ist?

Seit Mitte Mai ist es durchgängig unerträglich heiß und drückend. Keine Abkühlung in Sicht. Schon wochenlang jubeln die Wetterfrösche im Radio über diesen Jahrhundertsommer. Angeblich war es seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor mehr als 150 Jahren nicht so lange so warm. Alles freut sich. Na prima. Mir ist heiß, sonst nichts. Ich will keinen Jahrhundertsommer, ich könnte gut mit einem mittelmäßigen Sommer leben. Temperaturen so um die 25 Grad, ein wenig Wind, halbwegs vernünftige Luftfeuchtigkeit. Vielleicht ab und zu auch mal ein Tag Regenwetter. So zwischendurch, zur Auflockerung. Statt dessen hat es seit Wochen über 30 drückend schwüle Grade...

Meine Augen schweifen durchs Büro. Außer meinem Arbeitsplatz noch drei weitere Schreibtische. Alle derzeit urlaubsbedingt verwaist. Drei Fenster, sperrangelweit offen. Zwei große Ventilatoren, die auf höchster Stufe die stickige Luft verquirlen. Landkarten an den Wänden, die sanft im Strom der Luft flattern, die von den Ventilatoren aufgewirbelt wird. Papierstapel auf den Schreibtischen, deren oberste Blätter ständig zu Boden wehen würden, hätte ich keine Aktenordner oben drauf gelegt. Ein Kalender an der Wand. Das Bild für August zeigt einen Sportwagen mit einem sehr leicht bekleideten Mädchen auf der Motorhaube. Meine lieben Heterokollegen. Ich sag nichts gegen den Kalender. Sie sagen nichts gegen meinen unbekleideten Burschen, der sich als Bildschirmschoner einschaltet, wenn sich am PC zehn Minuten lang nichts tut. Waffenstillstand, Toleranz oder Akzeptanz? Ich weiß es nicht genau, habe aber eigentlich keine Nachteile dadurch erfahren, dass ich in der Firma geoutet bin, weshalb ich Letzteres vermute.

Die Tür steht offen. Irgendwo vom Gang dringt das ratternde Geräusch des großen Nadeldruckers zu mir herein. Ah, der tägliche Rechnungslauf. Mehr Arbeit für heute Nachmittag.

Das Telefon scheppert. Ein externes Gespräch, das erkenne ich am Klingeln. Ich hebe ab, melde mich. Binnen Sekunden klebt der Hörer am Ohr.

Ein Kunde. Das war zu erwarten. Private Anrufe kommen selten über die Telefonzentrale. Eine halbe Ewigkeit hänge ich am Apparat, bis endlich klar wird, was die von mir wollen. Ich wechsle das Telefonohr und klemme mir den Hörer nun zwischen linkes Ohr und Schulter, wische schnell über das jetzt freie rechte Ohr. Ein paar wenige Tastendrücke, die gewünschte Information flackert über den Bildschirm. Hmm. Dem Monitor scheint auch zu heiß zu sein. Oder er wird demnächst den Dienst quittieren. So flatterhaft war das Bild noch nie.

Die Hitze scheint so einigen Leuten das Gehirn zu kochen. Der Typ vorhin hätte mit ein wenig Nachdenken seine Frage selbst beantworten können. Ist doch kein spezielles Fachwissen notwendig. Nur ganz einfache Mathematik. Distanz: gute tausend Kilometer. Maximal 80 erlaubte Kilometer pro Stunde. Maximal zehn erlaubte Stunden Lenkzeit am Tag. Das kann heute noch nicht dort sein, wenn das Zeugs gestern erst bei denen aus dem Werk raus ist. Und deswegen sekiert mich der fünf Minuten lang. Mann. Ich hab keine Lust mehr. Mir ist heiß.

Wenn ich damals nicht das Studium geschmissen hätte, würd ich jetzt nicht hier, sondern in einem vollklimatisierten Büro einer Chefetage sitzen. Oder auch nicht. Hmm. »Lern was Vernünftiges. Werd ja nicht Spediteur«, haben meine Eltern - beides Speditionskaufleute - immer gepredigt. Eigentlich mache ich die Arbeit gerne. Es ist ein sehr abwechslungsreicher Beruf, aber an Tagen wie diesem macht der Job keinen Spaß. Hätt ich doch auf sie gehört.

Noch ein paar Stunden, dann ist endlich Wochenende.

II

Auto fängt an zu kochen

Puls an zu pochen

werde langsam panisch, klitschnaß geschwitzt

es ist nicht zu fassen

solche Automassen

haben die kein zuhause...

(Herbert Grönemeyer: Mambo, 4630 Bochum)

Jedes Jahr aufs Neue schwöre ich mir, dass mein nächstes Auto eine Klimaanlage haben wird, nein, haben muss! Brütende Hitze herrscht in meinem alten schwarzen Audi. Geöffnete Fenster, weit offenes Schiebedach - nichts hilft im Verkehrschaos. Seit fünf Minuten säuselt die Dame vom Radio eine Stauwarnung nach der anderen, meldet einen Unfall nach dem anderen. Geisterfahrer gibt es auch, die Hitze macht unaufmerksam. Urlaubszeit. Freitag nachmittag. Transitland. Rund um die City wälzen sich Blechlawinen auf der seit Jahrzehnten zu klein dimensionierten Stadtautobahn. In Schrittgeschwindigkeit geht es nach Hause.

Bin später aus dem Büro weg gekommen, als eigentlich geplant. Der Verkehr. Alle LKW steckten im Gewühl auf der Tangente und sind erst spät ans Lager gekommen. Naja, für diese Woche ist's geschafft.

Mann ist das warm im Auto. Das Lenkrad ist fast zu heiß zum Anfassen.

Millimeterweise, zumindest kommt mir das so vor, schiebt sich die Kolonne auf die Innenstadt zu. Der Zusatzventilator schaltet sich ein, das Kühlwasser muss die 100-Grad-Marke überschritten haben.

Ich denke an den Urlaub, fange an, vor mich hin zu träumen. Seychellen, Ende September für vierzehn Tage. Mit Carsten, den ich, seit ich in Österreich lebe, nur zwei oder drei Mal im Jahr sehe. Im Januar haben wir das gebucht und freuen uns schon sehr darauf.

Viele Inseln umgeben vom Indischen Ozean, ziemlich dicht am Äquator, auf halbem Weg zwischen Kenia und Indien. Strahlende weiße Sandstrände mit türkisblauem Meer. Schnorcheln oder Tauchen, tausende seltsame, grellbunte Fische knapp unter der Wasseroberfläche. Der Reiseführer verspricht freundliche Einwohner, exotische Vögel und Pflanzen, tropische Früchte, Kokosnüsse in Form eines Hinterteils. Coco de Mer - Zwillingsnüsse, bis zu einem Meter groß, bis zu 20 Kilo schwer; schaut auf den Bildern wirklich so aus wie ein nackter Frauenarsch. Ausflüge mit dem Segelschiff zu benachbarten Inseln. Ein Hotel mit lauter Bungalows nur wenige Meter entfernt vom Strand. Das wird ein schöner entspannender Urlaub werden.

Scheiße, jetzt hab ich den Abzweig zum Schleichweg verpennt. Nun muss ich mich zu Allem auch noch über den Ring quälen. Drei-, teilweise vierspurige Einbahnstraße, flankiert von zwei Straßenbahnlinien und Alleebäumen. Der Ring. Stau rund um die Innere Stadt an ungefähr 18 Stunden am Tag. Und ich mitten drinnen, im Berufsverkehr. Klasse! Gut gemacht!

Das Hemd ist unter dem Sicherheitsgurt klatschnass, die Schwitzflecken werden immer größer. Sogar das Päckchen Zigaretten in der Brusttasche fühlt sich schon feucht an. Das kann ich sicher heute Abend auswringen.

Hab ich schon erwähnt, dass mir diese Hitze gehörig auf den Senkel geht?

Fünf Autolängen geht's vorwärts pro Ampelphase. Ich will nicht mehr. Bei dem Tempo dauert das noch eine gute Stunde, bis ich endlich zu Hause bin. Einkaufen kann ich dann nicht mehr. Ich habe aber eigentlich eh keinen Hunger. Es ist zu heiß für feste Nahrung. Joghurt habe ich sicher noch im Kühlschrank. Brot und Käse müsste auch noch etwas da sein. Mineralwasser und Diätcola kaufe ich eh immer kistenweise.

Der tiefergelegte, prollmäßig verbreiterte, schwarze Golf mit den schwarz getönten Scheiben vor mir raubt mir den letzten Nerv. Wartet beim Losfahren minutenlang, bis zum Vordermann ein großer Abstand aufgerissen ist. Dann donnert er mit brüllendem, sicher verboten lautem Auspuffgedröhn mit Vollgas auf die Ampel zu, nur um sich kurz vor dem Aufprall auf den Wagen vor ihm mit quietschenden Reifen einzubremsen. Tiefer, breiter, Wroooom! So ein Trottel!

Im Radio dreht Herbert Grönemeyer seit Stunden seine Runden, sucht verzweifelt einen Parkplatz, um zu seiner Liebsten zu kommen. Ich kann ihm seinen Frust nachfühlen. Ich hab die Schnauze voll, will auch nur noch nach Hause. Außerdem muss ich dann so langsam mal aufs Klo.

Bald hab ich's dann geschafft. Wenn mich diese Idioten links abbiegen ließen, wäre ich in einer Minute daheim.

Meine Blase drückt schon gewaltig. Gut, die entgegenkommende Straßenbahn hält und lässt ein paar Passagiere aussteigen. Endlich kann ich links um die Ecke. Bei gelb. Egal. Ich muss aufs Klo! Schnell in die Hofeinfahrt. Au Mann braucht das Hoftor wieder lange heute. Immer, wenn man es eilig hat, scheint die Mechanik besonders langsam zu arbeiten. Ab mit dem Wagen in die Tiefgarage und schnell die Treppen rauf nach oben.

Jetzt wollt ich doch glatt mit dem Firmenschlüssel die Wohnungstür aufsperren. Klar, dass das nicht funktioniert. Die Tür ist kaum hinter mir zugefallen, da stehe ich schon vor der Sitzkeramik. Normalerweise setze ich mich hin, heute nicht. Dazu ist das Bedürfnis inzwischen viel zu dringend.

Puh. Geschafft. Erleichtert knöpfe ich die Hose zu.

Der Fernseher läuft, ich flätze mich aufs Sofa und löffele den inzwischen dritten kühlen Joghurt. Eigentlich habe ich keine Lust auf gar nichts. Die Klingeltonwerbung nervt, so langsam kann ich das Gedudel nicht mehr hören. Ich glaub, ich geh dann mal ins Bett.


III

Cool town, evening in the city

Dressing so fine and looking so pretty

Cool cat, looking for a kitty

Gonna look in every corner of the city

(Joe Cocker: Summer in the City, copyright: The Livin' Spoonful)

Scheiß Wetter. Viel zu heiß, viel zu schwül. Kaum kommt man aus der Dusche, ist man schon wieder nass geschwitzt. Die Wetterfrösche versprechen für morgen wieder strahlend blauen Himmel und Rekordtemperaturen knapp unter 40 Grad. Keine Abkühlung in Sicht. Sogar jetzt um 22 Uhr hat es immer noch an die 30 Grad. Kein Wunder, dass ich nicht schlafen kann.

Tom und Günther haben vorhin angerufen. Die beiden wollen noch fortgehen. Filmfest vor dem Rathaus. Auf dem Rathausplatz sind viele kleine Stände mit Essen und Trinken aufgebaut. Die Gastronomen der Stadt bieten dort den ganzen Sommer über für Einheimische und Touristen heimische und fremde Spezialitäten an. Eine große Leinwand ist aufgestellt, auf die, wie jeden Sommer, Konzert-, Opern-, oder Operettenaufzeichnungen projiziert werden. Keine Ahnung, was für heute auf dem Programm steht. Werde mich überraschen lassen. Wir haben uns für 22:30 Uhr dort verabredet.

Ausgehfein hübsch gemacht klettere ich in die Straßenbahn und falle bei dem mir entgegen strömenden Duft tausender verschwitzter Leiber fast rückwärts wieder raus. Der Waggon ist zwar fast leer, aber es steht die Luft. Die die ganze Wagenlänge entlang gekippten Fenster bringen kaum Frischluft in den Zug. Zum Glück muss ich nur ein paar Stationen fahren. Zu Fuß gehen wäre vielleicht angenehmer gewesen, aber bei den Temperaturen ist jeder Schritt ein Schritt zu viel.

Günther und Tom warten schon auf mich bei einem der Futterplätze. Wir begrüßen uns und entscheiden dann, dass wir uns trotz der Hitze etwas zu Essen gönnen wollen. Also machen wir eine Runde um den Platz, um die Lage zu peilen, das Angebot zu sondieren. Essensdüfte strömen von allen Seiten auf uns ein. Wir folgen dem Duft eines nach Indien riechenden Gewürzes und stellen wir uns beim Stand mit dem indischen Essen an.

Jeder eine Schale mit Curryreis auf der Hand wandern wir weiter zum Bierstand. Schnell noch ein frisch gezapftes in die andere Hand, dann suchen wir nach einem freiem Platz an einem der Tische. Zusammengedrängt zwischen Rudeln von Touristen genießen wir das nächtliche Mahl. Zum Glück schaut's schärfer aus, als es dann wirklich ist. Überraschend mild, was ich von indischer Küche nicht erwartet hätte. Gut so. Ein heißes Gericht hätte ich jetzt nicht vertragen.

Langsam findet die Veranstaltung ein Ende. Die Leinwand wird dunkel, die letzten Zuschauer strömen auf den Platz, um sich auch noch vor Mitternacht zu stärken. Ein lauer Wind ist aufgekommen und weht sanft über den Platz. Er trägt weitere Düfte zu uns herüber. Verschwitzte Leiber, altes Fett, verschüttetes Bier. Ein paar Meter entfernt greift ein kleines Mädchen gerade unauffällig einer Frau in die Handtasche, um dann blitzschnell hinter einer der Fressbuden zu verschwinden. Die Taschendiebe werden auch immer jünger, denke ich bei mir, das Mädchen ist vielleicht gerade einmal acht Jahre alt gewesen.

Die Köche und Bedienungen der ersten Gastrostände fangen an zusammenzupacken. Eine ferne Kirche läutet Mitternacht. Das ist dann wohl das Zeichen zum Aufbruch. Es ist immer noch sehr warm, aber nicht mehr ganz so heiß wie vorher. Deshalb entscheiden wir uns für einen Spaziergang und einen Kneipenbummel. Durch den Rathauspark schlendernd beobachten wir die zwielichtigen Gestalten, die dort allabendlich ihr Unwesen treiben.

Nur gefiltert dringt der Lärm von Ring und Rathausplatz durch die Vegetation. Dort drüben auf der Bank sitzen ein paar rauchende Jugendliche. Nackte Füße in klobigen Sportschuhen, kurze weite Sporthosen. Ärmellose, eng anliegende, bunte Shirts, die den muskulösen Oberkörper schön zur Geltung kommen lassen, soweit man das im Halbdunkel erkennen kann. Den Weg entlang schlendert ein Mann, ganz in schwarzes Leder gekleidet. Leder! Bei den Temperaturen! Naja, er wird wohl wissen, was er tut. Aus einem Busch hinter dem öffentlichen WC raschelt es und man hört die Zähne eines Reißverschlusses aneinander ratschen. Aus einer anderen Richtung hört man leise, aufgeregte Stimmen. Dann stürzt ein jüngerer Mann, gefolgt von einem sehr alten, aus dem Gebüsch, richtet sich die Kleidung und geht schnell in Richtung Rathaus. Der Alte dreht sich um und marschiert zielstrebig und grummelnd auf den dunkleren Teil des Parks zu. Die Jungen auf der Bank sind mit dem Ledermann ins Gespräch gekommen, bald darauf verschwindet einer mit Mr. Leather 2003 hinter einem Busch. Die anderen beiden Jungs unterhalten sich weiter und zünden sich die nächste Zigarette an. Ihr Traumprinz für die Nacht wird sicher auch noch hier erscheinen.

Abendliches Balzgehabe im Cruisingpark beim Rathaus. Irgendwo startet ein Moped, der Motor heult auf und wird dann wieder leise. Wir lachen leise und ziehen weiter, am Parlament vorbei in Richtung Hofburg und Oper.

Hier ist die Stadt fast ausgestorben. Kaum Leute sind mehr zu Fuß unterwegs. Der letzte Einser-Wagen des Tages kommt uns hell beleuchtet aber schwach besetzt entgegen gerumpelt. Auf dem Ring ist ausnahmsweise einmal kein Stau, keine Fiaker. Trotzdem dröhnende Motoren, weil sich immer noch ein paar Wahnsinnige Rennen von einer Ampel zur nächsten liefern.

Düster ragen rechts von uns die Prachtbauten des Kunst- und des Naturhistorischen Museums auf. Irgendwie kann ich mir nie merken, welches der Gebäude welches Museum beherbergt. Ist aber eigentlich um die Uhrzeit auch egal. Der Park zwischen den beiden Gebäude ist verwaist, einzig Maria Theresia lächelt huldvoll von ihrem Denkmalsockel herunter. Im Hintergrund sieht man das gelbe Leuchten des von vielen Scheinwerfern angestrahlten Museumsquartiers. Schön ist er geworden, der Bau der ehemaligen Hofstallungen. Zwischenzeitlich waren es einmal Messehallen, jetzt nach jahrzehntelangem Umbau ist eine Ansammlung von Museen, Veranstaltungsräumen und Galerien dort untergebracht.

Weiter geht's den Ring entlang. Der leichte Wind weht durch die Bäume, leise rascheln die Blätter. Vereinzelte Radfahrer eilen den Radweg entlang. Links sitzt Goethe in seinem Sessel. Ihm schräg gegenüber, auf er anderen Seite des Rings, steht Schiller im Grün vor der Akademie der Bildenden Künste.

Ein Pulk aufgedonnerter Leute steht diskutierend vor der Oper. Dass man sich heutzutage immer noch in Smoking und Fummel stürzt, um in die Oper zu gehen! Tom, Günther und ich grinsen uns an und lassen Oper und Innenstadt links liegen.

Gemütlich spazieren wir die Kärntner Strasse in Richtung Karlsplatz entlang. Der Asphalt strahlt immer noch Hitze ab, halb links hinter Bäumen erkennen wir den orientalisch anmutenden Kuppelbau der Karlskirche, mit Türmen, die an Minarette erinnern. Ebenfalls hell erleuchtet, angestrahlt von einigen Scheinwerfern. Alles ist ruhig, die sonst hier vertretenen Dealer scheinen ihr Geschäft für heute gemacht zu haben.

An Verkehrsbüro und Secession vorbei geht es nun zum Naschmarkt. Auch hier alles ruhig. Kaum eine Seele auf der Straße. Vereinzelt huschen Schatten über die dunkle Marktfläche, auf der tagsüber alles an Lebensmitteln zu haben ist, was man sich auch nur in Träumen vorstellen kann. Nachts sind alle Stände verbarrikadiert, höchstens ein wenig Gemüseabfall liegt am Boden. Auto parken dort, die einzigen Passanten sind Männer beim Lokalwechsel oder auf der Pirsch. Szeneschwerpunkt. Links und rechts des Naschmarkts eine Ansammlung schwuler Lokale. Auch uns zieht die Suche nach einem kühlenden Getränk hier her. Auf dem Gehsteig vor einem Ecklokal sitzen noch Leute im Schanigarten. Grelles Gekreische und Gekichere läßt erahnen, dass dort heut Tuntenauflauf ist. Schade eigentlich, aber uns ist schon heiß genug.

Wir machen kehrt und biegen in eine Seitenstraße ein. Gleich im ersten Haus ist ein sehr beliebtes Lokal. Zu beliebt, wie sich beim Öffnen der Tür herausstellt. Die Hütte ist proppenvoll. Man bekommt kaum einen Stehplatz. Trotzdem drängen wir uns hinein und fühlen sofort alle Blicke der in Türnähe stehenden Gäste auf uns gerichtet. Heiß und stickig ist's in dem Lokal. Der Geräuschpegel nimmt merklich ab, während wir von den Anwesenden taxiert werden. An den Augen und dem Mienenspiel der Schwestern kann man das Resultat der Begutachtung sehr gut ablesen. Zu alt, zu kahl, scheinen sie zu denken, als sie Günther ansehen. Zu klein, zu dick, drücken ihre gehässigen Blicke in meine Richtung aus. Aber dann schauen sie sich Tom, den jüngsten unserer Gruppe, genauer an und bekommen dabei leuchtende, glitzernde Augen und ein notgeiles Grinsen schiebt sich in ihr von Schminke verkleistertes Gesicht. Groß, blond, noch nie hier gesehen: Frischfleisch! Auf ihn mit Gebrüll! Pech gehabt, Mädels! Tom und Günther sind seit gut fünf Jahren ein Paar. Trotzdem wird Tom von mehreren Leuten auf ein Getränk eingeladen. Wohl in der, allerdings vergeblichen Hoffnung, ihn später abzuschleppen. Tom ist alles, nur nicht untreu.

Während sich Tom von seinen Verehrern belästigt fühlt, man kann ihm richtig ansehen, wie unangenehm ihm der ganze Trubel um ihn ist, hat sich ein Kellner zu Günther und mir durchgekämpft und fragt nach unseren Wünschen.

»Zwei weiße Spritzer, im Glas, nicht auf dem Bauch, und Dich nach Feierabend«, ordert der nie um einen frechen Spruch verlegene Günther. Wenn der mal stirbt, wird man das Mundwerk nachher noch extra totschlagen müssen. Die Bestellung ruft aber beim Kellner nur ein müdes Lächeln hervor. Der bekommt solche Meldungen sicher täglich zu hören.

Obwohl wir mitten zwischen andere Leute gedrängt stehen, bleiben wir in der grell orange ausgemalten Kellerbar unbeachtet. Einmal abgesehen vom Kellner, der uns die Getränke serviert. Wir entsprechen halt nicht dem Schönheitsideal der Szene-Schwuppen. Wir sind über dreißig, haben weder Waschbrettbauch noch breite Schultern, tragen Brille, aber keine Prada, Hilfiger oder Gucci-Kleidung. Wir sind vermutlich auch zu intelligent für die Meisten der heute hier versammelten Gemeinde und fallen somit aus deren Beuteraster raus. Bissig lästern wir über den Schwarm von mehr oder weniger hübschen Männern, die Tom umschwirren, wie Motten das Licht. Der eine hat abstehende Ohren, der nächste eine riesige Nase, der dritte stinkt so penetrant nach Duftwasser, als ob er in einer Parfümerie in ein Regal gefallen wäre. Ein weiterer ist schon so weit hinüber, dass er nur noch lallen kann und sich krampfhaft am Nebenmann festkrallt - trotzdem schüttet er sich weiter alkoholische Getränke in den Hals, als ob die morgen aus der Mode fielen und brät frech an Tom herum.

Günther und ich amüsieren uns trotzdem köstlich, auch wenn wir ein wenig Mitleid mit dem armen Tom haben, der sich immer schwerer tut, sich der Traube von Verehrern zu erwehren. Nach einem zweiten gespritzten Weißwein macht sich dann wieder meine Blase bemerkbar und ich dränge mich nach hinten durch die Menge in Richtung Waschräume. Fast eine viertel Stunde dauert der Weg dorthin, weil ich immer wieder Leute aus dem Weg schieben muss, nur um dann festzustellen, dass sich sofort jemand anders in die soeben freigewordene Lücke hineinstellt.

Endlich am Ziel angekommen, das Geschäft verrichtet, will ich mir gerade die Hose wieder zu machen, als sich ein junger Bursche, dem Aussehen nach südländischer Herkunft, neben mich stellt.

»Hast Du Lust?«, will er von mir in akzentfreiem Österreichisch wissen.

»Lust worauf?«, frage ich nach und schaue ihm in seine fast schwarzen Augen. Ein nettes Gesicht hat er, dunklen Teint, dunkle, wellige Haare, dichte schwarze Augenbrauen. Ich schätze ihn auf achtzehn bis zwanzig, etwa 1 Meter 80 groß, schlank, qualitativ gute, aber etwas ältere und leicht zerknitterte Kleidung.

»Auf mich,« antwortet er. »Gehen wir in die Kabine, für 30 blas ich Dir einen und für 70 darfst Du alles mit mir machen, auch ohne Gummi.«

Entsetzt schaue ich ihn an. »Nein, danke,« bringe ich heraus, »kein Bedarf.« Ich drehe mich um, lasse ihn stehen und verlasse die Toilette.

Au Mann. Bin ich schon so alt, oder seh ich heute so notstandig aus, dass sich schon Stricher an mich ran machen? Einmal abgesehen davon, dass dieses Lokal eigentlich nicht dafür bekannt ist, solches Klientel anzuziehen. In einem anderen Lokal ein paar Straßen weiter, oder in einem auf der gegenüberliegenden Seite des Naschmarkts hätte ich durchaus damit gerechnet, so angesprochen zu werden, aber nicht hier.

Wie kommt der gerade darauf, mich anzusprechen? Ich mein, es ist zwar schon ne Weile her, dass ich mit nem Mann im Arm aufgewacht bin und ich geh mit strammen Schritten dem Vierziger entgegen... Aber zahlen für Sex? Irgend etwas in mir sträubt sich da ganz gewaltig. Irgendwie will ich aber auch wissen, warum der Bursche das tut. Warum er sich verkauft. Drogenprobleme? Die schnelle Knete für die nächste Fete? Oder einfach der Kick zwischendurch, es einmal für Geld zu tun?

Andererseits will ich's lieber nicht wissen. Ich kenne mich, bin zu gutmütig und würde versuchen wollen, ihm zu helfen. Nur, um dann, wie in der Vergangenheit schon des Öfteren, einmal mehr auf die Nase zu fallen.

Meine vorher gute Stimmung ist schlagartig verflogen. Trübe Gedanken, dass ich langsam in ein Alter komme, wo man zahlen muss, um Befriedigung zu bekommen, wenn man sich nicht bald einen Lebenspartner angelt, hängen mir nach. Ein kurzer Blick auf mein linkes Handgelenk sagt mir, dass es auf zwei Uhr zugeht.

Als ich mich wieder durch die Menge wühle, beschließe ich, mich von Tom und Günther zu verabschieden und nach Hause ins Bett zu gehen.

Gesagt, getan. Ich zahle meine Rechnung, wünsche meinen beiden Freunden noch einen schönen Abend, kämpfe mich aus dem Lokal ins Freie und winke mir ein Taxi heran.

Der Wagen ist kaum ein paar Meter unterwegs, als der eingestellte Kommerzsender Joe Cocker röcheln läßt: Summer in the City.

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