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Totenstille

Teil 2

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Grelles Licht blendete mich als ich die Augen öffnete. Mir war kalt, alles um mich herum war mit einer dünnen Schicht Raureif bedeckt. War ich tatsächlich eingeschlafen?

Unglaublich, dachte ich, wie geht es jetzt weiter?

Ich hatte dich immer noch nicht gefunden und war mit meinem Latein mehr als am Ende. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die Sonne, nicht darauf achtend dass es schmerzte. Ich wollte, dass sie mir mit ihrer unendlichen Kraft mein Ziel einbrannte. Den Ort, an dem du dich aufhieltest.

Wütend ging ich weiter, ziellos, immer weiter. Immer sah ich dein Gesicht vor mir, deine wunderschönen Augen.

Seit gestern Mittag hatte ich nichts mehr gegessen. Mir war schlecht, ich taumelte durch die Gegend, doch es störte mich nicht. Ich musste dich finden, mehr war nicht wichtig.

Stunden waren vergangen. Immer noch kein Lebenszeichen von dir. Ich hatte die Hauptstraße erreicht, riesige Lastwagen donnerten an mir vorbei. Ich nahm es nicht wahr, alles war egal, nur du nicht. Manche Autofahrer starrten mich wütend an, hupten und brausten weiter. Einige bremsten ab, schauten mich mitleidig und fragend an, dann fuhren sie doch.

Bei manchen hatte ich das Gefühl, sie wollten anhalten, dann zog ich mich schnell zurück. Sie konnten nicht helfen, sie hatten keine Ahnung. Niemand konnte helfen.

Wieder hockte ich im Gras, wieder brummte mir der Kopf. Wieder wusste ich nur eines:

ich musste dich finden.

Plötzlich quietschen ein paar Reifen erbärmlich. Angespannt wartete ich auf den typischen Klang von zerbrechendem Glas und sich biegendem Metall, der entsteht, wenn zwei Wagen aufeinander prallen. Doch ich blickte nicht auf.

Es geschah nichts. Absolut nichts. Aber wieso hatte ich dieses Geräusch gehört?

Kleine Steinchen und Teerkrümel knirschten, als sich mir jemand näherte. Ich war unschlüssig. Eigentlich sollte ich weglaufen, so wie die ganze Zeit vorher auch, mir war sowieso nicht zu helfen. Aber irgendwas hielt mich davon ab. Es schien mir wie ein unsichtbares Band zwischen dem Unbekannten, der auf mich zukam, und mir.

„Jonas? Jonas, bist du es?“

Mein Name.

Aber nicht deine Stimme.

Wieder nicht du.

Wer dann?

Die Schritte wurden lauter und schneller, ich hörte einen hektischen Atem direkt vor mir. Aufblicken konnte ich nicht.

„Hey, warum antwortest du nicht? Was ist mit dir, Jonas?!“

Zwei kühle Hände umfassten mein Gesicht und zwangen mich sanft, den Kopf zu heben.

Schnell schloss ich meine Augen, ich wollte die Welt nicht sehen.

„Oh mein Gott… du bist es… Jonas! Was machst du hier? Was ist passiert? Schau mich doch an, Jonas, ich bin’s, Kai!“

Kai also. Mein Bruder. Und jetzt? Ich fing an zu zittern, mein Kopf wurde schwer. Sollte ich ihn wirklich ansehen? Was würde er sagen? So lange hatten wir uns nicht mehr gesehen, und jetzt sollte ich ihm plötzlich wieder vertrauen?

Er war der Erste gewesen, dem ich von dir erzählt hatte. Der Erste und der Einzige. Denn nach seiner Reaktion hatte ich mit der Offenheit und Ehrlichkeit anderen gegenüber abgeschlossen.

Damals hatte ich mein kleines Plätzchen auf Wolke 7 gerade ergattert und glücklicherweise hatte ich sogar eines für dich freihalten können. So hatten wir also zusammen auf unserer ganz persönlichen Wolke 7 gesessen und hatten alles um uns vergessen.

Bald war mir das nicht mehr genug gewesen. Ich hatte den Wunsch dieses wundervolle Gefühl mit jemandem teilen, und wer war dafür besser geeignet gewesen als Kai? Kai, der große, starke Bruder, der immer für mich da gewesen war. Es war ein Freitag im Sommer gewesen. Nach der Arbeit hatten wir uns im Park treffen wollen, um der Sonne dabei zuzuschauen, wie sie langsam am Horizont versinkt, so wie immer, wenn uns danach gewesen war.

Doch an diesem Tag war es anders gekommen.

Sofort nach Dienstschluss war ich zu Kai gefahren, mindestens ein Dutzend verschiedene Fotos von dir und mir im Gepäck. Alles in mir hatte gekribbelt, ich war gespannt, wie er reagieren würde. Natürlich positiv, hatte ich mir gedacht, er ist doch mein Bruder. Oder?

Als ich angekommen war, klingelte ich Sturm und hüpfte dabei auf und ab, ich konnte es kaum erwarten, Kai zu sehen und ihm zu sagen, dass du mein Ein und Alles bist.

Es kam mir vor wie Stunden, als er endlich öffnete. Trotzdem strahlte ich.

„Jonas? Du hier? Hey, komm rein!“, sagte er und umarmte mich, um mich gleich darauf in die Wohnung zu ziehen. Doch ich sagte nichts und rührte mich nicht. Er stutze. Ich hielt ihm nur das schönste Bild von allen hin. Wir beide auf unserer Bank, beschienen von der Sonne, küssend.

Kai sagte nichts. Er schaute das Bild nur an, ich zählte innerlich die Sekunden, bis sein Mund sich zu einem Lächeln verziehen würde. Bei achtzig hörte ich auf und blickte ihm direkt in die Augen. Sie waren leer, man konnte nichts erkennen in ihnen.

„Du… Wer ist das?“

„Das sind Manuel und ich. Im Stadtpark!“, sagte ich stolz.

Immer noch keine Regung. Mein Lächeln erstarb sofort. Ich verstand nicht, es lief alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Was war los?

„Du… du liebst Männer?!“

„Nein“, sagte ich entschlossen, „ich liebe Manuel!“

Eine gewisse Ahnung machte sich auf einmal in mir breit, und es war keine gute. Es war, als ob ich langsam zerfiel, als ob meine unverwüstbaren Stützen unter mir wegknicken würden wie labberige Gummibänder. Diese Stützen waren immer Kai gewesen, und eigentlich dachte ich mir auch, dass sie es immer bleiben würden. Bis jetzt.

Noch bevor ich alles realisierte, fiel vor mir eine Tür ins Schloss. Das Foto flatterte und segelte lautlos aus meiner Hand. Ich hob es auf, drehte mich um und ging zu meinem Wagen. Klar denken konnte ich nicht, es war ein Wunder, dass ich überhaupt geradeaus fuhr.

Irgendwann, als es schon dunkel war, kam ich bei dir an. In deinem Zimmer brannte noch Licht, also ging ich hoch. Wieder stand ich vor einer verschlossenen Tür, wieder klingelte ich. Diesmal kurz und leise. Wieder wurde die Tür geöffnet. Diesmal standest du vor mir. Wieder konnte ich dem Blick nicht standhalten. Diesmal wurde ich in den Arm genommen.

Du hieltest mich einfach nur fest. Es war egal, ob uns jemand sah, denn wir waren zusammen. Wir küssten uns, und diese Nacht wurde die schönste meines Lebens.

Viel zu schnell war es hell geworden, als wir eng umschlungen nebeneinander lagen und uns ansahen. Da konnte ich nicht mehr. Ich weinte, immer lauter, immer stärker. Doch diesmal wurde ich gehalten. Diesmal warst du da.

Kai hatte sich vor mich gekniet und mich mit beiden Armen fest umschlungen. Es fühlte sich falsch an, nach allem, was er uns angetan hatte. Ich sträubte mich, stemmte mich mit aller Kraft gegen ihn, doch er schien wie ein Fels.

„Lass mich… Lass mich, lass mich, LASS MICH!“, schrie ich immer lauter und schlug mit letzter Kraft meine Fäuste auf seine Brust.

Nichts kam von ihm. Weinen wollte ich nicht, diese Genugtuung wollte ich ihm nicht bieten, doch ich konnte mich nicht beherrschen. Heiße Tränen flossen unaufhörlich meine Wangen hinab und brannten immer stärker auf meiner Haut. Ich sackte erschöpft zusammen. Ich wünschte mir, Kai würde mich endlich loslassen, sodass ich vor ein fahrendes Auto fiel. So hätte der Alptraum endlich ein Ende.

„Ich bin nicht dein Bruder, lass mich“, schluchzte ich immer und immer wieder, aber Kai sagte nichts. Auf einmal begann er, mir langsam über den Rücken zu streichen. Ich zuckte zusammen und stieß mich wieder mit aller Kraft von ihm ab. Das dürftest nur du!

„Doch, du bist mein Bruder, Jonas. Und du warst es immer, hörst du? Bitte sieh mich an, Jonas, ich will dir helfen!“

„Nein… nein, du willst mir nicht helfen, das… das wolltest du nie, Kai!“, schrie ich weiter.

Kai drückte mich noch fester und schob eine Hand unter mein Kinn. Ich war gefangen. Mir blieb nichts Anderes übrig, als ihn anzusehen. Seine Augen schimmerten, sie waren rot und geschwollen, Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Er schniefte, und plötzlich hielt er erschrocken inne.

„Oh Gott… oh Gott, Jonas! Du weißt es nicht, stimmt’s? Oh Gott, was habe ich getan?!“

„Was? Was weiß ich nicht, Kai? Dass du mich hasst?“

„Ich hasse dich nicht, Jonas… nicht mehr.“

„Was dann, Kai? Was dann?!“

„Manuel… Er wird nicht wiederkommen, Jonas.“

„Natürlich wird er das! Du wirst es nie schaffen, ihn von mir fernzuhalten, Kai, wann merkst du dir das endlich?“

„Das habe ich schon längst gemerkt. Es ist trotzdem zu spät, Jonas, glaub mir.“

„Es ist nie zu spät!“

„Doch. Er ist tot, Jonas.“

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