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Auf der Tour

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Chris: Endlich entspannen ohne Druck

Ich hatte Marcs Ferrari sicher in seiner Garage geparkt und meine Jungs waren mit Sabine im Van gefahren. Marc stieg auf der Beifahrerseite aus und sein Gesicht sagte vieles. Vermutlich machte er sich über meinen Fahrstil etwas lustig. Da es ein Ferrari war, bewegte ich dieses Kunstwerk sehr behutsam.

„Also, eines muss ich dir schon mal bescheinigen. Du hast Gefühl für die Technik und weißt, wie man einen Motor warm fährt.“

Dann zeigte er mir seinen Daumen hoch und wir verließen die Garage unter seinem Haus. Dort standen noch fünf andere fahrbare Kunstwerke. Da wurde ich schon etwas neidisch. Von Lucs Camaro über Marcs Cobra und den Aperta war ich ja schon informiert, aber es stand auch ein Auto dort, was mir außerordentlich gut gefiel. Ein Lancia Delta Integrale evo 2. Dieses Auto weckte Erinnerungen in mir. Allerdings nicht nur positive. In diesem Auto war ich vor vielen Jahren schwer verunglückt und musste danach mein Leben neu sortieren.

Marc bemerkte mein Zögern, als ich an diesem Wagen vorbei ging. Er sprach mich aber nicht darauf an. Im Gegenteil, er lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes.

„Schau mal, Chris. Das hier ist der Camaro für Luc. Den kennst du ja schon, aber ich habe ihm noch ein weiteres Extra eingebaut.“

Marc stellte sich vor das Auto und öffnete die Motorhaube. Mir stockte der Atem, denn auf dem gewaltigen Achtzylinder thronte ein großer Kompressor. Mit einem Label aus München von Geiger Cars.

„Du kannst es aber auch überhaupt nicht lassen. Meinst du nicht, dass das Teil auch vorher schon genug Leistung hatte?“

„Ich kann nie genug Leistung haben. Dieses Auto soll Luc Spaß machen, also soll auch alles drin sein, was Spaß macht. Luc ist kein Raser und sehr vernünftig. Wir haben das besprochen, aber sobald ich den Eindruck gewinne, er ist damit überfordert oder er geht damit nicht gut um, wird das Auto zurückgebaut. Aber ich bin mir sehr sicher, das wird nicht erforderlich sein. Dafür wird Stef schon sorgen.“

„Ich bin mir sicher, dass du genau weißt, was Luc kann und was nicht. Ich stimme aber zu, Luc ist sehr umsichtig und wird sicher kein Raser sein.“

„Wie ist eigentlich dein Bezug zum Motorsport? Du fährst ein sehr sportliches Motorrad mit der Panigale. Und wie ich schon in unseren Gesprächen gemerkt habe, kennst du dich im Motorsport gut aus. Du bist informiert und hast technisches Verständnis.“

Das war ein für mich heikles Thema. Einerseits lag Marc natürlich richtig. Ich interessierte mich sehr für den Motorsport und hatte immer aktuelle Entwicklungen im Kopf, was die bekanntesten Rennsportserien betraf. Allerdings hatte ich mit dem Lancia auch einen ganz bösen Crash, der mich fast umgebracht hatte. Mir war bewusst, wenn ich mit Marc dieses Thema behandeln sollte, würde ich auch gezwungen sein, diese Geschichte zu bearbeiten. Wollte ich das?

„Marc, ich weiß, wie sehr du für den Motorsport gelebt hast. Ich habe früher, als junger Mensch auch aktiv Motorsport betrieben. Allerdings verbinde ich auch negative Erinnerungen damit. Insbesondere was dein Spielzeug hier in der Garage betrifft. Ich hatte auch einen Delta Integrale evo 2. Ich möchte dich aber bitten, dieses Thema noch etwas nach hinten zu stellen. Mir fällt es schwer, jetzt darüber zu sprechen. Vielleicht später.“

„Natürlich. Sorry, wenn ich bei dir alte Wunden aufgerissen habe. Das tut mir leid. Lass uns nach oben gehen. Die Jungs wollten schnell losziehen. Ich vermute mal, dass sie sogar schon zu Nico unterwegs sind.“

„Nico? Ah, richtig. Das ist Lucs alter Freund.“

„Genau. Dort wollten sie sich treffen und dann gemeinsam den Sieg von Fynn feiern gehen. Aber sei unbesorgt. Luc und Stef trinken sehr wenig Alkohol. Ich glaube, dass sie nicht zu viel trinken werden.“

„Du, das müssen sie schon selber wissen. Sie kennen meine Regeln und wenn sie meinen, sie können die außer Kraft setzen, werden sie das merken. Auch wenn wir jetzt nicht mehr im Turnier sind. Es gibt klare Regeln bei uns.“

Marc fing an zu lachen. Er führte mich die Treppe nach oben und als wir im Wohnzimmer standen, staunte ich nicht schlecht. Sabine hatte für uns etwas zu essen vorbereitet. Der Tisch war bereits gedeckt. Wann sie das gemacht hatte, war mir allerdings schleierhaft.

„Wunder dich nicht. Das hat Sabine nicht jetzt vorbereitet, sondern bereits heute morgen, bevor wir weggefahren sind. Sie macht nur noch das Essen warm. Dann können wir zu Abend essen.“

„Ich staune über eure Organisation. Immer perfekt geplant und organisiert. Das hat Luc von euch geerbt. Er ist in vielen Dingen ein Perfektionist.“

„Das stimmt. Aber das hat er nicht von mir.“

Ich erschrak, denn Sabine hatte sich unbemerkt zu uns gestellt. Sie lachte und ergänzte:

„Diesen Perfektionismus hat er von Marc. Wobei er ihn ja nicht geerbt haben kann, dennoch ist er Marc in dieser Hinsicht sehr ähnlich.“

„Ich glaube, es ist eher die Vorbildfunktion, die Marc für Luc hat. Marc hat Luc damals unmittelbar nach seiner Leukämie kennengelernt und dafür gesorgt, dass Luc sehr schnell wieder zu Kräften gekommen ist. Er hat sich um ihn gekümmert und war ständig ansprechbar für Luc. So konnte er sich vieles abschauen und verinnerlichen. Er hatte gesehen, wie erfolgreich Marc mit dieser Lebensphilosophie ist. Das hat ihn geprägt.“

„Da spricht der Pädagoge. Chris, warum hast du eigentlich keine eigenen Kinder? Du arbeitest sehr erfolgreich mit Kindern und Jugendlichen. Ich glaube, du wärst ein guter Vater.“

Verdammt. Warum musste Sabine jetzt wieder dieses Thema auf den Tisch bringen. Ich hatte gute Gründe, keine eigenen Kinder zu haben. Auch wenn ich als Homosexueller sicherlich ein Kind hätte adoptieren können. Marc fühlte mein Unwohlsein und änderte sofort das Thema.

„Hast du den Jungs eigentlich gesagt, wann sie zurück sein müssen?“

„Nicht direkt. Ich habe gesagt, dass ich erwarte, dass sie morgen um neun zum Frühstück erscheinen und das fit. Da sollten sie um ein Uhr wieder hier sein. Ich denke das reicht dann auch. Aber ich wollte sie auch testen, ob sie eigenverantwortlich genug sind. Wenn nicht, wird das in Zukunft wieder mit klareren Ansagen laufen.“

„Das gefällt mir gut. Dann lasst uns mal abwarten, was der Abend für uns noch an schönen Dingen bereithält. Jetzt wird aber erst einmal gegessen. Nimm Platz, Chris.“

Marc nahm Platz und Sabine ging in die Küche, um das Essen zu holen. Ich fand es etwas befremdlich, dass Marc sich einfach hingesetzt hatte.

„Kann ich dir in der Küche noch etwas helfen oder etwas mit herüber tragen?“

„Oh, danke. Du kannst die Lasagne herüber tragen und ich bringe den Salat mit.“

Ich nahm die heiße Kasserolle und stellte sie mitten auf den Tisch.

„Ist das nicht Lucs Lieblingsessen? Und ausgerechnet jetzt ist er nicht da.“

„Sei unbesorgt. Sabine hat garantiert noch eine Portion für die Jungs vorbereitet. Luc wäre sauer, sollte er von seiner Lieblingsspeise nichts abbekommen.“

Eines musste ich Sabine lassen, kochen konnte sie hervorragend. Das Essen war für mich ein Fest. Ich liebte Pasta und insofern fühlte ich mich bestens versorgt.

„Möchtest du zum Nachtisch einen Latte Macchiato oder lieber einen Othello?“

„Äh, lieber eine Latte. Danke.“

Marc stand auf und machte in der Küche den Kaffee. Sabine blieb mit mir am Tisch. Ich hatte noch einen Gedanken im Kopf, der mich etwas beschäftigte und breitete ihn vor Sabine aus.

„Ich habe da eine Beobachtung gemacht, die mich doch etwas irritiert hat. Ich sollte ja für das Turnier für Leif und seine Freundin extra Ausweise beantragen. Nun waren sie aber nur für einen Turnier-Nachmittag zu Beginn dort. Das verstehe ich nicht so ganz. Warum war er beim Finale nicht da?“

Sabine verdrehte die Augen und atmete tief aus. In diesem Moment stellte Marc die drei Becher auf den Tisch.

„Lasst mich raten, Chris hat das Thema Leif angefasst.“

„Ja, Schatz. Er ist etwas verärgert. Leif wollte unbedingt zwei Ausweise und ist dann nicht mal zum Finale erschienen. Das stößt bei Chris auf Unverständnis.“

„Nicht nur bei ihm. Bei mir auch. Allerdings ist Leif momentan wieder ein schwieriges Thema. Seit er mit Monique zusammen ist, dreht sich alles nur noch um seine Freundin. Hier lässt er sich nur noch selten blicken. Ich bin auch ziemlich genervt. Aber ich habe noch keine Lösung gefunden. Ich hoffe, er fängt sich wieder. Er hat gerade nichts Sinnvolles zu tun.“

„Außer sich mit seiner Freundin zu vergnügen.“, sagte ich etwas sarkastisch.

„Da sagst du was. Luc hat richtig Angst davor, dass er schon Onkel wird. Das ist ein ganz heißes Eisen. Die beiden verstehen sich nicht mehr sonderlich gut. Seit Leif mit der Schule fertig ist und nichts mehr macht, geht Luc ihm aus dem Weg.“

Sabine war alles anderes als zufrieden mit der Situation und ich wollte dazu etwas mehr erfahren.

„Ist das denn mal anders gewesen oder war die Beziehung der beiden schon immer problematisch?“

Marc schaute Sabine an und ich konnte spüren, dass ich hier an einen der wenigen wunden Punkte bei ihnen gekommen war. Sabine war diejenige, die sich einen Ruck gab:

„Nein, ihr Verhältnis war bis vor wenigen Wochen recht harmonisch. Aber als Leif Monique das erste Mal vorstellte, hatte sie unglücklicherweise eine recht negative Bemerkung über Schwule gemacht. Das hat Luc zutiefst getroffen und seitdem ist hier die Stimmung sehr angespannt. Leif hat zwar mehrfach versucht, ihm das zu erklären, aber Luc blockt vollkommen ab.“

„Was sagt Leif dazu? Hat er seine Freundin mal dazu befragt? Warum sie sich so abfällig geäußert hat?“

„Natürlich hat er das. Mehrfach sogar. Sie hat nicht darüber nachgedacht. Es war eine dumme und völlig überflüssige Bemerkung. Sie hat nicht einmal wirklich Probleme mit schwulen Jungs. Nur kann sie ihre Äußerung nicht ungeschehen machen.“

„Hat sie versucht, sich bei Luc zu entschuldigen?“

„Mehrfach. Luc will nicht mit ihr sprechen.“

Marc erlebte ich das erste Mal ratlos. Er wusste nicht, wie er das Problem lösen konnte.

„Ich vermute, dass du bereits mit Luc gesprochen hast.“

Beide nickten und wirkten niedergeschlagen. Nach einigen Augenblicken kam mir spontan eine Idee.

„Darf ich morgen einen Versuch starten? Luc kennt sich doch in deiner Werkstatt gut aus, oder?“

„Ja sicher. Er weiß sehr viel über unsere Autos. Außerdem hat er in München schon viel gelernt.“

„Was würde passieren, wenn Leif etwas zustoßen würde und Luc ihm helfen müsste? Würde er das dann machen?“

„Ja, ganz sicher. Dafür hat er selbst zu lange um sein Leben kämpfen müssen.“

Dieser Satz fiel Sabine schwer. Erinnerungen erwachten.

„Gut. Kann ich mir morgen deinen Lancia mal ausborgen? Ich möchte mit Luc in die Werkstatt fahren. Allein.“

Marc schaute mich eindringlich an.

„Bist du dir ganz sicher, dass du das Richtige für dich tust? Du hast vorhin gesagt, dass der Delta für dich etwas Besonderes ist.“

Ich seufzte und nickte. Ja, das war etwas aus meiner persönlichen Extremkiste.

„Ich weiß es nicht, aber ich denke, ich kann mit Luc die Situation bearbeiten. Dort haben wir unsere Ruhe und ich habe die Möglichkeit, mit ihm mal etwas persönlicher zu sprechen.“

„Ich glaube, Chris wird wissen, was er da machen möchte. Fahr mit Luc dorthin und redet einfach. Ich bin überzeugt, dass Chris für Luc eine Hilfe sein wird. Vielleicht gibt es ja noch ein Gespräch mit Leif und Luc.“

Sabine kannte Luc sehr genau und hier setzte sie sich durch. Marc war einverstanden und ich würde das morgen beim Frühstück mit Luc klären. Stef müsste sich dann um meine Jungs kümmern. Ich wollte ungestört mit Luc etwas Zeit verbringen.

„Hast du vielleicht Lust auf ein wenig Bewegung? Wir könnten mit den Mountainbikes eine Runde drehen. Noch ist es hell und angenehm warm.“

„Wenn du für mich ein Bike hast, sehr gern. Joggen wäre für meinen Rücken nicht so gut.“

„Klar, du kannst Micks Rad nehmen. Das müsste passend sein.“

„Aber du denkst daran, dass ich nicht mehr so fit bin wie du.“

Marc lachte und Sabine schmunzelte, als sie begann, den Tisch abzuräumen. Wir halfen ihr, die Sachen in die Küche zu bringen und machten uns erst anschließend auf eine Runde. Marc hatte eine Route gewählt, die für ihn sicher langweilig war. Für mich war es gut zu bewältigen und es machte mir Spaß, mal wieder durch das Gelände zu fahren.

Nach etwa zwanzig Minuten kamen wir auf eine Lichtung mit einem Hochsitz für Jäger. Marc stieg am Fuße des Hochsitzes vom Rad. Er bat mich, ebenfalls abzusteigen und dann kletterten wir die Leiter nach oben.

„Dies hier ist auch ein besonderer Platz.“, begann Marc zu erzählen und fuhr fort: „Hier haben sich unsere Kinder oft mit ihren Freunden oder Gästen getroffen und ihnen die Gegend gezeigt. Luc hat mir erzählt, dass er auch mit Stef oft hierher gefahren ist, wenn es Stef nicht gut ging.“

Es gab einen tollen Ausblick auf den See und auf die Häuser. Auch das Steevens'sche Anwesen konnte man gut erkennen.

„Seit wann hat sich die Situation bei Stef normalisiert? Was ihr mir erzählt habt, muss er ganz schlimme Zeiten erlebt haben. Ich staune über sein nahezu normales Verhalten. Ihr müsst für ihn so etwas wie Lebensretter gewesen sein.“

„Ja, das stimmt. Stef hat sich toll entwickelt und gehört praktisch zur Familie. Seit klar war, dass auch Luc homosexuell ist, hat sich das sehr positiv entwickelt. Luc konnte sich Stef annähern und sie sind ein tolles Team. Luc hat auch viel von dieser Beziehung profitiert. Sie stützen sich gegenseitig. Luc hat ja auch ganz schlimme Zeiten gehabt.“

„Oh ja. Das stimmt. Ich bewundere seinen Lebensmut und seine Lebensfreude. Davon profitiert Stef sicher auch.“

„Eigentlich haben wir alle von seinem positiven Wesen profitiert. Auch mir hat er gezeigt, dass aufgeben keine Option ist, niemals.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Mich beeindruckt er auch immer wieder. Er geht sehr offen mit mir um. Ich habe manchmal das Gefühl, wir würden uns schon recht lange kennen.“

„Sehr gute Beobachtung. Du bist für ihn etwas Besonderes. Normalerweise ist er sehr vorsichtig bei neuen Personen. Dich hat er sofort akzeptiert. Er spricht oft von euch und wie du mit Fynn und Dustin arbeitest.“

„Das ist mir insbesondere hier in Genf aufgefallen. Er fragt mich sehr viel über Tennis und warum ich manches so oder so mache. Stef ist Lucs Neugier manchmal unangenehm. Er traut sich nicht, mich offen zu fragen.“

„Das ist schon viel besser geworden. Zu Beginn sind Sabine und ich oft fast verzweifelt, weil Stef alles allein machen wollte. Er kannte es ja auch nicht anders. Er hatte nie Eltern oder Freunde, die ihn unterstützt haben bzw. sich um ihn kümmerten. Das müssen fürchterliche Jahre gewesen sein. Umso erfreulicher ist seine Entwicklung.“

Ich wurde nachdenklich. Marc verstand es hervorragend, mich einzubinden und mir Informationen zu geben.

„Marc, wir haben bislang immer nur über die Jungs gesprochen. Du hast mich vorhin schon gefragt und ich hatte dich gebeten, mir noch etwas Zeit zu geben. Ich denke, die Zeit ist reif, dass ich dir mal mehr von mir erzähle.“

Ich hatte mir einen Ruck gegeben und schilderte ihm meine Geschichte. Auch mit all den bitteren Facetten. Es dauerte über eine dreiviertel Stunde bis ich fertig war. Er hat mich nur für ganz kurze Nachfragen unterbrochen. Es hatte mich Kraft gekostet, aber als ich fertig war, fühlte ich mich erleichtert. Marc schwieg und wir schauten über den See.

Erst nach einigen Augenblicken fragte er mich: „Wie geht es dir jetzt? Du hast dir sicher genau überlegt, warum du mir das erzählt hast.“

„Ja. Ich finde, dass es zu einer Freundschaft einfach dazugehört, von dem anderen etwas zu seiner Persönlichkeit zu erfahren. Ich würde es auch gern meinen Jungs erzählen, habe aber noch nicht die passende Gelegenheit gefunden. Vielleicht auch noch nicht den Mut. Ich weiß es nicht. Ich möchte sie auch nicht unnötig damit belasten.“

„Du hattest uns gegenüber ja schon angedeutet, dass es nicht immer so glatt für dich gelaufen ist. Ich bin der Meinung, du solltest dich mit den Jungs mal zusammensetzen und einfach eine Gesprächsrunde machen. Ohne Tennis im Hinterkopf. Deine Jungs würden vieles besser verstehen und es wird einiges für dich einfacher machen. Hier habt ihr Zeit, mal nicht über Tennis reden zu müssen. Ich verstehe auch Luc und Stef jetzt. Luc hatte mich gebeten, für dich etwas vorzubereiten. Er wird dir sicherlich morgen davon berichten. Vielleicht ergibt sich danach eine Möglichkeit, dass wir gemeinsam eine große Runde am Abend machen. Was hältst du von meiner Idee?“

„Besprechen wollte ich es mit ihnen auf jeden Fall. Vielleicht ist es tatsächlich besser, es hier zu machen und nicht in Halle. Hier haben wir gerade eine Situation außerhalb des Trainings oder eines Turniers. Ich werde es mir überlegen, glaube aber, dass es ein guter Gedanke ist.“

„Hast du eigentlich jetzt Angst, Auto zu fahren oder betreibst du noch Motorsport?“

„Angst, selber zu fahren, habe ich nicht. Allerdings fällt es mir schwer, Beifahrer zu sein. Es gibt nur wenige Personen, denen ich blind vertraue.“

Marc überlegte einen Moment.

„Das kann ich verstehen. Früher war das für mich auch ein echtes Problem, nicht selbst zu fahren. Aber seit ich nicht mehr selbst aktiv im Rennsport bin, geht es deutlich besser. Heute genieße ich es, von meinen Söhnen oder von Sabine gefahren zu werden.“

Da musste ich schmunzeln.

„Aber auf der Rennstrecke kennst du kein Pardon, oder? Da musst du immer noch alles herausholen.“

„Ja, absolut. Wenn schon Rennstrecke, dann richtig. Aber sollte ich ein Rennen fahren, will ich nicht mehr um jeden Preis gewinnen. Machst du dir noch immer Vorwürfe, dass du den Tod von deiner besten Freundin nicht verhindert hast?“

Hatte er „Beste Freundin“ gesagt? Marc war der erste, der darauf reagiert hatte.

„Manchmal schon, aber nicht mehr häufig. Besonders schwer ist es, wenn mich ihre Eltern zum Essen einladen. Der Kontakt zu ihnen ist nie abgebrochen.“

„Wow, das finde ich toll. Sie sind dir immer noch freundschaftlich verbunden? Das ist außergewöhnlich, nach so langen Jahren. Wie ist das für dich?“

„Eigentlich gut, sehr gut sogar. Ich freue mich, sie wiederzusehen und mit ihnen Zeit zu verbringen. Auch wenn es manchmal weh tut. Ich frage mich nur, warum habe ich zu ihr so eine tiefe Beziehung gehabt, obwohl ich damals schon wusste, schwul zu sein.“

Marc lachte und das irritierte mich.

„Weil ihr euch sehr nahe gestanden habt. Ich bin mir ganz sicher, sie hat gewusst, was Sache ist. Sie hatte dich so akzeptiert, wie du warst. Du warst als Mensch für sie wichtig, nicht als Partner. Genau wie sie für dich heute noch etwas bedeutet. Es ist einfach so. Warum hinterfragst du das? Lass es so stehen und lebe damit. Im positiven Sinn.“

Ich konnte darauf nichts mehr sagen. Es berührte mich einfach. Marc hatte ein gutes Gespür und fragte:

„Wollen wir weiter fahren? Ich werde etwas kalt. Sonst bekomme ich morgen von meinem Rücken die Quittung.“

„Ja, gern. Lass uns noch etwas durch den Wald fahren.“

Eine andere Baustelle waren für mich noch Sascha und Marco. Die beiden Jungs, die große Probleme mit ihren Eltern und einer Drogengeschichte hatten. Ich hatte eigentlich erwartet, sie bei den Steevens anzutreffen. Mal schauen wie sich das entwickeln würde.

Wir machten noch eine kleine Runde und kehrten zurück. Marc hatte mich gefragt, ob ich mit in die Sauna kommen würde, aber das musste ich ablehnen. Meine Metallteile im Körper ließen das nicht zu. So nahm ich nur eine heiße Dusche und setzte mich mit dem Laptop im Wohnzimmer auf das Sofa. Ich wollte noch ein paar Emails abarbeiten und Berichte an Thorsten schicken.

„Sag mal, du kannst auch nicht abschalten, oder? Du hast ein paar Tage frei. Da sollst du nicht arbeiten.“

Sabine stand hinter mir und ich schaute wie ein ertappter Junge nach oben.

„Ok, ich schreibe Thorsten noch die Mail und dann lege ich das Teil weg. Habt ihr von den Jungs was gehört?“

„Was sollten wir von ihnen hören. Sie werden sich sicher gut vergnügen. Du kannst dich ruhig hinlegen, wenn du möchtest. Sollte etwas sein, wecken wir dich. Aber es wird alles normal laufen. Keine Sorge.“

Es fiel mir schwer, einfach abzuschalten und die Jungs laufen zu lassen. Aber Sabine hatte mich überzeugt. Es war auch für mich wichtig, sie loszulassen. Sollte etwas schiefgehen, würde ich das mitbekommen und dann entsprechend reagieren. Ich brauchte auch mal Ruhe. Der Abend heute war ein toller Anfang. Ich hatte es genossen, mit Sabine und Marc Zeit zu verbringen und in Ruhe reden zu können.

Als Marc aus der Sauna ins Wohnzimmer kam, war es bereits ziemlich spät und ich müde. Ich beschloss daher, ins Bett zu gehen.

Luc: Ein Abend mit unseren Gästen

Die Stimmung war grandios, denn Fynn hatte sein erstes Turnier auf der Profitour gewonnen. Leider hatte Chris ihm nicht den Siegerscheck gegeben. Dann hätten wir sicherlich den Abend auf seine Kosten verbringen können. Das war aber auch nicht wirklich ein ernsthafter Gedanke von mir gewesen.

Maxi, Fynn und Dustin waren unsere Gäste. Deshalb hatte Papa darauf bestanden, dass ich für das Bezahlen verantwortlich war. Entsprechend gab er mir ausreichend Geld mit. Auch wenn ich genug eigenes Geld hatte, an dieser Stelle hatte Papa klare Vorstellungen.

Nachdem wir Nico und Tommy abgeholt hatten, waren wir ins Billardcenter aufgebrochen. Auf dem Weg dorthin war ein Stopp bei Salvatore angesagt. Unser Stammitaliener. Dort hatte schon Mick mit Lukas seine Erlebnisse gehabt. Also waren wir bei Salvatore Stammgäste und ich konnte meine Freunde einladen. Die Rechnung ging an meine Eltern.

„Mal eine Frage, Luc. Wir haben gar nicht daran gedacht, Euros in Franken zu tauschen. Können wir hier noch irgendwo Geld tauschen?“

„Ja, am Flughafen könnten wir noch in die Bank gehen, aber ihr braucht keine Euros einzutauschen. Ihr seid unsere Gäste. Papa lässt da auch nicht mit sich handeln. Das heißt, ihr braucht heute kein Geld. Das ist meine Baustelle.“

Die Gesichter der drei Jungs zu sehen war klasse. Sie schauten mich mit großen Augen sprachlos an.

„Gibt es damit ein Problem?“

Stef spielte gut mit. Er kannte ja schon Papas Haltung in diesen Punkten. Mal sehen, was wir als Antwort bekamen. Maxi versuchte noch mit uns darüber zu diskutieren, aber Stef beendete jeglichen Versuch.

„Vergesst es, Marc hat so entschieden und da lässt er nicht mit sich diskutieren. Wir waren bei euch Gäste und ihr seid bei uns Gäste. Punkt!“

Dann hatten sie es akzeptiert.

„Sehr klug, Stef bzw. meinem Papa nicht zu widersprechen. Lasst uns einfach etwas Spaß haben. Los, auf geht´s zum Billard.“

Ich hatte auf Verdacht zwei Snookertische reserviert.

Es war für einen Sonntagabend viel los. An den meisten Tischen wurde gespielt, allerdings konnte ich kein bekanntes Gesicht finden. Wir bauten auf beiden Tischen die Kugeln auf und dann wurde gelost, wer mit wem spielen würde. Tommy spielte mit Maxi, Dustin mit Nico und Fynn mit Stef. Ich blieb übrig. Also spielte ich das erste Spiel allein.

Es war schon lustig zu beobachten, wie sich unsere Gäste mit der Sprache schwer taten. Einige sprachen Schwyzerdütsch und das war natürlich nicht zu verstehen. Für einen Deutschen, der das zuvor noch nie gehört hatte, klang das sicherlich komisch. Wenn nicht sogar lustig.

Ich stand gerade bei Dustin und Nico am Tisch, als Dustin fragte:

„Könnt ihr das verstehen, was die hier teilweise sprechen? Meistens verstehe ich überhaupt nichts. Auch die Jungs dort drüben sprechen eine Sprache, die ich noch nie zuvor gehört habe.“

„Naja, das meiste verstehe ich schon. Sprechen kann ich es aber nicht wirklich. Das ist so ähnlich wie die Dialekte im Süden Deutschlands. Die versteht man auch nicht wirklich.“

Ich war der einzige, der sich ein alkoholfreies Bier bestellt hatte. Die anderen tranken entweder richtiges Bier oder wie Fynn einen Cocktail. Auf die Wirkung des Alkohols brauchte ich nicht lange zu warten. Selbst Dustin hatte bald einen erhöhten Redebedarf und es wurde viel gelacht. Als Abschluss unseres Abendausfluges hatte ich meine Freunde in einen jugendlichen Club eingeladen. Das war ein Club in dem auch homosexuelle Jugendliche akzeptiert waren. Dieser Club war von einer Stiftung gegründet worden, nachdem es vor einigen Jahren einen tragischen Übergriff auf einen homosexuellen Jungen gegeben hatte. Dessen Eltern hatten diese Stiftung gegründet und Papa hatte ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden.

Dort gab es am Wochenende auch immer gute Musik und es durfte getanzt werden. Der Vorteil war, dass die Musik nicht so laut war, dass man taub wurde. So konnten wir uns noch unterhalten.

Leider hatte sich Fynn zuvor mit den alkoholischen Getränken ein wenig übernommen. Er war ziemlich angeschlagen. Da war das Alkoholverbot im Club genau richtig, um wieder etwas nüchterner zu werden. Schließlich hätte Fynn am nächsten Morgen mit Chris keinen schönen Vormittag erlebt. Das wollten wir vermeiden. Die Betreuer ließen normalerweise keine angetrunkenen Jugendliche herein. Nur, weil ich als Verantwortlicher dabei war, durften wir ausnahmsweise hinein. Als wir unsere Plätze gefunden hatten, sprach mich ein Betreuer auch prompt an:

„Lucien, kümmerst du dich bitte um deinen Freund. Er hat deutlich zu viel Alkohol intus. Ich möchte hier keinen Ärger haben und du kennst die Regeln.“

„Ja, ich weiß. Es ist heute eine echte Ausnahme. Er hat wohl unterschätzt, wie schnell der Alkohol hier wirkt. Ab jetzt gibt es auch keinen Tropfen mehr. Er würde sonst einen ganz fiesen Vormittag haben. Sein Trainer dürfte nicht begeistert sein, sollte er in diesem Zustand morgen zum Frühstück erscheinen.“

„Lasst ihn sich austoben und gebt ihm viel Wasser zu trinken. Dann fängt er sich vielleicht wieder. Wenn es Probleme gibt, sag mir bitte Bescheid. Ich kenne dich schon lange genug, dass du weißt was du tust. Viel Spaß noch.“

„Danke, ich passe ganz sicher auf.“

Dann war ich wieder bei meinen Freunden. Dustin hatte das Gespräch mitbekommen.

„Es gibt Probleme wegen Fynn, oder?“

„Nein, es gibt kein Problem. Wir sollten nur zusehen, dass er zu Hause wieder einigermaßen fit ist. Sonst hat er morgen ein Problem.“

„Das wäre für ihn besser. Ganz sicher. Aber wir können bleiben?“

„Ja, ich soll nur auf Fynn aufpassen. Als ob wir das nicht tun würden.“

„Hihi. Sehr witzig. Was machen wir jetzt?“

„Spaß haben und Fynn mal über die Tanzfläche scheuchen. Besorgst du uns etwas zu trinken. Fynn bekommt nur noch Wasser. Vielleicht 'ne Apfelschorle. Keine Cola.“

Stef hatte verstanden, warum ich das so wollte.

Dustin war mit seinem Freund bereits auf der Tanzfläche und Fynn hielt sich wacker. Er hatte bemerkt, dass wir ein ganz genaues Auge auf ihn hatten. Und bis zu der Situation, als einer der anderen Jungs seinen Freund anbaggerte, war Fynn gut dabei und mittlerweile auch nicht mehr so angeschlagen.

Ich stellte mich unauffällig zu Dustin. Er wurde von einem anderen, etwa sechzehnjährigen Jungen angeflirtet. Dustin blieb höflich, fühlte sich aber sichtlich unwohl. Er schaute immer wieder zu mir und plötzlich tauchte Fynn bei seinem Freund auf, schaute sich die Situation an und reagierte aggressiv.

„Hey, das ist mein Freund und ich möchte nicht, dass du ihn angräbst. Lass ihn also in Ruhe.“

Leider ließ sich der andere Junge von Fynn nicht einschüchtern. Er versuchte es immer wieder in verschiedenen Situationen. Dustin wurde immer unruhiger und Fynn richtig aggressiv. Ich musste eine Entscheidung fällen. Wenn wir länger hier bleiben würden, könnte es richtig Stress geben. Aber andererseits hätte der Typ auch einen Denkzettel verdient. Leider war Chris nicht bei uns. Der hätte das sicherlich direkt unterbunden.

Was sollte ich also tun? Ich entschied mich, einen der Betreuer des Jugendtreffs zu informieren. Er folgte mir sofort zum Ort des Geschehens. Mit einem Blick schien er die Situation erfasst zu haben. Der andere Junge war wohl nicht unbekannt und entsprechend harsch fiel die Ansage aus. Er erteilte dem Störenfried direkt Hausverbot für diesen Abend. Fynn legte den Arm um seinen Freund und gab ihm einen Kuss.

„Ihhh, du stinkst nach Alkohol. Aber dennoch bin ich froh, dass das jetzt vorbei ist.“

Fynn zuckte erst einen Augenblick zurück, um anschließend Dustin kurzerhand auf die Tanzfläche zu ziehen. Wir schauten den beiden hinterher. Das war ja noch einmal gut gegangen.

Stef lachte sich kaputt über Dustins Reaktion.

„Hihi, Dustin hat ja richtig Sinn für Humor. Sonst ist er immer so ernst.“

„Das stimmt. Aber jetzt lass uns noch etwas Spaß haben. Ich will auch tanzen.“

Also nahm ich meinen Freund und wir tobten durch den Club. Selbst Maxi hatte irgendwann seine Scheu überwunden und tanzte. Dass Nico und Tommy immer an vorderster Front zu finden waren, wunderte mich nicht. Tommy war mit Abstand der beste Tänzer von uns, er hatte seinen Freund mit dieser Vorliebe angesteckt.

So verloren wir die Zeit aus den Augen.

Erst kurz vor zwei Uhr öffnete ich unsere Haustür. Nico und Tommy waren weiter mit dem Taxi zu Nico nach Hause gefahren. Fynn hatte seinen Alkohol nahezu neutralisiert und war mit Dustin schnell in ihrem Zimmer verschwunden. Mir war klar warum. Während des Turniers hatten sie wenig Zeit füreinander gehabt. Maxi hatte eigentlich das Gästezimmer für sich, teilte das aber für diese Nacht mit Marco und Sascha. Ab morgen hatte er das für sich allein. Ich bat ihn nur leise zu sein, weil die beiden Jungs sicherlich schon schliefen.

Marc: Frühstück

Sabine und ich hatten bereits für das Frühstück alles vorbereitet. Lediglich die frischen Brötchen fehlten noch. Normalerweise wäre der erste der Jungs dran, mit dem Fahrrad zum Bäcker zu fahren. Heute nahm ich ausnahmsweise das Auto. Wir hatten noch für den Nachmittag etwas Kuchen bestellt und das wäre auf dem Rad, schlecht zu transportieren.

„Schatz, ich fahr zum Bäcker. Soll ich noch etwas besorgen?“

Sabine überlegte einen Augenblick, schüttelte ihren Kopf und ich ging nach unten in die Garage. Heute nahm ich bewusst den Lancia. Chris sollte ihn ja mit in die Werkstatt nehmen, um mit Luc zu sprechen. Ich wollte Chris das Auto bereits warm gefahren geben. Denn im kalten Zustand war der Lancia in dieser Konfiguration eine Diva. Außerdem hatte ich vor, für Chris einen kleinen, aber spürbaren Defekt einzubauen, den sie finden sollten. Sonst würde Luc schnell Verdacht schöpfen.

Beim Bäcker wurde ich freundlich wie immer begrüßt. Lediglich ein paar ortsfremde Gäste schauten irritiert, als ich den Laden betrat. Ich wartete, bis ich an der Reihe war und bekam alles, was ich benötigte.

Kurze Zeit später parkte ich den Lancia in der Einfahrt und auf dem Weg um das Haus in den Garten, konnte ich Sascha und Marco bereits hören. Sie tobten im Garten mit der Frisbeescheibe. Erstaunlich, wie sich die beiden in so kurzer Zeit entwickelt hatten. Gerade bei Marco war ich mir allerdings überhaupt nicht sicher, ob sich die Situation wirklich entspannen würde. Klar, die Beziehung zu seinen Eltern hatte sich stabilisiert. Dennoch hatte ich manchmal den Eindruck, dass er nicht so unbeschwert ist, wie es schien. Deshalb sollte sich Chris das anschauen. Er hatte mehr Erfahrungen als wir.

„Guten Morgen ihr zwei. Vor dem Frühstück schon sportlich? Nicht schlecht. Kommt ihr bitte in zehn Minuten zum Frühstück.“

„Guten Morgen Herr Steevens. Bei dem Wetter müssen wir nach draußen. Ist gut. Wir sind gleich da.“

Ich winkte ihnen noch kurz zu und brachte die Sachen aus der Bäckerei in die Küche. Dort war bereits richtig was los. Luc und Stef halfen Sabine beim Frühstück und auch Maxi war bereits anwesend.

„Hallo Jungs. Na, wie war euer Abend? Ihr seid lange unterwegs gewesen.“

Maxi schaut zu mir und sofort spürte ich seine Verlegenheit. Luc half ihm aus der Situation.

„Papa, Chris hatte gesagt, wir sollten nur pünktlich und fit zum Frühstück erscheinen. Das sind wir. Also alles im grünen Bereich.“

„Noch sind nicht alle erschienen. Also ist erst ein Teil der Vorgabe erfüllt.“

Chris betrat in diesem Moment ebenfalls die Küche.

„Guten Morgen allerseits. Alle Mann an Bord? Oder gibt es Verluste zu beklagen?“

Er schaute in die Runde und fing an zu grinsen. Maxi fand das überhaupt nicht witzig, denn Chris Vorgabe war eindeutig. Mal schauen, was passieren würde. Chris klopfte Maxi auf die Schulter.

„Hey, du hast es pünktlich geschafft und siehst fit aus. Aber sag mir, wo sind die anderen beiden?“

„Ähm, also ich nehme an, dass sie jeden Augenblick hier sind. Wach waren sie jedenfalls.“

„Pass auf, bevor ich losgehe und mal nach ihnen schaue, solltest du gehen. Sag ihnen, ich möchte sie in fünf Minuten angezogen hier sehen.“

Maxi nickte und verließ die Küche.

„Chris, findest du nicht, du bist etwas hart? Immerhin sind sie schon wach. Luc, wann seid ihr zu Hause gewesen?“

Marc hatte Sorge, ich würde die gute Stimmung kaputtmachen.

„Naja, es war eher gegen Zwei als um Eins. Sorry, Chris. Aber es war so lustig und schön. Außerdem haben wir so gut wie keinen Alkohol getrunken.“

Chris schaute Luc ganz genau an, kniff die Augen zusammen und schwieg. Mir war klar, Chris glaubte ihm kein Wort und auch ich hatte meine Zweifel, dass alles so perfekt gelaufen war. Chris beließ es dabei, gab mir einen Hinweis, ich sollte ihm folgen und verließ die Küche. Ich wartete noch einen Augenblick, falls Luc oder Stef noch etwas sagen wollten. Nur Stef schien unruhig zu sein.

„Was ist, Stef? Möchtest du etwas sagen?“

„Naja, also Luc hat schon weitestgehend die Wahrheit gesagt. Nur, dass alle wenig getrunken haben, stimmt so nicht. Chris glaubt Lucs Aussage auch nicht. Sonst wäre er nicht wortlos gegangen.“

Ich fing an zu lachen. Das wiederum irritierte Luc total.

„Papa? Was soll das jetzt? Lachst du uns aus?“

„Oh nein, ich finde es nur klasse, wie Stef das beschrieben hat. Ich glaube zu wissen, was Sache ist und Chris weiß es auch. Warten wir ab, bis Fynn und Dustin hier sind.“

Dann folgte ich Chris nach draußen.

„Du weißt genau was los ist, oder? Warum bist du gegangen?“

„Ach, ich möchte weder Luc noch Stef in Verlegenheit bringen. Sie wollen ihren Freunden nicht in den Rücken fallen und ich kann es verstehen. Vermutlich ist doch etwas mehr Alkohol getrunken worden. Ich finde es nicht schlimm, aber sie sollen dennoch pünktlich erscheinen. Schauen wir gleich mal. Ich denke, sie werden sich nicht abgeschossen haben, sonst hätte Stef mehr gesagt. Glaube ich zumindest.“

„Du kennst meine Jungs gut. Ich stimme dir zu. Stef und Luc hätten es nicht verschwiegen, wenn ungesunde Alkoholmengen im Spiel wären. Was machst du jetzt mit den dreien?“

Chris drehte sich lachend um und fing aus dem Handgelenk, die an ihm vorbeifliegende Frisbeescheibe. Das überraschte mich, mit welcher Leichtigkeit er die Scheibe aus der Luft holte.

„Vermutlich nichts. Aber sie sollen die Wahrheit sagen. Mal schauen, ob sie jetzt munter zum Frühstück erscheinen.“

Wir nahmen Sascha und Marco mit hinein und tatsächlich saßen alle am Frühstückstisch.

Mit einem fröhlichen im Chor gesprochenen: „Guten Morgen, Chris und Marc.“, wurden wir begrüßt. Das führte zu Heiterkeit auch bei Chris. Wir setzten uns an den Tisch und ein sehr lebendiges Frühstück begann. Auch Dustin und Fynn machten einen guten Eindruck.

Chris ließ alle in Ruhe frühstücken und erzählen, was sie gestern Abend erlebt hatten. Erst bei Stefs Frage an Chris:

„Und was hast du so gemacht? Ich nehme an, Marc hat dich ein wenig herumgeführt.“

Chris schaute von seinem Teller auf und lächelte.

„Stimmt. Wir haben die Gegend mit dem Mountainbike erkundet und im Gegensatz zu euch, waren wir sportlich und haben nur Fassbrause getrunken.“

Es war beeindruckend. Mit einem Satz hatte er Fynn erschreckt. Dieser schaute fragend zu seinem Freund und selbst Luc schien sich ertappt zu fühlen. Chris ließ es einfach im Raum stehen und widmete sich der weiteren Tagesplanung. Am Nachmittag wollte ich allen meine Werkstatt zeigen und Chris wollte ja mit Luc allein in die Werkstatt fahren. Ich hatte eine Idee, was ich mit den Jungs in der Zeit anstellen würde. Marco und Sascha sollten Luc in die Werkstatt folgen. Ich wollte, dass Chris mit ihnen in Ruhe etwas reden konnte. Er sollte sich ein Bild machen. Nur den Vorwand hatte ich mir noch nicht überlegt.

„Was meinst du mit deiner Bemerkung?“, wollte Maxi wissen.

„Ich meine es so, wie ich es gesagt habe. Oder möchtest du mir sagen, ihr habt Fynns Sieg nur mit Saft und Cola gefeiert?“

„Hast du ein Problem damit? Warum hast du es dann erst erlaubt?“

Maxi reagierte giftig auf Chris Aussage. Chris blieb ruhig, während Dustin unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Was würde jetzt passieren? Sollte ich eingreifen? Nein, das war Chris´ Baustelle. Er hatte mit Sicherheit sich etwas bei dieser Sache gedacht.

Chris lächelte Maxi an und erwiderte:

„Entspann dich wieder. Warum bist du gleich so giftig? Ich bin nicht blöd und wusste ganz genau, dass ihr euren Spaß haben werdet. Darum habe ich euch doch losgeschickt. Ihr seid pünktlich und fit beim Frühstück. Alles gut. Wenn es etwas zu erzählen gibt, werdet ihr mir das schon mitteilen. Ich habe Vertrauen in euch.“

„Da ist aber etwas, was ich sagen möchte.“

Fynn hatte für sich eine Entscheidung getroffen. Chris nickte ihm zu und alle Augen waren jetzt auf Fynn gerichtet.

„Ich möchte nicht, dass ihr meinetwegen lügen müsst. Ich habe gestern etwas mehr getrunken, als es vielleicht gut war. Wenn meine Freunde nicht aufgepasst hätten, würde ich heute hier sehr wahrscheinlich nicht so fit sitzen. Es tut mir leid, aber ich habe es unterschätzt.“

„Das soll auch schon anderen passiert sein.“ Chris sagte das mit einem Lachen im Gesicht.

„Wisst ihr, wenn ich nicht darauf vorbereitet wäre, dass ihr das austesten werdet, hätte ich etwas falsch gemacht. Ich freue mich allerdings sehr über das Vertrauen, dass ihr mir gegenüber habt. Fynn, du hättest das auch für dich behalten können und ich hätte nie erfahren, was passiert war. So gefällt mir das aber sehr viel besser.“

Die Situation löste sich auf. Meine Jungs erzählten, wo sie gewesen sind und was alles passiert war. Als Fynn dann die Geschichte mit dem Flirtversuch erzählte, fing Chris an zu lachen. Dustin wurde sogar etwas rot dabei. Ich fand es klasse. Sie erzählten uns alles und Chris hörte ihnen aufmerksam zu. Zum Abschluss sagte Chris:

„Ihr habt euch gut geschlagen. Keinen Stress gesucht und hervorragend deeskalierend eingegriffen. Ich bin stolz auf euch. Und Dustin, sieh es doch als Kompliment für dich.“

Das gefiel ihm dann doch noch.

Sascha und Marco hatten das ganze Gespräch wortlos, aber sehr aufmerksam verfolgt. Ich hatte das Gefühl, dass sie solche Gespräche sonst nicht zu hören bekommen. Umso wichtiger war es jetzt, ihnen zu zeigen, wie positiv wir mit den Erlebnissen der großen Jungs umgehen. Ich führte noch ein anderes Thema ein.

„Wie sieht eigentlich eure Tagesplanung aus. Nachdem wir ja jetzt wissen, dass Dustin auch für andere Jungs attraktiv ist.“

Chris wollte noch eine Bemerkung machen.

„Bevor hier Missverständnisse auftauchen, gerade für euch beiden. Ich lasse mit Sicherheit nicht alles durchgehen, aber wenn mir jemand von sich aus einen Fehler eingestehen kann, werde ich nicht so dumm sein, ihn dafür zu bestrafen. Das gilt auch für euch. Es ist eine wichtige Vertrauensgrundlage.“

„Also wäre es für dich nicht schlimm, wenn Fynn heute Morgen nicht so fit gewesen wäre, wenn er dir das nicht verheimlichen würde?“

„Für mich wäre es nicht schlimm, aber für Fynn schon. Er müsste dann heute den Alkohol wieder ausschwitzen. Das wäre mit Sicherheit kein Vergnügen für ihn. Schließlich ist er Leistungssportler und muss wissen, wer sündigt, muss hinterher härter arbeiten.“

Das hatten Sascha und Marco verstanden. Marco fragte sogar noch nach:

„Du hast doch auch mit anderen Kindern gearbeitet, die Probleme hatten. Hast du den Eltern gegenüber das dann auch so erklärt? Und wie haben die reagiert?“

„Natürlich. Meine Aufgabe war es ja, für die Jugendlichen eine Lösung zu erarbeiten. Manchmal musste ich dabei auch den Eltern mal sagen, dass sie sich zu ändern hatten.“

„Boah, cool. Das haben wir uns schon so oft gewünscht, dass meinen Eltern mal jemand sagt, wie bescheuert sie manchmal sind.“

Für beide war diese Aussage befreiend. Sie lachten und Chris schaute sie ganz genau an. Reagierte aber nicht weiter darauf. Er legte Sascha nur seine Hand auf die Schulter und nickte ihm zu.

Anschließend wurde der Tagesplan besprochen. Chris hatte sich eine gute Strategie überlegt, wie er mit Luc, Sascha und Marco allein sein konnte. Die anderen schickte er ganz einfach zum Laufen. Alternativ bot er ihnen andere sportliche Aktivitäten an. Da kam ich ins Spiel. Ich wollte mit ihnen ins Gelände mit den Mountainbikes. Oder vielleicht würde es auch noch ein anderes Sportgerät geben. Mal sehen, wie gut sie sich auf den Rädern anstellten.

Chris: Ein heikles Thema

Marc half mir mit einer kleinen Notlüge, um mit Luc allein in die Werkstatt fahren zu können.

„Luc, ich habe heute morgen ein Problem mit dem Delta festgestellt. Er lief nicht wirklich rund und Chris hatte früher ja auch einen Delta Integrale. Ich würde dich bitten, mit Chris in unsere Werkstatt zu fahren. Dort könntet ihr in Ruhe nachschauen, was für ein Problem das ist. Chris meinte, dass er früher Ähnliches hatte und weiß, wie sie zu lösen sind. Ich fahre in der Zeit mit den anderen mit dem Mountainbike eine Runde durch den Wald.“

Luc schaut überrascht. Dass sein Vater ihn allein in die Werkstatt ließ, war noch nicht allzu oft vorgekommen. Umso erfreuter schien er.

„Du vertraust mir deinen geliebten Delta an? Ich soll ihn sogar ohne dich reparieren? Wow.“

„Falsch, du sollst das nicht allein machen. Chris soll dir helfen, weil er das Auto sehr gut kennt. Ich komme die nächsten Tage nicht in Ruhe dazu. Wir brauchen doch das Auto am kommenden Wochenende für die Oldtimer Rally.“

Luc schaute mich an und begann zu lachen.

„Gibt es etwas, von dem du gar keine Ahnung hast? Das ist ja kaum zu glauben, was du alles kannst.“

Schmunzelnd antwortete ich ihm: „Tanzen und singen kann ich überhaupt nicht.“

Sascha, Marco und meine Jungs lachten sich kaputt über die Antwort. Ich musste jetzt auch lachen. Luc grinste und sagte:

„Ok, das werden wir vermutlich auch nicht brauchen. Ok, wann sollen wir losfahren?“

Ich schaute zur Uhr und wir klärten den weiteren Ablauf und danach gab mir Marc die Schlüssel mit den Worten und einem Blick zu Luc:

„Du darfst ja noch nicht, also bekommt Chris die Schlüssel. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr das wieder hinbekommt.“

„So wie wir Chris kennen, dürfte das für ihn eine lösbare Aufgabe werden.“

Maxi hatte eine gute Meinung von mir und traute mir viel zu. Also wollte ich sie nicht enttäuschen. Wobei ich ja wusste, was Marc manipuliert hatte. Das durfte jetzt aber noch nicht auffallen.

„Danke Maxi, ich werde versuchen, euch nicht zu enttäuschen. Dann lass uns starten, Luc.“

Luc ging voraus, verabschiedete sich noch von Stef mit einem Kuss. Ich folgte ihm. Stef fuhr mit meinen Jungs und Marc mit.

Als ich die Tür des Lancia öffnete kamen die Erinnerungen wieder. Der Innenraum war fast exakt so wie bei meinem Fahrzeug. Ebenfalls mit Überrollkäfig, der mir damals das Leben gerettet hatte. Die Schalensitze waren natürlich moderner und die Sechspunktgurte viel angenehmer, als zu meiner Zeit. Dennoch fand ich mich umgehend im Auto zurecht.

Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss und der Motor sprang direkt an. Ungewöhnlich für einen Delta Integrale. Mit einem Blick auf die Öl- und Wassertemperatur konnte ich sehen, dass der Motor bereits Betriebstemperatur hatte.

Hören konnte ich sofort, dass er nicht rund lief. Auch Luc schien beunruhigt zu sein. Er sagte:

„Das hört sich ganz komisch an. Meinst du wirklich, wir sollen zur Werkstatt fahren? Was ist, wenn noch mehr kaputt geht?“

„Das ist nicht so schlimm wie es sich anhört. Ich habe da eine Vermutung. Wir müssen nur die Drehzahl im Auge behalten. Dann kann nichts passieren. Ich gehe davon aus, dass der auch ein Dampfrad hat, oder?“

Luc lachte und zeigte auf ein kleines Rädchen unter der rechten Armaturentafel. Ich drehte es bis zum Anschlag nach links. Damit konnte man den Ladedruck regeln. Ich nahm diesen jetzt ganz zurück, um den Motor zu schonen.

Ich wusste zwar die Ursache, wunderte mich aber dennoch über diesen extrem schlechten Rundlauf. Etwa eine Viertelstunde später stieg Luc aus dem Wagen und öffnete mir das Werkstatttor. Ich fuhr hinein und stellte den Motor ab.

„Wow, ihr seid aber mit allem ausgestattet, was man so braucht. Sogar ein Plasmaschweißgerät. Marc macht keine halben Sachen. Und richtig viel Platz.“

„Ja, das stimmt. Allerdings sind wir hier nicht allein. Zwei Studenten haben sich hier selbstständig gemacht. Papa hat sich mit ihnen diese Werkstatt eingerichtet.“

Ich schaute mich ein wenig um und Marc musste wirklich ein Autoverrückter sein. In der Werkstatt standen noch ein paar andere Raritäten aus seiner Sammlung. Ich musste mir diese Schätze erst einmal genauer ansehen. Luc schmunzelte, aber erinnerte mich an den eigentlichen Grund unseres Besuches.

„Wollen wir nicht mal anfangen, den Lancia zu reparieren?“

„Hast du es eilig? Lass mich doch ein wenig die Wunderwerke bestaunen. Aber gut, bevor du auf eigene Faust anfängst und ich dann der Verantwortliche bin, lass uns anfangen. Lass mal den Motor an und wir hören mal, wo der Fehler liegen könnte.“

Luc startete den Motor und es war eindeutig. Er lief nicht auf allen Zylindern. Das war nicht ungefährlich für den Turbomotor. Deshalb gab ich Luc ein Zeichen, den Motor wieder abzustellen. Luc stieg wieder aus und schaute mich fragend an.

„Hast du schon einen Verdacht?“

„Ja, wir schrauben alle Zündkerzen heraus und schauen uns die einmal genau an.“

„Ok, Werkzeug ist dort im Wagen. Brauchen wir auch die Hebebühne? Dann sollten wir das Auto dort rüber rollen.“

Das Problem war aber, dass wir dafür zwei von Marcs Autos hinausfahren mussten. Einmal den Ferrari Aperta und den 918 Spyder. Zwei absolute Supersportwagen. Jeder Kratzer würde da ein Vermögen kosten.

„Wir schauen erst einmal nach den Zündkerzen bevor wir hier diese Kunstgegenstände bewegen müssen. Vermutlich haben wir auch gar keine Schlüssel hier.“

„Schlüssel sind kein Problem. Alle Schlüssel der hier stehenden Fahrzeuge liegen in einem Zahlencodetresor dort hinten. Papas Freunde müssen ja eventuell auch mal die Autos bewegen. Da müssen die Schlüssel hier sein.“

Immer mehr verstand ich Marcs Philosophie. Hauptsache praktisch und einfach. Er musste bedingungsloses Vertrauen in die beiden Partner haben. Hier standen immerhin Millionenbeträge herum.

„Ok, aber hoffentlich brauchen wir sie nicht.“

Dann öffnete ich den Werkzeugwagen und nahm mir das benötigte Werkzeug. Ich bat Luc mir zu assistieren.

„Pass bitte mit dem noch heißen Turbolader auf. Es ist leider sehr eng im Motorraum des Deltas.“

Marc hatte schon vorgearbeitet. Er hatte die Zündkabel der Reihe nach nummeriert. Also konnte Luc alle Kabel abziehen.

Ich setzte den Kerzenschlüssel an und löste alle Kerzen. Ich reichte sie Luc, der sie sich genau anschaute. Nach einer kurzen Prüfung sagte er:

„Hier Chris, schau dir diese Kerze an. Sie ist total schwarz und nass. Das sieht nicht gesund aus.“

Ich nahm die Kerze und konnte nur zustimmen.

„Ok, das stimmt. Hast du dir gemerkt von welchem Zylinder die kommt?“

„Ja, du hast gesagt zweiter Zylinder. Was denkst du, könnte die Ursache sein? Einspritzung oder eher elektrisches Problem?“

Ich überlegte einen Moment und schaute mir die Kerze noch einmal genau an.

„Eher elektrische Ursache. Vielleicht ist das Kabel defekt, oder es hat sich losvibriert. Das hatte ich früher auch. Schließlich ist Marcs Maschine nicht mehr wirklich seriennah.“

Plötzlich klingelte Lucs Handy. Er nahm das Gespräch an und ich tauchte wieder im Motorraum ab. Hatte mir ein Multimeter genommen und prüfte die Zündleitung. Wenige Minuten später stand Luc wieder neben mir.

„Papa fragt, ob wir schon etwas gefunden haben. Er bittet uns noch, einen Ölwechsel zu machen. Schaffen wir das noch oder hast du zeitlich was anderes geplant?“

„Kein Problem, machen wir. Öl habt ihr hier in der Werkstatt?“

„Ja. Alles vorhanden.“

„Gut, dann bereite du doch den Ölwechsel schon mal vor. Lass das Öl aber noch nicht ab. Ich möchte den Motor gleich noch mal starten.“

Er nickte und ging ins Lager, die Sachen vorzubereiten.

Ich testete den zweiten Zylinder und musste feststellen, dass der Stecker losgedreht war. Marc hatte also mit wenig Aufwand einen Fehler mit großer Wirkung eingebaut.

Ich drehte den Stecker wieder fest und startete den Motor. Er klang wieder vollkommen gesund. Das hatte Luc natürlich auch gehört und kam lächelnd an.

„Hey, du bist ein guter Mechaniker. Lass das Marc nicht wissen, sonst lädt er dich zu einem Oldtimerrennen als Schrauber ein.“

„Hahaha, ganz bestimmt nicht. Dafür bin ich viel zu untalentiert. Ich kenne mich mit dem Delta gut aus, aber nicht mit alten Amis.“

„Genau deshalb. Es gibt nicht mehr viele Mechaniker, die sich mit dem Delta richtig auskennen. Selbst Manuel weiß oft nicht mehr weiter. Vielleicht tauscht ihr euch aus. Du hast gesagt, dass du auch Rallys gefahren bist. Das ist genau das, was Papa auch macht.“

„Klar, aber ich habe keinen Werksmotor gehabt. Meine Maschine hatte nur 360 PS. Dieser dürfte im Wettbewerb mehr als 450 haben. Das ist eine andere Liga.“

„Papperlapapp. So viel anders kann das gar nicht sein. Mehr Ladedruck und ein größerer Lader. Sonst ist nicht viel geändert.“

„Wir sollten eigentlich jetzt mal testen wie er sich fährt. Fragst du deinen Vater bitte mal, ob wir eine Probefahrt machen dürfen.“

„Wir dürfen. Ich muss ihn dafür nicht fragen. Er hat schon gesagt, dass wir eine Probefahrt machen sollen. Ich weiß auch schon wo. Das wird dir bestimmt gefallen.“

Luc fing an zu grinsen und ich war mir nicht sicher, ob es gut sein würde, diese Probefahrt zu machen. Dennoch stiegen wir beide ein, schnallten uns an und ich startete den Motor.

Vorsichtig rangierte ich den kleinen Delta aus der Halle. Ich legte den ersten Gang ein und wir rollten vom Hof. Der Motor nahm sehr gut das Gas an und Luc hörte genau auf jedes Geräusch. Dann sagte er:

„Hört sich normal an. Was sagst du?“

Ich nickte und beschleunigte etwas. Schlagartig baute sich der Ladedruck auf und die Drehzahl ging nach oben. Ich hatte noch immer den niedrigsten Ladedruck eingestellt. Erst langsam drehte ich am Ladedruck. Dann wies mir Luc den Weg von der Straße in eine Kiesgrube.

„Hier dürfen wir uns austoben. Papa kennt den Besitzer gut und der hat uns das erlaubt. Wir dürfen hier richtig testen.“

Ungläubig schaute ich Luc an, der lachte mich an.

„Komm, tu nicht so unschuldig. Du freust dich doch auch auf diese Probefahrt.“

„Naja, einerseits schon, aber andererseits habe ich nicht nur gute Erinnerungen an dieses Auto.“

„Dann vergiss sie einfach und lass uns etwas Spaß haben. Du kannst hier wirklich Gas geben.“

Na gut, dachte ich. Dann fuhr ich ein paar zügige Runden im Sand und so langsam kehrte das Gefühl für den Drift zurück. Sehr schnell hatte ich den Delta wieder gut im Griff und konnte quer fahren. Luc zeigte mir immer wieder den Daumen hoch. Er hatte großen Spaß und ich musste zugeben, mir machte es auch immer mehr Freude dort herumzufahren. Immer schneller und immer mehr das Limit austesten. Allerdings kam ich an einen Punkt, wo ich mich nicht mehr wohlfühlte. Es kamen die Erinnerungen hoch und an dieses hässliche Geräusch, als ich unter dem Bagger einschlug. Schlagartig überkam mich so etwas wie Panik.

Ich entschloss mich zurückzufahren. Es ging einfach nicht mehr. Allerdings hatte es mir bis zu diesem Augenblick sehr viel Freude bereitet.

„Sag mal, in welche Waschanlage fahrt ihr mit euren Autos? Oder wascht ihr alle nur mit der Hand?“

Luc nickte und lachte.

„Die meisten Autos waschen wir mit der Hand in der Werkstatt. Aber hier sollten wir eine Waschanlage bevorzugen. Das Auto ist doch nicht mehr so ganz sauber.“

Eine halbe Stunde später fuhr ich wieder in die Werkstatthalle und stellte den Motor ab.

„Luc, ich habe noch eine ganz andere Frage an dich. Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“

„Klar, du kannst mich alles fragen. Was hast du für ein Anliegen?“

„Ich glaube, dass diese Frage nicht besonders angenehm für dich sein wird. Es geht um Leif.“

Er atmete tief aus.

„Also gut, was möchtest du wissen?“

„Warum bist du so angepisst von deinem Bruder. Ihr begegnet euch wie Feuer und Wasser. Das finde ich ungewöhnlich für dich. Du bist bei allen anderen Menschen bemüht, einen Dialog zu finden. Warum nicht bei deinem Bruder? Was hat er dir angetan, dass du so verbittert bist?“

Luc schaute mich fast entsetzt an. Er fühlte sich durchschaut und wie ein Sünder ertappt. Ich konnte es förmlich fühlen. Aber er blieb ruhig und schaute mich an.

„Gibt es eigentlich etwas, was du nicht mitbekommst?“

„Bestimmt“, sagte ich, „aber das war schon auffallend. Schau mal, ich sollte für Leif extra Karten für das Turnier besorgen und dann kam er nicht einmal zum Finale. Das hat mich etwas geärgert. Und dich hatte es genauso genervt. Also was ist dein Problem mit ihm?“

Nach kurzem Überlegen, erzählte er mir die Geschichte aus seiner Sicht. Es wühlte ihn sehr auf. Immer wieder war er den Tränen nahe. In solch extremer Gefühlslage hatte ich Luc bislang noch nicht erlebt. Ich hatte mit ihm die Werkstatt mittlerweile verlassen und mich mit ihm auf die Bank unter der großen Linde gesetzt. Als er fertig war, schaute er mich mit glasigen Augen fragend an.

„Du denkst bestimmt, ich bin ein Idiot, dass ich nach so langer Zeit das nicht verzeihen kann. Aber ich kann einfach nicht entschuldigen, nach all dem, was Stef erlitten hatte, so eine Bemerkung in meiner Familie ertragen zu müssen. Vom eigenen Bruder so beleidigt zu werden, das akzeptiere ich einfach nicht.“

„Das kann ich nachvollziehen. Allerdings hat ja nicht Leif das gesagt, sondern Monique. Sie hat sich entschuldigt und das mehrfach. Dennoch schmerzt es dich immer noch so sehr. Kann es vielleicht sein, dass es da noch mehr gibt?“

Ein ganz leises „Vielleicht“ folgte.

„Möchtest du mir das erzählen, was da noch im Raum steht?“

„Er denkt immer nur an sich und seinen Vorteil. Er macht nichts ohne eine Gegenleistung zu fordern. Außerdem denkt er momentan nur daran, so oft wie möglich mit ihr ins Bett zu steigen. Ständig erzählt er mir von seinem geilen Sex mit ihr. Ich finde das pervers, zumindest ist das nicht mehr normal.“

Hoppla, da taten sich ja ganz neue Perspektiven auf.

„Was sagen eure Eltern dazu? Oder wissen sie überhaupt von dieser Seite der Geschichte?“

„Sie kennen nur die Sache mit der Beleidigung. Das andere habe ich mich nicht getraut zu sagen. Es ist mir sowas von peinlich. Wie kann man nur so sexsüchtig sein. Leif hat immer toll aussehende Mädchen gehabt, die meistens jedoch nicht den Intelligenzlevel hatten wie er. Er nutzt sie aus, auch mit Papas Geld.“

„Ok, du schämst dich für ihn und deshalb möchtest du auch mit Monique und ihm so wenig wie möglich zu tun haben.“

Er nickte stumm. Seine Körperhaltung verriet mir allerdings seine innere Wut über diese Situation. Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter und er lehnte sich an mich. Ich hielt ihn einfach nur fest, bis er sich etwas beruhigt hatte.

Ich war überrascht über diese heftige Reaktion bei ihm. Es musste ihn zutiefst getroffen haben und meine Vermutung war, dass Leif ihm auch über längere Zeit bereits zuvor Schmerzen zugefügt hatte. Da stand noch eine größere Aufgabe vor uns.

„Wer weiß denn schon über deine wahren Beweggründe über den Streit mit Leif und Monique?“

„Eigentlich nur Stef und jetzt du. Ich möchte nicht, dass es noch mehr Streit und Stress gibt.“

„Kann ich verstehen, aber meinst du nicht, ein ernsthaftes Gespräch mit den beiden würde die einzige Chance auf Veränderung sein? Wie soll Leif wissen, dass er dich zutiefst verletzt hat, wenn du es ihm nicht sagst?“

„Schon, aber ich fühle mich ihnen nicht gewachsen. Leif ist Papas leiblicher Sohn. Ich bin ja nur sein Stiefsohn. Ich bezweifle, ob er mir helfen wird.“

Das konnte ich jetzt überhaupt nicht nachvollziehen. Gerade Luc gegenüber hatte Marc immer volle Unterstützung gezeigt. Marc war oft genug mit Leif hart ins Gericht gegangen. Das konnte eigentlich nicht der wahre Grund sein. Gut, momentan wollte mir Luc nicht mehr sagen, das respektierte ich. Dennoch versuchte ich, dass ein Gespräch zustande kommen kann.

„Was wäre denn, wenn ich an diesem Gespräch teilnehmen würde? Wenn ich versuchen würde, zwischen euch zu vermitteln. Euer Papa müsste dann gar nicht als Schlichter arbeiten, sondern das würde ich übernehmen.“

Er zuckte mit den Schultern. So ratlos und verunsichert hatte ich Luc noch nicht erlebt. Das musste ein bereits lange schwelender Konflikt sein.

„Denk mal darüber nach und vielleicht sprichst du mit Stef darüber. Ich biete dir jedenfalls meine Hilfe an und würde versuchen, diese Baustelle zu schließen.“

„Du würdest wirklich versuchen, auch mit Leif zu sprechen und ihm das zu erklären? Ich kann es einfach nicht mehr.“

„Ja, absolut. Wenn du das möchtest, werde ich mit euch eine Lösung erarbeiten.“

„Ok, ich denke darüber nach und spreche mit Stef. Allein schaffe ich das einfach nicht.“

Dieses Gespräch hatte sich anders entwickelt, als ich es zuvor gedacht hatte. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich zwei Stimmen. Da fiel mir wieder ein, Sascha und Marco wollten ja auch vorbeikommen. Schon fegten die beiden mit ihren Rädern in die Einfahrt. Sie hatten immer nur Vollgas im Kopf. Mal in Ruhe etwas tun, das war überhaupt nicht ihr Ding.

Wir mussten noch den Ölwechsel machen und Marc hatte mir aufgetragen, nach den Rädern von Sascha und Marco zu schauen. Sie sollten einige technische Mängel aufweisen, die wir gemeinsam beheben sollten.

„Schau mal, Luc. Unsere beiden Nachwuchsrennfahrer sind auch da.“

Luc musste lachen, nachdem ich das gesagt hatte. Sascha und Marco schauten uns fragend an.

„Ist doch wahr.“, sagte ich.

„Ihr seid ständig unterwegs und immer mit Vollgas. Aber ich muss jetzt mal meckern. Ich sehe, dass Sascha mit nur einer Bremse fährt. Warum ist das so? Das ist lebensgefährlich.“

Sascha zuckte wie ein ertappter Sünder zusammen. Marco nahm ihn in Schutz.

„Ja, das stimmt. Allerdings kümmern sich seine Eltern nicht darum, sie zu reparieren. Sie sagen immer, dass er das selbst machen soll. Wir können das aber nicht und wir haben nicht so viel Taschengeld, um das in der Werkstatt machen zu lassen.“

„Das ist mir klar, dass ihr nicht die Werkstatt allein bezahlen könnt. Aber die meisten Reparaturen könnt ihr selbst machen, wenn euch das richtig gezeigt wird.“

„Toll, wer soll uns das zeigen. Meine Eltern haben ja nicht mal Zeit, mit mir mal etwas zu spielen.“

Sascha machte einen geknickten und enttäuschten Eindruck. Marco hingegen versuchte seinen Freund wieder aufzubauen.

„Manchmal helfe ich Sascha, aber bei diesen hydraulischen Bremsen habe ich Angst, etwas falsch zu machen.“

Luc schaute sich bereits die defekte Bremse an und meine Aufgabe war es nun, die beiden Jungs aufzubauen.

„Hättet ihr denn überhaupt Lust, etwas über die Reparatur von Fahrrädern zu lernen?“

„Auf jeden Fall. Das wäre echt cool, wenn wir das wirklich selbst könnten.“

„Gut, dann bringt die Räder in Marcs Werkstatt und wir schauen uns das gemeinsam an. Mal sehen, was wir für euch tun können.“

Dabei legte ich Sascha meinen Arm um seine Schulter und schob ihn vor mir her in die Halle. Ich bat Luc, Saschas Fahrrad auf die Motorradbühne zu stellen und die defekte Bremse auszubauen. Ich schaute mir derweil Marcos Rad an. Er hatte ein Problem mit einer kleinen Unwucht im Hinterrad. Gemeinsam bauten wir das Rad aus und ich zeigte ihm, wie man mit Hilfe eines Speichenschlüssels das Laufrad richten konnte.

Als wir fertig waren, freute sich Marco wie ein Schneekönig. Luc hatte sich mit Sascha die Bremse vorgenommen. Leider konnte Luc sie nicht wieder in Betrieb nehmen.

„Ich habe keine Ahnung, warum sie den Bremszylinder nicht freigibt. Irgendwas stimmt da nicht. Aber ich kann nicht feststellen was.“

Er zeigte mir die Mechanik und die Bremszylinder. Sie bewegten sich nicht. Das war nicht gut.

„Wir reinigen sie zuerst einmal mit Aceton. Das löst den Bremsstaub. Dann sehen wir weiter.“

Ich gab Sascha eine Flasche Aceton und ein paar Putzlappen aus Baumwolle. Dann folgte eine kleine Einweisung und er legte los.

Staunend schaute ich ihm zu. Er machte keine halben Sachen und arbeitete sehr sorgfältig. Mir war es schleierhaft, warum seine Eltern ihn nicht besser unterstützten. Untalentiert war er jedenfalls nicht.

Währenddessen schaute ich mir die Supersportwagen in der Halle an. Es juckte mir in den Fingern. Zu gerne hätte ich einen dieser Motoren mal gehört. Allerdings ohne Marc fragen zu können, wäre das mit Sicherheit keine gute Idee. Also beließ ich es beim anschauen.

„Chris, kannst du bitte mal kommen. Sascha ist fertig mit reinigen. Ich glaube, wir haben die Ursache gefunden.“

Luc hatte mich aus meinen Träumen geholt und ich ging zurück, schaute mir das Ergebnis an und Luc zeigte mir den Bremssattel. Es war ein Fremdkörper zwischen dem Bremszylinder und Kolbenwand. So konnte der Bremskolben nicht zurückgehen. Ich befreite den Übeltäter und sofort fuhr der Kolben zurück. Problem gelöst.

Eine halbe Stunde später hatten wir das Rad komplett montiert und eine Menge Geld für die Jungs gespart.

„Das war echt cool mit euch zu arbeiten. Vielen Dank. Ich habe auch viel gelernt. In Zukunft kann ich doch einiges jetzt selbst reparieren.“

Sascha strahlte, als er das gesagt hatte. So ein Lachen hatte ich bislang bei ihm noch nicht gesehen.

„Das ist schön und genauso sollte es auch sein. Je mehr ihr selbst machen könnt, desto selbstständiger werdet ihr. Ich kann nicht verstehen, warum euch das zu Hause bislang keiner gezeigt hat. Aber jetzt könnt ihr das.“

Sascha schaute mich an und was jetzt kam, machte mich wütend.

„Du hast heute mit mir mehr Zeit verbracht, als meine Eltern im ganzen Monat. Ich habe mir das so oft gewünscht.“

Marco nahm sofort seinen besten Freund in den Arm und baute ihn wieder auf.

„Sieh es doch positiv. Chris hat uns etwas gezeigt, was wir in Zukunft für uns nutzen können. Wir halten zusammen und werden auch die blöden Typen gemeinsam aushalten.“

„Welche blöden Typen?“, fragte ich nach.

„Na, die uns immer wieder erpressen und zwingen, für sie Dope zu verteilen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich es nicht mehr mache. Seitdem bedrohen sie uns.“

„Ok“, erwiderte ich, „ kommen die aus eurer Schule oder wo tauchen die auf?“

„Nein, sie warten immer vor der Schule und drohen damit, dass sie mich krankenhausreif schlagen wollen.“

Bei den letzten Worten hatte Sascha schwer mit der Fassung zu kämpfen. In mir baute sich Wut auf. Da musste sofort ein Riegel vorgeschoben werden.

„Gut, sie warten jeden Tag auf euch?“

Auch Marco nickte nun und mir war bewusst, hier war dringender Handlungsbedarf.

„Passt auf, ich spreche gleich mit Marc und wir werden das verändern. Wenn ihr morgen aus der Schule kommt, werden die ihr blaues Wunder erleben. Verlasst euch drauf. Das wird aufhören.“

Als Luc meine Worte gehört hatte, fing er an zu grinsen und seine Augen leuchteten. Er ergänzte meine Aussage mit den Worten:

„Also wenn Chris das so sagt, dann müssen die sich aber ganz warm anziehen. Das wird eine ganz böse Überraschung. Und so, wie ich meinen Papa kenne, wird er da auch kräftig mitmischen. Jetzt wissen wir ja, was das Problem ist.“

„Und was ist, wenn sie uns dann auflauern, wenn Chris und Marc mal nicht da sind? Dann können wir uns nicht mehr wehren.“

„Keine Sorge“, beruhigte ich die beiden, „sie werden euch nicht mehr auflauern. Ganz bestimmt nicht.“

Innerlich tobte ich. Das war so dreist von diesen Typen. Da würden wir morgen ein Exempel statuieren. Darauf konnten sie sich verlassen.

Sascha und Marco bedankten sich bei mir, denn leider mussten sie schon nach Hause fahren. Der Besuch bei den Steevens war zu Ende und heute würden sie zu Hause schlafen. Ich verabschiedete mich mit einer Umarmung von ihnen und versprach erneut, sie von der Angst zu befreien.

Luc und ich hatten noch den Ölwechsel beim Lancia gemacht und wollten gerade nach Hause fahren, als mein Handy klingelte. Marc rief an. Hoffentlich war nichts passiert.

„Hallo Marc, was gibt es? Ist etwas passiert?“, fragte ich.

„Keine Panik, alles gut hier. Ich wollte nur fragen, wie lange ihr noch braucht. Wir erwarten euch dann hier.“

„Äh ja, wir sind fertig. Wir könnten jetzt nach Hause fahren. Aber es gibt da noch eine Sache, die wir beide besprechen müssen. Es geht um Sascha und Marco.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Hast du mit Luc auch sprechen können?“

„Aber ja, das hätte ich doch fast vergessen. Das war ein sehr gutes Gespräch. Wir fahren jetzt los. Bis gleich.“

Marc legte auf und ich stieg in den Lancia, in dem Luc bereits saß und wartete.

„Was wollte Papa noch?“

„Er hat nur gefragt, wann wir fertig seien. Können wir los?“

Luc nickte und ich legte den ersten Gang ein.

Als wir in die Garage bei den Steevens fuhren und ich den Motor abgestellt hatte, fragte mich Luc:

„Wie schaffst du das nur immer, den Leuten die Informationen zu entlocken, die du haben möchtest? Eigentlich wollte ich nicht über Leif sprechen. Dennoch geht es mir jetzt viel besser. Das finde ich total erstaunlich.“

„Hahaha, das ist sicher eine falsche Wahrnehmung. Du hast mir etwas erzählt und ich habe nur zugehört. Genau wie bei Sascha und Marco. Sie haben mir etwas erzählt und ich habe nur zugehört.“

Luc schüttelte seinen Kopf und wir stiegen mit einem Lächeln im Gesicht aus.

Oben angekommen, erwartete Marc uns bereits. Er sah frisch geduscht aus. Aber wo waren meine Jungs?

Marc bat mich hingegen in sein Büro und Luc wollte duschen gehen.

„Möchtest du einen Tee oder lieber eine Fassbrause?“

„Jetzt lieber einen Tee. Was ist passiert, dass ich gleich ins Büro gebeten werde?“

„Hahaha, nein. Es ist gar nichts passiert, aber ich bin neugierig. Was hat Luc dir erzählt?“

„Also gut, dann berichte ich mal.“

Es dauerte doch eine halbe Stunde bis ich alles berichtet hatte. Marc schaute mich anerkennend an.

„Wow, das ist heftig. Damit habe ich nicht gerechnet. Dass Leif manchmal schwierig ist, war mir bewusst. Allerdings, diese Sache geht gar nicht. Da muss Abhilfe geschaffen werden. So wie du dich angehört hast, hast du auch schon einen Plan.“

„Richtig. Ich werde mich mit Leif und Monique und mit Stef und Luc zusammensetzen. Das klären wir gemeinsam, ohne dass es zu Schuldzuweisungen kommen wird. Im Anschluss daran möchte ich gern mit allen etwas besprechen. Es wird dabei um mich gehen. Es ist an der Zeit, sie über meine Vergangenheit zu informieren.“

„Respekt. Das willst du wirklich machen?“

„Ja, lange genug Zeit darüber nachzudenken hatte ich jetzt. Mein endgültiger Entschluss kam, als ich mit Luc über die Situation mit Leif diskutiert hatte. Es ist richtig, dass sie erfahren, was ihr Trainer schon alles erlebt hat und vielleicht auch auf dem Kerbholz hat.“

„Mir gefällt dein Gedanke und ich glaube, dass es euch noch enger zusammenbringen wird. Sie werden ganz sicher vertraulich damit umgehen.“

„Da ist noch etwas, ich möchte Sabine und dich bitten, beim Gespräch mit euren Kindern dabei zu sein. Ich gehe davon aus, dass ihr auch beteiligt seid und von daher wäre es gut, wenn alle an einem Tisch sitzen würden.“

Marc machte einen überraschten Eindruck, während Sabine, die gerade hinzugekommen war, damit gerechnet hatte. Sie sagte spontan:

„Auf jeden Fall sitzen wir dann mit am Tisch. Wenn du sagst, dass es sinnvoll wäre, dann ist das selbstverständlich, dass wir dafür Zeit haben werden. Wenn es jemand schafft, unsere zerstrittenen Kinder wieder zusammenzubringen, dann Chris.“

„Oha, damit setzt du mich aber ganz schön unter Druck. Ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich gelingen wird. Allerdings versuchen werde ich es auf jeden Fall.“

Sabine begann zu lachen und schubste mich an.

„Du untertreibst maßlos. Keinem von uns ist es gelungen, Luc dazu zu bringen, einem von uns beiden zu erzählen, was sein Problem ist. Dann kommst du und er schafft es, dir so viel Vertrauen entgegen zu bringen. Das ist eine Leistung. Also wenn es einer kann, dann du. Und hör auf, an dir zu zweifeln. Ich weiß, dass Luc dich bewundert. Von Stef ganz zu schweigen.“

Ich schaute Marc leicht verlegen an und er grinste mit den Worten:

„Du solltest nicht den Fehler begehen, Sabine jetzt zu widersprechen.“

„Auf gar keinen Fall. Was hast du eigentlich mit meinen Jungs gemacht? Die sind noch gar nicht wieder hier?“

„Doch, doch. Aber Stef hat sie mit in die Sauna genommen. Dort sollen sie sich etwas erholen. Wir haben eine anstrengende Runde mit den Mountainbikes gemacht, damit sie nicht einrosten.“

„Das ist gut. Und was machen wir noch mit dem angebrochenen Tag? Hast du was geplant?“

„Ja, habe ich. Nur wir beide, ohne die Jungs. Sabine wird sich hier um das Essen kümmern. Aber keine Sorge, sie muss nicht allein arbeiten. Heute habe ich einen Caterer bestellt, der das Essen liefern wird. Wenn du also bereit bist, können wir los.“

„Ich bin bereit. Wann genau sollen wir das Gespräch mit Leif und Luc machen? Morgen vielleicht nach dem Frühstück? Meine Jungs werden sicher mal länger schlafen wollen.“

„Das ist ein guter Gedanke. Aber jetzt machen wir beide einen kleinen Ausflug. Mehr verrate ich noch nicht.“

Marc führte mich nach hinten in den Garten und dann in die Garage. Er ging auf die Cobra zu und öffnete die Beifahrertür.

„Du fährst, und keine Widerrede. Ich weiß bereits von Luc, dass du verdammt gut fahren kannst. Er hat schon von eurem Ausflug in die Kiesgrube gepetzt.“

Dabei hatte er wieder dieses verschmitzte Lächeln im Gesicht. Ich stieg also hinter dem Holzlenkrad ein und orientierte mich zuerst. Als ich das Kupplungspedal treten wollte, erschrak ich etwas. Das war nichts für Warmduscher. Ich bewegte den Schalthebel, ob wirklich der Leerlauf eingelegt war und dann drückte ich den Startknopf.

Ein gewaltiges Donnergrollen erwachte unter der Motorhaube. Ehrfürchtig fuhr ich diese Ikone des Automobilbaus aus der Garage auf die Straße.

Die ersten Meter waren schwierig. Die Leistung war enorm und ich musste mich erst an diese gewaltigen Lenkkräfte gewöhnen. Danach ging es sehr gut. Je schneller man mit diesem Monster fuhr, desto einfacher wurde es.

Marc dirigierte mich über die Straßen und sehr bald kamen wir an einen kleinen Yachthafen am großen Genfer See. Marc lotste mich auf einen Parkplatz und wir stiegen aus. Klare, aber angenehme Luft drang in meine Lungen.

„Also das ist einfach traumhaft hier. Ich glaube, ich mache hier mal richtig Urlaub. Wenn es in der Schweiz nur nicht so unglaublich teuer wäre.“

„Wenn du uns rechtzeitig sagst, wann du kommen möchtest, können wir ja schauen. Aber jetzt wechseln wir das Transportmittel. Autofahren kannst du, sogar mit meinem Monster. Das können bislang nur ganz wenige so gut wie du.“

Er ging zügigen Schrittes in Richtung Hafenanleger. Dort lagen eine Reihe Motoryachten. Ich wunderte mich jetzt, denn von Motorbooten hatte Marc bislang nicht gesprochen.

„Was wird das denn jetzt? Du hast doch nicht etwa auch ein Boot?“

„Nein“, lachte er.

„Das gehört einem ehemaligen Rennfahrerkollegen. Ich kann es mir hin und wieder ausleihen. Und genau das werden wir beide jetzt tun.“

Mit einem schnellen Satz sprang er über die Reling und ging an Bord eines kleinen, aber eleganten Motorbootes. Ich war mir sicher, dies musste ein Riva-Boot sein. Ich war deutlich vorsichtiger beim Betreten des Bootes.

Marc hatte bereits den Motor gestartet und mich gebeten die Leinen zu lösen, damit er ablegen konnte. Ich warf die Leinen ins Boot und stellte mich dann zu Marc in den Führerstand.

Angenehm leise blubberte der Motor vor sich hin und wir legten ab. Die ersten Meter bewegte sich das Boot sehr langsam. Erst, als wir etliche Meter vom Anlegeplatz entfernt waren, legte Marc den Gashebel nach vorn. Der Bug hob sich aus dem Wasser und eine große Bugwelle bildete sich.

Ich konnte mich gerade noch an der Reling festhalten, sonst wäre ich nach hinten gefallen. Die Leistung des Bootes musste enorm sein. Im Handumdrehen tobte ein kleiner Orkan durch den Leitstand und Marc fegte über das Wasser. Es waren kaum Boote auf dem See und somit hatten wir freies Feld.

Dennoch tanzte der Bug auf dem Wasser und einige harte Schläge kamen in meinem Rücken an. Das wäre sicherlich auf Dauer kein Vergnügen für mich, aber jetzt machte es mir große Freude, über das Wasser zu fegen. Ich hatte nicht gedacht, dass so ein kleines Boot derart Geschwindigkeit aufbauen konnte.

Plötzlich nahm Marc das Gas weg und wir trudelten aus. Das Boot machte keine Fahrt mehr und er stellte den Motor ab. Stille breitete sich um uns aus. Nur ganz leicht dümpelte das Boot noch im Wasser und Marc meinte:

„Ist das nicht ein schöner Ausblick. Wir sind mitten auf dem Genfer See und können in alle Richtungen schauen.“

Es war in der Tat umwerfend und beeindruckend.

„Das ist wirklich traumhaft schön. Schade, dass man für diesen Blick erst so ein teures Spielzeug braucht. Das muss ein Vermögen gekostet haben und von den Spritkosten ganz zu schweigen. Für mich wäre das keine Option.“

Marc lachte und nickte.

„Da stimme ich zu. Es ist ein sehr kostspieliges und zeitaufwendiges Hobby. Deshalb habe ich auch kein eigenes Boot. Mir fehlen die Zeit und das Interesse. Aber hin und wieder darf ich ja dieses Boot bewegen. Das genieße ich dann schon.“

Für einige Minuten blieben wir regungslos auf dem Wasser und Marc erklärte mir die verschiedenen Panoramen. Dabei entdeckte ich eine große Burg oder ein Schloss, das direkt am Wasser zu liegen schien.

„Was ist das denn für ein imposantes Bauwerk?“

„Ah, du meinst das Schloss Chillon. Ja, ein wundervolles Schloss. Möchtest du dir das näher ansehen?“

„Gerne, es steht beeindruckend schön da.“

Marc startete den Motor und beschleunigte wieder. Der kraftvolle Motor brüllte auf und wir schossen nur so über das Wasser. Wenige Minuten später drosselte er den Motor und legte dann direkt am Schloss an.

Er sprang über die Reling und ich warf ihm in die Leinen zu. Er band das Boot fest und ich stieg ebenfalls auf den Steg. Am Eingang wartete eine große Menschenschlange. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Solche Besichtigungen würde ich am liebsten allein oder zumindest nicht in einer großen Gruppe machen wollen. Marc ging zielstrebig zum Personaleingang.

„Arbeitest du hier?“, fragte ich nicht ganz ernst gemeint.

„Nein“, lachte er, „aber ich kenne die Direktorin und sie gewährt uns bestimmt eine private Führung. Sie ist eine gute Freundin von Fernando Alonso. Ich habe mit ihm hier mal eine Führung gemacht. Das war damals ein richtiges Event. Vor allem, weil an diesem Tag eine Schulklasse hier war. Von unserer Führung haben wir nicht so ganz viel gesehen. Wir waren mehr mit Autogrammschreiben beschäftigt.“

Als er das gesagt hatte, konnte ich mir das sehr gut vorstellen. Zwei der erfolgreichsten Rennfahrer an einem Ort mit einer Schulklasse. Ich musste lachen.

Mittlerweile waren wir im Verwaltungsbereich angekommen und Marc meldete uns bei der Sekretärin von Frau dos Santos an. Wir nahmen in zwei sehr bequemen Sesseln Platz.

Eine Stunde später hatte ich ganz viel neuen Input und eine bemerkenswerte Führung genießen können. Dieses Schloss ist im Jahr 1150 erstmals schriftlich erwähnt worden und befindet sich seit 1803 im Besitz des Kantons Waadt. Ich möchte gar nicht alles wiedergeben, aber so viele historische Informationen hatte ich seit meiner Zeit am Gymnasium nicht mehr bekommen. Die Schönheit des Schlosses sprach für sich. Sehr beeindruckend. Marc bedankte sich für die private Führung und wir machten uns wieder auf den Weg zurück zum Boot.

Als ich neben ihm am Führerstand Platz nahm, erklärte er mir die Funktionen der Bedienung. Dann sollte ich bis zum Anleger selbst mal steuern. Eigentlich war das verboten, denn ich hatte keinen Bootsführerschein.

„Das macht nichts, solange du das tust, was ich sage und wir vor dem Anlegen wieder den Platz tauschen. Hier wird uns niemand kontrollieren.“

Ein wenig angespannt erhöhte ich langsam die Geschwindigkeit und Marc gab mir Zeichen, in welche Richtung ich steuern sollte. Es klappte erstaunlich gut, allerdings fuhr ich deutlich langsamer als Marc. Ich hatte zu viel Respekt vor diesem kraftstrotzenden Boot.

Dennoch war dieser Ausflug sehr entspannend und viel gelernt hatte ich noch dazu. Allerdings waren wir auch noch nicht wieder zu Hause bei den Steevens. Erst jetzt hatte ich wieder meine Jungs im Kopf. Was machten die eigentlich während unseres Ausfluges? Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Schließlich waren wir gemeinsam unterwegs.

Marc bestand erneut darauf, dass ich die Cobra nach Hause fahren sollte und wenige Minuten später waren wir auch heil wieder am Haus der Steevens angekommen. Der Achtzylinder erstarb und ich konnte das Knistern der Sidepipes hören.

„Also eines muss man sagen. Dieses Auto macht süchtig. Es ist vollkommen unvernünftig, damit auf der Straße zu fahren, aber es ist einfach nur geil.“

„Danke, ich kann dir nur zustimmen. Unvernünftig, aber geil. Los, lass uns reingehen. Die Jungs werden schon auf uns warten. Immerhin müsste das Essen bereits hier sein.“

Wir gingen in das Haus, aber ich musste ja noch über eine Baustelle mit Marc reden. Sascha und Marco.

„Wo können wir mal ungestört über die Situation mit Sascha und Marco sprechen?“

Marc drehte sich abrupt zu mir um.

„Oh, verdammt. Das habe ich ja fast vergessen. Das machen wir nach dem Essen. Sonst werden die Jungs und vor allem Sabine sauer. Das müssen wir verhindern.“

Wir lachten und betraten die Terrasse. Dort saßen bereits alle an einem langen Tisch und schauten uns an. Dann applaudieren sie und selbst Marc schaute überrascht.

„Was hat das denn jetzt zu bedeuten?“, fragte ich.

„Luc sagte uns, dass es nahezu ausgeschlossen wäre, dass ihr pünktlich zum Essen zurück sein würdet. Jetzt seid ihr aber tatsächlich genau passend zurück.“

Stef lachte dabei und ich schüttelte meinen Kopf. Marc lachte sich kaputt und wir setzten uns an die fürstliche Tafel.

Marc: Ein Schlachtplan gegen die Dealer

Chris hatte sich entschieden. Er wollte seinen und sicher auch meinen Jungs, seine Geschichte erzählen. Eigentlich wäre jetzt nach dem Essen eine gute Gelegenheit, aber Chris hatte mich zuvor noch um ein Gespräch wegen Sascha und Marco gebeten.

„So, wieder ein leckeres Essen von Salvatore. Er beweist immer wieder aufs Neue, dass er jeden Franken wert ist. Wie hat es euch geschmeckt?“

„Wie du gesagt hast, sehr lecker. Vielen Dank für die tolle Gastfreundschaft. Wir genießen die Zeit bei euch. Allerdings möchten wir Chris mal fragen, wie das mit Training aussieht? Wir können ja nicht vier Tage gar nicht auf dem Platz trainieren, oder?“

Chris schaute verblüfft. Von Fynn hatte er diese Frage scheinbar nicht erwartet. Allerdings blieb er schlagfertig, wie immer:

„Wenn ihr etwas auf dem Platz machen möchtet, könnt ihr das jederzeit tun. Sprecht bitte mit Marc, damit er das organisieren kann.“

Für morgen hatten wir bereits den Tag verplant. Erst nach dem Frühstück das Gespräch mit Leif und anschließend hatte ich bereits den Tag verplant. Aber heute könnten sie noch etwas spielen gehen.

„Wie schaut das aus, Marc? Wo könnten wir denn etwas machen?“

„Kein Problem. Nur morgen geht nicht. Da hab ich etwas anderes geplant. Heute und übermorgen könnte ich euch einen Platz besorgen. Nur den Transport müsste ich noch organisieren. Vielleicht kann Leif euch fahren. Chris und ich haben aber gleich noch etwas zu besprechen.“

Jetzt zeigte sich, dass Luc bereits schnell und gut organisieren konnte. Er machte den Vorschlag:

„Wie wäre es denn, wenn Tim uns mit unserem Van bringen könnte. Nico würde sicher auch gern mal beim Training dabei sein. Außerdem hat Tim heute Zeit. Er wollte eh gleich mit Nico vorbei kommen. Manuel ist ja unterwegs.“

„Meinetwegen, macht das ruhig so. Möchtest du den Platz organisieren oder soll ich das machen?“

„Kann ich in deinem Namen buchen?“

„Ja, die Rechnung soll an mich gehen. Ihr könnt den Platz auch selbstständig für die weiteren Tage reservieren. Ich gebe dir gleich einen Zettel mit Zeiten, wo ihr Tennis spielen könnt.“

„Danke, das ist echt cool. Wir müssen zumindest ein wenig am Ball bleiben. Chris, machst du mit uns auch eine richtige Trainingseinheit? Damit wir fit sind, wenn wir wieder in Halle sind.“

Chris lachte und ich konnte es kaum glauben. Da hatten sie einmal vier Tage am Stück frei, und was wollten sie? Trainieren.

„Ja, sicher. Wenn ihr das möchtet. Machen wir am besten übermorgen.“

Mir fiel dazu noch etwas ein.

„Chris, eine Frage. Mick kommt mit Lukas übermorgen zu Besuch und bleibt bis zum Wochenende. Er hätte sicher Lust, eine Einheit mitzumachen. Ginge das?“

„Klar, kein Problem.“

„Dann legt bitte das Training auf den späten Nachmittag. Sie kommen erst zum Mittagessen hier an.“

Luc nickte und anschließend ging ich mit Chris in mein Arbeitszimmer.

„Setz dich bitte. Ich möchte noch einen Latte trinken. Was möchtest du?“

„Oh ja, ein Latte ist gut. Danke.“

Sabine hatte auch einen original italienischen Kaffeevollautomaten erstanden und inzwischen konnte ich diese Investition nur begrüßen. Unsere Kinder waren mittlerweile alle in einem Alter, wo sie dieses Gerät mitbenutzten.

Mit einem Tablett betrat ich erneut das Büro. Chris schaute sich die Bilder an den Wänden an. Hier waren auch die wichtigsten Pokale und Trophäen aufbewahrt. Ich stellte die beiden Latte auf den kleinen Tisch an die Sitzgruppe.

„Hier habe ich meine mir wichtigen Trophäen aufbewahrt. Ich bin der Meinung, dass sie nicht in das Haus passen. Dieses Kapitel ist abgeschlossen und meine Familie hat mich gebeten, die Sachen ins Büro zu stellen.“

„Tut dir das leid, dass sie deine Erfolge nicht mehr ständig sehen möchten?“

„Am Anfang war es schon komisch, aber heute muss ich sagen, dass ich es verstehen kann. Wenn ich etwas in meinen Erinnerungen graben möchte, kann ich das ja hier machen.“

Chris nahm seinen Latte und setzte sich. Er schaute mich an und begann mit den Worten:

„Wir haben ein echtes Problem mit Sascha und Marco. Sie haben mir erzählt, dass sie jeden Tag nach dem Unterricht vor dem Schulgebäude von den beiden Dealern bedroht werden. Sie sollen weiter Dope verticken, andernfalls würden sie kräftig verprügelt werden. Das ist eine klare Erpressung. Das muss aufhören und ich denke, wir sollten da eingreifen.“

„Also doch noch eine Nachgeschichte. Ich hatte es eigentlich schon erwartet, denn dass sie einfach so Ruhe geben würden, war nicht zu erwarten. Haben sie dir gesagt, wie lange das schon so geht?“

„Nein, leider nicht. Aber ich vermute, zumindest seit dem Moment, wo sie aufhören wollten. Ich bin richtig wütend darüber, dass sie damit allein gelassen werden. Ihren Eltern trauen sie sich nicht, etwas darüber zu sagen.“

Das traf mich tief. Kinder, die ihren Eltern nicht alles anvertrauen konnten, so etwas machte mich wütend. Dass die Dealer das jetzt auch noch ausnutzten, brachte mich in Rage.

„Nein, Chris. Da sollten wir nicht eingreifen, da werden wir eingreifen. Und zwar direkt morgen. Warte bitte einen Moment. Ich muss mal telefonieren.“

Am Schreibtisch schaute ich nach einer Telefonnummer, wählte und wartete, bis sich Gérome Clarêt melden würde. Gerome hatte ich bei der Polizeiaktion mit Stefs Vater kennengelernt. Er war der ermittelnde Kripobeamte und mittlerweile zum Leiter des Drogendezernats befördert worden.

„Claret, Drogendezernat“, meldete sich die mir bekannte Stimme.

„Hallo Gérome. Hier ist Marc Steevens.“

„Marc. Das ist eine Überraschung. Wie geht es dir?“

„Momentan bin ich sehr wütend und benötige deine Hilfe.“

„Oha, was ist passiert? Gibt es wieder Probleme mit Stefs Vater oder geht es um Sascha und Marco?“

„Letzteres, es gibt da ein neues Problem.“

Ich erklärte ihm die wesentlichen Dinge und bat dann Chris, ihm den genauen Sachverhalt zu schildern. Als mir Chris das Telefon zurückgab, hörte ich Gérome tief durchatmen.

„Also das ist ja eine ganz böse Geschichte. Ich kümmere mich darum und werde euch vier Leute für morgen abstellen, die die beiden Täter vor Ort einsammeln werden. Ich rufe dich gleich zurück. Wir sollten strategisch vorgehen. Gib mir bitte ein wenig Zeit, das zu organisieren. Wir ziehen die morgen erst einmal aus dem Verkehr, sollten sie tatsächlich erneut versuchen, die beiden Jungs zu erpressen und zu bedrohen. Dann sehen wir weiter.“

„Alles Klar, ich danke dir. Das muss aufhören.“

„Keine Sorge, wenn das so ist, wie du sagst, dann hört das morgen auf. Bis gleich.“

Ich informierte Chris über den Inhalt des Telefonats und ergänzte noch:

„Das war eben der Leiter des Drogendezernates hier in Genf. Er hat damals die Ermittlungen gegen Stefs Vater geleitet und wir haben einen guten Kontakt behalten. Er hat auch in den Schulen von Leif und Luc bereits Aufklärungsarbeit geleistet. Er wird uns helfen und sich gleich zurückmelden. Dann besprechen wir unsere Strategie.“

Chris schaute mich anerkennend an und fragte:

„Du hast auch immer die passenden Leute zur Hand. Ich möchte diesen beiden Kerlen allerdings eine Lehre erteilen. Sie sollen spüren, wie es sich anfühlt, hilflos zu sein. Sie einfach zu verhaften wird keine Wirkung haben.“

„Genau das ist auch mein Plan. Wir werden sie nachhaltig einschüchtern. Sie dürfen keine weitere Gelegenheit bekommen, irgendwen zu erpressen.“

Chris schmunzelte und antwortete:

„Das hört sich schon so an, als ob du einen Plan hättest.“

„Habe ich auch, aber ich warte, bis sich Gérome meldet. Dann werde ich das mit ihm und dir besprechen. Diese Typen müssen sich ganz warm anziehen, denn ab morgen wird es kalt, sehr kalt werden. Ich bin echt so wütend.“

„Bleib ruhig, Marc. Wir dürfen keine Fehler machen und dabei vielleicht die beiden Jungs gefährden. Wir werden die Typen schon bekommen.“

Chris hatte recht. Ich war sehr aufgewühlt und wütend. Das schränkte mein klares Denkvermögen ein. Deshalb versuchte ich mich etwas zu beruhigen. Dann klingelte auch schon das Telefon wieder. Es war Gérome, der mir seinen Plan erklärte. Ich hörte aufmerksam zu und wusste jetzt, was unsere Aufgabe sein würde. Mir gefiel der Plan sehr gut. Ich bedankte mich für seine Hilfe und versprach, dass wir morgen pünktlich am Treffpunkt sein würden.

„Na, du siehst sehr zufrieden aus. Was für einen Plan hat er dir erklärt?“

„Er hat gemeint, wir sollen zuerst die beiden Erpresser mal beschäftigen und dann ruhig auch etwas provozieren. In dem Moment, in dem sie uns bedrohen, werden die Beamten eingreifen, die bereits zuvor in Position gegangen sind.“

„Warum soll das so ablaufen? Das könnte für die Jungs gefährlich werden. Vor allem, wenn die Täter ein Messer oder eine Schusswaffe haben.“

„Er hat gemeint, dass dann die Möglichkeit gegeben ist, sie per Haftbefehl festzusetzen. Es soll sie ja schon schocken und klarmachen, dass es hier nicht mehr um eine Bagatelle geht.“

„Na gut, dann machen wir das so. Sollen wir Sascha und Marco informieren?“

„Nein, auf gar keinen Fall. Sie sollen sich nicht unnötig Sorgen machen. Wir hatten ihnen versprochen, dass es morgen eine Reaktion unsererseits geben wird. Das reicht.“

Heute Abend wollte sich Chris mit seinen und unseren Jungs zusammensetzen und ihnen von sich erzählen. Seine Geschichte war etwas Außergewöhnliches. Ich war mir sicher, dass es für alle ein sehr lehrreiches und interessantes Gespräch werden würde.

Chris: Stunde der Wahrheit

Je näher die Rückkehr der Jungs kam, desto unruhiger und angespannter fühlte ich mich. Wie würden sie meine Geschichte aufnehmen. Bislang hatten sie geglaubt, ich hätte immer alles richtig gemacht. Ich wurde bis heute in meinem Handeln nie hinterfragt oder kritisiert. Würde es sich nach diesem Gespräch genauso darstellen? Mit Sicherheit nicht. Ich war eben nicht perfekt und hatte etliche Fehler in meinen Leben gemacht. Aber ich wollte ihnen erklären, warum ich manchmal für sie möglicherweise eigenartige Entscheidungen traf.

Meine ursprünglichen Zeitpläne waren anderes gewesen, aber die Sache mit Sascha und Marco hatte alles durcheinander geworfen. Morgen nach der Schulaktion würden wir das Gespräch mit Luc und Leif machen. Anschließend hatte Marc noch etwas vorbereitet. Also war alles wieder einmal improvisiert und eigentlich überhaupt nicht mein Ding. Ich mochte es lieber klar strukturiert.

Derart tief in meinen Gedanken versunken, schreckte ich richtig auf, als mich Sabine fragte:

„Was bewegt dich gerade? Du bist angespannt und unruhig. So habe ich dich noch nicht oft erlebt.“

„Ja, du beobachtest gut. Ich bin angespannt und frage mich, ob es wirklich richtig ist, den Jungs meine ganze Geschichte zu erzählen. Ich möchte nicht, dass es sie belastet.“

Sie setzte sich zu mir und erwiderte:

„Wenn du es nicht erzählst, werden sie dadurch auch belastet. Sie werden es spüren, dass du ihnen etwas vorenthältst und vielleicht nehmen sie es sogar als Misstrauen. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist. Aber eines weiß ich genau. Sie verdienen dein Vertrauen, und du verdienst ihr Vertrauen. Warum versuchst du es nicht einfach. Fang an zu erzählen und wenn du spürst, dass es nicht geht, kannst du es ja beenden oder auf später verschieben.“

Sie sah mir direkt in die Augen. Ich empfand eine große Nähe zu Sabine. Sie hatte mich genau an der richtigen Stelle berührt. Ihre Worte bestärkten mich in meinem Vorhaben, reinen Tisch machen zu wollen.

Eine Stunde später saß ich allerdings wie auf heißen Kohlen im Garten. Die Jungs waren mittlerweile zurück und machten sich bereit für den Abend. Sie wollten erneut eine Partie Billard spielen und Marc und ich sollten dieses Mal sogar mitkommen. Sie wussten, dass ich gern Billard spielte und Marc ebenso, aber für ihn waren diese Aktionen immer mit viel Stress verbunden. Er war immer noch sehr bekannt und löste manchmal eine richtige Hysterie bei den Leuten aus, wenn sie ihn erkannten. Gerade bei der jüngeren Generation. Das wunderte mich, denn viele hatten ihn ja gar nicht mehr aktiv auf der Rennstrecke erlebt.

Heute würde ich die Zeitplanung einmal durcheinander bringen. Mal schauen, was als Ergebnis herauskommen würde.

Maxi war der erste, der in den Garten kam und mich sogleich fragte:

„Hi Chris, wir würden gern heute Abend noch einmal eine Runde Billard spielen. Allerdings wäre es schön, wenn Marc und du, also ihr beide auch mitkommen würdet. Vielleicht können wir im Anschluss auch noch eine Runde bowlen gehen? Was hältst du davon?“

„Grundsätzlich kein Problem, aber ich möchte zuvor mit euch noch etwas zu besprechen. Danach können wir meinetwegen in die Stadt. Habt ihr Marc bereits gefragt?“

„Das wollte Luc übernehmen. Wird das länger dauern, was du mit uns zu besprechen hast?“

„Das kommt drauf an. Es ist mir aber so wichtig, dass ich keinen Zeitplan dafür habe. Es dauert so lange wie es dauert.“

Jetzt wurde Maxi hellhörig. Sofort weiteten sich seine Augen und er fragte mich:

„Haben wir etwas falsch gemacht? Du machst einen sehr ernsten Eindruck.“

„Warte bitte bis die anderen hier sind. Es betrifft uns alle.“

„Soll ich Fynn und Dustin holen? Was ist mit Luc und Stef? Sollen sie auch dabei sein?“

„Ja, sollen sie. Und wenn es dir nichts ausmacht, kannst du ihnen Bescheid sagen, dass wir uns in zehn Minuten unten im Billardraum treffen. Da stören wir Marc und Sabine nicht.“

Maxi ging verwundert und irritiert wieder ins Haus. Für mich war es jetzt an der Zeit, in den Keller zu gehen, denn ich wollte der erste im Raum sein. Hoffentlich hatte ich die richtige Entscheidung getroffen.

Ich setzte mich in einen Sessel der Sitzgruppe und wartete. Es dauerte auch nicht lange und die Jungs betraten gemeinsam den Raum.

Luc fragte sofort: „Was ist denn los? Haben wir etwas verpasst oder verbrochen, dass du uns hier zusammengerufen hast.“

„Nein, Luc. Ich möchte mit euch etwas besprechen. Es geht auch nicht direkt um euch. Es geht…, um mich.“

Die Jungs standen ratlos im Raum.

„Bitte setzt euch. Es wird etwas dauern, bis wir hier fertig sind.“

Als ob Sabine geahnt hätte, dass sie hier gebraucht würde, betrat sie den Raum mit einem Tablett mit Getränken. Sie stellte es auf den Tisch und meinte:

„Damit der Hals nicht so trocken wird. Und hört Chris bitte gut zu. Er hat euch viel zu sagen.“

Luc schaute seiner Mutter hinterher. So wortlos hatte ich ihn noch nicht erlebt. Stef nahm seine Hand und führte ihn zum Sofa, auf dem sie Platz nahmen. Stef sagte zu den anderen:

„Los, nehmt Platz. Chris wird seine Gründe haben und wir sollten zuhören. Bisher hatte er immer etwas zu sagen.“

Das wirkte auch bei Maxi, Fynn und Dustin. Sie nahmen umgehend Platz.

„Also, um euch ein wenig den Druck zu nehmen, es ist nichts passiert. Ich habe euch nur etwas zu erzählen. Und zwar möchte ich euch ausnahmsweise nichts über Tennis erzählen.“

„Du machst es aber spannend. Los, sag schon, was los ist.“

Hier kam die Neugier meiner Jungs durch, insbesondere bei Fynn. Er konnte schon immer schlecht warten.

„Ja gut. Es ist folgendes. Ich habe bislang immer nur von euch Dinge erfahren oder wir haben uns um euer Tennis gekümmert.“

„Das stimmt. Und du hast uns so gut wie nichts von dir erzählt. Warum eigentlich nicht?“

Das war Maxi, immer direkt. Allerdings war er nicht aufdringlich. Aber für Dustin klang das wohl wie ein direkter Angriff gegen mich. Deshalb ging er direkt in den Angriffsmodus und wollte auf Maxi verbal losgehen. Ich pfiff ihn zurück, bevor er noch den Mund aufmachen konnte.

„Entspann dich, Dustin. Er hat doch nur die Wahrheit gesagt. Ich habe euch von mir nur sehr wenig bis gar nichts erzählt. Es gab auch einen Grund dafür. Ich wollte euch nicht mit meinen Baustellen belasten. Und da gab es einige Baustellen.“

Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit komplett geweckt.

„Was meinst du mit Baustellen? So wie du mit uns arbeitest, hat es noch kein anderer getan. Das ist, was zählt. Du bist für uns ein ganz besonderer Mensch geworden und nur ein Freund ist dabei viel zu wenig.“

Das tat mir gut, als Fynn das gesagt hatte und ich begann zu berichten.

„Während meiner Schulzeit hatte ich große Probleme mit meinem Bruder und dem Entdecken meiner Homosexualität. Ich bin in einem kleinen Dorf groß geworden. Dort kannte jeder jeden. Wenn das bekannt geworden wäre, hätte es ein riesiges Problem für mich gegeben. Mein Vater war sehr angesehen in dem Ort. Er war Kinderpsychologe in einem Kinderheim. Eigentlich waren meine Eltern ein großes Glückslos für uns. Ich habe ihnen nur nicht vertraut. Heute weiß ich, dass es mein Problem war und nicht nur das meines Vaters.“

„Heißt das, du und Jan, ihr seid nicht immer gut miteinander ausgekommen?“, fragte Maxi verwundert.

„Richtig. Es gab ganz böse Zeiten. Das möchte ich auch gar nicht mehr groß beschreiben. Wir haben einige Jahre kaum miteinander gesprochen. Zu unterschiedlich waren wir zu dieser Zeit. Allerdings hat es mir immer sehr zugesetzt, dass mein Vater genaue Vorstellungen hatte, was ich machen und werden sollte. So habe ich das zumindest immer gefühlt. Er hatte immer etwas auszusetzen und die Krönung war, dass er mir immer wieder Jan als Vorbild dargestellt hatte. Das hat mir den letzten Mut genommen, meinen eigenen Weg zu gehen.“

„Aber du hast doch einen eigenen Weg gefunden. Und zwar einen verdammt guten Weg.“

Das löste ein Lächeln bei mir aus. Stef hatte es so trocken gesagt, da konnte ich nicht anders.

„Ja, heute. Heute bin ich sehr zufrieden mit der Situation, das war aber nicht immer so. Ich hatte mit achtzehn eine beste Freundin, mit der ich sehr viel gemacht habe. Nach außen war es meine Freundin. So hatte ich meine Ruhe. Aber es war eben meine beste Freundin und sie wusste, dass ich schwul war.“

„Wow, das hast du ihr gesagt? Mutig.“

„Nein, Maxi. Ich war zu feige, aber sie hatte es gemerkt, ganz sicher.“

„Was ist aus ihr geworden? Habt ihr heute noch Kontakt?“

Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Sofort stieg mir das Blut in den Kopf.

„Nein, Dustin. Leider geht das nicht mehr. Sie starb mit 17 bei einem Motorradunfall. Das war ein ganz tragischer Tag für mich. Danach sollte nicht mehr viel so sein wie zuvor.“

Die Betroffenheit der Jungs war spürbar. Keiner sagte mehr etwas. Genau das wollte ich vermeiden. Sie sollten deswegen kein Mitleid entwickeln.

„Es war einfach Schicksal. Ich habe mir viele Jahre Vorwürfe gemacht, denn wäre sie bei mir, auf meinem Motorrad, mitgefahren, würde sie heute vermutlich noch leben.“

„Oder ihr wäret beide tot.“

Wow. Das hatte gesessen. Dieser Gedanke war mir noch nie gekommen, aber Luc hatte recht. Die anderen nickten.

„Genau“, sagte Maxi, „vielleicht hättest du den Unfall dann gehabt. Es war Schicksal, das hast du eben selbst gesagt.“

„Ja, das ist schon richtig, aber damals habe ich das noch nicht so gesehen. Ich habe leider dann begonnen, mich mit Alkohol zu betäuben und auch meine sportliche Karriere wegzuwerfen. Immerhin habe ich mein Abitur noch geschafft. Danach war ich aber nicht mehr wirklich in der Lage, etwas Sinnvolles zu tun. Ich habe mir eben keine Hilfe genommen und alles mit mir allein ausgemacht.“

„Wie gut bist du damals im Tennis wirklich gewesen? Thorsten sagte mal, dass du auch sehr gut gewesen bist.“

„Es geht so, Fynn. Ich habe mit sechzehn Oberliga gespielt. Das war damals die dritthöchste Spielklasse. Aber ich war nicht so ehrgeizig wie Jan. Ich wollte immer auch Spaß dabei haben.“

„Respekt, aber eine Frage kommt jetzt schon auf. Warum spielst du heute so wenig? Du hast mal gesagt, dass du einen Unfall hattest. Hat dieser Unfall deine Karriere zerstört?“

„Nein, zerstört habe ich meine Karriere selbst. Ich habe zu viel Alkohol getrunken und dann einen schweren Autounfall gehabt. Das hat meine Karriere zerstört.“

„Würdest du uns erzählen, was damals passiert ist?“, fragte Luc vorsichtig.

„Wenn ihr es hören möchtet, ja. Allerdings ist das weniger schön.“

Sie schauten sich an, keiner wollte etwas Falsches sagen. Luc nahm das wieder in die Hand.

„Ich möchte es hören und eines sage ich dir jetzt schon vorweg, mein Respekt dir gegenüber ist gerade noch einmal um ein Vielfaches gestiegen.“

„Was ist mit euch?“, fragte ich in die Runde.

Alle nickten nur. Keiner sagte etwas.

„Also gut. Nachdem ich auf Drängen meines Vaters eine Ausbildung zum Elektriker begonnen hatte, kam ich immer weniger mit mir und der Situation klar. Ich benutzte den Alkohol, um mich zu betrügen und komplett zu betäuben. Meine Mutter ist sogar deswegen krank geworden. Sie hatte alles versucht, mir zu helfen. Und war gescheitert.“

„Warum gescheitert? Du bist heute hier, und du bist ein toller Mensch. Also so ganz viel verkehrt hat sie nicht gemacht.“

„Nein, meine Mutter hat nicht viel falsch gemacht. Das ist richtig. Ich hatte es nur nicht begriffen. Erst als der 13.10.1990 kam, veränderte sich alles.“

Ich musste einmal tief Luft holen. Meine Gefühle waren heftig und obwohl ich ja genau gewusst habe, auf was ich mich einlasse, brauchte ich einen Moment, bevor ich fortfahren konnte.

„Ich bin morgens um drei, auf dem Weg zu einem Feuerwehreinsatz mit meinem Delta unter einen stehenden Kettenbagger gerast. Danach kann ich mich erst wieder an etwas erinnern, als ich sechs Wochen später aus dem Koma erwacht bin.“

Die Stille, nachdem ich das gesagt hatte, war bedrückend.

„Wie…, wie konnte das passieren?“, fragte Dustin.

„Wie der Unfall passieren konnte? Ganz einfach, mit zwei Promille im Blut sollte keiner mehr Autofahren. Allerdings denke ich heute, dass ich mich umbringen wollte. Ich hatte einfach keine Kraft mehr.“

Die Augen der Jungs sprachen für sich. Sie hatten damit absolut nicht gerechnet. Keiner traute sich aber etwas zu sagen. Ich fuhr deshalb mit meiner Erzählung fort.

Nachdem ich ihnen erklärt hatte, welche schweren Verletzungen ich davongetragen hatte und unzählige Operationen folgten, brauchte ich eine kleine Pause. Es war doch viel anstrengender für mich, als ich gedacht hatte. Ich musste für einen Moment in den Garten.

Dort stand ich vor der Magnolie, als Luc mit Marc und Sabine zu mir kamen.

„Na, wie geht es dir jetzt? Luc sagte uns, dass du nach draußen gegangen bist.“

Ich drehte mich zu ihnen und atmete tief.

„Jetzt geht es wieder. Aber eben brauchte ich eine Pause. Obwohl das schon so lange her ist, tut es mir immer noch weh. Diese Bilder des Baggers und die Geräusche werde ich wohl nie ganz los werden.“

„Wir würden gerne erfahren, wie es bei dir weitergegangen ist. Es wäre schön, wenn du dich erholt hast, uns deine Geschichte zu Ende zu erzählen.“

Ich nickte Luc zu und wir gingen gemeinsam wieder hinein. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Aber es waren offene und freundliche Augen. Luc setzte sich wieder zu Stef und Dustin fragte mich:

„Bist du wirklich bereit für das Ende der Geschichte? Sonst lass es.“

„Nein, ist schon ok. Ich möchte euch das nicht vorenthalten. Ab jetzt geht es ja aufwärts.“

Das entspannte die Jungs, denn sie waren sichtlich beeindruckt.

„Ich möchte das auch gar nicht im Detail erklären, aber die Verletzungen waren so, dass ich mir zwei Lendenwirbel zerstört hatte. Ein schweres Schädel-Hirn Trauma und viele Frakturen kamen noch hinzu. Also war ich ab diesem Tag Querschnittsgelähmt. Ich brauchte viele Monate, um wieder normal sprechen zu können.“

„Du hast im Rollstuhl gesessen?“, fragte Maxi fassungslos.

„Ja, zwei Jahre etwa. Wobei bereits nach gut einem Jahr hatte ich großes Glück gehabt. Ich bekam einen ganz jungen Physiotherapeuten. Dieser sollte mit mir eigentlich das Bewegen mit dem Rollstuhl trainieren. Aber an einem Tag stutzte er bei einer Übung. Er hatte eine Bewegung an einem Zeh bemerkt. Von da an ging es weiter aufwärts. Sein Ehrgeiz war geweckt und er hatte mir Hoffnungen gemacht. Wir haben zwei Jahre brutal hart daran gearbeitet, dass ich den Rollstuhl vielleicht doch wieder verlassen könnte.“

„Was, wie wir sehen, auch geklappt hat.“

Typisch, Luc.

„Sehr witzig. Aber was hatte dich überhaupt wieder motiviert, nachdem du dich ja eigentlich umbringen wolltest?“

„Eine gute Frage, Maxi. Ich habe mich gefragt, was willst du? Leben oder sterben? Ich wollte leben, aber nicht mehr so wie zuvor. Ich habe mir einen Therapeuten gesucht und eine Grundsatzentscheidung getroffen. Leben, mit allen Konsequenzen. Suchttherapie gemacht und von dem Tag, als ich aus dem Koma erwacht bin, keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Ich habe mein Leben komplett neu strukturiert und nur noch Dinge machen wollen, die ich selbst auch wirklich tun wollte.“

„Hast du heute noch Probleme aufgrund dieser Verletzungen?“

„Ja, jeden Tag. Ich sage immer flapsig, wenn ich morgens aufwache und mir tut nichts weh, dann bin ich wohl tot. Aber ich kann gut damit leben. Immerhin kann ich fast alles wieder machen wie früher. Sogar Tennis spielen. Wenn auch nicht mehr auf Leistungsniveau, aber egal. Es macht wieder Freude.“

„Jetzt kann ich auch verstehen, warum es dir so wichtig ist, dass wir mit dir reden über das was uns bewegt. Manchmal habe ich gedacht, du würdest uns ausfragen wollen. Es tut mir leid, dass ich das falsch verstanden habe. Es ist schön, dass du für uns da bist und nicht gestorben bist.“

Beim letzten Satz musste ich schlucken. Auch Fynn hatte mit seiner Stimme leichte Schwierigkeiten, als er das gesagt hatte. Zu meiner Überraschung standen jetzt alle auf und umarmten mich herzlich. Eine tolle Geste, wie ich fand.

Damit wollte ich es auch bewenden lassen. Nur Luc hatte noch eine Anmerkung.

„Jetzt verstehe ich auch, warum Papas Delta für dich eine besondere Bedeutung hat. Wow, das ist echt heftig.“

Ich nickte stumm, aber mit einem Lächeln im Gesicht. Jetzt wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Meine Jungs würden sicher viele Dinge mit anderen Augen sehen und wir dadurch noch enger zusammenrücken. Ganz besonders freute ich mich darüber, dass Fynn und Dustin unser sehr persönliches Gespräch in meinem Zuhause für sich behalten hatten. Es war ein weiterer Beweis für mich, ihnen absolut vertrauen zu können und sollen.

„Wenn ihr noch Fragen habt, fragt mich. Ich würde sonst gerne dieses Treffen für heute auflösen. Wir haben noch einen schönen Abend vor uns.“

Es gab keine Fragen mehr und so löste sich unsere Runde auf.

Für mich war es gut gelaufen und die Reaktion der Jungs war trotz einigen Schreckmomenten positiv. Dennoch brauchte ich jetzt eine Pause und wollte etwas spazieren gehen. Allein mit mir sein. Aber Sabine hatte Einwände.

„Ich möchte dich bitten, jetzt nicht allein loszugehen. Darf ich dich begleiten?“

Das überraschte mich, denn eigentlich ließ sie sich das Vorbereiten des Essens nur selten abnehmen. Aber ich freute mich, dass sie mitkam.

Wir gingen einige hundert Meter schweigend auf einem kleinen Weg, der in einen Park führte. Erst dort fragte mich Sabine:

„Was denkst du? War es falsch, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen?“

„Nein, es war richtig. Aber es nimmt mich doch mehr mit, als ich mir eingestehen möchte und vermutet hatte. Ich weiß nicht, ob es gut war, auch den möglichen Suizidversuch zu erwähnen.“

„Warum fragst du dich das? Wie haben die Jungs reagiert?“

„Sie waren geschockt. Damit hatten sie nicht gerechnet. Genau das wollte ich aber vermeiden. Sie in Angst zu versetzen.“

„Sie werden keine Angst haben. Sie werden aber begreifen, dass du genau wie sie, ein Mensch bist. Mit Stärken und auch Schwachstellen. Dass es dir eine Zeit lang gar nicht gut gegangen ist, aber dass es möglich ist, dort auch wieder herauszukommen. Genau das ist so wichtig. Damit sie nicht resignieren und nicht aufgeben. Du hast hier Großartiges geleistet. Nicht nur heute, sondern die ganze Zeit, in der du mit den Jungs zusammen bist. Auch Stef und Luc haben viel von dir profitiert. Es ist nur schade, dass Luc es dir noch nicht so zeigen konnte. Aber er wird dir das noch zeigen, ganz sicher. Er braucht für diese Dinge immer viel Zeit. Er möchte es richtig machen. Da seid ihr euch sehr ähnlich. Halbe Sachen sind bei euch beiden nicht akzeptabel.“

Luc: Chris beeindruckt alle

Es dauerte einige Minuten, bis wir begriffen hatten, was uns Chris gerade von sich erzählt hatte. Wir standen zusammen im Garten, ich suchte nach Chris. Konnte ihn aber nicht finden. Bis Papa zu uns kam.

„Wenn du Chris suchst, der ist mit Mama einen Spaziergang machen.“

„Ist alles in Ordnung? Oder hat er sich übernommen?“

Die anderen bekamen meine Frage mit und alle wurden still, als Papa antwortete:

„Ich denke schon, aber er möchte einfach etwas zur Ruhe kommen. Macht euch keine Sorgen, er beruhigt sich wieder. Wie ist das bei euch angekommen?“

Wir schauten uns an und Maxi fragte:

„Du hast seine Geschichte schon gekannt, oder?“

„Ja. Sie ist heftig, oder?“

„Absolut, Papa. Umso größer wird mein Respekt vor ihm. Was er durchgemacht hat, ist nicht von schlechten Eltern. Ich bewundere seine Lebenseinstellung.“

„Das gleiche tut er auch bei euch, insbesondere bei dir, Luc. Ihr seid euch ähnlicher als du denkst.“

Ich schaute in die Gesichter meiner Freunde. Sie waren ebenso beeindruckt von dem, was Chris berichtet hatte.

Maxi sagte dann:

„Leute, wir sollten einfach so weiter machen wie bisher. Chris hat uns das erzählt, weil er uns näher an sich heranlassen möchte. Das sollten wir jetzt auch tun und nicht auf Abstand gehen. Er hat deutlich gesagt, dass es ihm gut geht und er aus seinen Fehlern gelernt hat. Also lasst uns einen schönen Abend gemeinsam verbringen.“

Maxi hielt seine Hand in die Mitte und ich verstand erst gar nicht, was er jetzt damit wollte. Aber alle legten sofort ihre Hand auf seine und Stef und ich schlossen uns an. Sogar Papa legte seine Hand zum Schluss oben drauf.

„Wir halten weiter zusammen, auf geht´s.“, sagte Maxi laut.

„Auf geht´s“, kam im Chor hinterher.

Papa lachte und die Stimmung entspannte sich. Dennoch redeten wir über das gerade Gehörte. Keiner von uns hatte mit einer derart heftigen Lebensgeschichte gerechnet. Es zeigte aber erneut, aufgeben ist keine Lösung. Kämpfen ist angesagt. Das Ergebnis von Chris sprach für sich. Genau wie bei Stef, Dustin und mir.

„Wie geht es jetzt heute weiter?“, fragte mich Maxi.

„Keinen Plan. Eigentlich wollten wir zum Billard und eine Runde bowlen gehen. Papa, was meinst du?“

„Ja, das machen wir auch, aber zuerst lade ich alle zu Salvatore zum Essen ein. Das haben wir uns verdient. Anschließend gönnen wir uns etwas Spaß.“

„Aber Mama kommt auch mit, oder?“

„Natürlich. Übrigens, was ich euch noch nicht gesagt habe. Mick und Lukas kommen übermorgen zu Besuch. Also nehmt euch am Nachmittag nicht so viel vor. Die Planung für morgen übernehme ich.“

Papa wieder. Er nahm das Zepter in die Hand, sobald er das Gefühl hatte, dass es notwendig sei. Eine Gruppenaktivität wäre sicher genau richtig. Und dass Mick und Lukas zu Besuch kamen, war mit Sicherheit auch von ihm geplant. Das hieß aber auch, dass Papa sich für den Tag nach dem Training etwas Außergewöhnliches für uns ausgedacht hatte.

„Wenn ihr möchtet, könnt ihr euch unten am Snookertisch schon etwas warm spielen. Wann Sabine und Chris zurück sind, weiß ich halt nicht so genau. Ich gehe derweil mal mit Salvatore telefonieren. Wir brauchen einen großen Tisch heute.“

Das war unser Stichwort. Schnell waren wir im Keller verschwunden und spielten einige Bälle zum Warmwerden. Aber das Thema war immer noch Chris.

„Sag mal, Luc“, fragte Dustin, „hast du dir vorstellen können, dass Chris eine ähnlich heftige Vergangenheit hat, wie Stef oder ich? Ich jedenfalls nicht. Das war ihm nicht anzumerken.“

„Nein“, sagte ich, „aber wir haben es auch nicht merken können, weil er seine Baustellen bearbeitet hat und an sich gearbeitet hat. Heute geht es ihm gut, das merken wir. Sonst könnte er nicht so viel für euch tun.“

„Er macht viel mehr, als er eigentlich müsste. Er ist immer für uns da und wir haben sogar mal den Gedanken gehabt, dass er uns ausfragen würde. Krass, das ist echt bescheuert, aber ich bin sehr froh, dass er uns das anvertraut hat.“

„Genau das ist der Punkt, Maxi. Er hat es uns anvertraut. Vertrauen ist mit nichts in der Welt zu bezahlen. Das muss man sich verdienen. Ich glaube, dass wir in Zukunft noch viele gemeinsame Erfolge haben werden. Zumindest kann ich von mir sagen, Chris ist noch viel näher dran, als je zuvor.“

Fynn hatte ausgesprochen, was wir gedacht haben. Chris hatte uns sehr persönliche Dinge erzählt, die wir so nie erwartet hatten. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass Stef und ich zum Breakpoint-Team dazugehörten, obwohl wir ja nur Freunde waren und nicht Tennis spielten. Zumindest nicht professionell. Ich war stolz, Chris als Freund kennengelernt zu haben.

„Leute“, fragte ich in die Runde, „was haltet ihr davon, wenn wir Chris einfach mal dafür danken, dass er sich so um uns kümmert und sich selbst oft zurücknimmt. Ich finde, das hat er verdient.“

Das löste sofortige Zustimmung bei meinen drei Freunden aus. Schnell hatten wir uns darauf verständigt, dass wir etwas machen würden. Stef nahm mich liebevoll in den Arm und flüsterte mir ins Ohr.

„Weißt du, das ist richtig toll, wie du an Chris denkst. Ich glaube, er hat es mehr als verdient. Vielleicht weiß dein Vater auch noch etwas dazu beizutragen.“

Das war eine gute Idee. Ich würde Papa später dazu befragen. Jetzt wollte ich aber nicht mehr Probleme bearbeiten, sondern mit meinen Freunden und meinen Eltern einen schönen Abend verbringen.

Der begann damit, dass Papa mit Chris zu uns in den Keller kam. Was bei uns zu echter Freude führte. Fynn hatte sogar den Mut, Chris einfach zu umarmen. Das wiederum führte bei Chris zu Verwunderung.

„Hey, was ist denn jetzt los? Womit habe ich das verdient?“

„Tu nicht so unschuldig. Du hast uns allen mit deiner Geschichte gezeigt, wie wichtig gegenseitiges Vertrauen ist. Wir werden gemeinsam alles schaffen, weil wir gemeinsam unsere Probleme bearbeiten. Das macht uns stark.“

Papa nahm diese Aussage von Fynn für spontanen Applaus und fügte noch etwas hinzu:

„Sehr gute Aussage. Das gefällt mir. Damit werdet ihr einen weiteren Schritt nach vorne machen. Und jetzt werden wir einige Schritte nach nebenan in die Garage machen, um uns zu Salvatore und in die Stadt zu begeben. Heute machen wir mal einen drauf.“

Was war denn mit Papa los? So locker und entspannt habe ich ihn selten erlebt. Einen drauf machen wollte er? Wow.

Der Van zeigte heute wieder einmal seine Berechtigung. Alle passten hinein und entsprechend lustig wurde die Fahrt. Sogar Chris hatte wieder beste Laune. Bei Salvatore wurde nach der Bestellung noch einen Moment lustig geflachst, aber bei Dustin konnte ich auch erkennen, dass er sich noch mit dem Gespräch auseinandersetzte, was wir vor einer halben Stunde hatten.

Chris hatte es bemerkt, sagte aber nichts. Er beobachtete Dustin aber genau. Fynn hatte es ebenfalls bemerkt und flüsterte mit seinem Freund. Dustin schüttelte den Kopf. Es sah so aus, als ob er sich nicht trauen würde, seine Frage auch zu stellen.

Papa hatte die zweite Runde Getränke bestellt und auch Mama war heute sehr redselig in unserer Runde. Vor allem, als Maxi sie gefragt hatte, ob sie auch mal sauer auf mich sein könnte.

„Oh ja, Maxi. Ich mag es überhaupt nicht, wenn er unterwegs ist und sich nicht meldet, falls er später kommt oder noch etwas anderes machen möchte. Da kann ich echt böse werden.“

„Jaja, Mama. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Du musst nicht ständig aufpassen.“

„Nein. Kein kleines Kind, aber ein großes Kind. Du wirst immer das Kind deiner Mutter sein. Kannst du dich schon mal dran gewöhnen. Ich kenne das von meiner Mutter nicht anders, auch heute noch. Sie ist 81 und muss es immer noch wissen, wenn ich mal ein paar Tage wegfahre.“

Chris´ Spruch führte bei allen, auch bei Dustin zu großer Heiterkeit. Mir war es etwas unangenehm, weil Mama sich natürlich einen Ast freute.

Obwohl ich immer wieder Gedanken an das Gespräch mit Chris hatte und wir auch darüber sprachen, wurde der Abend sehr schön. Chris blieb immer offen für unsere Nachfragen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es ihm unangenehm war.

Der Abend wurde noch einmal richtig lustig, als nämlich zwei Jugendliche Papa erkannt hatten. Erst fragten sie Maxi und dann auch noch mich, ob das wirklich Marc Steevens sei. Als sie mich gefragt hatten, gab ich ihnen zur Antwort, dass sie es nur mit Sicherheit herausfinden könnten, wenn sie Papa fragen würden. Was sie dann auch taten. Papa hingegen machte sich einen Spaß daraus, denn er hatte schon längst bemerkt, um was es ging. Erst nachdem er sie auch einige Dinge gefragt hatte, und sie antworten mussten, gab er ihnen das gewünschte Autogramm. Chris musste sich die ganze Zeit zurücknehmen, um nicht in lautes Gelächter zu verfallen. Er amüsierte sich jedenfalls köstlich über das Geschehen.

Dieser Abend ging für uns Jungs nicht beim bowlen zu Ende. Wir setzten uns noch bei uns in der Wohnung zusammen, um den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Chris und meine Eltern hatten es sich unten im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Wobei Chris müde wirkte und er auch bald schlafen gehen wollte.

Wir waren immer noch aufgedreht und redeten noch eine ganze Weile, auch über das Gespräch mit Chris. Es hatte uns beeindruckt und keiner von uns hatte damit schon abgeschlossen. Wir waren uns aber einig, dass es für alle ein positives Gespräch war. Als wir ins Bett gingen, war ich erschöpft von dem ereignisreichen Tag. Aber wir waren beide glücklich, Chris und seine Jungs als Freunde zu haben.

Chris: Ein Exempel

Marc hatte ein fantastisches Frühstück vorbereitet. Als ich in die Küche kam, duftete es nach frischem Kaffee und Brötchen. Ich liebte es, in Ruhe zu frühstücken. Die Jungs schliefen noch und wir nutzten die Zeit, unseren Plan für die Schule zu besprechen. Ich war heute in der richtigen Stimmung, den beiden bösen Jungs eine Lehre zu erteilen. Marc spürte meine aggressive Stimmung.

„Entspann dich etwas. Sonst sterben die beiden schon, bevor sie verhaftet werden. Bei deiner eiskalten Stimmung muss man ja Angst bekommen.“

„Sie können ruhig Angst haben. Ich habe kein Mitleid. Heute soll das ein Exempel werden, auch für alle anderen möglichen Täter. Mit Drogen dealen und Erpressung ist absolut kein Kinderspiel. Das muss heute für alle klar sichtbar werden.“

„Oha, schon am frühen Morgen auf dem Kriegspfad. Lass uns doch erst einmal frühstücken. Dann können wir immer noch auf den Kriegspfad gehen.“

„Hihihi, das überzeugt mich. Ohne Frühstück geh ich eh nicht aus dem Haus. Also, wann geht es los?“

Marc fing an zu lachen und wir setzten uns an den bereits gedeckten Tisch. Sabine betrat in diesem Augenblick die Küche und staunte über den wundervollen Tisch.

„Wow, hab ich etwas verpasst. Die Herren lassen es sich gutgehen und haben selbst Hand angelegt. Da werde ich mich heute mal verwöhnen lassen.“

„Guter Plan, aber wir sind gleich verschwunden. Dann musst du dich von den Jungs weiter verwöhnen lassen.“

Sabine lachte. Ich fand das von Marc ganz schön dreist. Aber er würde schon wissen, was er mit Sabine machen konnte und was nicht.

Ich wollte jetzt allerdings einen Gedanken, der bereits seit einigen Tagen in meinem Kopf herumschwirrte, in die Tat umsetzen. Mangels Ruhe hatte ich aber bislang noch keine Möglichkeit. Jetzt würde es vielleicht klappen. Ich nahm also mein Handy und rief meinen Freund Idefix an. Er lebte in Basel und hatte ein sehr außergewöhnliches Hobby. Er fuhr auf der Furka-Dampfbahnstrecke als Lokführer. Wir hatten ihn anlässlich eines Turniers, welches wir in Basel spielten, bereits einmal besucht und dieses Treffen hatte mir und den Jungs extrem gut gefallen. Jetzt waren wir erneut in der Schweiz und er wäre bestimmt sauer, wenn ich mich nicht zumindest melden würde.

„Hoi Chris“, hörte ich in meinem Handy.

„Hallo Idefix, wie geht es dir? Bist du in Basel oder bei der Furka?“

„Ich bin bei der Furka, warum? Ich habe diese Woche Fahrdienst.“

„Oh, ich wollte mich nur melden, weil ich bei einem Freund in Genf bin.“

„Du bist in der Schweiz? Das ist ja eine Überraschung. Spielt ihr ein Turnier?“

„Jein, wir machen ein paar Tage Entspannung. Es ist viel in den letzten Wochen passiert. Ich merke, dass es für mich Zeit wurde, etwas zu entspannen. Aber wir haben ein sehr erfolgreiches Turnier hier in Genf gespielt.“

„Das hört sich spannend an. Hast du Zeit rüber nach Realp zu kommen?“

„Ich schon, aber meine Jungs müssen zurück nach Halle. Sie müssen am Montag mal wieder in die Schule.“

„Könnten sie vielleicht allein zurück reisen? Dann würden wir noch ein paar Tage hier in Realp verbringen.“

„Lust hätte ich, aber das muss ich hier noch abklären. Ich melde mich bei dir. Bis wann musst du das wissen?“

„Also ich bin sowieso hier. Habe ja Fahrdienst. Es wäre nur wichtig für deine Unterkunft. Das müsste ich ja dann organisieren.“

„Ich melde mich bis morgen Abend. Ist das ok?“

„Ja, kein Problem. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns hier mal wieder treffen könnten.“

„Danke für die Einladung, ich melde mich bei dir. Vielleicht bringe ich auch meine Jungs doch mit. Obwohl ich lieber allein ein paar Tage entspannen möchte.“

„Gut, dann klär das ab und wir telefonieren morgen. Bis dann.“

Ich freute mich, Idefix mal wiedersehen zu können. Bei unserem ersten Besuch hatten wir gemeinsam viel Freude. Dieses Mal wollte ich aber allein fahren. Ich brauchte einfach ein paar Tage Ruhe. Thorsten hatte mir das ja angeboten und ich hatte mich entschieden, das Angebot anzunehmen. Allerdings hatten wir das erst nach der Rückkehr geplant. Ich würde das mit meinen Jungs besprechen.

Jetzt wollte Marc aber mit mir los. Eigentlich ein wenig früh, um zur Schule zu fahren.

„Warum möchtest du schon los? Wir haben doch noch Zeit.“

„Das zeige ich dir dann. Sei so nett und komm einfach mit.“

„Meinetwegen gern. Was machen die Jungs, während wir weg sind?“

„Die gehen trainieren. Sie haben einen Platz für zwei Stunden und einen Platz für eine zusätzliche Stunde. Also die nächsten vier Stunden sind die beschäftigt.“

„Na gut, dann lass uns aufbrechen.“

Marc verabschiedete sich von Sabine und schickte mich schon vor die Tür. Er wollte in die Garage herunter gehen und ich sollte an der Einfahrt warten.

Ich stand im Vorgarten als das Garagentor aufging und ich sonst nichts weiter als ein leises Surren vernahm. Aber meine Augen sahen ein Kunstwerk des Automobilbaus. Der Aperta Ferrari blieb neben mir stehen und Marc stieg aus, ließ aber die Fahrertür offen.

„Du darfst fahren. Ich glaube, dass du einer der wenigen Menschen bist, denen ich meine besonderen Fahrzeuge bedenkenlos anvertrauen kann.“

Ich muss sehr komisch geschaut haben, denn Marc fing an zu lachen.

„Los, steig ein. Ich weiß ganz genau, dass du damit umgehen kannst.“

Also gut, das ließ ich mir nicht entgehen. Ich stieg auf der Fahrerseite ein, während Marc bereits das Dach öffnete. Ich schaute mich um und allein das Lenkrad hatte mehr Bedienungsknöpfe als so manches Armaturenbrett.

Marc saß bereits angeschnallt neben mir und gab mir eine kurze Einweisung. Eine Frage hatte ich allerdings noch:

„Wie schaltet man vom rein elektrischen Antrieb auf den kombinierten Antrieb um?“

„Du brauchst nicht umzuschalten. Der Computer errechnet automatisch den Leistungsbedarf und regelt das. Nur wenn du am Lenkrad auf den Blitz drückst, dann fährt er nur rein elektrisch.“

Ich schnallte mich an und legte den ersten Gang ein. Wir rollten vollkommen geräuschlos auf die Straße. Ein komisches Fahrgefühl. Ich beschleunigte und schlagartig sprang der Verbrennungsmotor an. Was für ein Ohrenschmaus. Ich erschrak sogar ein wenig, aber eher wegen der brachialen Beschleunigung. Ich musste sofort auf die Bremse, sonst wäre es sehr teuer geworden. Marc lachte sich über meine Reaktion kaputt.

„Du bist echt fies. Ich habe doch keine Erfahrungen mit so einer Rakete auf Rädern.“

„Mach dir nichts draus. Die Leute, die den Aperta bislang testen durften, haben meistens viel schlechter reagiert. Du bist wachsam und hast gute Reflexe. Folge einfach dem Navi und dann schauen wir weiter.“

Marc machte sich einen Spaß aus dieser Sache. Ich kannte ihn so gut, dass ich wusste, er hatte einen genauen Plan. Also ließ ich mich ganz auf seinen Plan ein. Mal sehen, was passieren würde.

Wenige Minuten später sagte die Stimme aus dem Navi: „Sie haben ihr Ziel erreicht!“

Ich schaute Marc etwas ratlos an, denn wir standen in einer kleinen Straße in Genf.

„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich skeptisch.

„Absolut“, lachte er.

Er öffnete die Tür und ich ebenfalls. Etwas mühsam drückte ich mich aus dem Schalensitz und merkte, dass ich nicht mehr der fitteste war.

Von außen betrachtet war der Ferrari einfach nur schön. Dass er für mich immer unbezahlbar bleiben würde, machte mich nicht traurig. Im Gegenteil, ich freute mich, ihn einmal gefahren zu haben.

„So, wir werden uns hier mal ein wenig umsehen.“

Marc ging zielstrebig in Richtung eines kleinen Parks. Dort setzten wir uns auf eine Bank in die Sonne. Mit unseren dunklen Sonnenbrillen dürfte selbst Marc schwer zu erkennen gewesen sein.

Was mir auffiel, immer wieder radelten Schüler oder Schülerinnen an uns vorbei. Marc schien genau die Wege der Schüler zu kennen. Und mir dämmerte es langsam, warum er sich diesen Platz ausgesucht hatte.

„Lass mich raten. Du möchtest hier ein wenig die Situation sondieren. Deshalb sitzen wir hier.“

„Genau. Schau mal dort drüben. Auf der Bank unter der großen Eiche. Diese beiden Typen dort, werden immer wieder von einigen Schülern angesprochen. Dann gibt es ein kurzes Gespräch und der ältere greift in seine Tasche und gibt ein Päckchen raus. Für mich ganz klar, hier wird gedealt. Und wenn die Beschreibung von Sascha und Marco stimmt, dann könnten das sogar unsere beiden Zielpersonen sein.“

Bei genauem Betrachten musste ich zustimmen. Das könnten sie tatsächlich sein.

„Aber so dumm kann man doch eigentlich nicht sein. Das Dope auch noch bei sich zu haben, was vertickt wird. Selbst nur bei einer normalen Personenkontrolle könnten sie erwischt werden.“

„Genau das ist der Grund, warum ich ein Exempel haben will. Sie sind so dumm, dass es weh tut. Leider können sie dennoch gefährlich sein. Wir müssen also aufpassen.“

Es war eindeutig was dort passierte. Wir blieben wie unbeteiligt auf der Bank sitzen. Erst als die beiden sich auf den Weg Richtung Parkausgang machten, stand Marc auf. Wir folgten ihnen in einem sicheren Abstand.

Marc telefonierte mit jemandem. Es hörte sich so an, als ob er mit der Polizei unseren Standort absprach. Ich fragte nach:

„Hast du mit der Polizei gesprochen?“

„Ja, sie haben uns im Blickfeld und werden sich unserer Position nähern. Wenn wir an den Punkt kommen, werden sie ganz nah sein. Sie können sofort eingreifen, falls es eskalieren sollte.“

„Beruhigend, noch einen Angriff möchte ich nicht haben.“

Marc schaute mich mit großen Augen an.

„Shit, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ist das überhaupt für dich in Ordnung oder gibt es ein Problem mit der Situation? Es tut mir leid, dass ich das Attentat schon vollkommen vergessen hatte.“

„Passt schon. Ich hätte ja auch etwas sagen können, aber momentan geht es gut. Nur noch einen Angriff muss ich nicht haben. Also es wäre gut, wenn wir ohne tätliche Auseinandersetzung klarkommen würden.“

Marc klopfte mir auf die Schulter und sagte:

„Das wird schon klappen. Aber wenn es dir zu viel wird, sag sofort Bescheid.“

Währenddessen waren wir fast an der Schule angekommen und Marc hatte bereits einen Platz ausgesucht, von wo wir die Szene gut beobachten konnten.

Es dauerte auch nur noch einige Minuten, bis wir Sascha und Marco aus der Schule kommen sahen. Sie gingen direkt auf unsere Position zu. So wie sie es uns gesagt hatten. Es war ihr normaler Schulweg.

Plötzlich stellten sich unsere beiden Zielpersonen ihnen in den Weg. Direkt wurden sie handgreiflich und schubsten Marco an die Seite. Sascha schaute sich panisch um, wollte weglaufen, aber sie hatten ihn bereits festgehalten. Und der ältere der beiden bedrängte ihn immer mehr. Sascha wehrte sich, aber er hatte keine Chance. Marco wollte seinem Freund helfen, und jetzt geschah der Fehler, auf den wir gewartet hatten. Der eine holte zu einem Faustschlag aus und in dem Moment traten wir aus unserem Versteck hervor und Marc sagte mit ganz trockener Stimme:

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Es wäre definitiv dein letzter Fehler.“

Beide drehten sich vor Schreck zu uns herum, das war für mich das Zeichen, den Jungs zuzurufen:

„Los, lauft weg.“

Sie reagierten sofort und waren schnell außer Reichweite der Täter. Marc machte noch einen Schritt auf die beiden Täter zu und ich kam von der Seite hinzu. Der ältere der beiden zog ein Messer und wollte auf Marc los gehen. Da gab es einen hellen Blitz, einen lauten Knall und Rauch breitete sich aus.

Von drei Seiten kamen Beamte mit gezogenen Waffen und stürzten sich auf die Täter. Bevor noch etwas passieren konnte, lagen sie in Handschellen auf dem Boden.

Ich schaute mich nach Sascha und Marco um. Sie waren in Sicherheit, denn zwei Beamte kamen mit ihnen zu uns zurück.

Meine Güte, Marc hatte das ganz große Paket geschnürt und die Polizei hatte nichts anbrennen lassen. Respekt!

„Bei euch alles in Ordnung?“, fragte ich die beiden Jungs.

„Ja, ich glaube schon. Allerdings zittere ich immer noch etwas. Ist euch etwas passiert?“, fragte Sascha mit zittriger Stimme.

„Nein, alles gut bei uns. Es war perfekt vorbereitet.“

„Damit hatten wir echt nicht gerechnet, dass gleich die Polizei auftauchen würde. Was passiert jetzt mit uns?“

Einer der Beamten, die sich um die beiden kümmerte, sagte in freundlichem Ton: „Ihr könnt erst einmal nach Hause gehen. Ihr bekommt aber eine Vorladung zu einer Aussage. Da möchtet ihr bitte mit einem Elternteil oder wie Herr Steevens sagte, wird er mit euch dorthin gehen, falls eure Eltern Probleme machen sollten. Also ihr könnt ganz ruhig sein. Euch wird nichts vorgeworfen. Ihr habt jetzt alles richtig gemacht.“

„Du machst aber auch gar keine halben Sachen, oder?“

Marc lachte und zeigte auf Sascha und Marco, die immer noch etwas blass aussahen:

„Na, bei den beiden hier muss ich doch dafür sorgen, dass sie wieder eine Zukunft haben und vor allem möchte ich allen Kleindealern zeigen, dass sie hier nicht erwünscht sind.“

Einer der Polizisten hatte das mitgehört und fragte Marc:

„Wären Sie vielleicht bereit, diese Aussage auch gegenüber der Presse zu tätigen?“

„Gern, aber die Jungs werden nicht namentlich erwähnt.“

„Selbstverständlich. Keine Sorge, sie bleiben anonym. Es wird auch kein Bild von ihnen gezeigt.“

„Gut, einverstanden. Sagen sie der Presse, sie sollen einen Termin vorschlagen. Kann ich die Jungs jetzt nach Hause begleiten?“

„Ja, wir haben die Personalien aufgenommen und sollte es Probleme geben, melden Sie sich bitte bei mir. Hier ist meine Karte.“

Damit war diese Aktion erfolgreich abgeschlossen und Marc fragte Sascha:

„Sollen wir euch nach Hause begleiten oder geht ihr besser allein zurück?“

„Ich glaube, es ist besser, wenn wir allein zu Hause ankommen. Es wird noch genug Aufregung geben.“

„Ok, das ist in Ordnung. Allerdings meldet ihr euch bitte umgehend, sollte es zu Hause Stress geben.“

„Das machen wir und vielen Dank für die Hilfe. Allein hätte ich nicht mehr gewusst, was ich noch machen sollte.“

Beide Jungs umarmten uns zum Abschied noch und dann machten sie sich auf den Heimweg.

Mittlerweile waren wir wieder allein und der Weg zurück zum Auto war nicht weit. Marc fragte mich:

„Was würdest du jetzt mit diesen beiden Tätern machen?“

„Ich würde mich daran machen herauszufinden, wer die Hintermänner sind und vielleicht kann man versuchen die beiden zur Zusammenarbeit zu bewegen. Wenn nicht, dann sollten sie auch nach geltendem Recht bestraft werden. In Deutschland sind die Strafmöglichkeiten für junge Straftäter sehr begrenzt. Nur bei Intensivtätern wird auch mal eine Haftstrafe ausgesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob das immer so richtig ist.“

„Du hast recht. Ich würde es eher begrüßen, wenn man im Vorfeld, also in der Prophylaxe ansetzen würde.“

„Es gibt solche Projekte, aber die Finanzierung ist oft sehr wackelig. Leider.“

„Hast du schon einmal bei so einem Projekt mitgearbeitet?“

„Ja, schon häufiger. Eine Realschule bei uns in der Nachbarstadt ist da seit Jahren sehr engagiert und sie haben gute Erfahrungen gemacht. Leider müssen die Eltern diese Projekte teils selbst finanzieren. Auch gibt es bei uns eine Fachstelle für Suchtprophylaxe, bei denen ich ja etliche Jahre gearbeitet habe. Aber auch dort gibt es ständig zu wenig Mittel, um gute Arbeit machen zu können.“

„Eigentlich ganz schön bescheuert. Den Politikern sollte man mal in den Hintern treten. Es ist doch viel besser, die Kids zu schulen, bevor sie in eine Abhängigkeit geraten. Typisch Deutschland. Hier in der Schweiz gibt es dafür gesonderte Fördermittel. Ich weiß zum Beispiel von dem Internat, an dem Leif sein Abitur gemacht hat, dass dort für die Vorbeugung viel getan wird.“

Mittlerweile waren wir wieder am Auto angelangt und mir fiel ein, dass ich ja noch den Schlüssel hatte. Bevor ich Marc diesen zurückgeben konnte, sagte er:

„Komm nicht auf die Idee, mir den Schlüssel zurückgeben zu wollen. Du fährst zurück.“

Bevor ich mich schlagen ließ, stieg ich mit einem Lächeln in dieses Kunstwerk.

„Wie sieht deine weitere Planung für heute aus? Wir haben da noch ein Gespräch anstehen.“

Marc holte tief Luft. Es schien ihm nicht so angenehm zu sein. Dennoch antwortete er sehr bestimmt:

„Richtig. Das machen wir direkt nach dem Mittagessen. Ich habe Leif bereits mit Monique herbeordert. Luc und Stef sind bestimmt schon zu Hause. Willst du dir das wirklich antun? Das wird sicher kein einfaches Gespräch. Ich glaube, dass da schon viel Druck im Kessel ist. Luc ist selten so aggressiv.“

„Ich weiß. Gerade deshalb ist es besser, wenn ich als neutrale Person versuche zu vermitteln.“

Sabine: Das Gespräch mit Leif und Luc

Mir war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich die beiden Jungs gleich einmal richtig aussprechen sollten. Leif war in letzter Zeit häufig unausgeglichen und manchmal sogar aggressiv.

Luc hingegen hatte sich entschieden, seinen Bruder zu ignorieren wo immer es ging. Leider klappte das nicht immer. Dann war Streit und Stress vorprogrammiert. Chris hatte gleich alle für ein Gespräch zu uns geladen. Luc hatte sich mit Stef schon nach oben verkrochen. Unsere Gäste waren noch beim Training und so hatten wir wenigstens Ruhe im Haus.

Ich hörte wie Marc und Chris zurückkamen. Für Chris war das heute wieder ein Stresstag. Eigentlich sollte er sich erholen. Dazu wollte ich Marc später noch gehörig die Meinung sagen. Chris würde niemals freiwillig sagen, dass er müde und abgespannt ist, wenn es um die Jungs gehen würde.

Wenigstens hatte ich schon entsprechend Ingwertee vorbereitet. Das würde vielleicht etwas beruhigen. Luc und Stef mochten den immer gern. Von Chris wusste ich das auch.

„Hallo Schatz, wir sind zurück. Was gibt es Neues? Schon wer von unseren Streithähnen da?“

„Hi Marc. Ja, Luc und Stef sind bereits nach oben gegangen. Leif und Monique fehlen noch. Mick hat angerufen und gefragt, ob wir sie morgen vom Flughafen abholen können.“

„Sicher. Wann kommen sie an?“

„Um halb zwei. Aber ihr habt doch schon was vor.“

„Kein Problem, das machen wir zwischendurch. Am Nachmittag möchte Chris ja mit ihnen auf den Tennisplatz.“

Meine Güte, Marc hatte schon alles durchgeplant. Ob das für Chris als Erholung zu sehen war, ich wusste es nicht. Vielleicht sollten unsere Gäste doch erst am Sonntag zurückfahren. Zumindest hätten sie den Sonntag dann mal ganz frei und keine Termine. Darüber würde ich am besten mit Chris sprechen. Marc war hier nicht der richtige Ansprechpartner. Er meinte es ja nur gut.

„Wie hast du dir das gleich gedacht, Chris? Sollen wir von Beginn an dabei sein oder lieber erst später hinzukommen?“

Chris schien sich sehr sicher zu sein, denn er erwiderte:

„Auf jeden Fall von Beginn an. Alle sollen spüren, dass es auch alle betrifft und eine gemeinsame Lösung erarbeitet werden muss.“

„Brauchst du dafür noch irgendetwas? Dann könnten wir das jetzt noch vorbereiten.“

„Nur etwas zu trinken wäre gut. Alles andere lenkt nur ab. Wann wollten Leif und Monique kommen?“

In diesem Augenblick hörte ich unsere Haustür. Das mussten sie sein.

„So, wir sind da. Wo sind Luc und Stef? Noch nicht da?“

Typisch Leif. Erst den Mund aufmachen und dann denken. Alle Augen waren auf ihn und Monique gerichtet, der das sichtlich unangenehm war.

Chris kniff die Augen zusammen und sagte trocken:

„Du magst wohl immer gern im Mittelpunkt stehen oder warum dieser überzogen auffällige Auftritt?“

Wow, das war mutig. Ein direkter Angriff. Meistens hatte das bei uns zur Folge, dass er richtig pampig wurde und die beleidigte Leberwurst spielte.

Aber dieses Mal schaute Leif mit offenem Mund zu Chris. Leif wagte es nicht, Chris etwas zu entgegnen. Allerdings war Chris Mimik auch so kalt, dass es sicher klug war nicht zu widersprechen. Chris hatte ihn direkt vor die Wand laufen lassen. Mir gefiel das gut, aber würde das so bleiben? Ich hatte meine Zweifel.

„Nachdem Leif ja bereits auf seine Art eine Begrüßung ausgesprochen hat, möchte ich euch auch begrüßen.“

Chris ließ keinen Zweifel aufkommen, wer heute das Zepter in der Hand hielt. Er gab Monique freundlich die Hand. Als sie jedoch versuchte, Leifs Verhalten zu entschuldigen, wurde Chris deutlich:

„Hör auf dich zu entschuldigen. Leif ist alt genug, dass er für sein Verhalten selbst verantwortlich ist. Allerdings, wenn es dir unangenehm ist, wie er sich benimmt, dann solltest du ihm das auch deutlich sagen.“

Auch mit dieser Bemerkung war Chris, ohne es zu wissen, auf dem besten Wege, einen größeren Streit vom Zaun zu brechen. Ich wurde etwas unruhig. Marc hingegen war die Ruhe selbst. Er ignorierte fast seinen Sohn. Ich hatte große Zweifel, dass es hier noch lange so ruhig sein würde, denn ich hatte in letzter Zeit das starke Gefühl, dass Marcs Verhalten für Leif eher eine Provokation darstellte.

Mir fiel es jetzt sehr schwer, nichts zu der Situation zu sagen. Allerdings hatte Chris gesagt, wir sollten uns so lange heraushalten, bis er uns Bescheid sagen würde. Monique jedenfalls schaute Chris an und nickte wortlos. Dann sagte sie mit deutlich aggressiver Stimme:

„Das wird nicht passieren. Leif kann sich nicht entschuldigen und ich habe keine Lust, deswegen ständig mit seinen Leuten aneinander zu geraten.“

„Boah, das stimmt doch gar nicht. Erzähle doch nicht so einen Schwachsinn. Natürlich kann ich mich entschuldigen.“

Ah, jetzt war also der Punkt der Ruhe überschritten.

„Wann hast du dich denn mal entschuldigt? Du kennst doch nur noch dich selbst und wie du am besten dastehen kannst. Warum redet Luc denn wohl nicht mehr richtig mit dir? Jedenfalls nicht mehr ausschließlich wegen mir. Dafür ist er viel zu intelligent.“

Oha, das ging ja gut los hier. Luc und Stef kamen in diesem Augenblick in den Raum. Sofort nutzte Leif das, um von sich abzulenken.

„Na, da sind ja die Herrschaften, die sich Hilfe holen müssen, damit sie sich wehren können. Ich brauche das nicht. Ich kann das selbst.“

Luc holte tief Luft, reagiert aber nicht weiter. Leider war das für Stef ein Frontalangriff auf seinen Freund. Sofort konnte ich seinen Ärger spüren.

„Lass das, Stef. Du wirst dir das doch jetzt nicht antun wollen. Bevor Leif noch mehr Erfolg mit seiner Ablenkungsstrategie hat, setzen wir uns bitte an den großen Tisch. Und Leif, ich gebe dir noch einen gutgemeinten Rat. Du wirst deinen Mund ab jetzt nur noch öffnen, wenn ich dich dazu auffordere. Das gilt übrigens für alle am Tisch. Jeder kann ausreden und wird nicht unterbrochen. Ist das klar?“

Chris nahm Leif jeglichen Wind aus den Segeln, ließ sich nicht provozieren und bremste ihn schlagartig aus. Als Leif doch noch einmal nachsetzen wollte, ging Chris einen Schritt auf ihn zu und baute sich vor ihm auf.

„Das will ich jetzt nicht hören. Schluck es runter, bis du an der Reihe bist. Was glaubst du eigentlich, wer du bist. Nur, weil Marc dein Vater ist und viel Geld und Kontakte hat, heißt das für dich noch lange nicht, dass du dich mit seinen Federn schmücken kannst. Du hast noch gar nichts geleistet, außer deinem guten Abitur. Also komm mal runter von deinem hohen Ross.“

Hui, Chris ließ aber gar nichts anbrennen und Leif wagte es nicht, sich gegen Chris zu stellen. Da kam doch wieder etwas Respekt zum Vorschein. Selbst Marc musste tief ausatmen, als sich Leif kommentarlos auf den Stuhl setzte.

„So, nachdem jetzt klar ist, wer hier das Gespräch führt, möchte ich alle bitten, sich an den Tisch zu setzen. Jeder kann sich etwas zu trinken nehmen und dann hoffe ich, dass wir normal und freundlicher miteinander umgehen können.“

Chris hatte soeben seine Position klar und deutlich gezeigt. Keiner der Jungs wagte es, ihm zu widersprechen. Es kehrte Ruhe ein und Chris begann das Gespräch mit einer kurzen Einführung. Damit entspannte sich die Lage eindeutig.

Luc und Stef hatten es begriffen. Leif eher nicht und Monique war es schlichtweg nur unangenehm. Ich wollte jedoch gleich zu Beginn noch einmal aufzeigen, wer hier heute das Sagen hatte.

„Was beschwerst du dich eigentlich, Leif? Ich habe einfach mal genauso mit dir gesprochen, wie du sonst mit Luc umgegangen bist. Ist das etwa doch nicht so schön?“

„So fies bin ich nie gewesen. Ich habe es schon mehrfach versucht, mich bei Luc zu entschuldigen. Er will mit mir nichts zu tun haben. Was soll ich also noch tun, damit wir wieder eine Familie werden?“

Nanu? Was sollte das jetzt? Chris hatte Leif genau da getroffen, womit Leif sonst Luc und Stef malträtierte. War das ein überraschender Versuch, doch vernünftig nach einer Lösung zu fragen.

Marc jedenfalls musste sich stark zurücknehmen, um nicht direkt mit Leif aneinander zu geraten. Stef nutzte die Situation, um zu reagieren.

„Vielleicht mal diese Frage ernsthaft stellen und Luc nicht ständig niedermachen. Du ruhst dich auf deinem Abitur aus und gibst Papas Geld aus. Was hast du denn in letzter Zeit selbst auf die Beine bekommen. Außer dass du uns ständig mit deinen Sexgeschichten provozierst.“

„Bitte? Was für Sexgeschichten?“

Monique wurde fast hysterisch bei diesem Thema. Ich fand es spannend, was nun kommen würde. Sollte ihm Monique jetzt den Laufpass geben? Luc setzte nach und erzählte von den einfach nur peinlichen Stories, die Leif sonst immer zum Besten gab. Monique lief rot an und blaffte Leif von der Seite an:

„Sei froh, dass wir hier zusammensitzen. Ich glaube du spinnst. Wie kommst du dazu, so einen Unsinn zu erzählen? Hast du einen Minderwertigkeitskomplex? Komm mal wieder klar. Du solltest vielleicht etwas weniger Alkohol trinken. Ich bin jedenfalls raus aus dieser Nummer. Davon habe ich nichts gewusst und muss mich dafür entschuldigen. Das ist einfach nur peinlich. Luc, ich habe es bereits mehrfach versucht, mich bei dir zu entschuldigen, habe aber nicht verstanden, warum du mir nicht verziehen hast, dass ich diese dumme Bemerkung über Schwule gemacht habe. Heute glaube ich das zu begreifen. Wenn dein bescheuerter Bruder so viel Unsinn erzählt, würde mir auch der Glaube der Ernsthaftigkeit fehlen. Es tut mir ehrlich leid, dass ich euch beleidigt hatte. Es war nicht meine Absicht. Ich möchte euch bitten, nehmt meine Hand und lasst uns wieder normal miteinander umgehen. Wenn ich kann, werde ich versuchen, Leif wieder auf den alten Weg zu bringen. Aber ich glaube, da gibt es vorab noch einige Dinge zu klären.“

Luc schien sehr überrascht über Moniques Aussagen. Er zögerte und schaute zu Stef. Dieser hatte sich offensichtlich schon entschieden und machte einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Er stand auf, nahm Moniques Hand und sagte zu Luc:

„Komm, Schatz. Mehr kannst du nicht erwarten. Monique hat es verdient, dass wir ihr eine Chance geben. Was du sonst noch hast, können wir danach klären. Ich finde, das ist ein guter Moment, wieder aufeinander zu zu gehen.“

„Warte, Luc. Du musst hier gar nichts machen. Aber wenn du eine Veränderung möchtest, hat sie eine faire Chance verdient. Deine anderen Punkte sollen nicht verschwiegen werden. Aber es ist ein ordentlicher Beginn.“

Chris wollte durch seinen Einwand vermeiden, dass sich Luc zu etwas überreden ließ, was er vielleicht doch nicht wollte. Luc schaute Chris an und nickte.

„Ich weiß, Chris. Aber ich möchte mich mit Monique versöhnen. Stef hat recht. Wir müssen ihr eine faire Chance geben, sich anders verhalten zu können.“

Jetzt tat Luc etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Er umarmte Monique und das für einen langen Augenblick. Auch Stef ließ sich diese Geste nicht nehmen. Aber was würde Leif jetzt machen?

Leif blieb stumm und regungslos auf seinem Stuhl sitzen. Es passierte nichts. Monique hingegen, beließ es nicht dabei. Sie setzte nach:

„Vielleicht kannst du die anderen Punkte auch noch auf den Tisch legen. Ich bin der Meinung, wir sollten alles klären, was hier zwischen uns steht. Wenn Leif sich nicht benehmen kann, muss man es ihm klar und deutlich sagen. Er glaubt ja manchmal, dass er sich alles erlauben kann.“

Ich war erschüttert, fast entsetzt über das, was ich über Leif zu hören bekam. Marc saß regungslos auf seinem Stuhl. Auch das hieß nichts Gutes. Etwas arbeitete in seinem Kopf. Chris hingegen, nahm jetzt wieder das Zepter in die Hand.

„Mich würde jetzt mal interessieren, warum du soviel Alkohol brauchst, um klarzukommen? Was für ein Problem hast du? Du gehst nicht arbeiten und lebst in den Tag hinein. Andere junge Männer in deinem Alter müssen voll arbeiten, damit sie sich etwas leisten können. Du lebst von dem Geld deiner Eltern. Ist das nicht ätzend, immer von den Eltern abhängig zu sein?“

Leif zuckte wie immer in solchen Situationen mit den Schultern und schwieg.

„Von was lebst du denn im Moment?“

Chris setzte nach und ich konnte fühlen, dass Marc nicht mehr lange so ruhig bleiben würde.

Wieder zuckte er mit den Schultern. Marc holte tief Luft. Seine Geduld schien am Ende zu sein. Ich nahm seine Hand und drückte sie. Gott sei Dank blieb er ruhig. Chris bohrte nach:

„Ich möchte wissen, von was du lebst? Nur das Geld von deinen Eltern? Du bist nicht gezwungen für dich etwas zu tun? Dann frage ich jetzt deine Eltern, warum gebt ihr ihm so viel Geld? Hat er das momentan verdient?“

Jetzt waren wir gefragt und ich wusste genau, was Marc dazu sagen würde, aber ich wollte die ganze Wahrheit auf den Tisch haben.

„Ja, es ist so, dass er von uns genug Geld bekommt. Wir möchten, dass es unseren Kindern gut geht. Leif hat hart für sein Abitur gearbeitet. Wenn Luc seine Schule fertig hat, dann soll er ebenfalls selbst entscheiden können, ob er auch eine Auszeit möchte.“

„Das ist sicher auch in Ordnung. Allerdings sollte es auch an Bedingungen geknüpft sein. Es kann doch nicht sein, dass sich durch dein Verhalten, Leif, Luc bedroht fühlt. Wenn du dich von der Schule erholen möchtest und ein bisschen Urlaub brauchst, dann gern. Allerdings nicht, ohne sich an die Regeln der Familie zu halten. Luc, du hast mir gesagt, dass du mit Marc über deinen Unmut und das Gefühl gesprochen hast, dass Marc in dieser Situation Leif mehr zugeneigt ist als dir. Warum hast du diesen Eindruck?“

Jetzt fing ich an zu begreifen, was Chris bezwecken wollte. Er hatte die Absicht, dass alle miteinander und nicht mehr übereinander sprechen sollten. Hoffentlich würde das auch gutgehen.

Luc schien sich nicht wohl zu fühlen. So verunsichert hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt, aber Chris ließ nicht locker.

„Wir haben besprochen, dass wir nur gemeinsam eine Situationsveränderung schaffen. Das bedeutet aber auch, dass du uns schon erklären solltest, was genau dein Problem ist. Es wird dir niemand im Anschluss daran böse sein. Ich glaube nämlich, dass deine Sorgen aus deiner Sicht verständlich sind.“

„Also gut“, Luc hatte sich einen Ruck gegeben, „Leif ist doch Marcs Sohn und ich habe manchmal das Gefühl, dass er Leif mehr durchgehen lässt als mir. Ich habe mich immer bemüht, mich in die Familie einzubringen. Aber manchmal fühle ich mich dennoch nicht als vollwertiges Mitglied. Chris hat zwar gesagt, dass meine Wahrnehmung falsch ist, aber ich fühle es manchmal so.“

„Stopp, Luc. Ich habe nicht gesagt, dass deine Wahrnehmung falsch ist. Ich habe gesagt, dass ich das anders wahrnehme. Was zählt ist aber deine Empfindung. Wenn es so ist, dann musst du darüber mit deiner Familie sprechen.“

Diese Aussage von Luc hatte ich so überhaupt nicht erwartet, Marc schien genauso überrascht zu sein. Allerdings wollte er darauf eingehen.

„Seit wann hast du denn dieses Gefühl? Oder war das immer schon so?“

„Nein, eigentlich erst, seit Leif nichts mehr tut, außer auf Partys zu gehen und sich mit seiner Freundin zu vergnügen. Du lässt alles durchgehen, nur um nicht ständig mit ihm streiten zu müssen. Mir sagst du immer direkt, was du anders haben möchtest. Das finde ich total ungerecht.“

„Du bist doch nur neidisch, dass du eben nicht so lebst wie ich. Mach es doch einfach…“

„Du bist nicht dran, Leif. Luc redet und du hast Sendepause.“

Chris blieb seiner klaren Linie treu und ließ auch keinen Zweifel aufkommen, dass das so bleiben würde. Leif fühlte sich sofort provoziert und wie ein aufgeblasener Gockel fuhr er Chris an:

„Du kannst mir gar nichts sagen. Ich wohne hier und das ist unser Haus. Du kannst mir nicht das Wort verbieten. Was ….“

Jetzt war der Punkt für Marc gekommen, wo es knallen musste. Das konnte so nicht stehen bleiben. Allerdings nahm er zuvor Blickkontakt mit Chris auf. Dann kam das Echo postwendend:

„Sag mal, hast du sie noch alle? Chris ist mein Gast und er hat sehr wohl auch dir etwas zu sagen. Falls du es noch nicht begriffen haben solltest. Du bist hier der Unruhestifter und du solltest endlich mal anfangen, dein pubertäres Getue abzulegen. Wenn Chris dir klar sagt, dass du still sein sollst, dann bist du das gefälligst. Ist das angekommen? Nur noch mal für dein Verständnis: Wir sitzen hier deinetwegen, weil wir alle ein Problem mit deinem Verhalten haben. Inklusive deiner Freundin, die ja eben klar gesagt hat, was sie von deinem Benehmen hält. Entweder du passt dich jetzt unseren Gesprächsregeln an, oder du wirst mich auch mal von einer anderen Seite erleben. Chris hat vollkommen recht. Ich habe viel zu lange keine klaren Grenzen gesetzt. Brauchte ich bislang auch bei keinem meiner Kinder. Bei dir ist das wohl anders. Deshalb werde ich das ab sofort korrigieren. Wenn Luc seine Wahrnehmung so schildert, macht mich das betroffen. Ich habe immer fest geglaubt, alle gleich zu behandeln.“

„Du hast sie auch alle gleich behandelt, aber vielleicht war genau das bei Leif nicht gut. Dort hättest du besser Grenzen früher und klarer definiert. Bei Mick, Lukas und auch Luc war das nicht notwendig. Bei Leif ist es notwendig.“

„Heißt das, du glaubst, ich hätte Leif engere Grenzen geben müssen, dann wäre diese Situation nicht entstanden?“

„Vielleicht. Ich kann es dir nicht sagen. Aber ich sehe, dass Leif anders als deine anderen Kinder ist. Das ist ja auch gar kein Problem. Problematisch wird es erst dann, wenn du ihn entsprechend seinem Charakter nicht passend leitest, ihm nicht die Richtung vorgibst, wie den anderen. Du hast es sicher auch bei Leif gemacht, aber er hat deine Vorgabe nicht verstanden. Er tickt eben anders.“

„Ich denke, genau dadurch ist bei Luc auch dieser Eindruck entstanden. Luc hat nur gesehen, dass wir Leif alles haben durchgehen lassen. Was wir aber alles im Hintergrund versucht haben, bekam er gar nicht mit.“

„Genau, Sabine. Luc muss sich ungerecht behandelt fühlen. Denn sollte er sich an die Regeln einmal nicht gehalten haben, gab es eine direkte Korrektur von euch. Diese Korrektur ist bei Leif aber nie angekommen. Zumindest für Luc nicht sichtbar. Also hat Luc denken müssen, dass Leif alles erlaubt wurde. Im Gegensatz zu ihm. Dass das so nicht war, steht auf einem anderen Blatt Papier.“

„Wie können wir diese Situation auflösen?“, fragte ich.

Dabei schaute ich mir die Gesichter meiner Söhne an. Luc schien bereit zu sein, einen Schritt auf Leif zuzugehen. Es würde also an Leif liegen, ob wir weiterhin Stress in der Familie haben oder wieder eine Chance auf Ruhe bestand. Leif schaute seinen Bruder an und ich war sehr gespannt, auf die Reaktion.

Er stand von seinem Stuhl auf, ging um den Tisch und stellte sich vor seinen Bruder, umarmte ihn wortlos und sagte dann:

„Ich muss zugeben, dass ich erst jetzt begreife, was Luc mir vorgeworfen hat. Dass es gar nicht um die Äußerung ging, die Monique gemacht hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten direkt miteinander mal gesprochen. Ich möchte heute sagen, dass ich versuchen will, mich zu verändern. Außerdem habe ich mich entschieden, was ich studieren möchte.“

Oha, ganz neue Worte und eine ganz andere Qualität der Worte. Jetzt war ich allerdings sehr gespannt, denn bislang hatte sich Leif noch nie konkret dazu geäußert, dass er studieren möchte. Von dem was, einmal ganz zu schweigen.

„Ich möchte Englisch und Deutsch studieren. Ich habe Lust, Lehrer zu werden.“

Das haute mich fast vom Stuhl. Leif und Lehrer? Ob das das Richtige sein würde? Egal, wenn er das machen möchte, dann sollte er das auch umsetzen. Marc schien schon wieder einen Schritt weiter zu sein.

„Wo möchtest du studieren? In Deutschland oder in der Schweiz? Oder ganz woanders?“

„Eigentlich würde ich gern hier studieren, aber da ich Deutscher bin, werde ich doch lieber in Deutschland studieren. Wobei, ein Semester in England würde ich schon auch gern machen.“

Marc bekam ein Lächeln in sein Gesicht. Ich war auch sehr erleichtert, dass es endlich voran ging.

„Das kannst du ganz sicher auch machen. Wenn es sinnvoll ist, dürfte das kein Problem werden. Wann möchtest du mit dem Studium beginnen?“

„Zum nächsten Semester, wenn das geht. Ich möchte wieder was tun. Ich habe lange genug herum gegammelt. Luc hat es ja auch klar angesprochen. Mir war es nur nicht sonderlich bewusst, dass er sich von meinem Verhalten so genervt fühlte.“

„Hast du das jetzt nur gesagt, damit wir dich in Ruhe lassen. Was hat dir die Augen geöffnet?“

„Ich weiß nicht, manchmal hatte ich das Gefühl, dass Luc alles gelingt und ich eher der Mitläufer bin. Ich wollte nicht immer nur das fünfte Rad am Wagen sein.“

Oha, jetzt kamen hier noch Dinge zur Sprache, die sehr interessant werden könnten. Aber Chris wollte nicht weiter diskutieren. Er hatte für sich eine andere Strategie.

„Ich finde, dass ihr jetzt beide beweisen solltet, dass eure Aussagen ernst gemeint sind. Also verhaltet euch anders und redet wieder miteinander statt übereinander. Ich für meinen Teil bin zufrieden und finde, wir sollten an dieser Stelle diese Runde auflösen.“

Es war wirklich faszinierend zu sehen, wie es Chris gelungen war, alle wieder an einen Tisch zu bekommen und sogar ein gutes Ergebnis herauszuholen. Allerdings war Chris auch ein wenig die Erschöpfung anzumerken. Eigentlich sollten es ein paar stressfreie Tage für ihn und seine Jungs werden.

Chris: Wie geht es nun weiter?

Nach diesem ereignisreichen Tag fragte ich mich, sollte dass die erhoffte Entspannung sein? Momentan fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich hatte mich offensichtlich durch meine Hilfsbereitschaft etwas überfordert. Auch wenn wir recht erfolgreich gewesen waren.

Dustin, Maxi und Fynn kamen gerade vom Training zurück, als ich im Garten unter der Magnolie saß. Sabine hatte mir eine kalte Fassbrause gebracht und sich zu mir gesetzt. Da ich die Augen geschlossen hatte, um etwas zu entspannen, bekam ich dies überhaupt nicht mit und erschrak ein wenig, als ich die Augen öffnete.

„Huch, hast du mich erschreckt. Ich hab gar nicht mitbekommen, dass du dich zu mir gesetzt hast.“

„Das glaube ich dir. Du warst so tief in deiner Entspannung, da wollte ich auf keinen Fall stören. Ich bewundere dich, wie schnell du nach dieser Anstrengung abschalten kannst.“

„Du kannst dir also vorstellen, dass das für mich anstrengend ist? Ja, es war anstrengend und ich frage mich gerade, ob ich das richtig mache? Entspannung und Erholung war das heute jedenfalls nicht.“

„Du machst es richtig, weil du gar nicht anders kannst. An dieser Stelle ähnelst du Marc und auch Luc sehr. Du und Marc, ihr könntet Zwillinge sein. Marc kann auch nicht wegschauen, wenn es nötig ist und ich bin mir auch sehr sicher, dass es richtig ist, was du tust. Du würdest unzufrieden werden, wenn du nur noch auf dich schauen würdest.“

Komisch, dachte ich. Das hatte ich schon von meiner Mutter gehört. Nicht nur einmal. Aber wie sollte ich abschalten und mich mal richtig erholen können? Sabine schien meine Gedanken erkennen zu können, denn sie sagte:

„Du kannst abschalten, aber ohne Jungs und ohne Tennis. Begleite deine Jungs nach Hause und gönne dir im Anschluss einen Urlaub ohne Termine und Aufgaben. Bring dieses Projekt gut zu Ende und dann machst du nur für dich etwas.“

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass Marc meine Jungs auf der Terrasse abgefangen hatte und sie mit in den Keller nahm.

„Das ist gar nicht so einfach. Ständig kommen neue Sachen und neue Probleme, die gelöst werden müssen.“

„Ja, und? Probleme müssen nicht ständig und immer zuerst von dir gelöst werden. Die anderen im Team können auch etwas tun. Nur weil du von Jan eingesetzt worden bist, mit diesen drei ein Projekt zu machen, heißt das ja nicht, dass du nicht auch auf dich achtgeben kannst. Ich habe mitbekommen, dass du gern zur Furka fahren möchtest, um deinen Freund zu besuchen. Ich möchte dir einen Rat geben. Mach das, aber nicht von hier aus. Du könntest eh nicht ruhig denken, so lange deine Jungs allein unterwegs wären. Bring sie gut nach Hause, übergib sie für eine oder zwei Wochen an jemand anderen und fahre dann allein in die Schweiz nach Realp. Da kannst du dann abschalten, weil du nicht an die Jungs denken musst.“

„Ich danke dir, dass du mich verstehst. Ja, vermutlich wird es genau so sein. Ich sollte nicht von hier fahren, sondern ganz abschalten kann ich erst, wenn ich das hier gut zu Ende gebracht habe. Erst ein Projekt abschließen, bevor ich etwas Neues beginnen kann. Komisch, genau das sagt meine Mutter auch immer zu mir, wenn ich mal wieder zu viel auf einmal machen möchte.“

„Vielleicht solltest du lernen, häufiger mal NEIN zu sagen?“

Ein schwieriges Thema für mich. Allerdings traf sie damit genau auf meine Schwachstelle. Ich sollte ihren Rat ernst nehmen und an mir arbeiten. So würde ich vermutlich nicht lange auf diesem Niveau arbeiten können.

„Warum weiß ich, dass du genau weißt, was für mich gut ist und ich eigentlich nur zustimmen sollte? Dennoch bekomme ich das nicht so einfach hin. Auch jetzt denke ich schon, ich sollte mich um die Jungs kümmern und das nicht Marc überlassen.“

„Weil du so bist wie du bist und weil auch du nicht perfekt bist. Und damit du nicht auf dumme Ideen kommst, bringe ich dir mal eine kalte Fassbrause und du ruhst dich hier noch eine Zeit aus. Die Jungs sind gut beschäftigt und du nimmst dir eine Auszeit. Das war anstrengend mit Leif und Luc. Du hast dort Stärke und Strenge gezeigt, das kostet dich jedes Mal Überwindung. Du bist nicht gern streng.“

Es stimmte, ich war ungern streng. Allerdings hatte ich mit meiner Art, die Jungs zu überzeugen, langfristig Erfolg. Manchmal allerdings wäre eine deutliche Ansage sicherlich einfacher für mich. Ich hätte weniger Stress. Deshalb ließ ich Sabines Satz ohne Erwiderung stehen. Ich schloss erneut meine Augen und versuchte mich zu entspannen. Das hatte leider zur Folge, dass ich tatsächlich einschlief und erst eine gute Stunde später von Marc geweckt wurde.

„Hey Chris. Möchtest du mit den Jungs gleich zusammen essen oder hast du dir heute Schlaf als Nahrungsaufnahme genommen?“

„Ist es schon Zeit für das Abendessen?“, fragte ich desorientiert.

„Nein, ein wenig Zeit ist schon noch. Deine Jungs fragen, ob wir nicht gegen sie eine Runde Billard spielen wollen?“

Da sagte ich nicht nein. So entwickelte sich der weitere Verlauf des Tages doch noch sehr entspannend. Sogar Leif spielte einige Partien mit. Für mich war dieser Abend eine echte Erholung und ich musste keine weiteren Gedanken in Problemlösungen investieren.

Entspannt und sehr schnell schlief ich dann auch gegen Mitternacht ein.

Leider wurde die Nacht unruhig. Ich träumte nicht besonders gut. Seit langer Zeit holte mich mein Unfall wieder ein. Früher hatte ich das sehr häufig, aber seit einigen Jahren konnte ich das bis auf wenige Nächte ablegen. Heute war es mal wieder soweit.

Entsprechend gereizt traf ich auf die bereits am Frühstückstisch versammelte Truppe. Ich wusste, dass es für mich das Beste war, jetzt einfach ruhig zu bleiben und mich nicht auf unsinnige Diskussionen einzulassen.

„Guten Morgen, Chris. Du siehst nicht gerade erholt aus. Geht es dir gut?“

„Geht so. Danke der Nachfrage, aber ich habe nicht sonderlich gut geschlafen.“

Fynn registrierte sofort meine Stimmungslage. Er hatte dafür ein feines Gespür. Sabine schenkte mir Tee ein und ich nahm mir ein Körnerbrötchen.

„Leute“, sagte ich, „es geht mir gut. Ich habe einfach nur richtig beschissen geträumt. Heute war mal wieder mein Unfall dran. Das war nicht so angenehm.“

Marc und Luc hatten sich leise unterhalten und brachen sofort ihre Unterhaltung ab. Marc fragte nach:

„Wie oft kommt das noch vor? Ich hoffe, nicht mehr so oft.“

„Nein, eher selten. Aber momentan ist bei mir halt viel in Bewegung geraten. Ich vermute, dass ich das alles erst neu sortieren muss und dann beruhigt sich auch meine Psyche wieder. Alles gut.“

„Können wir also heute mit dir rechnen? Mick und Lukas freuen sich schon auf die Einheit.“

„Aber sicher, Mark. Deine Jungs werden hinterher richtig platt sein. Verlass dich drauf.“

„Hihi, sehr gut. Genau das wollte ich hören. Und bevor ihr euch langweilt, habe ich für euch heute ein besonderes Programm geplant. Wir werden einen kleinen Ausflug auf einen Übungsplatz machen. Dort werdet ihr unter unserer Anleitung ein paar Fahrübungen machen. Chris bekommt dann zum Abschluss noch eine Einheit, die nur er probieren darf. Für euch Anfänger wäre das viel zu gefährlich. Ihr dürft aber zusehen.“

Was Marc sich wohl ausgedacht hatte? Mir schwante Außergewöhnliches. Aber bislang hatte ich viel Spaß mit seinen ausgeflippten Ideen.

Das Frühstück verlief ruhig und fröhlich. Auch Luc und Stef waren wieder ausgeglichen wie eh und je. Das Gespräch gestern hatte anscheinend geholfen, beide wieder in ein inneres Gleichgewicht zu bringen. Allerdings fand ich es etwas schade, dass Leif und Monique nicht beim Frühstück waren. Sabine erzählte, dass Leif seine Freundin schon zum Bahnhof bringen würde. Monique wollte ein paar Tage zu ihrer Oma verreisen.

„Bevor wir nach dem Frühstück aufbrechen, muss ich mit Claus in Basel telefonieren. Ich muss ihm sagen, dass ich erst in einigen Wochen zur Furka-Bahn hoch fahre. Damit er jetzt nicht anfängt etwas vorzubereiten.“

Marc nickte und Sabine zeigte mir mit einem Lächeln ihre Zustimmung. Marc ging direkt in die Ansage für die folgende Aktion über.

„Wir nehmen Lucs Camaro, den 918 Spyder und den Aperta mit. Verteilt euch entsprechend auf die Autos. Chris wird den Aperta fahren, ich den 918 und Sabine den Camaro. Falls Leif auch noch nachkommen möchte, werden wir ihm schreiben wo wir sind. Habt ihr Fragen?“

„Ja, was müssen wir mitnehmen?“, fragte Dustin.

„Nichts, nur gute Laune.“

Na, was das wohl geben würde? Eine Fahrstunde für meine Jungs in Supersportwagen? Hoffentlich hatte Marc sich das gut überlegt. Ich war mächtig gespannt, denn solche Supersportwagen bewegte ich ja sonst auch nicht.

Meine Jungs wurden unruhig, als Marc zum Aufbruch bat.

Ich hatte schnell noch mit Claus telefoniert und ihm meine Entscheidung mitgeteilt, nicht jetzt zur Furka zu fahren. Er konnte meine Beweggründe gut verstehen. Diese Reise würde ich im nächsten Urlaub machen.

Als ich aus dem Haus kam, standen die drei Autos bereits in der Einfahrt und wurden erneut bestaunt. Natürlich waren alle Fahrzeuge ohne Dach und die Sonne erhellte die Innenräume.

„Wer fährt mit wem?“, fragte Maxi.

„Das ist eigentlich egal. Verteilt euch wie ihr möchtet. Ich werde voraus fahren, weil ich den Weg kenne. Sabine kennt auch das Ziel. Also Chris, du solltest versuchen an uns dran zu bleiben. Sollten wir uns verlieren, gib das Ziel „Flughafen“ in das Navi. Dann wirst du auch ankommen.“

Luc schien sofort zu begreifen, wo es hingehen sollte.

„Fahren wir dahin, wo du mit mir schon einmal warst?“

Marc lächelte und zwinkerte ihm zu. Also das würde wohl doch etwas mehr als eine Fahrstunde werden. Ich stieg also in den Aperta und schnallte mich an. Ich war neugierig, wer sich wohl zu mir setzen würde. Umso erstaunter war ich, als sich Luc neben mir anschnallte. Dass er nicht in seinem Auto fahren wollte, erstaunte mich sehr.

„Bist du sozusagen mein Aufpasser?“, fragte ich mit einem Lachen im Gesicht.

„Genau, ich kenne ja den Weg auch. Außerdem bin ich noch nicht so oft im Ferrari gefahren. Bislang war das Papas neuestes Spielzeug. Damit ist er immer etwas eigen.“

„Naja, kann ich verstehen. Das ist schließlich ein fahrendes Kunstwerk und auch nicht gerade ein Discountangebot.“

„Das war nie für Papa ein Argument. Er sagt immer, Autos sind zum Fahren gebaut worden. Also bewegt er sie auch. Er muss dir übrigens sehr viel zutrauen auf dem Gebiet. Nur Mama durfte dieses Auto bisher fahren.“

Bevor ich antworten konnte, startete Marc seinen Spyder. Damit begann der Ausflug und ich folgte ihm vorsichtig aus der Einfahrt. Schließlich waren seine Autos in der Regel etwas breiter als normale Fahrzeuge.

Wir rollten durch den Verkehr. Es war ein deutlicher Vorteil, dass die Steevens außerhalb der Stadt wohnten. So war die Fahrt sehr entspannt und angenehm. Die Laune der Jungs war ebenfalls bestens. Immer wieder konnte ich im Rückspiegel sehen wie meine Jungs bei Sabine mit der Musik mitsangen. So ausgelassen hatte ich sie selten erlebt und auch Luc neben mir hatte wieder sein befreites Lachen im Gesicht. Er hatte das Gespräch von gestern abgehakt.

Plötzlich gab Marc vor mir richtig Gas und ich musste mich ran halten, um ihn nicht zu verlieren. Also schaltete ich einen Gang herunter und gab ebenfalls etwas mehr Gas. Sofort setzte der Ferrari das in gewaltigen Vortrieb um. Ich erschrak etwas über diese Urgewalt des Motors. Aber es machte mir ein tolles Gefühl im Magen. Schnell hatte ich wieder aufgeschlossen und nach wenigen Minuten bog Marc in eine Seitenstraße ab.

Nach weiteren fünf Minuten standen wir vor einem großen Tor in einem Zaun. Marc stieg aus und kam zu mir.

„Wir sind am Ziel. Ich mache jetzt das Tor auf und Sabine wird es wieder verschließen. Somit sind wir ungestört und haben die Piste für uns.“

„Habt ihr denn einen Schlüssel?“

„Ja, für heute haben wir einen Schlüssel. Ich hole mir von der Stadt vorher eine Erlaubnis für einen Tag, die Piste nutzen zu dürfen. Das ist sehr praktisch.“

„Also wird der Flughafen nicht mehr benutzt?“

„Nein, zumindest nicht als Flughafen. Hier finden aber öfter Events oder Feste statt. Jeder Bürger darf das Gelände von der Stadt mieten.“

Dann stieg er wieder in seinen Spyder und wir rollten durch das Tor. Marc wartete, bis Sabine es wieder geschlossen hatte. Dann fuhren wir durch ein kleines Waldstück, bis wir die ehemalige Landepiste sehen konnten.

Hier war früher wohl ein kleiner Militärflughafen. Die Fahrschulen nutzten das Gelände für Übungsfahrten, erklärte Luc. Genau das hatte Marc jetzt auch vor.

Wir standen alle im Kreis und Marc erklärte uns seine Idee.

„So, wie ihr sehen könnt, haben wir das Gelände für uns und ich möchte euch die Gelegenheit geben, etwas für den Führerschein zu üben. Ihr müsst keine Angst haben, Luc kennt das ja bereits und Sabine, Chris und ich werden immer mit einem von euch im Auto sitzen. So lange, wie ihr euch an unsere Anweisungen haltet, kann nichts passieren. Allerdings soll der Spaß im Vordergrund stehen. Habt ihr Fragen?“

„Hast du keine Angst um deine Autos? Immerhin steht hier ein Vermögen an Wert.“

Nach meiner Frage fing Marc an zu lachen.

„Nein, Angst habe ich nicht. Es wäre aber schon schön, wenn die Autos heile bleiben würden. Wenn ich Zweifel daran hätte, dass ihr nicht vorsichtig seid, würde ich das nicht machen.“

Im Anschluss daran erklärte Marc die Aufgabenstellung und es ging los. Mich kostete es Überwindung. Ich sollte als verantwortlicher Beifahrer auf meine Jungs aufpassen und sie anleiten. Allerdings stellte ich fest, dass ich mich nach wenigen Minuten entspannen konnte, denn alle Anweisungen wurden umgehend und korrekt ausgeführt. Gerade Maxi stellte sich sehr geschickt an und entwickelte schnell ein gutes Gefühl für die Geschwindigkeit. Dustin blieb sehr vorsichtig und Fynn hatte sehr großen Respekt vor der gewaltigen Leistung.

Bei Marc im Auto durften sie auch etwas mehr von der Leistung abrufen. Das führte zu großem Erstaunen über die Leistungsentfaltung. Genau wie das Beschleunigen, zeigten wir ihnen auch das richtige Bremsen. Das war selbst für mich ein Erlebnis. Die Bremsen der Fahrzeuge waren gigantisch. Vor allem im direkten Vergleich zu Lucs Camaro war der Unterschied deutlich spürbar.

Nach etwa neunzig Minuten holte uns Marc wieder zusammen.

„So, jetzt habt ihr die ersten Meter selbst gefahren und spüren können, dass Geschwindigkeit auch richtiges Bremsen erfordert. Damit ihr eine Vorstellung bekommt, wo die Grenze der Physik liegt und vor allem was dann passiert, werde ich euch jetzt mitnehmen und demonstrieren, was technisch mit diesen Geräten möglich ist.“

Was nun folgte, war eine Vorführung, die meinen Jungs sicher noch sehr lange im Gedächtnis bleiben würde. Marc legte richtig los und das führte dazu, dass Maxi recht blass um die Nase wieder ausstieg. Wortlos und kopfschüttelnd stellte er sich zu mir.

„Na, alles gut bei dir?“, fragte ich mit etwas Sorge.

„Ja, geht schon. Aber der ist ja komplett verrückt. Ich hätte nie gedacht, dass man so schnell in die Kurve fahren und dann auch noch bremsen kann. Diese Kräfte rauben einem echt den Atem.“

Allerdings hatte er sich schnell erholt und bekam ein Grinsen ins Gesicht, als Fynn genauso blass aus dem Wagen stieg.

Als alle Jungs das Erlebnis gehabt hatten, stellte Marc den Spyder ab und stieg aus. Luc hatte mittlerweile mit Sabine und Stef einige Übungsrunden in seinem Camaro gedreht. Er hatte ja seit seiner Prüfung keine Gelegenheit, weitere Erfahrungen zu sammeln. Erst nach seinem Geburtstag durfte er offiziell am Verkehr teilnehmen.

„So, wie hat es euch gefallen?“

„Mega cool. Vielen Dank. Ich weiß jedenfalls jetzt, was ich alles nicht kann und auch nicht ausprobieren sollte.“, traute sich Maxi als erster.

Spontan gab es von den Anderen Applaus und Marc erwiderte:

„Sehr schön. Dann haben wir ja alles richtig gemacht. Damit Chris jetzt auch noch etwas mehr Spaß bekommt, machen wir eine kleine Challenge. Ich fahre vorweg und du bleibst bitte an mir dran. Ich bin sehr gespannt, wie lange du dranbleiben kannst. Wenn es dir zu heftig wird, nimm Speed raus und alles ist gut. Aber das muss ich dir eigentlich auch nicht extra sagen. Du bist ja kein Anfänger mehr.“

Aha, jetzt wollte er mich also doch noch testen. Allerdings hatte ich mich bereits etwas an den Ferrari gewöhnt und war entschlossen, Marc zu zeigen, dass ich zumindest früher ein guter Pilot war.

Marc stieg in seinen Spyder und ich konnte bei den Jungs freudige Erwartung spüren. Fynn sagte, als ich einstieg:

„Denk aber daran, dass wir dich noch brauchen. Also bitte nicht übertreiben.“

Dennoch zeigte er mir den Daumen hoch und dann startete ich den Motor. Marc legte zu Beginn ein gemäßigtes Tempo vor. Allerdings erhöhte er mit jeder weiteren Runde das Tempo. Ich bemerkte dadurch überhaupt nicht, wie schnell wir bereits waren. Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl überfordert zu sein.

Plötzlich wurde Marc langsamer und wir stoppten wieder bei den Jungs. Marc stieg aus und kam zu mir. Ich stellte den Motor ab und war gespannt, was der Grund für diese Pause sein würde. Ich war mir keines Fehlers bewusst.

„Wow, du hast echt Talent. So schnell ist mir bislang noch keiner gefolgt. Das sah richtig gut aus. Sehr saubere Linie und keine Anzeichen von Fehlern. Du kannst vermutlich auch noch schneller fahren. Das lassen wir aber, denn sonst müssten wir Helme aufsetzen.“

„Ich hatte keine Probleme. Bislang ging das sehr einfach und ich denke, dass der Ferrari noch etliche Reserven hat. Jedenfalls mehr, als ich habe. Ich muss nicht mehr schneller fahren.“

Marc klopfte mir anerkennend auf die Schulter und kam leider auf eine dumme Idee.

„Ich glaube, ich lade dich mal ein, mit uns das 24h Rennen auf dem Nürburgring zu fahren. Bislang habe ich das mit Mick und Lukas gefahren. Luc durfte ja noch nicht, aber im nächsten Jahr darf er dann auch. Das würde bestimmt ein großes Ereignis werden.“

„Du spinnst.“ Meine Antwort kam spontan und lachend, „Ich bin viel zu langsam für euch. Du bist mit Tom Kristensen schon zweimal dort gefahren. Ich verfolge das Rennen jedes Jahr. Früher bin ich sogar einmal dort selbst gefahren. Da war das aber noch eine reine Amateurveranstaltung.“

„Nix da. Ich meine das ernst. Das machen wir. Wir werden gemeinsam dieses Rennen fahren und viel Spaß haben.“

Ich hatte mittlerweile verstanden, dass es taktisch klug war, an dieser Stelle Marc nicht zu widersprechen. Deshalb konnten wir nach diesem Erlebnis zurück nach Hause fahren. Schließlich würden in einer Stunde Mick und Lukas abzuholen sein. Ich freute mich auf die beiden. Gerade für Fynn und Dustin waren die beiden sehr wichtig. Sie waren etwas älter und hatten ihre Erfahrungen bereits gemacht.

Nachdem ich mich etwas erholt hatte, spürte ich doch etwas Schmerzen in den Armen. Meine Muskulatur war den großen Kräften nicht so ganz gewachsen. Ich beschloss, nicht mit zum Flughafen zu fahren. Ich wollte mich etwas entspannen. Außerdem sollte ich etwas für meinen Rücken tun. Wenn sich die Schultern bemerkbar machten, würde der Rücken mit Sicherheit genauso hohe Belastungen gehabt haben.

Meine Jungs wollten aber mitfahren, also blieb ich mit Sabine zurück. Wir bereiteten den Tee vor und dann ging ich in den Garten, um ein paar Übungen zu machen.

„Nimm dir die Iso-Matte mit nach draußen. Dann kannst du auch am Boden arbeiten.“

Sabine hielt mir das gute Stück entgegen.

„Woran du alles denkst. Ich glaube, du könntest auch Marcs Management übernehmen.“

„Könnte ich, aber dann würde er mir gehorchen müssen. Bei allem. Das wäre nicht gut. So braucht er mir nur hier zu gehorchen.“

Ich schaute sie an. Sie verzog keine Miene. Erst als ich leicht den Kopf schüttelte, mussten wir beide lachen.

„Wie gut, dass Marc schon weg ist. Diese Diskussion möchte ich nicht miterleben.“

„Warum habe ich das wohl jetzt erst gesagt und nicht bevor er gefahren ist?“

Wir mussten wieder beide laut lachen. Sabine und ich hatten einen ähnlichen Sinn für Humor. Wir verstanden uns exzellent.

Ich legte mir die Matte auf den Rasen und begann mit meinen Übungen. Es lief gut bis zu dem Moment, wo ich mich auf dem Boden drehen wollte. Das Knacken war deutlich zu hören und mir fuhr ein stechender Schmerz in die Brust. Für eine Sekunde musste ich den Atem anhalten, danach wurde es besser.

Ich drehte mich zurück auf den Rücken und atmete zweimal tief ein und aus. Der Rücken entspannte sich und der Schmerz ließ nach. Einige Augenblicke später konnte ich meine Übungen fortsetzen, ohne Schmerzen. Das irritierte mich. Denn das Knacken in der Wirbelsäule war eindeutig gewesen.

Als meine Truppe mit Mick und Lukas den Garten betraten, hatte ich bereits wieder am Tisch Platz genommen und vorher noch meine Tennistasche gepackt. Wir wollten ja eine Einheit gemeinsam machen.

Mick und Lukas begrüßten mich freundschaftlich mit einer Umarmung. Das überraschte mich ein bisschen, denn so oft hatten wir noch nicht etwas gemeinsam gemacht. Dennoch empfand ich das als sehr angenehm.

„Wie geht es dir?“, fragte mich Lukas.

„Danke, altersentsprechend gut.“

Mick lachte und meinte: „Das ist ein gutes Zeichen. Zustand normal und lebendig.“

„Na, hoffentlich. Wir brauchen ihn noch einige Zeit.“, mischte sich Fynn ein.

Es wurde noch ein wenig herumgealbert, aber sehr bald fragte Mick nach der Trainingseinheit.

„Wie weit seid ihr? Wir sind bereit und könnten los. Oder braucht ihr eine Pause, um euch von der Fahrstunde zu erholen? Dann werde ich mit Papa schimpfen.“

Bevor ich darauf antworten konnte, hörte ich folgendes:

„Du scheinst dich ja gut zu fühlen, aber bedenke, dass Chris das Training leitet. Also wenn du ihn weiter ärgerst, wirst du hinterher auf dem Zahnfleisch vom Platz kriechen. Ich wäre an deiner Stelle vorsichtiger.“

Wow, das kam von Dustin. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Mick anscheinend auch nicht, denn er drehte sich mit großen Augen zu Dustin um, sagte aber nichts mehr.

Innerlich musste ich lachen, verzog aber bewusst keine Miene. Heute sollte es eine normale Trainingseinheit werden. Das hatten sich Mick und Lukas so gewünscht.

Einige Minuten später stiegen wir auf dem Parkplatz zum Tennisclub aus dem Van. Jeder hatte seine Tasche über der Schulter und Luc ging voraus. Er meldete sich im Clubhaus an und ich fragte ihn:

„Wie ist das mit den Gebühren für heute? Sagst du mir nachher bitte was du bezahlt hast, dann gebe ich dir das zurück. Das sind ja Trainingskosten, die kann ich abrechnen.“

Luc winkte nur ab und ging ins Clubhaus. Es war wie ich erwartet hatte, Marc sah uns als Gäste. Gäste hatten bei ihm nicht zu bezahlen. Ich wollte auch nicht mehr darüber diskutieren. Ich würde mich bei ihrem nächsten Besuch revanchieren.

Wir gingen uns umziehen und dann auf den Platz. Das Aufwärmen verlief sehr lustig. Ich hatte einige kleine Spiele machen lassen und war erstaunt darüber, dass meine fast erwachsenen Jungs und auch Mick und Lukas so viel Freude dabei hatten. Das wollte ich mir für die Zukunft merken und häufiger einbauen. Ich war bislang immer im Glauben, dass sie solche Spiele für albern halten würden. Dieses Mal spielte ich beim Aufwärmen mit, denn ich wollte auch anschließend mitspielen.

Wir standen gemeinsam an der Bank und nahmen einen Schluck zu trinken. Dann erklärte ich die erste Übung und teilte den Platz auf. Wir spielten uns mit einer Art Rundlauf, wie beim Tischtennis, im T-Feld die Bälle zu. Ich fühlte mich gut und hatte das Problem mit dem Rücken gar nicht mehr im Kopf. Ich konnte normal mitspielen.

Dann teilte ich die Gruppe auf. Zwei sollten auf dem Nebenplatz ein Einzel spielen und der Rest blieb bei mir. Jetzt sollte es mit dem Training richtig beginnen. Ich scheuchte alle gleich heftig über den Platz und spielte, soweit es möglich war, mit. Natürlich brauchte ich mich nicht so intensiv zu bewegen, denn ich blieb immer an der gleichen Stelle stehen. Sie mussten mir den Ball immer wieder auf die gleiche Stelle spielen, aber die Geschwindigkeit konnte ich gut mithalten.

Selbst Mick und Lukas konnten recht gut mithalten. Nur, wenn meine Jungs das Tempo anzogen, konnten sie das nicht erwidern. Es wurde einfach zu schnell für sie. Nach einer halben Stunde kam Lukas zu mir.

„Sorry, aber das Tempo ist für mich einfach zu hoch. Ich mache mal einen Moment Pause.“

„Klar, kein Problem“, antwortete ich.

„Wir können auch wechseln. Ich gehe dann zu dir und Lukas kann hier im Einzel weiterspielen“, bot Maxi vom Nebenplatz an.

„Einverstanden. Macht das so.“

Ich unterbrach meine Übung, damit sie wechseln konnten. Aber nach einer guten Stunde hatten sich Mick und Lukas richtig verausgabt und mussten eingestehen, dass es doch noch einen gehörigen Unterschied zwischen ihnen und meinen Jungs gab.

„Jetzt begreife ich, wie aufwendig ein regelmäßiges Leistungstraining ist. Ich bin echt platt und muss aufhören.“

Mick hatte damit allerdings rechtzeitig aufgehört, bevor er eine Verletzung riskierte. Das gefiel mir.

„Können wir nicht zum Abschluss noch ein Doppel spielen?“, fragte Fynn.

„Ich bin auch raus. Das war einfach heftig.“ Lukas stöhnte.

„Kannst du nicht mitspielen?“, fragte mich Fynn.

Ich überlegte, ob das klug sei, andererseits konnte ich die Jungs verstehen. Es war eigentlich Entspannung angesagt, also sollten wir auch Spaß haben. Ich stimmte zu und spielte mit Maxi gegen Dustin und Fynn.

„Aber nur einen Satz und am besten gehen Mick und Lukas schon duschen. Sonst seid ihr morgen krank.“

Eine Viertelstunde später waren wir mitten im Spiel und hatten sehr viel Spaß. Was mir besonders gut gefiel, Fynn und Dustin tauschten während der Spielpausen immer kleine Zärtlichkeiten aus. Nichts Besonderes oder Auffälliges, aber sie versteckten sich auch nicht.

Beim Spielstand von 4:3 für Dustin und Fynn schlug ich auf. Ich warf den Ball hoch und wollte gerade zuschlagen, als ich noch das Knacken spürte. Danach wurde es für einen Augenblick dunkel. Ich wurde nicht wirklich bewusstlos, aber ein starker Schmerz durchfuhr meinen Körper. Mir blieb einfach die Luft weg. Sofort hatten Dustin und Fynn bemerkt, dass etwas passiert war und sprangen über das Netz und kamen mir zu Hilfe.

Maxi hatte es noch gar nicht mitbekommen, weil er ja mit dem Rücken zu mir stand. Ich hockte auf dem Boden und traute mich nicht aufzustehen. Dustin und Fynn griffen mir beherzt unter die Arme und richteten mich auf.

„Mach keinen Scheiß, Chris. Geht es wieder besser?“ Fynn war echt besorgt.

Ein großer Druck saß auf meiner Brust. Ich bekam schlecht Luft. Ein scheußliches Gefühl.

Ganz vorsichtig führten mich die beiden zur Bank. Langsam setzte ich mich und versuchte die Arme zu heben. Der Schmerz war zu groß. Da bekam ich etwas Panik. So heftig hatte ich das schon ganz lange nicht mehr. Ich versuchte ruhig zu bleiben und so normal zu atmen wie möglich.

Meine Jungs schienen weit mehr Angst zu haben als ich. Maxi wollte gleich einen Rettungswagen rufen. Das konnte ich aber klar unterbinden. Mittlerweile kamen auch Mick und Lukas dazu. Mick fragte sofort:

„Sollen wir Heikki anrufen? Vielleicht kann er dir am ehesten helfen.“

Diese Idee war grandios. Warum war ich da nicht selber drauf gekommen? Ich nickte und sofort nahm Mick sein Telefon und sprach mit der Praxis. Ich schloss für einen Moment die Augen, weil der Schmerz einfach nicht nachlassen wollte. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte, aber es ging einfach nicht. Der Wirbel war komplett blockiert.

„Dustin und Fynn, kommt ihr bitte mal her. Ich sage euch jetzt ganz genau was ihr machen sollt. Dann gehen die Schmerzen etwas weg.“

Verständlicherweise zögerten sie, weil sie mir nicht noch mehr wehtun wollten. Allerdings gab es keine Alternative. Ich erklärte es ihnen und glücklicherweise vertrauten sie mir und halfen mir. Es wirkte sofort und ich bekam wieder mehr Luft. Mein ganzer Körper entspannte sich etwas.

„Danke, Jungs. Jetzt ist es wieder etwas besser. Hast du bei Heikki jemanden erreicht?“

„Ja“, antwortete Mick mit einem Lächeln, „ er kommt sofort her. Du sollst dich nicht groß bewegen. Er ist in zehn Minuten hier.“

„Danke Dir. Ich glaube, es wäre für mich echt schwierig, jetzt in das Auto zu steigen.“

„Kein Problem. Heikki hatte auch gleich gesagt, dass er sofort losfährt. Er konnte sich wohl schon denken, dass es für dich nicht möglich war, zu ihm in die Praxis zu kommen. Wie geht es dir gerade? Hast du immer noch starke Schmerzen?“

„Nein, es geht besser. Ich glaub auch zu wissen, was passiert ist. Ich hatte vorhin schon einmal einen kleinen Schmerz verspürt und konnte das aber wegturnen. Jetzt hat …“

„Warum spielst du dann noch mit uns? Du hättest uns doch sagen können, dass du Probleme hast. Wir sollen doch auch nicht spielen, wenn wir nicht fit sind. Aber du musst das wieder machen, weil du uns nicht enttäuschen willst. Das ist doch bescheuert.“

Ich schaute Dustin an und wenn es nicht so weh getan hätte, hätte ich jetzt laut lachen müssen. So genial wie er das gesagt hatte. Ich nickte nur kleinlaut und wartete sehnsüchtig auf Heikki.

„Ich gehe mal nach vorne zum Parkplatz und warte auf Heikki. So findet er dich schneller.“

Lukas hatte mitgedacht und die anderen hatten mir schon meine Jacke umgelegt, damit der Rücken nicht noch mehr auskühlte.

Nur wenige Minuten später kam Heikki, ganz ruhig, zu uns an die Bank. Er begrüßte mich freundlich und fragte ganz präzise, was passiert war. Dann gab er klare Anweisungen an die Jungs, mich von der Bank zu heben und vorsichtig auf den Bauch zu legen.

Was ich nicht mitbekommen hatte, irgendeiner der Jungs musste Marc angerufen haben, denn plötzlich vernahm ich seine Stimme:

„Wie ist die Lage bei euch?“

Er ließ Heikki in Ruhe arbeiten und begrüßte mich auch nicht. Er wusste ganz genau, dass es jetzt nicht wichtig war, mich zu begrüßen, sondern sich um die Jungs zu kümmern. Er sprach mit ihnen beruhigend und erst, als Heikki vom Boden aufstand, kam er zu mir.

„Na, wie geht es dir jetzt? Konnte Heikki dir schon helfen?“

„Es geht schon etwas besser. Heikki meinte gerade, dass er mich in seiner Praxis weiter behandeln möchte. Kannst du das organisieren, dass die Jungs zu euch kommen? Mick soll mich in die Praxis bringen.“

„Keine Sorge, deshalb bin ich ja hergekommen. Ich hatte mit Lukas telefoniert. Mach dir keine Gedanken darüber. Das regle ich. Mick bleibt bei dir und nimmt dich später mit zu uns.“

Heikki erklärte mir das Problem:

„Also, du hast dir einen Wirbel oberhalb deiner Fixateure verdreht. Den muss ich vorsichtig wieder in Position bringen. Das kann ich hier aber nicht vor Ort. Wir fahren also in meine Praxis. Dort bleibst du noch etwas liegen, kannst dann aber mit Mick nach Hause fahren. Da du aber eine Spritze bekommst, darfst du nicht selber fahren.“

Ich wusste genau, was das bedeutete. Das behutsam in Position bringen war eine schmeichelhafte Umschreibung der Prozedur. Das würde wehtun. Ich war verärgert. Ausgerechnet am vorletzten Tag unserer Erholungstage musste ich mich verletzen.

Wenige Minuten später lag ich bereits bei Heikki in der Praxis auf einem Schlingentisch. Hatte eine Spritze zur örtlichen Betäubung bekommen und wartete darauf, dass er den Wirbel wieder in die richtige Position bringen würde.

Ich kannte das allerdings so noch nicht. Den Schlingentisch kannte ich zwar, allerdings nur bei anderen Anwendungen.

Heikki betrat den Raum und bewegte mich sehr vorsichtig in den Schlingen. Ich war aus Angst sehr verkrampft. Er beruhigte mich und plötzlich war schon alles passiert. Es knackte einmal und dann sagte er nur:

„So, das war es schon. Du kannst langsam aus den Schlingen kommen. Sei bitte vorsichtig, es könnte dir noch schwindelig werden und schone dich bitte die nächsten zwei Tage.“

„Danke. Ich kann irgendwie noch gar nicht glauben, dass das schon wieder gut ist. Bei meinem Physio hat das immer tierisch wehgetan.“

„Vielleicht solltet ihr in Halle da noch etwas verbessern.“

„Ok, dieses große Problem hatte ich schon lange nicht mehr. Ich werde mal mit Kolja in Halle sprechen, wie er das lösen würde. Mit diesem Problem musste ich noch nicht bei ihm vorstellig werden.“

„Ja, es wäre schon gut, wenn ihr darüber sprechen würdet, denn es kann dir durchaus auch wieder passieren. Die Hebelkräfte durch die Fixateure sind größer als normal.“

Ich bedankte mich noch einmal bei ihm für seine sofortige Hilfe und es war tatsächlich so, dass ich nur etwas wackelig auf den Beinen war, aber kaum Schmerz verspürte. Mick fuhr sehr vorsichtig nach Hause. Im Auto sagte er dann zu mir:

„Mach dich für einen lebendigen Empfang bereit. Deine Jungs sind besorgt und haben schon mehrfach geschrieben und gefragt, ob es dir besser geht.“

„Ich habe es befürchtet. Sie werden sich nicht daran gewöhnen, dass diese Dinge für mich leider zum Alltag gehören. Es ist eben so, dass mein Körper nicht immer das macht, was ich gerne hätte. Aber schön, dass ich ihnen nicht egal bin und sie sich wünschen, dass ich weiter mit ihnen arbeite.“

Mick schaute mich an, schmunzelte und antwortete: „Nein, ich kann dir sagen, dass du viel mehr bist als nur ihr Trainer. Sie sehen dich als Mentor und Freund. Dustin hat mir mal erzählt, dass er dir sehr viel verdankt und du dafür verantwortlich bist, dass er heute wieder so gut spielen kann. Du hast viel geleistet und du solltest mehr auf dich achtgeben.“

„Weißt du, ich achte eigentlich ständig auf meinen Körper. Ich bin mir schon bewusst, dass ich nicht mehr so belastbar bin. Aber ich versuche mir auch den einen oder anderen Spaß nicht komplett zu verwehren. Wie sagt man? Kalkuliertes Risiko?“

Er schaute mich an, fing an zu lachen.

„An dieser Stelle bist du meinem Vater sehr ähnlich. Deshalb mag er dich vermutlich auch so besonders. Er bewundert deine Lebenseinstellung und nach allem was du erlebt hast, noch so positiv zu sein.“

Ich schwieg. Als Mick den Wagen in der Garage abstellte, konnte ich die Stimmen der Jungs schon hören. Sie kamen die Treppe hinunter und empfingen mich, als ob ich sie drei Wochen nicht gesehen hätte. Mir war das ein wenig unangenehm.

„Hey Leute, was ist passiert? Ich bin nur ein wenig über mein Limit gegangen und wurde bestraft. Also regt euch ab, alles ist ok. Wir können zur Tagesordnung übergehen.“

„Nur, wenn du dich ab jetzt wirklich schonst. Wir passen auf dich auf, dass du mit uns morgen die Heimreise antreten wirst. Schließlich würde uns Thorsten was erzählen, wenn wir gesund sind und unser Coach aber nicht mehr einsatzbereit ist.“

Dieser Spruch gefiel mir schon viel besser. Wieder kam er von Dustin. Er hatte sich von allen am besten entwickelt. Sein Selbstbewusstsein war gestiegen und er fühlte sich sehr wohl im Kreise seiner Freunde.

Marc: Der letzte Tag für unsere Gäste

Mein Ärger war groß. Ich hatte das Team um Chris zu ein paar Tagen Erholung eingeladen und jetzt hatte sich Chris eine schwere Rückenblessur zugezogen. Das war ärgerlich und unnötig. Für seine Jungs war das Stress pur. Sie waren in Aufruhr und Sorge. Jetzt war es an mir, das Projekt wieder auf Kurs zu bringen und den letzten Tag sinnvoll zu gestalten.

Chris erschien zum Frühstück an ihrem Abreisetag. Seine Jungs hatten sich noch lange mit Luc und Stef über die Verletzung unterhalten und erst nachdem Sabine sich eingeschaltet hatte, beruhigten sie sich. Mir wurde erneut bewusst, welch große Rolle Chris für sein Team spielte. Er war nicht nur ihr Coach. Sie hatten vollstes Vertrauen und sie sahen ihn als Mentor und Vaterersatz. Gerade für Dustin war Chris unheimlich wichtig.

Heute sollte sich Chris nur erholen und schonen. Luc, Stef, Mick und Lukas hatten sich zusammengetan und ein Tagesprogramm geplant, dass Dustin, Fynn und Maxi auch etwas ablenken würde. Chris sollte sich bei uns ausruhen, damit er den Rückflug gut überstehen würde. Ich hatte den Flug extra auf den späten Nachmittag gelegt, damit sich Chris noch etwas länger erholen konnte.

Die Jungs waren bereits unterwegs und auch das war so geplant. Sie sollten sich nicht Sorgen machen, falls es Chris noch nicht so gut gehen würde. Erstaunlicherweise kam Chris gut gelaunt auf die Terrasse.

„Guten Morgen zusammen“, sagte er gut gestimmt.

„Hi, Chris. Hast du einigermaßen schlafen können? Was macht dein Rücken?“

„Danke. Ja, ich habe erstaunlich gut geschlafen. Heikki ist wirklich ein Zauberer. Ich hätte nicht gedacht, dass es heute schon so gut gehen könnte.“

Er setzte sich zu uns an den Tisch. Seine Bewegungen waren vorsichtig. Er traute der Sache noch nicht so ganz.

„Wie oft kommt so ein Zwischenfall eigentlich vor?“

Chris schüttelte seinen Kopf und antwortete:

„Eigentlich nur noch sehr selten. Ich war auch überrascht, dass es mich so böse erwischt hatte. So schlimm war es schon ganz lange nicht mehr. Ich sollte vielleicht nicht mehr so häufig mit den Jungs aktiv trainieren. Es scheint für die Wirbelsäule eine zu große Belastung zu sein.“

Sabine reichte ihm den Tee und wir begannen gemeinsam zu frühstücken. Chris schien sich nicht so wohl zu fühlen, wie die anderen Tage. Irgendetwas beschäftigte ihn. Ich fragte also direkt nach:

„Warum bist du unzufrieden? Ihr habt doch tolle drei Wochen verbracht. Eure Erfolge waren großartig und ich finde, die Jungs entwickeln sich gut. Nur weil du gestern etwas unvorsichtig warst, brauchst du nicht gleich so niedergeschlagen sein. Oder hast du noch Schmerzen, die dich behindern?“

Ich wusste genau, dass er sich Vorwürfe machen würde. Er war über sein Limit gegangen und das würde ihn ärgern. Aber er sollte lernen, dass er nur seine Grenzen kennen würde, wenn er sie auch einmal überschreitet. Genau das verlangte er ja auch von seinen Jungs.

„Nein, Schmerzen keine. Ich bin nur ärgerlich, dass ich meine Grenzen überschritten habe, obwohl ich bereits eine Vorwarnung bekommen hatte. Ich hätte dieses Doppel nicht mehr spielen dürfen. Es ist schlecht, dass ich nicht nein gesagt habe. Darüber bin ich unzufrieden. Schließlich kann das ja auch ernstere Folgen haben.“

„Davon weiß ich ja gar nichts. Was für eine Vorwarnung?“

Er berichtete mir von den Schmerzen zuvor und jetzt konnte ich seinen Unmut verstehen. Seine Schwäche nicht Nein sagen zu können, hatte ihm dieses Problem eingebracht. Das war der eigentliche Grund.

„Vielleicht kannst du das unter einem weiteren Lehrgeld abhaken? Wir machen alle Fehler und müssen daraus unsere Lehren ziehen. Wenn Dustin oder Fynn etwas falsch machen, bist du doch auch nachsichtig. Oder bei Carlo und deinem Motorrad damals. Auch da bist du sehr nachsichtig gewesen. Vielleicht solltest du mit dir auch nachsichtiger sein und die letzten Stunden hier genießen.“

„Vermutlich hast du genau den Nagel auf den Kopf getroffen. Es fällt mir in der Tat schwer, mit mir nachsichtig zu sein. Thorsten hat mir das auch schon gesagt. Es wird wohl etwas Wahres dran sein. Also werde ich da an mir arbeiten und jetzt die Stunden bei euch noch genießen.“

Wir sprachen jetzt noch über die nächsten Wochen und wie es bei ihnen weitergehen würde. Chris wollte gern zwei Wochen Urlaub in Basel und Realp machen. Er wollte seinen Freund Idefix erneut besuchen.

Seine Schilderungen über die Furka Dampfbahn waren sehr interessant. Es faszinierte mich, dass dort hauptsächlich ehrenamtliche Menschen diese Strecke erhielten. Ich war leider noch nie dort gewesen und vielleicht sollte ich mit Luc und Stef einmal dort hinfahren. Chris schwärmte von der Landschaft und den Leuten dort.

Ich sorgte dafür, dass sich Chris jedenfalls heute nicht mehr anstrengen würde und nur relaxen konnte. Erst, als meine Jungs mit seinen drei Experten zurückkamen, wurde es für einen kurzen Moment im Haus lebendig. Sie sollten einfach nur noch ihre Sachen packen und dann würden wir sie gemeinsam zum Flughafen bringen.

Allerdings hatten Fynn, Dustin und Maxi einen anderen Plan. Plötzlich standen sie zu dritt bei uns im Garten. Chris schaute sofort skeptisch, denn sie standen, als ob sie für jemanden Spalier stehen wollten.

„Ist was?“, fragte Chris etwas besorgt.

„Ja“, kam es im Chor zurück.

Chris stellte seine Fassbrause auf den Tisch und schaute die drei an. Dustin hatten sie sich ausgeguckt. Er sollte Chris erklären, worum es gehen würde.

„Also, wir haben uns überlegt, dass wir dir eine kleine Überraschung bereiten sollten. Wir haben daher mit Lucs Hilfe etwas für dich besorgt. Das möchten wir dir gerne geben, damit du immer einen warmen Rücken hast.“

Chris war total irritiert, als Fynn eine Thermoweste hervorholte. Wie sich herausstellte, war das eine Weste, die sogar beheizbar war. Das führte bei Chris zu einem Lachanfall und einem breiten Lachen im Gesicht.

„Leute, wie geil ist das denn? Wo habt ihr denn die gefunden? Ich habe schon oft nach so etwas gesucht.“

Chris freute sich sehr und umarmte seine Jungs für diese tolle Überraschung.

Es war dann auch bald Zeit, sich auf den Weg zum Flughafen zu machen. Mick, Lukas und auch Leif verabschiedeten sich bereits bei uns von unseren Gästen. Luc und Stef wollten sie auf jeden Fall zum Flughafen begleiten.

Was ich bemerkenswert gefunden habe, Leif umarmte Chris sehr intensiv zum Abschied. Er sagte ihm auch etwas. Was, konnte ich leider nicht verstehen, aber Chris nickte und lächelte, als er kurz danach ins Auto stieg.

Auf der Fahrt zum Flughafen wurde nicht viel gesprochen. Nur Chris hatte noch ein Anliegen:

„Ich möchte jetzt im Namen unseres Teams sprechen. Wir bedanken uns ganz herzlich für diese tolle Gastfreundschaft und ich betone Freundschaft. Wir haben mit euch hier echte Freunde gefunden. Es war eine schöne Erfahrung und ich möchte an dieser Stelle eine Einladung an euch aussprechen, uns in Halle zu besuchen. Wir können sicherlich keine Traumautos und Rennstrecken bieten, aber ein Trainingsgelände wo ihr euch gut austoben könnt. Wir würden uns freuen, wenn ihr uns dort besuchen kommt.“

Das konnte ich nicht ablehnen und sagte sofort zu. Ich wollte erneut nach Halle reisen. Den Zeitpunkt würden wir sicher noch finden.

Chris hatte mich gebeten, den Abschied am Flughafen kurz zu halten. Fynn hatte ihn darum gebeten, weil es Dustin definitiv unangenehm sein würde, sollte er seine Gefühle nicht kontrollieren können. Es schien Dustin sehr nahe zu gehen, Luc und Stef hier verlassen zu müssen. Allerdings hatte Luc noch ein Highlight vorbereitet. Er ging auf Dustin und Fynn zu, holte vier Umschläge hervor und verkündete:

„Damit die Zeitspanne nicht zu groß wird, bis wir uns wiedersehen können, habe ich hier noch etwas für euch. Ich wünsche mir, dass wir uns an diesem Termin erneut hier treffen und wir gemeinsam ein paar schöne Tage verbringen können.“

Er gab jedem einen Umschlag und gab jedem eine sehr intime Umarmung. Das gefiel mir außerordentlich gut. Es machte die bereits sehr enge Freundschaft zu unseren Gästen deutlich.

„Danke“, sagte Fynn stellvertretend für alle, „wenn Chris uns fahren lässt, werden wir mit Sicherheit sehr gerne zu dieser Feier kommen.“

Luc schaute irritiert zu Chris, denn er hatte ja auch eine Einladung erhalten.

„Warum sollte er nicht? Er ist doch selbst eingeladen. Wenn es auch für Chris eine etwas andere Einladung ist, als für euch.“

Dabei musste ich schmunzeln. Was das wohl bei Chris auslösen würde, wenn er seine Einladung lesen würde. Wie gut, dass ich mit Chris bereits über diese Sache gesprochen hatte.

Dann verabschiedeten wir uns bereits am Auto und Chris und die drei Jungs betraten allein den Terminal. Damit war für uns diese Episode beendet. Eine sehr schöne Zeit, wie ich fand. Ich war mir allerdings sicher, Chris und ich würden uns sehr bald wiedersehen.

Chris: Ankunft zu Hause

Wir stiegen in Paderborn am Flughafen aus dem Flieger. Ich freute mich auf mein Zuhause und wollte dort in Ruhe eine Tasse Darjeeling trinken. Dustin und Fynn hatten während des Fluges geschlafen und wirkten noch etwas träge. Maxi hingegen drehte noch einmal richtig auf. Er wurde von seinen Eltern abgeholt. Entsprechend freudig fiel das Wiedersehen aus. Maxis Vater war mächtig stolz auf seinen Sohn und dessen Erfolge. An dieser Stelle fand ich das auch gerechtfertigt. Die Verabschiedung von Dustin und Fynn war freundlich, aber es war auch bei Maxi spürbar, dass er sich auf seine Eltern freute. Immerhin hatte er sie über drei Wochen nicht gesehen.

Thorsten kam etwas verspätet zum Terminal. So verpasste er die Abfahrt von Maxi und konnte nur noch uns drei begrüßen.

„Hallo ihr drei. Ich hoffe, dass ihr alle eine gute Rückreise hattet. Drei Wochen sind ja doch eine recht lange Zeit.“

„Hi Thorsten“, begrüßte ich ihn.

Aber bevor ich noch etwas sagen konnte, fragte Fynn:

„Wie geht es Carlo und Tim? Wir haben schon ein paar Tage nichts mehr von ihnen gehört.“

Das erstaunte mich jetzt allerdings. Eigentlich waren die beiden die ganze Reise kaum ein Thema und jetzt fragt Fynn als erstes nach ihnen.

Thorsten lächelte und erwiderte: „Gestern ging es zumindest Tim wieder so gut, dass er Martina ziemlich genervt hatte. Er darf morgen nicht zum Training kommen. Er muss erst seine Schulsachen auf Vordermann bringen.“

Oha, dachte ich. Das schien ja wieder problematisch mit ihm zu sein. Wie gut, dass ich davon nichts mitbekommen hatte.

„Hier, Thorsten, schau mal, was wir mitbringen.“

Dustin hatte einen der Pokale in der Hand und hielt ihn Thorsten hin. Thorsten nahm den großen Pokal und schaute ihn sich an. Dann begann er zu lachen.

„Wow, wenn das so weitergeht, müssen wir noch in der WG anbauen. Ihr scheint richtig erfolgreich gewesen zu sein. Also scheint der Trainer nicht der Verkehrteste zu sein.“

Ein lautes „Jaaa“ folgte. Irgendwie dachte ich gerade, meine Jungs seien erst zwölf und nicht schon sechzehn. Entsprechend lustig wurde die Fahrt zur WG. Thorsten machte aber auch jeden Blödsinn mit und als wir dann in Halle vor der WG das Auto abstellten, erlebte ich die nächste Überraschung.

Wir waren noch nicht ganz im Haus, da kamen Tim und Carlo von oben herunter gerannt und begrüßten uns sehr stürmisch. Auch Martina freute sich, dass wir wieder zurück waren. Sie hatte für jeden von uns bereits eine Fassbrause kaltgestellt.

„Wow“, sagte ich, „das ist ja ein besonderer Service. Danke schön. Das weckt die Lebensgeister wieder.“

„Du bist ja auch schon ein alter Drache. Da müssen wir aufpassen, dass es dir immer gut geht.“

Ich drehte mich um und Carlo grinste mich frech an. Aber anders als sonst, hielt er mir die Hand hin und ich klatschte ihn ab. Er machte einen lockeren Eindruck und es schien ihm gut zu gehen. Die Begrüßung dauerte noch einige Minuten, aber dann wollte ich gern nach Hause fahren. Ich freute mich auf mein eigenes Bett. Thorsten drängte auch bald auf die Heimfahrt. Ich hatte ja mein Auto am Club stehen, deshalb musste mich Thorsten dort noch hinbringen.

Den genauen Bericht würde ich eh erst morgen abgeben. Dustin und Fynn waren dann doch auch müde und wollten schlafen gehen. Sie hatten morgen den ersten Schultag nach drei Wochen. Wir verabschiedeten uns wirklich herzlich mit einer Umarmung. Diese gemeinsame Zeit hatte uns viel enger zusammen gebracht. Ich saß mit Thorsten im Auto und er fragte:

„Bist du zufrieden mit dieser Reise?“

„Absolut. Die drei haben sich toll entwickelt und was ich gesehen habe, stimmt mich zuversichtlich für die nächsten Turniere oder Mannschaftsspiele.“

„Wir sollten uns morgen ausführlich über diese Reise und die nächsten Wochen unterhalten. Du hast deinen Jungs morgen frei gegeben?“

„Ja, sie sollen in Ruhe in den Alltag zurückfinden. Außerdem glaube ich, dass Dustin und Fynn froh sind, wenn sie mal Zeit für sich haben.“

„Gut, morgen Mittag könnten wir gemeinsam essen. Anschließend machen wir die Zukunftsplanung. Einverstanden?“

„Hört sich gut an. Dann kannst du mir auch etwas von dem erzählen, was hier so passiert ist.“

Er ließ mich am Tennisclub aussteigen und ich legte meine Tasche in den Dienstwagen und fuhr nach Hause. Ich freute mich auf mein eigenes Bett.

Es würde sicher interessant werden, die weitere Planung mit Thorsten zu machen.

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