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Auf der Tour

Teil 30

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Inhaltsverzeichnis

Dustin: Ein tolles Turnier findet einen spektakulären Abschluss

„Mama, kannst du bitte mit Patrick den Tisch decken? Justin und Fynn bauen die Tische auf dem Rasen auf“, bat ich meine Mama.

Ich ging zurück zum VW-Bus, den ich mir von Thorsten geliehen hatte und lud die Stühle aus. Ich hoffte, dass die anderen Jungs aus unserer WG auch gleich zurückkommen würden, um uns beim Aufbau zu helfen. Sie hatten noch eine Nachbesprechung mit Thorsten und Cedric Mourier.

Mein Schatz wollte den großen Grill jetzt ausladen, aber das sollte er nicht allein machen. Leider war Fynn wieder einmal so ungeduldig, dass er es dennoch allein versuchte. Das klappte natürlich nicht und wenn ich nicht schnell zu Hilfe geeilt wäre, hätte der Grill vermutlich Schaden genommen.

Ich schaute meinen Freund nur böse an, sagte aber nichts, als ich ihm schnell zu Hilfe kam.

„Sag nichts“, lachte er mich an, „ich habe wieder mal nicht warten können. Aber danke, dass du mir zu Hilfe gekommen bist.“

Wir stellten den Grill hinter dem Bus auf den Boden und Fynn gab mir einen Kuss.

„Gut, das ist wohl Entschädigung genug, aber du solltest es endlich einmal lernen, nicht immer mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.“

In diesem Augenblick kam Carlos zu uns. Er blieb etwas weiter entfernt stehen und wartete, bis wir uns wieder aus der Umarmung gelöst hatten.

„Kann ich noch etwas helfen?“, fragte er uns.

„Gerne, du kannst noch die restlichen Sachen aus dem Bus holen und auf die Terrasse legen. Dann kann ich schon einmal die beiden Grills vorbereiten“, erwiderte Fynn. Carlos schaute in den Bus und lud dann alles aus.

Simon und Mattes waren auch zurück und so kamen wir zügig voran.

Papa hatte begonnen, die Theke aufzubauen. Aber da würde er Unterstützung benötigen. Allerdings hatten Tim und Carlo bereits mit ihm gesprochen und holten die benötigten Teile vom Bus. Carlos hatte diese bereits herausgestellt und somit konnten Tim und Carlo sie zu Papa bringen.

„Wie viel Zeit haben wir noch, bis die anderen kommen?“, fragte Justin, als ich Kohle in den Grill schüttete. Ich schaute zur Uhr und antwortete:

„Noch eine Stunde. Das schaffen wir locker. Die Salate und das Grillgut sollten auch gleich geliefert werden, dann ist zumindest alles Wichtige vor Ort.“

Kaum hatte ich das gesagt, rief Tim:

„Kann noch jemand helfen? Das Essen ist da und muss ausgeladen werden.“

Natürlich halfen ihm alle, die gerade keine Aufgabe hatten.

Es gab mir ein gutes Gefühl, dass unsere Freunde so fleißig mit anpackten und als alles fertig aufgebaut war, hatte Papa auch die Theke in Betrieb. Aber ich wollte, dass Papa nicht hinter der Theke steht. Ich hatte mich entschieden, zwar ein alkoholfreies Fass Bier zu nehmen, aber Chris hatte mir einmal erklärt, dass es wichtig sei, alkoholkranken Menschen jede Versuchung zu erschweren.

Es gab natürlich auch viele andere alkoholfreie Getränke. Insbesondere hatten wir genug Fassbrause kalt gestellt. Wenn Chris zu Gast ist und wir keine Fassbrause vorrätig hätten, wäre das mit Sicherheit sehr peinlich geworden.

Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn hatten wir alles soweit fertig und das bedeutete, wir konnten noch einmal duschen gehen. Martina hatte für meine Eltern frischen Kaffee gemacht und sie setzten sich auf der Terrasse in die Sonne. Überraschend für mich: Patrick hatte uns gefragt, ob er bei uns duschen dürfe.

In unserem Appartement fragte mich Fynn:

„Hatten Luc und Stef etwas gesagt, weshalb sie nicht zum Aufbau gekommen sind?“

„Ja, ich hatte darauf bestanden, dass sie nicht helfen sollen. Sie sind schließlich unsere Gäste. Sie haben schon so oft für uns etwas gemacht. Sie kommen mit Marc und Chris zum Essen.“

Eigentlich hatte ich jetzt etwas Protest von meinem Schatz erwartet, aber er lächelte, gab mir einen Kuss und meinte dann:

„Richtige Entscheidung, Schatz. Sie sind unsere Gäste und wenn ich daran denke, wie wir in der Schweiz umsorgt wurden, dann haben sie noch einiges gut bei uns.“

Patrick kam gerade aus der Dusche und somit konnte ich jetzt mit Fynn gemeinsam duschen.

Warum diese Dusche plötzlich in einem lustvollen Ereignis endete, konnte ich gar nicht sagen. Aber es war schön und ich spürte, dass das in den letzten Tagen deutlich zu kurz gekommen war.

Woran wir allerdings überhaupt nicht gedacht hatten, Patrick saß bei uns im Wohnzimmer und sein Grinsen im Gesicht zeigte uns sofort, dass er einiges davon mitbekommen hatte.

Allerdings, gesagt hatte er dazu nichts. Im Gegenteil, mit einem Blick auf die Uhr trieb er uns zur Eile an.

Er wartete auch nicht mehr, bis wir mit dem Anziehen fertig waren, sondern er ging nach draußen zu Mama und Papa. Zumindest saß er dort, als wir die Terrasse betraten.

Papa lächelte uns an und meinte:

„Na, ihr beiden. Nach der Dusche jetzt entspannt in den Abend gehen?“, und lachte laut dabei.

Wir waren selbst schuld, aber mittlerweile hatte ich hier in der WG damit keine Probleme mehr. Auch Fynn schien das Ganze mit Humor zu nehmen. Er gab Papa eine vielsagende Antwort:

„Oh ja, sehr entspannt und befriedigt. Leider haben wir in der letzten Woche dafür zu wenig Zeit gehabt.“

Natürlich hatten das auch die anderen gehört und insbesondere Carlo fing an zu lachen und zeigte den Daumen hoch. Tim schaute seinen Freund ziemlich entgeistert an.

Ich schaute schnell nach dem Feuer auf beiden Grills. Aber das sah gut aus. Ich legte noch eine Schicht Holzkohle nach und dann den Rost auf das Feuer.

Das Fleisch lag bereits in mehreren Schalen auf einem Tisch neben den Grills. Ich konnte also direkt loslegen, wenn die frische Kohle die richtige Temperatur hätte.

Der erste unserer Gäste war Maxi. Für mich auch eine ganz besondere Situation, dass er uns auch in Wimbledon als Coach unterstützen würde. Chris hatte uns bereits darüber informiert, dass Maxi mit uns nach England fahren würde.

Was mir jetzt aber auch auffiel, die WG war bereits komplett im Garten. Auch Simon und Mattes saßen bei Mama und Papa am Tisch. Fynn hatte bereits eine Kühltasche mit Getränken geholt und jetzt war nur noch die Frage, wer würde die Theke übernehmen. Aber das klärte sich auch sehr schnell, denn Justin meinte:

„Ich glaube, es wäre besser, wenn ich dich beim Grillen unterstütze als dass ich Bier zapfe. Ich kenne mich mit dem deutschen Bier überhaupt nicht aus und habe noch nie gezapft.“

Das war für Maxi ein gutes Stichwort. Er fing an zu lachen und erwiderte Justin:

„Dann wird es Zeit, dass du das lernst. Ist auch gar nicht so schwer. Komm, wir beide machen es zu Beginn gemeinsam und dann übernimmst du das. Ich löse euch sowieso immer mal ab. Schließlich müsst ihr euch ja auch ein wenig um die Gäste kümmern.“

Es herrschte eine tolle, entspannte Stimmung und für mich war das immer noch etwas Besonderes, mit unseren Eltern etwas gemeinsam zu machen.

Es dauerte nicht mehr lange und ich konnte ein kräftiges Grollen vor dem Haus wahrnehmen. Das war ein eindeutiges Signal, dass Marc mit seiner Familie angekommen war.

Die Begrüßung fiel wie immer sehr herzlich aus. Der Besuch von Luc und Stef war für mich natürlich noch interessanter. Wir konnten immer noch einiges von ihnen lernen. Aber für Tim und Carlo waren sie natürlich auch noch wichtig und sie beide nutzten den Besuch von unseren Freunden, um sich einige Tipps und Hinweise zu holen.

Sabine ließ es sich nicht nehmen, mit mir am Grill zu stehen. Dabei fragte sie mich etwas überraschend:

„Wie wird das für euch jetzt sein bei den Turnieren? Chris kann euch nicht mehr vorschreiben, was ihr tut oder was ihr besser nicht machen solltet. Ihr seid jetzt erwachsen und könnt selbstständig entscheiden.“

Ich muss sie wohl recht erstaunt angeschaut haben, denn sie bekam ein Lächeln in ihr Gesicht, bevor ich antworten konnte.

„Es wird sich für mich überhaupt nichts ändern. Jedenfalls was die Arbeit mit Chris betrifft. Er hat uns immer die richtigen Hinweise und Ideen gegeben. Da wären wir schön dumm, wenn wir das jetzt nicht weiter annehmen würden. Er hat uns mit seiner Hilfe dorthin gebracht, wo wir jetzt angekommen sind. Und ich möchte noch mehr Erfolg haben. Immerhin sind wir tatsächlich in Wimbledon dabei. Auch wenn wir vielleicht in die Qualifikation müssen. Wir können mitspielen. Das hätte doch niemand von uns vor einem Jahr gedacht.“

Sabine schien beruhigt zu sein, denn sie meinte nur:

„Eine tolle Einstellung. Ich glaube, ihr wisst wirklich, was Chris für euch für eine Bedeutung hat. Ihr seid ein großartiges Team geworden. Und ich bin schon etwas beruhigt, dass sich Chris auch von euch mal etwas sagen lässt und er euch ernst nimmt, wenn er mal wieder über seinem Limit ist. Ich freue mich auf eure Nachrichten aus England. Wer weiß, vielleicht gelingt euch ja auch noch eine richtige Überraschung. Hier das Viertelfinale zu erreichen war ja auch nicht zu erwarten gewesen.“

„Ja, das stimmt. Und Chris ist für uns wirklich ein Glücksfall. Immer noch. Mittlerweile ist es anders als damals, als ich in das Team kommen durfte, aber er ist immer noch genauso wichtig für uns. Aber etwas ganz anderes, weißt du, wann Chris kommen wollte? Wir sind fast fertig mit dem Fleisch und den Würstchen.“

„Er wird ganz sicher gleich hier sein. Er wollte mit Jan noch etwas besprechen und dann herkommen. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, bringt er Jan und Thorsten auch mit.“

Na, das war aber doch eine kleine Überraschung. Aber ich freute mich, dass Jan und Thorsten unserer Einladung folgen würden. Sie hatten schließlich auch einen erheblichen Anteil an unserem Erfolg.

Chris: Überraschung gelungen und ein toller Abend beendet das eigene Turnier

Ich war auf dem Weg in den Sportpark, um Rafa und Roger abzuholen. Sie wollten den Jungs ihre Anerkennung zeigen und mit uns den Abschluss des tollen Turniers feiern. Das war in erster Linie Rogers Idee, aber als Rafa davon hörte, war er auch sofort dabei. Beide würden mit uns gemeinsam nach London fliegen. Da ich meinen Jungs zwei Tage frei gegeben hatte, würde Maxi ihnen als Trainingspartner zur Verfügung stehen. Auch Struffi war bei uns zu Gast und damit war für ihr Training gesorgt. Ich wollte unbedingt, dass meine Jungs diese zwei Tage frei bekamen. Sie hatten somit noch einmal Gelegenheit, mit ihren Familien Zeit zu verbringen.

Als ich die Lobby des Sportparkhotels betrat, warteten beide bereits auf mich. Der Vorteil im Sportpark war, hier wurden auch die Superstars nicht um Autogramme gebeten und die Presse hatte nur zu bestimmten Anlässen Zutritt.

„Hallo Chris“, begrüßte mich Roger, „schön, dass du uns abholst. Wir kennen uns doch noch nicht so gut in Halle aus.“

„Sehr gern. Ich habe ja eher euch zu danken, denn ich denke, eure Anwesenheit in der WG wird sicherlich zu Aufregung führen. Zumindest bei den Jungs, die euch bislang noch nicht so nah begegnet sind. Meine Jungs wissen allerdings auch noch nichts von dieser Überraschung. Jan kommt übrigens auch gleich zum Essen in die WG.“

Rafa schmunzelte und erwiderte:

„Ich finde das gar nicht so besonders. Bei uns in der Akademie mache ich das regelmäßig. Ich finde das wichtig. So bekomme ich immer einen aktuellen Stand von dem, was gerade Thema ist. Ich bin jedenfalls gespannt, wie das bei euch in der WG so läuft. Ich war ja noch nie dort. Roger hat mir schon das ein oder andere berichtet.“

„Ich finde das auch sehr wichtig, dass ich immer wieder dort bin. Gerade weil ich jetzt sehr oft unterwegs bin. Ich möchte den Kontakt zu den anderen Jungs nicht abreißen lassen. Gerade jetzt haben wir ja drei neue Spieler aufgenommen. Einer davon ist mit dreizehn noch sehr jung.“

Wir hatten uns mittlerweile zum Auto auf den Weg gemacht und als wir einstiegen, meinte Roger:

„Carlos ist erst dreizehn? Das ist aber wirklich sehr jung. Wie kam das zustande? Dass er talentiert ist, hatte ich mitbekommen, aber ich hatte angenommen, dass er schon vierzehn ist?“

Roger hatte Carlos ja bereits in der WG getroffen.

„Ich könnte euch jetzt die Geschichte erzählen, aber ich finde, ihr könnt Carlos das auch gleich selbst fragen. Wenn er nicht vorher den Herztod gestorben ist, weil ihr zu Besuch seid. Hihihi. Außerdem hatte Rafa auch schon mit ihm Kontakt. Das ist der Junge, dem du den Ball an den Kopf geschossen hast.“

Jetzt mussten die beiden auch lachen und ich war wirklich gespannt, wie die Reaktion der Jungs sein würde.

Es dauerte nur wenige Minuten und ich stellte den Motor ab und wir stiegen aus dem Auto. Jan schien schon da zu sein. Jedenfalls stand seine Pagode, ein alter Mercedes 280 SL, vor dem Haus. Auch Marc war bereits anwesend. Sein Spielzeug stand neben Jans Pagode.

Als wir durch das Gartentor gingen, konnte ich schon deutlich die Stimmen aus dem Garten hören. Ich entschied mich, mit den beiden einfach um das Haus zu gehen. Als wir um die Ecke kamen, sah ich Dustin am Grill und Justin mit Maxi hinter der Theke stehen. An einer langen Tafel saßen schon einige der Jungs mit Justins Familie. Jan hatte sich zu John gesetzt.

Plötzlich hatte uns Tim entdeckt.

„Hey, Chris ist auch da. Wir können endlich anfangen mit dem Essen.“

Aber anstatt sofort zum Grill zu laufen, lief er auf mich zu und begrüßte mich mit einer festen Umarmung.

„Hey, danke für die tolle Begrüßung, aber ich habe auch noch zwei Gäste mitgebracht. Die darfst du auch ruhig begrüßen.“

Was jetzt kam, war einfach lustig. Tim schaute zu Roger und Rafa, machte sofort zwei Schritte rückwärts und meinte nur:

„Scheiße, das glaube ich ja jetzt nicht. Wie cool ist das denn.“

Danach hatte er sich wieder gefangen und begrüßte zuerst Roger und dann Rafa mit Handschlag und den Worten:

„Herzlich Willkommen bei uns in der Jungs-WG. Roger war ja schon einmal zu Besuch.“

Mittlerweile hatte uns Martina auch gefunden und stand bei uns. Sie begrüßte Rafa genauso normal, wie sie immer alle Gäste behandelte. Sie fragte mich:

„Was möchtet ihr denn trinken? Chris wird ja sicherlich bei seiner Fassbrause bleiben.“

Roger lachte und gab Rafa den Tipp:

„Hihi, du solltest auch eine Fassbrause probieren. Das Zeug ist echt lecker und nicht so süß.“

Rafa nickte lachend und ich meinte zu Martina:

„Sag mir doch bitte einfach, wo ihr das Zeug kalt gestellt habt. Oder soll ich zu Justin an die Theke gehen?“

„Geht ruhig an die Theke. Wir können auch gleich essen. Willst du deine Gäste noch den anderen vorstellen oder was hast du gedacht?“

„Ich glaube, ich muss die beiden nicht mehr vorstellen. Sie dürften bekannt sein. Ich werde aber gleich am Tisch etwas an alle sagen. Das dürfte das Einfachste sein.“

Aber zuerst begrüßte ich Marc und Sabine mit einer festen Umarmung. Luc und Stef hatten sich zu Dustin an den Grill gestellt.

Als wir drei an der Theke ankamen, begrüßte Justin uns und selbst er war etwas erstaunt. Maxi war ebenso verwundert, gab aber beiden normal die Hand zur Begrüßung. Herr Grehl kam ebenfalls hinzu und ich stellte ihn den beiden vor.

Rafa überlegte einen Augenblick.

„Sie sind der Vater von Fynn?“

Ich wollte unbedingt noch den Status von Dustin direkt klären und ergänzte:

„Und mittlerweile auch von Dustin.“

Roger kannte ja die Geschichte bereits und fing an zu lachen. Rafa schaute irritiert zu Roger und dann zu mir. Er fragte:

„Warum mittlerweile und sind die beiden Brüder? Das finde ich jetzt komisch, da sie doch zusammen sind.“

Herr Grehl lachte und erklärte ihm den Sachverhalt und in kurzen Worten, wie sich das entwickelt hatte. Danach nickte Rafa und erwiderte:

„Das ist eine tolle Geschichte. Großen Respekt vor dieser Entscheidung. So langsam begreife ich auch wirklich, wie wichtig Chris für die drei Jungs hier ist. Ich wusste ja, dass Dustins und Fynns Geschichte nicht ohne Probleme gelaufen ist, aber das ist doch schon echt heftig und jetzt begreife ich auch die ganze Tragweite von Chris‘ Engagement.“

Wir nahmen unsere Fassbrause und gingen deshalb ganz bewusst zu Dustin an den Grill.

Dabei konnte ich deutlich die Unruhe bei den anderen Jungs spüren. Sie blieben aber am Tisch und beobachteten uns nur genau. Niemand traute sich aufzustehen, aber auch Jan schien ihnen etwas gesagt zu haben, denn er hatte für einen Moment seine Unterhaltung mit John unterbrochen.

„Chris“, meinte Dustin, „ du kannst selbst uns noch überraschen. Ich glaube, mit diesen Gästen hast du den Vogel echt abgeschossen. Ihr seid ja noch nicht bei den anderen am Tisch gewesen. Aber ich muss zugeben, mit dieser Überraschung habe ich auch nicht gerechnet. Wie cool. Also herzlich willkommen in der Jungs-WG.“

Rafa und Roger begrüßten Dustin mit einer Umarmung und sofort erkundigte sich Rafa nach Dustins Turnier-Resumee.

„Ganz ehrlich, ich kann es bislang nicht richtig einordnen. Aber es fühlt sich gut an. Ich glaube, dass ich ein gutes Turnier gespielt habe und zufrieden bin. Allerdings hoffe ich schon, dass ich noch besser werden kann. Was mir etwas Angst macht, ist unser schneller Aufstieg in der Weltrangliste. Ich meine, wir sind gerade achtzehn geworden, wo soll das noch hinführen?“

„Natürlich nach oben!“, antwortete Rafa spontan und lachte.

Ich musste sofort laut lachen, denn das kam aus dem Herzen und außerdem hatte er es auf den Punkt gebracht. Ich war auch davon überzeugt, dass es noch weiter nach oben gehen kann. Die Arbeit würde ganz sicher nicht weniger werden, aber weder Dustin, Fynn noch Justin waren schon am Ende ihrer Entwicklung angekommen. Das Wichtigste, sie müssten verletzungsfrei bleiben.

Dustin stutzte und lachte, als er antwortete:

„Sehr gut, damit bin ich einverstanden. Aber eine Sache ist mir wichtig zu sagen. Ohne Chris wären wir niemals dahin gekommen. Er hat uns gezeigt, was wir können und was wir vor allem noch lernen müssen. Und wir haben vom Team immer Rückendeckung bekommen, auch wenn es mal nicht so toll lief oder wir wieder einmal mit Problemen außerhalb vom Platz zu kämpfen hatten.“

Ich war der Meinung, heute Abend sollte nicht mehr so viel über schwierige Dinge gesprochen werden. Daher fragte ich:

„Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe Hunger und wenn ich hier so auf den Grill schaue, sieht das alles richtig lecker aus. Dauert es noch lange?“

„Hahaha“, lachte Dustin, „nein, und ich sollte zusehen, unseren hungrigen Drachen schnell zu besänftigen. Also, lasst uns anfangen.“

Dustin legte das Fleisch auf die große Platte und trug sie zu den Tischen. Ich folgte ihm mit Rafa und Roger.

„Setzt euch irgendwo hin. Da, wo Platz ist“, forderte ich sie auf.

Roger setzte sich neben Jan und ich konnte sehen, dass neben Carlos zwei Plätze frei waren und einer sicher für mich sein sollte, aber Rafa fragte:

„Ist dort frei?“, und zeigte auf den Platz neben Carlos.

„Ja, sicher doch. Carlos ist ein netter Junge, der beißt nicht. Hahaha.“

Rafa setzte sich und sofort begann er mit Carlos ein Gespräch. So kam Carlos gar nicht auf die Idee, nervös zu werden. Ich setzte mich aber dann doch neben Rafa. Auch um etwaige Sprachprobleme zu überbrücken. Aber ich staunte nicht schlecht. Carlos konnte sich gut mit Rafa auf Englisch unterhalten.

Justin und Maxi brachten zwei große Tabletts mit Getränken an den Tisch und verteilten sie nach Wunsch. Rafa entschied sich für Fassbrause, während Roger sich sogar ein alkoholfreies Bier nahm.

Lustig war die Wahl der Getränke meiner Jungs. Justin blieb bei Fassbrause, Dustin und Fynn tranken zu Beginn alkoholfreies Bier. Maxi blieb bei alkoholfreien Getränken und natürlich auch alle anderen Jungs.

Was mir auffiel, Patrick saß bei Tim und Carlo und sie redeten ganz vernünftig ohne irgendwelche Albernheiten.

Thorsten war mittlerweile auch angekommen und hatte sich zu Jan gesellt und es schien so zu sein, dass sie auf mich warten würden. Daher setzte ich mich jetzt einfach zu ihnen. Sabine beobachtete mich, aber sie entspannte sich zusehends und suchte auch immer wieder das Gespräch mit Justins und Fynns Eltern.

Während des Essens entstanden lebendige Gespräche. Gerade Roger unterhielt sich intensiv mit Jan. Ich hatte mir gerade ein neues Stück Fleisch genommen, als mich Rafa fragte:

„Sag mal, was habt ihr euren Jungs hier in der WG bezahlt? Ich habe bislang noch nicht eine Kritik gehört. Alle sind super zufrieden und haben nichts zu meckern. Hahaha.“

Carlos und insbesondere auch Tim und Carlo schienen von dieser flapsigen Frage überhaupt nicht begeistert zu sein. Aber bevor ich reagieren konnte, meldete sich Jan zu Wort:

„Wir brauchen die Jungs nicht zu bestechen. Ich weiß, dass die Jungs hier alle zufrieden sind, weil wir uns gut um sie kümmern. Insbesondere Martina hat hier den Hut auf. Dass Chris natürlich auch immer gern gesehen wird und unterstützt, muss ich nicht extra erwähnen, aber bevor mich Tim oder Carlo schlagen, sollte ich das klarstellen.“

Das lockerte die Stimmung natürlich direkt wieder auf und so langsam verloren die Jungs ihre Hemmungen, auch mit Rafa und Roger ins Gespräch zu kommen.

Als alle mit dem Essen fertig waren und auch das Eis als Nachtisch verspeist war, kam Jan zu mir an den Platz.

„Möchtest du zuerst zu den Jungs etwas sagen oder soll ich beginnen und dann an dich überleiten?“

„Fang du doch einfach an und ich setze das dann mit dem Ausblick auf Wimbledon fort.“

Jan war einverstanden und somit nahm er gar nicht mehr Platz, sondern hob seinen Arm und bat um Aufmerksamkeit. Schnell kehrte Ruhe ein und alle Augen waren auf Jan gerichtet.

„Danke. Ich möchte auch gar nicht groß Spannung aufbauen, denn heute gibt es nur ein ganz großes Lob an euch alle. Wir haben ein fantastisches Turnier gesehen und ihr hattet euren Anteil daran. Dafür möchte ich euch danken und mir wünschen, dass ihr euch genau so weiterentwickelt wie bislang. Dieses Teambuilding zeichnet uns aus und macht uns stark. Auch die Vorbereitung für diesen Abend zeigt mir, wie gut die Gemeinschaft in der WG funktioniert. Dass mit Justin, Fynn und Dustin auch drei Spieler hervorragende Ergebnisse erzielt haben, ist das Sahnehäubchen. Dazu wird aber Chris gleich mehr sagen. Ihr habt bei der Siegerehrung gehört, dass auch die ATP die Situation von homosexuellen Spielern erkannt und zugesagt hat, sich für deren Gleichberechtigung deutlicher einzusetzen. Das ist ein wichtiger Schritt, gerade für die jüngeren Spieler. Also Tim und Carlo, ihr solltet in der Zukunft dann auch von der ATP besser unterstützt werden können. Dafür müsst ihr nur weiter so ernsthaft für das Ziel arbeiten, dass ihr auch dorthin kommen wollt, wo Justin, Fynn und Dustin schon sind. Ihr macht gerade in dieser Hinsicht alles richtig und ich möchte mit meinen Worten natürlich keinen Druck aufbauen, dass ihr dorthin kommen müsst. Mit Roger und Rafa als heutige Gäste dürfte auch das Signal eindeutig sein. Der Respekt in der Spieler-Community ist groß. Chris hat hier viele Türen aufgemacht und zwar mit guter Leistung und gutem Benehmen von euch. Er hat immer mit vollem Einsatz für euch gekämpft und das mit großem Erfolg. Auch hierfür muss ich „Danke“ sagen. Ich hoffe, wir werden auch weiterhin so gut zusammenarbeiten und das kommende Turnier in Wimbledon aufmischen. Jetzt wird euch Chris noch dazu etwas sagen.“

Es gab für Jans Worte spontanen Applaus von den Jungs und auch von Rafa und Roger. Jetzt war ich gefragt.

„Danke, Jan. Ich kann mich dem nur anschließen. Ihr seid hier eine Familie geworden. Jeder achtet auch auf den anderen. Gerade wenn es jemandem mal gar nicht so gut geht, ist immer jemand von euch für ihn da. Das imponiert mir sehr und ich freue mich immer auf einen Besuch hier. Auch wenn es manchmal schwierige Situationen aufzulösen gibt. Mittlerweile hat sich die WG auch vergrößert und es sind drei neue Gesichter dazugekommen. Wie ich höre, seid ihr gut angekommen und auch gut aufgenommen worden. Insbesondere für Carlos ist der Schritt hierher sicher nicht so einfach gewesen. Mit gerade einmal dreizehn von zu Hause wegzugehen ist mutig. Umso wichtiger ist hier jetzt der Teamgedanke. Und ich habe schon bemerkt, dass Carlos hier unterstützt wird. Das gefällt mir sehr gut. Zu den Leistungen von Dustin, Fynn und Justin möchte ich gar nichts mehr sagen außer einfach nur 'grandios'. Das Turnier in Wimbledon soll eine Belohnung für die harte Arbeit sein. Kein noch größerer Druck. Genießt diese Atmosphäre dort und nehmt die Erfahrungen mit. Ich freue mich auf dieses Abenteuer. Lasst uns noch einen schönen Abend haben und uns für diesen Erfolg belohnen.“

Es gab im Anschluss noch einige gute Gespräche und auch ein paar lustige Spiele, die sich die Jungs ausgedacht hatten. Roger und Rafa ließen auch keine Möglichkeit aus, mit den anderen Jungs in Kontakt zu kommen.

Gegen halb eins kam ich dann auch müde in meiner Wohnung an. Die nächsten zwei Tage wollte ich mich endlich einmal um Malte und Carlos kümmern. Mit Malte wollte ich eine Runde auf meiner Panigale fahren. Von Kristin hatte ich die Zustimmung, dass ich ihn von der Schule abholen dürfe.

Genau das hatte ich heute am Montag vor. Den zweiten Helm hatte ich in meinem Rucksack und auch einen Nierengurt hatte ich für Malte dabei. Für die kurze Fahrt nach Hause würde es auch ohne dicke Jacke gehen.

Mit der Panigale stand ich jetzt vor dem großen Schulportal und wartete auf Malte, dass er das Gebäude verlassen würde. Von Kristin wusste ich, dass er heute mit dem Bus gefahren war und er daher kein Fahrrad an der Schule stehen hatte. Meine Sorge war allerdings, dass wir uns verpassen würden. Malte wusste ja überhaupt nicht, dass ich ihn heute abholen würde.

Ich konnte den Schulgong hören und wenige Augenblicke später kamen schon die ersten Schüler aus dem Gebäude gelaufen. Ich hatte Glück, denn ich hatte Malte erspäht. Er kam mit Marvin gemeinsam die Treppe hinunter. Ich legte meinen Helm auf den Sitz und ging den beiden entgegen.

„Hallo, ihr beiden“, begrüßte ich sie, als ich bis auf wenige Meter heran war.

„Chris? Was machst du denn hier? Mit deiner geilen Sonnenbrille hätte ich dich fast nicht erkannt“, lachte Marvin.

Malte blieb verwundert neben seinem Freund stehen.

„Hast du auf uns gewartet?“, fragte Malte.

„Ja, aber eigentlich nur auf dich. Ich habe nämlich etwas mitgebracht und dachte, wir fahren mal eine Runde.“

Dabei drehte ich mich um und zeigte auf meine Panigale.

Marvin freute sich für seinen Freund, indem er ihm auf die Schulter klopfte und meinte:

„Wie geil, du darfst heute mit Chris nach Hause fahren. Ich geh dann mal zum Bus, sonst verpasse ich den noch.“

Dann verabschiedete er sich von mir und ging Richtung Bushaltestelle. Malte stand immer noch leicht konsterniert bei mir. Er fragte:

„Ähm, ich habe aber gar keinen Helm und außerdem soll ich Mama immer Bescheid sagen, wenn ich später nach Hause komme.“

Dabei wirkte er etwas zerknirscht.

„Aber du hast schon Bock mitzufahren?“, fragte ich lachend.

„Na klar, das Teil ist so geil. Darauf warte ich doch schon so lange.“

„Na, dann komm einfach mit. Deine Mama weiß bereits Bescheid und den Helm habe ich in meinem Rucksack. Bis zu dir nach Hause ist es ja nicht so weit. Dort ziehst du dir dann bitte noch eine richtige Jacke an. Dann machen wir eine große Runde.“

Fast ehrfürchtig stand er vor meiner Maschine und schaute sie sich erneut an. Ich nahm derweil den Helm mit dem Nierengurt aus dem Rucksack und hielt ihm zuerst den Gurt hin. Ohne zu meckern legte er sich den Nierengurt an.

„Ist das so richtig?“, fragte er mich.

„Ja, genau richtig. Sehr schön. Hier ist der Helm. Setz bitte einmal auf, damit ich sehen kann, ob der Kinnriemen auch richtig sitzt.“

Sofort konnte ich erkennen, dass hier Nachstellbedarf herrschte. Ich stellte den Riemen passend ein und dann erklärte ich Malte das Prozedere:

„Du wartest jetzt bitte, bis ich richtig auf der Maschine sitze. Dann steigst du von der Seite auf und setzt dich richtig hin. Deine Füße auf die Fußrasten und halte dich an mir fest. Am besten legst du deine Arme um meinen Bauch. Und die Füße bleiben immer auf der Fußraste, bis ich dir sage, dass du absteigen kannst. Noch Fragen?“

Er schaute mich unter seinem Helm an und ich konnte an seiner Körperhaltung erkennen, dass er angespannt und aufgeregt war.

„Nein, alles verstanden.“

Ich stieg auf die Maschine und stellte meine Füße fest auf den Boden. Malte stieg sportlich auf und setzte sich ganz nah an mich heran. Es war etwas eng, denn die Panigale war halt ein Supersportler, der nur wenig Platz für den Sozius bot.

Aber er legte ohne zu zögern seine Arme um meinen Bauch und schmiegte sich eng an mich. Ich fragte:

„Sitzt du gut? Können wir starten?“

„Jap“, kam zurück und ich drückte den Startknopf.

Mit einem bösen Fauchen und Brüllen erwachte der V4-Motor. Ich legte den ersten Gang ein und los ging die Fahrt.

Nach Hause waren es nur wenige Minuten und die nutzte ich, um zu schauen wie sich Malte auf dem Motorrad verhielt. Aber ich hatte keine Kritik anzumelden, als ich die Maschine in der Einfahrt abstellte.

Malte stieg ab und nahm seinen Helm ab. Ich stellte die Maschine noch auf den Ständer und nahm ebenfalls meinen Helm ab.

„Und wie hat es sich angefühlt?“, fragte ich ihn.

„Geil, einfach nur geil. Obwohl du ganz vorsichtig gefahren bist, konnte ich schon spüren, wie viel Power das Teil hat.“

Ich musste schmunzeln, denn seine Aufregung war immer noch spürbar.

„Okay, du hast dich auch gut angestellt. Ich denke, wenn du gegessen hast, können wir noch eine richtige Runde fahren. Wenn du fertig bist, kommst du einfach in den Garten. Ich setze mich noch für einen Tee auf die Terrasse. Denk bitte daran, dass du dir eine richtige Jacke anziehst. Wenn du hast, auch ein paar Handschuhe. Sonst bekommst du von mir welche.“

„Alles klar, aber Handschuhe habe ich. Bis gleich. Ich freue mich echt riesig.“

Wenige Minuten später saß ich auf meiner Terrasse mit einem frischen Darjeeling und genoss die warme Luft. Ich hatte gerade einige Bilder von meinen Jungs erhalten, die mit ihren Familien unterwegs waren. Luc und Stef waren mit Dustins und Fynns Familie unterwegs. Die Schweizer würden heute Abend noch zurückfliegen. Daher wollten sie die Zeit noch richtig ausnutzen.

Es dauerte auch nicht mehr lange und Malte kam mit allen erforderlichen Sachen zu mir in den Garten. Aber er hatte auch seine Tennistasche dabei. Er fragte daher:

„Kann ich meine Tasche bei dir hier ablegen? Ich habe nachher noch Training. Dann kann ich direkt losfahren, wenn wir zurück sind.“

Er hatte eine Schlägertasche, die man sich umhängen konnte. Ich hatte eine andere Idee.

„Wir bringen sie am besten erst zum Platz, dort legst du sie in die Umkleide und ich bringe dich dann zum Training. Kann dich deine Mutter vom Training abholen?“

„Klar, das ist kein Problem. Noch besser. Dann können wir noch ein paar Minuten länger fahren.“

Dabei lachte er befreit auf und hing sich die Tasche um. Ich zwinkerte ihm zu.

Wenige Minuten später erreichten wir die Tennisanlage und Malte hatte seine Tasche in der Umkleide abgelegt.

„So, dann können wir ja jetzt richtig loslegen“, lachte ich.

Ich hatte mir auch bereits eine Strecke ausgesucht, die nicht zu anspruchsvoll für Malte sein würde, aber dennoch Spaß bereiten würde.

Ich achtete genau darauf, dass er den Nierengurt und die Jacke richtig anzog, bevor ich mir den Helm aufsetzte.

Dann ging es los und wir rollten vorsichtig vom Tennisplatzgelände. Dabei kam mir Thorsten im Auto entgegen und ich hielt kurz an.

„Hi Thorsten, der eine kommt, der andere geht. Hihi. Wie hast du den Abend gestern überstanden?“

„Hallo Chris. Alles bestens. Das war ein toller Abschluss. Und du willst jetzt eine Runde Spaß haben?“

„Ja, das brauche ich jetzt mal. Und Malte hatte ich das auch schon ganz lange versprochen. Heute ist gutes Wetter und ich habe auch Zeit. Also gönnen wir uns etwas Spaß.“

Ich legte den ersten Gang ein und gab Gas. Diese kurze Strecke war noch auf privatem Gelände und unterlag nicht einer Reglementierung. Dennoch musste ich am Ende nach etwa zweihundert Metern Beschleunigung stark bremsen. So brutal marschierte das Gerät vorwärts.

Aber jetzt war Malte auch vorgewarnt und richtig bei der Sache. Ich hörte unter dem Helm ein:

„Alter Schwede, ist das böse. Was passiert eigentlich, wenn du richtig Gas gibst?“

„Das probieren wir so besser nicht aus. Ich möchte dich heile wieder zu Hause abliefern. Aber das Gerät geht gut vorwärts. Und das war in etwa nur Halbgas.“

Jetzt standen wir an der Kreuzung zur Bundesstraße und natürlich passte ich jetzt meine Fahrweise der Straße an. Also gemächliches Einrollen.

Erst, als wir aus dem Ort Halle heraus waren, gab ich wieder etwas mehr Gas und sofort spürte ich die geballte Kraft des Vierzylinders. Vor den Kurven bremste ich deutlich stärker herunter als eigentlich nötig, aber ich wollte Malte Zeit geben, sich an die Schräglagen zu gewöhnen. Allerdings stellte er sich sehr geschickt an und ich konnte sehr bald auch zügiger durch die Kurven pfeifen. Das machte mir richtig Spaß, mit dem Geschoss durch die Natur zu ballern. Auch in den kleinen Gängen mal aus der Kurve hart beschleunigen und dann schnell hochschalten und nur noch rollen, um nicht ständig über der Geschwindigkeitsbegrenzung zu fahren. Ich konnte es aber auch gut fliegen lassen, weil Malte wirklich ein guter Sozius war. Nach etwa einer halben Stunde standen wir vor einer Ampel in einem kleinen Ort. Ich fragte nach hinten:

„Bei dir alles gut? Oder sollen wir eine Pause machen?“

„Mega geil, das macht so einen Bock. Was für ein krasses Gerät. Du kannst ruhig noch etwas fahren.“

Ich nickte und gab bei Grün wieder Gas. Die Straßen wurden etwas schmaler und kurviger. Also reduzierte ich deutlich die Geschwindigkeit und konzentrierte mich auf die Schräglage in den Kurven. Auch hier stellte sich Malte hervorragend an und er hatte auch keine Angst. Das konnte ich an seiner Körperspannung spüren. Aber er war nicht verkrampft.

Irgendwann hatte ich mich richtig eingeschossen und es ging nur noch von Kurve zu Kurve und wieder aus der Kurve heraus beschleunigen. Das hatte eindeutig ein Suchtpotenzial. Aber es machte mir unfassbar großen Spaß.

Allerdings merkte ich nach fast einer Stunde, dass ich in den Armen müde wurde und das war ein klares Signal. Eine Pause musste her und ich rollte nur noch mit ruhigem Tempo herum. Im nächsten Ort gab es eine Eisdiele mit einem Café. Das war jetzt genau das Richtige.

Als ich die Panigale abstellte und den Helm abnahm, bemerkte ich, wie verschwitzt ich war. Aber die frische Luft tat gut und als ich meine Jacke öffnete, strömte die Luft herein. Auch Malte hatte völlig verschwitzte Haare. Aber er strahlte über das ganze Gesicht.

„Ist das geil, mit dir zu fahren“, lachte er.

„Ja, das macht echt Freude mit dem Gerät. Aber du musst immer daran denken, Motorradfahren ist gefährlich und mit so einem Bike ist das etwas für erfahrene Piloten.“

Malte nickte und wir gingen gemeinsam in das Café. Die Helme hatten wir auf der Maschine gelassen. Wir hatten sie stets im Blick. Auch unsere Jacken hatten wir über den Lenker gehängt.

Wenige Augenblicke später hatten wir unsere Cola vor uns stehen und jeder ein Eis bestellt. Der Auspuff knisterte immer noch sehr laut. Natürlich gab es auch viele Jugendliche, die sich ein Eis kauften und sich dabei auch die Maschine genau anschauten. Aber dann tauchten auch zwei Rollerfahrer auf, die ihre Fahrzeuge neben meinem abstellten und sich ein Eis kauften. Als sie wieder herauskamen, blieben sie vor der Panigale stehen und schauten sich alles ganz genau an. Aber sie fassten nichts an. Das gefiel mir gut. Dann drehte sich einer der beiden Jungs um und kam zu uns an den Tisch. Er fragte:

„Ist das deine Maschine? Was für ein Teil ist das? Wir haben so etwas noch nie gesehen. Mein Freund meint, das wäre eine MV Agusta, stimmt das?“

„Nein, das ist nur eine Ducati. Eine MV Agusta ist da doch noch eine andere Liga. Aber für mich ist das auch ausreichend Spaß und Druck am Gashebel.“

„Okay, das glaube ich“, erwiderte der Junge, „Aber eine normale Duc ist das auch nicht. Wenn ich mir den Auspuff anschaue, der dürfte aus Magnesium und Titan sein. Das findet man nicht bei normalen Mopeds. Ist das vielleicht eine neue Panigale V4?“

„Genau. Das ist korrekt. Eine Panigale V4R. Und du hast das gut beobachtet. Ein Titanauspuff stimmt.“

Mittlerweile war sein Freund auch zu uns gekommen und hatte meine letzte Aussage mitbekommen. Er meinte daraufhin:

„Cool. Das Teil hat noch mehr Druck an der Kette als die MV. Ich glaube, die Panigale liegt bei fast 230 PS, ist das korrekt?“

„Nein, die Serie V4 hat 215 und die V4R liegt bei 240 PS für die Straße. Also ausreichend zum Spaßhaben.“, lachte ich.

„Oh mann, wie krass muss das Teil vorwärts gehen. Wir sind da mit unseren Rollern echt mit Spielzeugen unterwegs. Von so einer Maschine kann man nur träumen. Einfach geil das Teil. Können wir die mal hören? Würdest du uns die mal starten?“

Sie waren wirklich nett und wussten gut Bescheid. Daher erfüllte ich ihnen den Wunsch und ging zur Maschine, steckte den Schlüssel hinein und startete.

Mit einem Donnergrollen erwachte das Triebwerk und sofort waren alle Blicke auf meine Maschine gerichtet. Ein-, zweimal am Gashahn gedreht und dann stellte ich sie wieder ab. Aber der Klang war einfach nur gigantisch. Gänsehaut pur.

Die Jungs bedankten sich für die Vorführung und verabschiedeten sich wieder. Malte und ich blieben noch etwas im Café sitzen und wir unterhielten uns noch über das Turnier, bis Malte mich fragte:

„Chris, ich weiß, es ist jetzt vielleicht der falsche Zeitpunkt, aber ich habe dir ja schon neulich gesagt, dass ich Probleme mit Mathe habe. Hast du für Marvin und mich noch einmal Zeit, uns das zu erklären?“

„Ja, natürlich. Das hatte ich doch versprochen. Wenn ihr freiwillig Hilfe möchtet, könnt ihr immer auf mich zählen. Aber ich fahre ja übermorgen nach Wimbledon. Da bliebe nur noch morgen Abend.“

„Okay, dann machen wir das morgen Abend. Ich sage Marvin Bescheid. Kommst du zu uns oder sollen wir zu dir herunter kommen?“

„Lasst uns bei mir lernen. Da haben wir unsere Ruhe und können auch ungestört über alles sprechen.“

Anschließend bezahlte ich unsere Rechnung und wir brachen in Richtung Tennisclub auf. Auch auf der Rückfahrt hatten wir viel Freude am Fahren und als ich Malte am Club absetzte, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Vielen Dank, Chris. Das war mega geil. Du hast mir einen großen Wunsch erfüllt.“

Dann umarmte er mich und ich wünschte ihm ein gutes Training. Ich fuhr nach Hause und gönnte mir eine ausgiebige Dusche.

Fynn: Ein toller Tag endet mit dem Abschied unserer Freunde

Heute war für meinen Schatz und mich ein ganz besonderer Tag. Unsere Eltern hatten sich überlegt, mit uns in den Heide Park nach Soltau zu fahren. Besonders cool, Luc und Stef durften uns begleiten.

Jetzt hatten wir aber noch ein Problem mit dem Transport. Natürlich hätten wir mit zwei Autos fahren können, aber das wäre doch sehr aufwändig gewesen. Als wir gestern Abend in der WG von diesem Ausflug erzählt hatten, meinte Jan sofort, dass wir einen der T6-Busse nehmen sollten. Das war natürlich eine tolle Geste und ich hatte mich bereits gestern bei Jan für dieses Entgegenkommen bedankt.

Was wir allerdings nicht bedacht hatten, es war ein Teamfahrzeug und damit durften meine Eltern nicht fahren. Also mussten Dustin und ich den Fahrdienst übernehmen. Das würde unsere erste weitere Fahrt sein. Deshalb war ich schon etwas aufgeregt, als ich mit dem Rad durch das Tor am Tennisplatz rollte. Es war noch sehr früh am Morgen.

Ich sollte mir die Schlüssel und die Papiere bei Thorsten abholen. Also stellte ich mein Rad vor dem Clubhaus ab und stieg die Treppe herauf. Thorstens Bürotür stand offen. Es war ja noch sehr früh am Morgen.

Bevor ich zum Büro kam, hörte ich Thorstens Stimme rufen:

„Ich bin im Clubraum.“

Ich betrat den Raum und Thorsten stand mit Jan bereits an der Theke und sie hatten sich einen Kaffee bestellt.

„Na, wie war die Nacht nach dem Abend?“, fragte Jan mit einem Lächeln.

„Zu kurz“, erwiderte ich lachend, „aber der Abend war genial. Danke, dass ihr auch gekommen seid.“

„Na, ihr habt uns doch eingeladen. Und nach so einem tollen Turnier hatten wir uns das alle verdient. Und jetzt wollt ihr noch einen Spaßtag anschließen?“, lachte Jan.

„Ja, unsere Eltern haben uns in den Heide Park eingeladen. Das wird bestimmt lustig.“

„Das kann ich mir vorstellen. Hier sind die Schlüssel und die Papiere. Fahrt bitte vorsichtig und passt auch im Heide Park auf. Eine Verletzung wäre echt blöd. So wie ich Chris kenne, wird er sich schon Gedanken machen. Wenn etwas sein sollte, ruft bitte an. Chris und ich sind den ganzen Tag erreichbar. Ansonsten viel Spaß. Und denkt daran, wenn ihr tanken müsst, bitte Diesel einfüllen.“

Dabei grinste Thorsten richtig fies. Jan zwinkerte mir zu und meinte dann:

„Lach nicht, ihr wäret nicht die ersten, die versehentlich Benzin getankt haben.“

Thorsten bekam einen richtigen Lachanfall, zeigte dabei auf Jan und feixte:

„Ja, Jan spricht aus Erfahrung. Er hat es auch schon geschafft. Also bitte nur Diesel tanken.“

Danach überreichte er mir die Papiere und den Schlüssel. Sie wünschten uns noch ganz viel Spaß und dann ging ich zum Parkplatz, auf dem der VW-Bus stand.

Beim Einsteigen spürte ich doch eine leichte Aufregung. Hoffentlich würde es keine Probleme geben. Es war uns absolut bewusst, dass es ein großer Vertrauensbeweis war, dass wir als Fahranfänger diesen Teambus benutzen durften.

Als ich alles passend eingestellt hatte, startete ich den Motor. Die ersten Meter waren komisch. Die hohe Sitzposition war ich nicht gewohnt, aber schon nach wenigen Metern spürte ich die Sicherheit zurückkehren. Das Doppelkupplungsgetriebe DSG vereinfachte das Ganze auch.

An der WG warteten bereits meine Eltern mit Patrick und Dustin auf mich. Luc und Stef sollten wir im Sportpark abholen. Meine Mutter hatte natürlich eine große Kühltasche dabei. Das erinnerte mich an meine Kindheit. Da hatte sie auch immer reichlich Verpflegung für uns dabei.

Es war alles schnell eingeladen und es ging zum Sportparkhotel. Ich hatte Papa gebeten, vorn neben mir zu sitzen. Es gab mir ein besseres Gefühl, einen erfahrenen Fahrer neben mir zu haben. Luc und Stef hatten auch jeweils einen Rucksack dabei und dann ging es los auf die A2 und Richtung Norden.

Die Fahrt dauerte zwei Stunden und je näher wir dem Ziel kamen, desto aufgeregter und unruhiger wurde Patrick. Mich störte sein ständiges Gerede in der Konzentration beim Fahren und als ich dann auch noch eine Abbiegung verpasst hatte, stieg mein Ärger erheblich an.

Aber bevor ich explodierte, griff Papa ein.

„Patrick, wenn du dich jetzt nicht sofort zurücknimmst, werde ich richtig sauer. Fynn muss sich hier konzentrieren.“

Dafür war ich Papa echt dankbar. Komischerweise wurde mein Bruder ganz still und es schien ihm sogar etwas peinlich zu sein. Luc und Stef schauten ihn auch nur verständnislos an.

Kurze Zeit später hatte ich den Bus auf dem riesigen Parkplatz abgestellt und wir stiegen aus. Mama wollte die große Kühltasche mitnehmen, aber Papa meinte, dass wir später irgendwo ein Picknick machen würden. Ich hatte den Verdacht, dass er noch etwas geplant hatte, von dem wir noch nichts wussten. Mama schaute auch überrascht, aber beließ es dabei.

„Können wir endlich reingehen?“, nervte Patrick direkt wieder.

Jetzt schien bei Luc auch der Geduldsfaden gerissen zu sein, denn er konterte:

„Nein, allein schon deshalb, weil du einfach nur nervst. Das ist doch einfach nur peinlich, wie du dich hier aufführst. Wie ein Grundschüler.“

Und das ganz ruhig, ohne laut zu werden. Und dass Patrick mit einem Grundschüler verglichen wurde, war natürlich die Höchststrafe für ihn. Entsprechend beleidigt und böse blickte er zu Luc. Aber Mama setzte da noch einen drauf und ergänzte:

„Luc hat absolut recht. Wir sollten dich gar nicht mitnehmen, denn so ist das nur peinlich.“

Natürlich wollte Patrick auf keinen Fall draußen bleiben und entsprechend blieb er nun still, bis wir durch den Eingang waren. Es war noch Vormittag und dennoch schon recht voll. Ich hatte uns einen Flyer genommen. Dort wurde einem erklärt, dass es eine App geben würde, mit der man sich gut auf dem Gelände orientieren könne. Es gab dazu einen QR-Code, mit dem man sich diese kostenlos herunterladen konnte.

Wir bildeten einen kleinen Kreis und schauten gemeinsam auf mein Handy. Patrick interessierten natürlich am meisten die großen und spektakulären Fahrattraktionen wie den Colossos. Das war die größte Holzachterbahn Europas. Sie war nach einer langen Renovierung wieder geöffnet und somit für mich gesetzt. Das musste ich unbedingt machen.

Natürlich war Patrick da auch dabei. Allerdings versuchten wir uns eine Möglichkeit zu suchen, bei der wir das ganze Gelände von oben überblicken konnten. Und zwar in gemäßigter Geschwindigkeit.

Schnell wurde klar, dafür kam nur die Panoramabahn in Frage. Sie würde die Besucher in luftiger Höhe durch den Park fahren und somit einen Überblick über das Gelände ermöglichen.

Diese Fahrt war sehr aufschlussreich. Danach hatten wir eine Vorstellung über die gigantische Größe des Geländes.

Allerdings wurde die Freude auf Action auch immer größer. Wir vereinbarten mit unseren Eltern einen Treffpunkt in drei Stunden. Danach würden wir irgendwo einen Imbiss nehmen und die restliche Zeit noch gemeinsam durch den Park gehen.

Luc und Stef hatten schon etliche Bilder gemacht und wir hatten viel Spaß zusammen.

Unsere erste Fahraktion sollte die Colossos-Bahn sein. Als wir vor diesem Monster von Konstruktion standen, war ich beeindruckt von den Ausmaßen. Und alles war aus Holz gebaut.

Beim Einsteigen mit unseren Freunden wurde mir doch etwas mulmig. Luc hatte natürlich den ersten Wagen für uns reserviert. Also ganz vorne. Aber kneifen war jetzt nicht mehr angesagt.

Wenige Minuten später hatte ich einen Puls von gefühlt hundertachtzig und der Schweiß stand mir auf der Stirn. Aber das war ein cooler Beginn eines wundervollen Tages im Heide Park.

Luc und Stef kannten keine Gnade und jede noch so verrückte Fahrattraktion wurde getestet. Patrick war in seinem Element und mir war nach etwa zwei Stunden Daueraction etwas schlecht. Ich brauchte eine Pause.

„Können wir mal etwas trinken gehen? Ich bin echt durstig“, sagte ich zu meinen Freunden, als wir nach einer wilden Fahrt wieder auf dem Platz standen.

Dass mir ein bisschen schlecht war, wollte ich nicht zugeben. Aber Stef machte gerade auch nicht den besten Eindruck.

Meine Freunde waren aber einverstanden und so saßen wir wenige Minuten später in einem Biergarten und hatten uns etwas zu trinken bestellt.

Nach einem großen Schluck kalter Cola meinte Stef:

„Puh, ich bin ganz schön platt. Ich hätte nie gedacht, dass ein Freizeitpark so anstrengend sein kann. Ich glaube, ich mache erst einmal eine Pause mit dem Karusselfahren.“

Allerdings lachte er im Anschluss. Ein Zeichen dafür, dass er das wohl nicht negativ meinte. Auch Luc lachte und ergänzte:

„Ja, das muss ich auch zugeben. Die neuen Fahrgeschäfte sind schon echt krass. Ich merke auch meinen Nacken durch die hohen G-Kräfte. Ich komme mir vor wie auf einer Rennstrecke in einem Rennwagen.“

Damit hatte Luc natürlich alle Lacher auf seiner Seite. Dustin meinte sogar:

„Na, dann kann ich wohl auch an einem Rennen teilnehmen. Ich merke nichts von dem Ganzen. Meinetwegen können wir noch weitermachen.“

Ich schaute meinen Schatz an und zögerte, denn ich fand diese Aussage etwas despektierlich gegenüber Luc. Luc zeigte ihm aber sofort den Daumen hoch und hatte den Scherz verstanden.

Was ich bemerkenswert empfand, Patrick blieb die ganze Zeit ruhig am Tisch sitzen und hielt sich auch mit Kommentaren sehr zurück.

Diese Pause tat mir gut und als wir uns wieder ins Geschehen bewegten, fühlte ich mich wieder gut. Allerdings spürte ich meinen Nacken doch immer noch deutlich.

Wir begannen jetzt nach der Pause mit etwas ruhigeren Fahrgeschäften. Eine Wildwasserbahn und ein Riesenrad standen auf dem Programm. Erst als wir aus dem Riesenrad wieder herauskamen, zeigte Patrick auf den großen Turm, der etwa einhundert Meter entfernt in den Himmel ragte. Ich wusste, jetzt würde es noch einmal krass werden. Das Gerät nannte sich „Scream“. Ein Freefall-Turm mit 103 Metern Höhe und einer Fallstrecke von 71 Metern.

Dustin schien genauso fasziniert zu sein und wollte unbedingt da rein. Ich wollte eigentlich nicht, aber Luc und Stef waren auch dabei. Also wollte ich auch nicht als Einziger draußen bleiben.

Als wir dann in unseren Sitzen saßen und nach oben fuhren, fragte ich mich allerdings, was ich hier machen würde. Aber jetzt war es zu spät.

Wir wurden nach oben gezogen und es herrschte eine gespannte Stille. Auch die anderen Leute wurden immer stiller, bis wir in knapp einhundert Metern Höhe stoppten. Auf dem Weg nach oben drehte sich der komplette Ring um die Betonsäule, jetzt stand alles still und ich konnte mein Blut in den Ohren rauschen hören. Mein Puls raste und dann, ohne Vorwarnung, ging es abwärts.

Im freien Fall nach unten und nach wenigen Sekunden, die mir aber wie eine Ewigkeit vorkamen, bremste es stark ab und wir kamen etwa zehn Meter über dem Boden zum Halten. Danach wurden wir langsam auf den Boden gefahren und die Bügel öffneten sich. Niemals würde ich wieder in so ein Gerät einsteigen.

Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich wieder sortiert hatte. Aber auch Luc und Stef wirkten beeindruckt. Dustin schüttelte nur über Patrick seinen Kopf. Denn der wollte sofort noch einmal damit fahren. Für mich komplett unvorstellbar.

Und durch die enormen Kräfte spürte ich jetzt doch deutliche Probleme im Hals- und Lendenwirbelbereich. Das fühlte sich nicht gut an. Aber ich wusste auch, ich sollte das jetzt nicht erwähnen, denn Dustin würde sich sonst aufregen und den anderen vielleicht die Freude an diesem Tag nehmen. Das wollte ich auf gar keinen Fall.

Unsere Zeit lief ab und wir machten uns auf den Weg zum Treffpunkt mit unseren Eltern. Den Rest des Tages wollten wir gemeinsam durch den Park gehen. Mit deutlich ruhigeren Attraktionen. Das sollte meinen gestressten Halswirbeln sicher auch gut tun.

Unsere Eltern warteten bereits auf uns und sie saßen in einem Café mit einer Latte Macchiato.

„Ah, unsere Abenteurer und Action Stars sind zurück“, lachte Papa.

Mama meinte:

„Bestellt euch, was ihr möchtet und dann setzt euch zu uns. Die Getränke werden uns an den Platz gebracht.“

Und, ganz erstaunlich, Patrick bot sich an, für uns alle zu bestellen. Dafür bekam er auch von uns ein Lob und ich konnte sogar ein Lächeln in seinem Gesicht erkennen.

Als ich mich neben meinen Vater gesetzt hatte, spürte ich einen stechenden Schmerz im Nacken. Das war so unangenehm, dass ich etwas gezuckt hatte und natürlich hatte Dustin es bemerkt. Das konnte ich an seinem Blick erkennen. Er reagierte aber nicht weiter darauf. Aber ich sollte jetzt aufpassen, das nicht in einem echten Problem enden zu lassen.

Unser Tisch stand leicht im Schatten und Papa fragte uns:

„Wie ist euer Tag bisher verlaufen? Hattet ihr richtig Spaß?“

„Oh ja“, lachte Dustin, „das war ein richtig cooler Tag bisher. Es ist einfach krass, was hier alles an Fahrgeschäften steht. Und wir haben noch längst nicht alles gesehen. Wie war euer Vormittag? Ihr habt hoffentlich nicht die ganze Zeit hier im Café verbracht.“

Mama lachte nach dieser Frage.

„Nein, wir haben uns auch ein paar schöne Sachen gegönnt. Und jetzt wollen wir noch mit euch ein paar Dinge gemeinsam machen. Die sind zwar etwas gemächlicher, aber haben schöne Ausblicke.“

Und es sollten noch einmal zwei ganz tolle Stunden werden mit unseren Eltern.

Als wir den Park verlassen hatten und auf dem Weg zum Bus waren, bemerkte ich erst, wie hungrig ich war.

Mama hatte es wohl auch geahnt und kam lachend zu Dustin und mir.

„Na, seid ihr auch hungrig? Dann lasst uns doch mal schauen, was ich in meiner schönen, großen Kühltasche habe. Nicht, dass ihr uns gleich wegen Schwäche zusammenbrecht. Hahaha.“

Und natürlich hatte Mama genug leckere Sachen vorbereitet. Auch den passenden Platz hatten wir mit einem schönen Parkplatz mitten in der Lüneburger Heide gefunden. Wir saßen, bei angenehmem Wetter, an einem großen Holztisch und ließen es uns richtig gut gehen.

Da fiel mir etwas ein. Wie sollte das mit Luc und Stef eigentlich werden? Marc war ja mit einem Leihwagen unterwegs und sie würden in die Schweiz zurückfliegen.

„Wann fliegt ihr eigentlich zurück und von welchem Flughafen?“, fragte ich Luc.

Jetzt fing Papa plötzlich an zu lachen. Das verstand ich gerade überhaupt nicht und schaute irritiert zu ihm.

„Fynn, deine Frage kommt echt spät. Du hast doch gewusst, dass sie heute zurückfliegen. Also, es kann doch eigentlich nur eine Möglichkeit noch geben.“

Damit war die Verwirrung bei mir noch größer. Aber Luc half mir auf die Sprünge.

„Papa hatte sich ja vom Flughafen einen Leihwagen genommen. Den müsste er ja auch wieder abgeben. Daher treffen wir uns in Hannover am Flughafen und von dort fliegen wir dann heute Abend zurück.“

Jetzt hatte ich es begriffen. Wir würden die beiden auf unserem Weg nach Hause am Flughafen absetzen und wir würden uns da auch von Marc und Sabine verabschieden können.

Unser Picknick war für mich ein toller Abschluss unseres Familienausflugs, aber es bedeutete auch, so langsam von unseren Freunden Abschied zu nehmen. Mittlerweile wussten wir natürlich, dass unsere Freundschaft weiter besteht und wir uns mit Sicherheit erneut treffen würden. Aber dennoch empfand ich das als schade, dass sie so weit weg lebten.

Als wir wieder in den Bus einstiegen, um zum Flughafen zu fahren, meinte Papa ganz überraschend:

„Ich würde es gut finden, wenn Dustin uns nach Hause bringen würde. Fynn ist schon den Hinweg gefahren. Und eine bessere Fahrpraxis kann Dustin jetzt nicht bekommen.“

Das war mir sehr recht. In doppelter Hinsicht. Mein schmerzender Nacken wurde geschont und Dustin würde auch einmal eine längere Strecke fahren können. Dustin wollte sich zuerst dagegen wehren, aber Luc schaltete sich clever ein.

„Hey, ich finde auch, dass du uns fahren solltest. Ich werde neben dir sitzen und dich unterstützen. Das wird ganz sicher eine gute Fahrt für alle werden.“

Dustin schaute Luc ganz überrascht an und ich wusste, jetzt konnte Dustin sich nicht mehr wehren. Und genau so kam es dann auch. Dustin stieg mit einem Lächeln hinter dem Steuer ein und Luc schnallte sich neben ihm an. Stef und ich nahmen in der zweiten Reihe Platz, während unsere Eltern mit Patrick in der letzten Reihe saßen. Und so kamen wir natürlich ohne Probleme rechtzeitig in Hannover am Flughafen an.

Marc und Sabine hatten uns unterwegs bereits geschrieben, an welchem Ort wir uns im Flughafen treffen würden. Als wir das Café betraten, musste ich lachen. Damit Marc nicht sofort erkannt würde, hatte er sich ein Käppi vom Breakpoint-Team und eine Brille aufgesetzt. Sabine winkte uns bereits zu und wir begrüßten uns mit einer festen Umarmung. Auch Patrick wurde genauso herzlich begrüßt. Das empfand ich als eine tolle Geste und mein kleiner Bruder nahm das als Anlass, sich wie ein großer Junge zu benehmen. Sehr angenehm.

Wir hatten nicht mehr so viel Zeit, bis ihr Flieger gehen würde, daher bat uns Marc, schon einmal zum Check-In-Schalter zu gehen. Da wir den Abflugbereich nicht mehr betreten durften, mussten wir uns im Check-In-Bereich von unseren Freunden verabschieden.

Marc war derjenige, der die Initiative ergriff:

„Nun ist es wieder soweit. Wir werden zurückfliegen und euch aus der Schweiz weiterhin unterstützen. Es war wieder eine schöne Zeit mit euch und ich bin mir sicher, dass ihr auch in Wimbledon gut sein werdet. Egal welche Ergebnisse ihr erzielen werdet, diese Erfahrung wird euch erneut weiter nach vorn bringen. Lasst euch nicht einschüchtern durch die große Tradition des Turnieres. Macht alles so wie immer und es wird laufen. Wir bedanken uns für die tolle Betreuung in Halle. Richtet das bitte auch Thorsten aus. Und damit keine Unklarheiten aufkommen, das nächste Mal sehen wir uns spätestens in Basel beim ATP 500 im Herbst. Und wehe, Chris hat andere Pläne, hihihi. Nein, Scherz. Ich habe das mit Chris bereits geklärt. Ihr werdet dort spielen und wir werden uns um alles außerhalb des Platzes kümmern. Aber jetzt wünschen wir euch ein tolles Turnier, passt auf euch auf und Fynn rate ich dringend, morgen bei Christoph aufzuschlagen.“

Ich zuckte zusammen. Woher wusste Marc von meinem Problem mit dem Nacken? Natürlich reagierte Dustin sofort mit einem fragenden Gesicht und wollte schon nachfragen, aber Marc ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Wir mussten uns verabschieden.

Es folgte eine innige Umarmung mit allen und dann war es auch schon passiert und die Familie Steevens verschwand im Passagierbereich.

Aber bereits auf dem Weg aus dem Gebäude fragte mich Dustin schon aufgeregt:

„Was meinte Marc eben mit der Aufforderung, zu Christoph zu gehen? Hast du Probleme? Warum wissen wir davon nichts?“

Er begann direkt, sich aufzuregen.

Mama griff aber ruhig ein und ging dazwischen.

„Dustin, wenn du dich jetzt gleich aufregst, kannst du uns nicht mehr konzentriert nach Hause fahren. Ich möchte, dass du ruhig bleibst und deinen Freund fragst, was passiert ist. Ich bin mir sicher, deine Reaktion ist der Grund, warum er es uns noch nicht mitgeteilt hat. Also, Fynn, erklärst du uns bitte, was passiert ist?“

Dustin schloss seine Augen und atmete tief aus. Ich nahm meinen Freund in den Arm und erklärte:

„Ich habe mir bei diesem Freefall-Turm, ich glaube „Scream“ hieß der, den Nacken und die Lendenwirbel gestaucht und das tut halt richtig weh. Aber wie Marc das bemerkt hat, keine Ahnung. Gesagt hatte ich es nicht.“

„Da muss man kein Hellseher sein, selbst mir ist das aufgefallen, dass du bei bestimmten Bewegungen Schmerzen hast“, ergänzte Papa jetzt ganz ruhig.

Das überraschte mich sehr.

„Ok, ich gebe mich geschlagen. Ja, es tut bei bestimmten Bewegungen richtig weh. Und ich werde Marcs Rat befolgen und morgen bei Christoph vorbeigehen. Auch wenn mich Chris vermutlich dafür steinigen wird. Ich verletze mich bei unserem Spaßausflug ausgerechnet vor dem Turnier in Wimbledon.“

Ich fühlte mich jetzt total niedergeschlagen. Hatte auch etwas Angst, dass ich vielleicht nicht spielen können würde. Aber das hatte ich bereits gelernt. Es würde nicht besser sein, nicht zu Christoph zu gehen.

Und entgegen meiner Befürchtungen, Dustin würde sich jetzt richtig aufregen und wieder Panik schieben, nahm er mich in den Arm, gab mir einen Kuss und sagte:

„Das ist ja echt blöd, aber ich bin mir ganz sicher, Chris wird dich nicht steinigen, wenn du sofort bei Christoph bist. Er wird dich steinigen, solltest du nicht zu Christoph gehen. Hihihi.“

Mama fand diese Aussage so toll, dass sie spontan Beifall klatschte und Dustin dafür umarmte.

Damit fand unser wunderbarer Familientag zwar ein nicht so schönes Ende für mich, aber jetzt fühlte ich mich doch wieder besser und während der Rückfahrt hatte ich auch kaum Schmerzen. Aber als wir zu Hause waren, habe ich Christoph noch eine Nachricht geschrieben und er hat geantwortet, dass ich gleich früh am nächsten Morgen zu ihm kommen sollte. Das war schon klasse von ihm.

Chris: Der letzte Tag vor der Abreise

Meine Jungs hatten gestern wohl einen fantastischen Tag mit ihrer Familie im Heide Park. Jedenfalls waren alle Bilder und Nachrichten sehr fröhlich und ausgelassen.

Ich hatte meine Tasche für England bis auf Kleinigkeiten bereits gepackt. Am späten Nachmittag wollten Malte und Marvin vorbeikommen. Ich hatte meinen heutigen Tag und den Abend mit Carlos als Schwerpunkt geplant. Tim und Carlo hatten mir Hinweise gegeben, denen ich nachgehen wollte. Zuerst wollte ich mir mal wieder ein Training bei Marco anschauen und dann vielleicht darüber mit Carlos ins Gespräch einsteigen. Ansonsten hatte ich auch genug Zeit, mit in die WG zu fahren, falls nötig. Am Abend wollte ich in der WG essen und mit Carlos sprechen.

Ich hatte mir überlegt, mir bei Kolja eine Massage zu gönnen. Die Wimbledonreise würde wieder sehr anstrengend werden und da könnte zu Beginn ein entspannter Rücken von Vorteil sein. Anschließend hatte ich mich mit Thorsten im Clubhaus zum Mittagessen verabredet.

Heute war noch einmal die letzte Gelegenheit, mit der Panigale zu fahren, aber zur Massage nahm ich doch lieber das Auto. Meistens war mir im Anschluss immer etwas schwindelig.

Als ich bei Kolja in die Praxis kam, wurde ich wie immer freundlich begrüßt. Am Empfang teilte mir Nadine, die den Empfang leitete, mit, dass ich noch einen Moment warten müsste, da sich ein akuter Fall ergeben hatte.

Ich nahm mir an der Kaffeetheke einen Latte Macchiato und setzte mich in die Warte-Lounge.

Plötzlich ging eine Tür von einem Behandlungsraum auf und wer kam heraus? Kolja mit Fynn. Nanu, dachte ich. Was hat das denn zu bedeuten?“

Kolja begrüßte mich mit einer Umarmung und auch Fynn begrüßte mich genauso herzlich.

„Ich bin gleich für dich da, Chris. Ich wasche mir gerade noch einmal die Hände und dann geht es los.“

Fynn blieb noch einen Moment bei mir stehen und ich wusste sofort, es gab ein Problem.

„Bevor du mich steinigst, es ist glücklicherweise nichts Ernstes passiert, aber ich habe gestern Probleme im Nacken und Lendenwirbelbereich bekommen. Und ja, es stimmt, die Ursache war der Freefall-Turm im Heide Park. Aber ich habe gestern noch mit Christoph Kontakt aufgenommen und der hat dafür gesorgt, dass ich heute gleich herkommen durfte. Und hier bin ich. Ich habe es also nicht mehr versucht zu verheimlichen.“

„Hahaha, sehr gut.“, lachte ich.

„Und was hat Kolja gesagt? Darfst du mit uns auf die Insel fahren?“, dabei zwinkerte ich mit den Augen.

„Ja, er hat mir den Nacken wieder geschmeidig gemacht und auch in den Lenden kann ich wieder aktiv werden. Also alles gut.“

Nach einer kleinen Gedenksekunde mussten wir beide ganz fürchterlich lachen. Was für ein Spruch von Fynn. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, erklärte mir Fynn, was genau passiert war.

„Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich in keines dieser Geräte mehr einsteige. Es ist eine Belastung für die Wirbelsäule. Bei euch ist das nicht so schlimm, weil ihr jung und fit seid. Aber weißt du, was mir am besten gefällt?“

Fynn schaute mich fragend und ratlos an.

„Na, dass du sofort reagiert hast, dich mit Christoph besprochen hast und heute früh hergekommen bist. Das gefällt mir am besten. Und bevor du wieder anfängst zu zweifeln, natürlich fährst du morgen mit. Alles wie besprochen. Bis Donnerstag ist das komplett wieder verschwunden. Ganz bestimmt.“

Fynn hatte ein Lächeln im Gesicht, als wir uns verabschiedeten. Das gab mir ein tolles Gefühl. Fynn hatte verstanden, was zu tun war und es auch direkt getan.

Meine Behandlung bei Kolja war auch von Erfolg gekrönt, denn er hatte heute mal gar nichts zu meckern gehabt und mir nur eine ausgiebige Massage verpasst. Entsprechend entspannt konnte ich zum Tennisclub fahren.

Natürlich erwartete mich Thorsten bereits in seinem Büro. Und wie gewohnt tippte er intensiv auf seiner Tastatur herum, als er mich begrüßte.

„Hallo Chris, bei dir und den Jungs für morgen alles im Lot?“

„Hi Thorsten, ja, ich denke doch wohl. Meine Jungs hatten gestern anscheinend viel Spaß. Was hat sich hier so ereignet?“

„Eigentlich nichts Besonderes. Alltagsroutine. Marco hat mir gestern gesagt, dass du dir heute die Gruppe mit Joel und Carlos anschauen möchtest. Gibt es dafür einen Grund, dass du dir das noch vor dem Abflug anschauen willst?“

„Ja, das stimmt. Und ja, es gibt auch einen Grund, aber ich kann dazu noch nichts Konkretes sagen.“

Thorsten kannte mich gut genug, um jetzt nicht weiter zu fragen. Er nickte nur und wir besprachen noch den Ablauf der Anreise nach England. Es war alles gut vorbereitet und ich verließ gut gelaunt mit Thorsten das Büro zum Mittagessen.

Zwei Stunden später saß ich am Center zwei auf der Tribüne und schaute Marco beim Training zu. Er scheuchte Joel und Carlos gerade bei einer Übung über den Platz, als Tim und Carlo zu mir kamen. Sie hatten ebenfalls ihre Taschen dabei.

„Hi Chris, wie ist die Lage bei dir? Für morgen alles fit?“, lachte Tim, als er mich mit einer Umarmung begrüßte.

„Hallo ihr zwei. Heute schon so früh? Ihr seid doch erst später mit Training dran.“

„Ja, wir haben uns mit Simon und Mattes zum Doppel verabredet. Aber wir hatten dein Auto gesehen und da wollten wir auf jeden Fall noch guten Tag sagen und euch für morgen ganz viel Erfolg und ein tolles Turnier wünschen“, meinte Carlo mit einem Lächeln im Gesicht.

„Das ist schön, danke. Wir werden unser Bestes geben und dann mal schauen, was passiert.“

Natürlich hatte Marco mich jetzt bemerkt und auch Joel und Carlos winkten mir freundlich zu. Einige Minuten später hatte Marco eine Trinkpause angesagt und kam zu mir auf die Tribüne hoch.

Wir begrüßten uns und sofort kam die Frage:

„Bist du wegen Carlos gekommen?“

„Auch, aber gibt es Probleme?“, erwiderte ich.

„Nein, keine Sorge. Alles gut. Manchmal ist Carlos etwas zu selbstkritisch, wenn es nicht sofort so klappt, wie er möchte.“

Das kannte ich noch aus der Zeit vor meiner Haller Zeit. Da hatte sein Vater leider großen Anteil daran.

„Leute“, rief Marco den beiden jetzt zu, „zwei ordentliche Zehner spielen und dann Aufschläge machen.“

Beide zeigten per Handzeichen, dass sie Marco verstanden hatten.

„Hast du heute Zeit oder bist du schon wieder verplant?“, fragte mich Marco jetzt.

„Ich habe keine Termine, wenn du das meinst. Ich wollte später mit Carlos noch etwas quatschen und mal hören, wie es ihm hier so gefällt. Ihr macht zwei Stunden heute, richtig?“

„Ja genau, und ich habe spontan die Idee, mit dir zusammen gegen die Jungs ein Doppel zu spielen. So zum Ende der Einheit. Geht das mit deinem Rücken?“

„Ich habe keine Sachen dabei. Die müsste ich gerade noch holen. Lass mich noch etwas zuschauen und dann hole ich meine Sachen.“

Marco freute sich und meinte:

„Ich glaube, Carlos wird sich sehr freuen, wenn du mit Tasche zurück kommst.“

Danach ging Marco wieder auf den Platz und ich konnte einen interessanten Zehner von den Jungs sehen. Aber als Carlos beim Satzball einen Schmetterball nicht richtig traf, brach es aus ihm heraus. Der Ball war überhaupt nicht einfach zu spielen, da er den in Rückenlage nehmen musste. Daher war dieser Fehler durchaus möglich. Durch seine Körpergröße hatte er da noch große Nachteile. Joel war bereits einen Kopf größer.

Carlos feuerte einen Ball wütend in den Zaun und fluchte einmal richtig laut. Dann aber zuckte er zusammen und schaute zu mir hoch auf die Tribüne. Joel ging schon zur Bank und wollte etwas trinken. Als Marco schon Luft holte, rief ich von oben:

„Carlos, komm bitte mit deiner Flasche einmal zu mir.“

Marco hatte mich verstanden und sagte nichts weiter und ließ Carlos zu mir auf die Tribüne kommen.

Und bevor ich etwas sagen konnte, setzte er sich wortlos neben mich. Er war schon gut verschwitzt und hatte ein rotes Gesicht.

Ich legte meinen Arm auf seine Schulter und fragte ihn:

„Ich nehme an, du weißt, warum du zu mir kommen solltest?“

Er nickte stumm, holte Luft und erwiderte leise:

„Ja, du wolltest verhindern, dass ich von Marco richtig Ärger bekomme. Ich weiß, dass ich das nicht machen soll, aber eben konnte ich mich nicht beherrschen, weil ich dir zeigen wollte, dass ich den schwierigen Schmetterball doch kann.“

Danach schaute er mich mit großen Augen an und ich zog ihn an mich heran und sagte freundlich:

„Hihihi, das war eine großartige Antwort. Also, weiter den schwierigen Ball versuchen. Dann wirst du ihn sehr bald auch im richtigen Match können. Nur das Aufregen noch besser kontrollieren, dann bin ich sehr zufrieden.“

Danach wuschelte ich ihm durch seine nassen Haare und wollte ihn zurück auf den Platz schicken. Aber er blieb noch vor mir stehen und es kam noch:

„Danke, Chris. Du hast mich verstanden. Ich gebe mir echt Mühe, aber manchmal ist das für mich nicht einfach.“

Er wollte schon gehen, aber das wollte ich so nicht stehen lassen.

„Einfach kann jeder und es hat niemand behauptet, dass das Leben einfach ist. Mach weiter so, ich bin immer für dich da. Auch wenn ich nicht dein Coach bin.“

Danach ging er zurück auf den Platz und spielte einen hervorragenden Zehner gegen Joel. Diesen zweiten Durchgang gewann er und es musste eigentlich ein Entscheidungssatz her, aber Marco hatte begriffen, dass es jetzt nicht klug sein würde, einen dritten Satz zu spielen. Daher entschied er auf ein Unentschieden. Carlos ging mit Joel lachend zur Bank und sie unterhielten sich angeregt. Für mich das Signal, meine Tennissachen zu holen.

Aber ich hatte ein gutes Gefühl. Carlos hatte sich weiterentwickelt und ich war mir sicher, dass es richtig war, mir heute noch Zeit für ihn zu nehmen.

Etwa zwanzig Minuten nachdem ich die Tribüne verlassen hatte, kam ich mit meiner Tasche über der Schulter zurück. Natürlich fertig umgezogen und spielbereit. Nur noch nicht aufgewärmt. Wir hatten noch ziemlich genau die zweite Stunde Zeit. Marco holte die Jungs ans Netz.

„So, ihr beiden. Heute wird die zweite Stunde etwas anders als sonst laufen. Ich habe Chris gebeten, seine Sachen zu holen und wir werden jetzt ein Doppel spielen. Einfach so, ohne besondere Aufgabe.“

Das war natürlich eine Steilvorlage für mich.

„Also ich habe doch eine Aufgabe für euch“, grätschte ich Marco dazwischen, der mich jetzt irritiert anschaute.

„Ihr müsst gegen uns gewinnen, sonst müsst ihr den Platz komplett allein abziehen.“

Joel fragte nach:

„Also wenn wir gewinnen, zieht ihr den Platz komplett ab und wir können direkt duschen gehen?“

Ich nickte nur und dann nahm ich mir einige Bälle und ging ins T-Feld. Marco spielte mir ein paar Bälle zu und schnell kam ich in die Bewegungen. Natürlich wurde ich von Joel und Carlos genauestens beobachtet. Joel flüsterte irgendetwas mit Carlos, der nur nickte. Nach etwa fünf Minuten meinte Marco dann:

„So, bevor ihr kalt werdet, lasst uns an die Grundlinie gehen und einige Bälle schlagen.“

Natürlich waren die beiden Jungs jetzt besonders motiviert, gegen uns zu spielen. Aber im Gegensatz zu früheren Zeiten hatte Carlos hier bereits verinnerlicht, dass so ein Spielchen Spaß machen sollte und kein echter Wettkampf war.

Entsprechend hatten wir viel Spaß auf dem Platz und ich konnte die Fortschritte bei Carlos deutlich erkennen. Und beim Spielstand von 5:5 passierte dann etwas, was ich nun überhaupt nicht erwartet hatte. Carlos kam zu mir ans Netz vor und fragte mich:

„Wollen wir uns nicht auf ein Unentschieden einigen? Ich möchte gar keinen Sieger oder Verlierer haben, nachdem wir großen Spaß hatten. Wir ziehen gemeinsam den Platz ab und alles ist gut.“

Mit einem Blick auf die Uhr konnte ich erkennen, dass auch die Zeit um war. Aber mir gefiel dieser Vorschlag von Carlos extrem gut und ich holte die anderen beiden zu uns ans Netz. Innerhalb weniger Augenblicke war das so entschieden und wir klatschten uns am Netz ab. Danach zogen wir den Platz ab und Marco setzte seine Arbeit mit der nächsten Gruppe fort. Ich ging mit Joel und Carlos Richtung Umkleide.

„Was macht ihr beide jetzt?“, fragte ich sie.

Joel antwortete:

„Duschen und dann muss ich noch etwas aufräumen. Sonst gibt das böse Ärger zu Hause.“

Schmunzelnd schaute ich zu Carlos, der dann sagte:

„Auch duschen und dann habe ich heute Küchendienst in der WG. Ich helfe Martina beim Abendbrot. Heute wird gegrillt und es kommt gleich noch Besuch, hat Martina gesagt.“

Da wusste ich, dass mich Martina bereits erwarten würde. Und mir war sofort klar, warum sie ausgerechnet Carlos heute zum Helfen genommen hatte. Damit er sich nicht verabreden würde und auch tatsächlich zu Hause ist. Das nenne ich tolle Teamarbeit.

Und für mich erfreulich, Carlos machte nicht eine abfällige Bemerkung zu diesem Dienst. Für einen Jungen, der bislang zu Hause gar nichts machen musste, sehr angenehm.

Überraschenderweise gingen beide Jungs ohne großes Zögern mit mir gemeinsam duschen. Aber ich konnte auch spüren, dass diese Situation für Carlos noch neu und ungewohnt war. Joel verhielt sich unauffällig und ganz normal.

Ich blieb auch nicht im Duschraum zum Abtrocknen, sondern wechselte in die Umkleide. Somit konnte Carlos dort unbeobachtet zu Ende duschen und sich abtrocknen.

Seine Unsicherheit war deutlich spürbar. Ich vermute, dass es für ihn noch neu war, sich im Tennisclub zu duschen.

Ich lud beide Jungs noch zu einem Getränk ein und erfreut stellte ich fest, sie bestellten sich eine Apfelsaftschorle und keine Cola. Ich blieb natürlich bei meiner Fassbrause.

Kurze Zeit später saß ich allein auf der Terrasse des Clubs und schaute dem Treiben auf der Anlage zu. Meine Gedanken gingen aber schon zu Carlos und der Situation für ihn. Was würde er mir berichten? Käme es wirklich dazu, dass er mir von diesen Situationen abends erzählte?

Da fiel mir aber ein, dass ich mich ja mit Malte und Marvin noch zum Lernen verabredet hatte. Deshalb nahm ich meine Tasche und fuhr nach Hause.

Und wie besprochen, tauchten die beiden Jungs pünktlich in meinem Garten auf. Auch hatte jeder einen Rucksack dabei. Sie schienen sich gut auf diese Arbeitsstunde vorbereitet zu haben.

Auch eine fröhliche Begrüßung gab es von beiden, als sie mich im Garten entdeckt hatten.

„Hallo Chris, wir finden es echt toll, dass du dir heute noch einmal Zeit für uns genommen hast. Damit haben wir eine gute Chance auf ein gute Klassenarbeit.“

„Hallo ihr beiden, dann lasst uns direkt beginnen. Sollen wir hineingehen oder wollt ihr lieber draußen bleiben?“

Von Malte kam ein leises und etwas schüchternes:

„Ich möchte lieber hineingehen. Sonst habe ich immer ein wenig Angst, dass alles, was ich hier sage, von meiner Mama gehört werden könnte.“

Marvin verdrehte leicht die Augen, aber grinsend meinte er:

„Na dann gehen wir hinein. Mir wäre es echt egal, vor allem weil wir uns über Mathe unterhalten wollen. Aber ich kann Malte schon verstehen, bei mir zu Hause würde ich es vermutlich genauso machen.“

Wenige Minuten später hatten beide ihr Buch und ihr ipad vor sich liegen. Es ging um binomische Formeln und Gleichungssysteme in der Algebra. Ich war gespannt, was sie genau für ein Problem hatten.

„Schau mal, Chris“, startete Malte, „Hier ist so eine Aufgabe, die ich einfach nicht verstehe. Also ich habe sie gerechnet, aber ich bekomme kein richtiges Ergebnis heraus. Das haben wir im Unterricht verglichen. Es ist also nicht so, dass wir beide nichts tun. Aber irgendwie verstehe ich die Erklärungen von unserem Pauker nicht. Und das ist einfach beschissen, denn wir beide brauchen eine Drei auf dem Zeugnis, um genügend E-Kurse für den Q-Vermerk zu haben.“

Ich hatte die Aufgabe überflogen und sehr schnell Maltes Problem erkannt. Aber Marvin sollte ja auch davon profitieren. Daher fragte ich:

„Was ist mit dir? Wo liegen deine Schwierigkeiten?“

„Mir geht es wie Malte. Wir lernen ja auch zusammen und trotzdem bekommen wir oft nicht das richtige Ergebnis heraus. Manchmal könnte ich kotzen, denn eigentlich war ich mal richtig gut in Mathe.“

Marvin wirkte niedergeschlagen, während Malte eher besorgt war. Ich hatte allerdings bereits eine Idee, wie ich das auflösen könnte.

Ich nahm mir das Mathebuch und suchte mir eine Aufgabe heraus und änderte sie leicht um. Und zwar so, dass ich zuerst nur Teilaufgaben an die Jungs gab. Sie sollten das mal probieren und ich schaute ihnen dabei über die Schulter. Schnell hatte ich erkannt, wo ihr Problem lag. Die binomischen Formeln hatten wir schnell geregelt und zwar war hier das Problem mit den Vorzeichen. Vorzeichen sind keine Rechenzeichen und als ich das anders erklärt hatte, wurde es plötzlich einfach für beide.

Der nächste Teil entwickelte sich schwieriger. Dabei ging es um Gleichungssysteme mit drei Variablen. Ich versuchte es mit einem einfachen Trick. Bei Gleichungen hatten Schüler oft Schwierigkeiten, sich vorstellen zu können, wie man auf beiden Seiten die gleiche Operation durchführen musste. Da half oft das Beispiel der Waage.

Mitten in einer Aufgabe meinte Malte plötzlich:

„Stopp mal. Wenn ich also jetzt diese 5x auf der rechten Seite weghaben will, dann muss ich minus 5x als Rechenbefehl schreiben und dann verschwinden die auf der rechten Seite und ich muss sie aber auf der linken Seite dann als minus 5x schreiben. Dann müsste ja die Waage weiterhin ausgeglichen sein.“

„Und dann kann ich die x-Terme auf der linken Seite ausrechnen, oder?“, fragte Marvin sofort nach.

Ich musste schmunzeln und zeigte beiden nur den Daumen hoch.

Jetzt hatte ich ihren Ehrgeiz geweckt. Sie begannen die nächsten Gleichungssysteme zu rechnen und bekamen auch Ergebnisse heraus. Das waren ihre Hausaufgaben und sie waren sehr aufgeregt, als sie mir ihre Rechnungen zur Überprüfung hinlegten.

Bis auf einen kleinen Flüchtigkeitsfehler waren alle Aufgaben korrekt gelöst.

„Jetzt habt ihr es begriffen und die Ergebnisse passen. Hier ist noch ein kleiner Fehler drin, aber das kann halt passieren. Sehr schön. Ich freue mich, dass ihr es begriffen habt.“

„Wie geil, Chris. Du glaubst gar nicht, was für eine Erleichterung gerade bei mir kommt. Ich habe jetzt keine Angst mehr vor der morgigen Arbeit. Vielen Dank für deine Zeit. Ich glaube, wir können Schluss machen. Du hast schon wieder viel Zeit für uns geopfert“, meinte ein sichtlich erleichterter Marvin.

Sie packten ihre Sachen zusammen und Malte kam vor der Verabschiedung zu mir und umarmte mich.

„Vielen Dank und für Wimbledon viel Erfolg. Dürfen wir dir mal schreiben, wie es uns morgen in der Arbeit ergangen ist?“

„Sehr gerne, Jungs. Und natürlich dürft ihr schreiben. Aber ich werde vermutlich erst am Abend antworten können.“

Es war immer wieder erstaunlich für mich, wie einfach es sein konnte, wenn man ein Problem etwas anders erklären konnte. Leider war das in der Schule für die Lehrer oft auch einfach nicht möglich. Sie konnten sich nicht die Zeit nehmen, es auf verschiedene Arten zu erklären.

Mit einem Blick auf die Uhr erkannte ich, dass ich noch etwas Zeit hatte, bevor ich in die WG aufbrechen musste. Ich entschied mich, auf der Terrasse noch einen Augenblick zu entspannen.

Heute wollte ich noch etwas Freude am Fahren haben und nahm die Panigale, um auf dem Heimweg noch eine größere Runde zu fahren. Entsprechend „unauffällig“ kam ich an der WG an. Ich hatte den Helm gerade abgenommen, da kam Martina schon aus der Tür.

„Hallo Chris, du bist heute wieder so dezent unterwegs, da habe ich gedacht, ich nehme dich direkt in Empfang.“

Lachend begrüßten wir uns mit einer Umarmung.

„Du wirst es nicht glauben, aber Carlos ist pünktlich zur Hilfe zurückgewesen. Und das ohne Meckern. Er ist in der Küche und fleißig dabei, das Abendessen vorzubereiten. Das erstaunt mich etwas, denn so eine Aktion wäre früher mit Tim undenkbar gewesen.“

„Hahaha, ja, das stimmt. Aber du musst schon anerkennen, dass das heute auch anders geworden ist. Aber lass uns hineingehen. Sind die anderen schon zurück oder ist Carlos noch allein?“

„Die müssten jeden Moment vom Training kommen. Aber Carlos weiß auch noch nichts von deinem Besuch. Ich hoffe ja, dass ihr später ein gutes Gespräch haben werdet. Tim hat mir gestern noch einmal von dieser Situation berichtet. Carlos ist eigentlich sehr unauffällig hier. Er bemüht sich ernsthaft, sich hier einzuleben und durchzustarten. Ich habe keinen Grund zur Klage.“

„Das höre ich gern. Ich glaube, es hat nicht so sehr viel mit der aktuellen Situation zu tun. Eher mit der Vergangenheit und ich hoffe sehr, dass wir das aufklären können und wir ihm die nötige Unterstützung zeigen können.“

Ich zog meine Jacke aus und nahm sie mit dem Helm mit hinein. Es roch schon sehr intensiv nach Zwiebeln und Knoblauch.

Als ich die Küche betrat, saß Carlos am Tisch und schnitt Kräuter für die Salatsauce.

„Guten Abend“, sagte ich lachend und hielt Carlos die Hand hin.

Etwas überrascht schlug er ein.

„Hi Chris, das ist eine coole Überraschung. Bist du etwa der angekündigte Gast zum Essen?“

„Jap, der bin ich. Und Martina hat gemeint, ich sollte unbedingt deine Talente in der Küche anschauen. Also, da bin ich. Aber ich kann auch noch helfen, falls du magst.“

Carlos bekam ein Lächeln ins sein Gesicht und erwiderte:

„Gerne, dann macht das gleich doppelt so viel Spaß. Hast du heute nach dem Essen noch etwas Zeit für mich? Ich hätte da eine Sache, die mir Probleme macht.“

„Für so etwas ist immer Zeit“, zwinkerte ich ihm zu.

Als ich mich neben ihn an den Tisch gesetzt hatte, reichte mir Martina ein scharfes Gemüsemesser und bat mich, Zwiebelringe für den Salat zu schneiden.

Dabei nickte sie mir zustimmend zu. Sie wunderte sich vermutlich genau wie ich über Carlos‘ offene Bitte. Aber mir wurde direkt bewusst, wir waren allein und keiner der anderen Jungs war in der Nähe. Das musste Carlos unbedingt noch lernen, dass hier eine andere Mentalität herrschte. Hier würde jeder jedem sofort helfen, wenn er mitteilen würde, dass er ein Problem hat. Niemand würde sich über ihn lustig machen.

Carlos berichtete von unserem gemeinsamem Training und dass er das cool gefunden hatte, dass ich mitgespielt hätte. Solche Dinge kannte er überhaupt nicht von seinen bisherigen Trainern.

Nach und nach trudelten die anderen Jungs ebenfalls ein und besonders freute mich, dass auch Simon und Mattes zu uns in die Küche kamen und die letzten Dinge noch mit vorbereiteten. So lagen wir sehr gut in der Zeit, als Martina die Kasserolle in den Ofen schob.

Auch das Essen selbst verlief sehr lustig. Alle erzählten mir von ihren Tageserlebnissen und es wurde viel gescherzt. Bis Tim irgendwann eine Frage stellte, die etwas kritisch sein konnte.

„Warum bist du eigentlich wirklich hergekommen, Chris? Es war doch nicht nur das leckere Essen von Martina und Carlos.“

Für Carlos war das jetzt natürlich eine unangenehme Situation. Ich wollte ihm aber eine Brücke bauen, damit ich ihm seine Angst vor den anderen Jungs nehmen konnte.

„Tim, das ist eine unglückliche Frage. Du hast richtig erkannt, dass ich nicht nur wegen des tollen Essens gekommen bin. Aber denk mal an deine Problemzeit zurück. Hättest du es da gut gefunden, wenn ich allen am Tisch erklärt hätte, dass ich deinetwegen gekommen war? Wie lange hast du gebraucht, bis du begriffen hattest, dass dir alle helfen werden, wenn du deine Schwierigkeiten offen ansprichst? Ein Jahr, zwei Jahre? Ich weiß es nicht mehr genau, aber es hatte mich jedenfalls einiges an Nerven gekostet. Insbesondere dein Vater hat einiges dazu beigetragen, dass ich heute so viele graue Haare habe.“

Das war natürlich für alle eine lustige Situation und es wurde auch laut gelacht. Bei Carlos konnte ich aber sofort die Wirkung erkennen. Er schaute mir genau in die Augen und ich nickte ihm unmerklich zu. Ein Lächeln kam auf.

„Okay Chris. Ich gebe mich geschlagen“, lachte Tim, „aber wenn meine dumme Frage jetzt zur allgemeinen Heiterkeit beigetragen hat, dann hatte sie ja auch etwas Gutes.“

Tolle Reaktion von Tim und er hatte begriffen, dass ich heute aufgrund ihres Hinweises gekommen war.

„Möchte noch jemand ein Eis?“, fragte Martina unvermittelt in diese Situation.

Alle, wirklich alle Arme schnellten nach oben. Ich musste lachen.

„Sag mal, du hast doch nicht ernsthaft erwartet, dass irgendeiner kein Eis möchte?“

„Nein, und bevor hier heute Missverständnisse auftauchen: Tim, Carlo und Simon und Mattes räumen heute die Küche auf. Carlos hat vorbereitet und die großen Jungs sind mit ihren Familien unterwegs.“

Schon während des Eisessens konnte ich beobachten, dass Carlos mich genau beobachtete. Mit einem Augenkontakt gab ich ihm zu verstehen, dass er in sein Zimmer gehen konnte.

Um es nicht zu auffällig zu machen, blieb ich noch einen Augenblick sitzen. Jetzt war es Carlo, der mich fragte:

„Sind Dustin, Fynn und Justin eigentlich sehr aufgeregt? Ich meine, ihr startet morgen zum bekanntesten Tennisturnier der Welt und ihr spielt mit. Ich würde mir vermutlich vor Schiss in die Hose machen.“

„Hahaha“, lachte ich, „vor zwei Jahren wäre das vermutlich bei allen drei auch nicht anders gewesen. Aber sie haben sich gut vorbereitet und brauchen keine Angst mehr zu haben. Ich hoffe nur, sie können ihr Potenzial auch zeigen. Was als Ergebnis herauskommt, ist uns vollkommen egal. Wir werden euch auf dem Laufenden halten. Im schlimmsten Fall sind wir am Sonntag nach der Qualifikation schon wieder zurück.“

Jetzt musste ich im Kopf mein Programm umschalten. Weg von Wimbledon und hin zu Carlos, bei dem es wichtig war, genau hinzuhören bzw. auch die Ruhe zu haben, dass er mir etwas erzählen würde.

Martina hatte mir sehr geschickt den Weg vom Tisch ermöglicht. Sie hatte Simon und Mattes gebeten, mit dem Abräumen zu beginnen.

Ich klopfte bei Carlos an die Tür und ein deutliches „Herein“ ließ mich die Tür öffnen.

Carlos stand sichtlich angespannt in seinem Zimmer. Aber mit einem Lächeln bemerkte er:

„Es ist schön, dass hier alle Erwachsenen anklopfen und nicht einfach hereinplatzen.“

Dabei bot er mir einen Platz auf seiner Couch an. Er setzte sich an die andere Seite des Glastisches und mir gegenüber. Auf dem Tisch standen zwei Gläser und vier Flaschen Fassbrause. Er hatte sich gut vorbereitet.

„War das bei dir zu Hause anders mit dem Anklopfen?“, fragte ich ihn.

„Oh ja. Mama kam immer direkt durch die Tür gestürmt. Auch wenn ich mal Besuch hatte. Ich fand das immer total peinlich. Gerade wenn wir etwas gezockt hatten und ich mich dann erschrocken hatte. Meist war der Level dann beendet.“

Durch seine leichte Rotfärbung konnte ich auch erahnen, dass natürlich auch andere Themen auf dem PC geschaut wurden.

„Das ist natürlich ärgerlich, wenn man gerade einen guten Lauf hatte. Aber besonders blöd, wenn man sich gerade mit anderen Themen und Videos beschäftigt, oder?“

Carlos zuckte zusammen und er wusste genau, was ich damit gemeint hatte.

„Boah, Chris. Wie kannst du das so sagen? Zu Hause habe ich da richtig Stress bekommen. Einmal habe ich mir mit einem meiner besten Freunde echt ein, na ja, sagen wir mal, ein verbotenes Video angeschaut und ausgerechnet dann platzte Mama herein.“

„Das ist richtig doof gelaufen. Ich habe dafür auch kein Verständnis. Deine Mutter hat gefälligst anzuklopfen und erst recht, wenn du Besuch hast. Es ist dein Zimmer und deine Intimsphäre.“

Carlos nickte nur stumm. Aber seine Augen sprachen für sich.

„Was habt ihr dann gemacht? Schaut ihr jetzt bei deinem Freund solche Videos oder wie machst du das jetzt?“

Carlos war verunsichert. Ich baute ihm eine Brücke.

„Pass auf, Carlos. Ich möchte dir etwas erklären. Pubertät und Sexualität gehören zusammen und dürfen hier offen und vertraulich besprochen werden. Du brauchst nicht zu befürchten, dass von unserem Gespräch Informationen an deine Eltern gehen, es sei denn, du möchtest das ausdrücklich. Alles, was du mir freiwillig berichtest, wird in diesem Raum bleiben. Aber sollte ich der Meinung sein, dass es dir helfen würde, mit Marco etwas zu besprechen, dann werde ich mir von dir die Erlaubnis einholen und nichts wird hinter deinem Rücken besprochen. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

Es folgte ein leises, „Danke“.

Ich ließ ihm genug Zeit und das war auch gut. Nach wenigen Augenblicken holte er tief Luft und sagte:

„Chris, es tut einfach gut, zu wissen, dass du mich verstehst und mir zuhörst. Bevor ich auf das Problem mit meinem Vater komme, habe ich doch eine Frage zu den Videos. Ist es wirklich so schlimm, wie meine Eltern sagen, solche Videos zu schauen? Sascha sagt, dass es eigentlich alle Jungs tun und seine Eltern würden das überhaupt nicht schlimm finden.“

„Sascha ist dein bester Freund? Und habt ihr immer nur geschaut oder auch Druck abgebaut?“

Carlos verkrampfte jetzt total. Er stand auf und ging aufgeregt in seinem Zimmer umher.

„Carlos, komm bitte mal zu mir auf die Couch. Setz dich zu mir und beruhige dich wieder.“

Er setzte sich tatsächlich zu mir und ich nahm ihn in den Arm. Dabei erklärte ich:

„Wenn du darüber nicht reden möchtest, sag es bitte. Aber für mich ist das ganz normal und ich möchte dir die Angst nehmen, darüber zu sprechen.“

„Du würdest es mir nicht verbieten, das mit Sascha zu tun?“

„Was tun? Schauen oder auch sich einen runterholen?“

Das war jetzt die Schwelle. Das lockere Erwähnen von „sich einen runterholen“ ließ ihn kurz lachen. Dann folgte ein Satz, der mir große Freude bereitete:

„Ähm, beides. Ich finde es einfach geil, mit ihm solche Dinge zu tun. Ein paar Mädchen sehen schon richtig geil aus und ich finde es dann spannend, wenn mein Teil steif wird und seine Hose genauso ausgebeult ist. Sascha fängt dann meistens einfach an und wir hören erst auf, wenn wir beide fertig sind. Und danach können wir sogar auch richtig für die Schule lernen.“

„Na, das hört sich doch gut an. So einen Freund zu haben, ist ganz wichtig. Hast du von hier auch noch Kontakt zu Sascha?“

„Ja, wir skypen abends öfter mal. Aber ich würde mich auch gern mal wieder mit ihm treffen. Aber das wird ja schwierig werden.“

„Ach was, du kannst dich doch mit ihm treffen, wenn du mal zu Hause bist. Oder was natürlich auch geht, wenn du an einem Wochenende kein Turnier hast, lade ihn hierher ein. Sprich nur vorher mit Martina, ob das okay ist. Er kann ja ohne Probleme von Oeynhausen mit dem Zug kommen.“

„Darf er dann auch über Nacht bleiben?“, fragte er mit großen Augen.

„Ja, natürlich. Besprich das nur bitte zuvor mit Martina. Aber so etwas geht immer.“

„Cool, das werde ich versuchen und bitte sag meinen Eltern nichts von den Videos.“

Da musste ich lachen und wuschelte ihm durch die Haare.

„Darf ich dich etwas fragen?“, kam schüchtern von Carlos.

„Klar, schieß los.“

„Du bist heute ja meinetwegen gekommen. Woher wusstest du, dass ich manchmal ein paar Probleme habe und nicht weiß, wie ich mich verhalten soll? Ich habe nur mit Tim und Carlo mal kurz gesprochen.“

„Okay, eine berechtigte Frage und ich möchte dir zwei Dinge dazu sagen. Zum einen hat auch Marco mir einen Hinweis gegeben, dass du manchmal traurig wirkst und zum zweiten haben mich Tim und Carlo darum gebeten, mal mit dir ein Gespräch zu führen. Sie haben mir aber keine Details gesagt, aber sie machen sich Sorgen und möchten dir helfen.“

Carlos blickte mich fragend an.

„Schau mal, ich nehme an, du kennst Tims Geschichte nicht. Er hat hier auch mit großen Schwierigkeiten begonnen und es gab einige Krisen. Er stand sogar einmal kurz vor dem Rauswurf. Erst als Thorsten mich dann einmal um meine Hilfe gebeten hatte, konnten wir nach einem guten Gespräch das Problem gemeinsam lösen. Daher denke ich auch, dass Tim sehr gut mit dir fühlen kann. Er hat lange gebraucht, bis er richtig begriffen hat, was hier wichtig ist und wie wir mit den Jugendlichen umgehen.“

Er nickte und meinte dann:

„Ja, Tim hat mir von dieser Zeit erzählt und er hat dabei erwähnt, dass du zu dieser Zeit noch gar nicht im Team gearbeitet hast. Stimmt das eigentlich? Ich habe dich ja auch in Werste das erste Mal getroffen. Und sein Vater scheint ähnlich blöd gewesen zu sein wie meiner.“

An dieser Stelle begann er sich zu verkrampfen. Jetzt musste ich aufpassen und genau hinschauen, um ihn nicht zu überfordern.

„Ja, damals war ich nur in beratender Funktion hier. Aber ich glaube, es ist uns mit Tims Mithilfe eine gute Lösung gelungen. Und heute freue ich mich sehr, dass Tim sich so gut entwickelt hat. Auch dass es ihm gelungen ist, seine Identität zu akzeptieren und jetzt mit Carlo auch eine feste Beziehung hat.“

„Denkst du, ich könnte das auch schaffen, um hier erfolgreich bleiben zu können?“

„Absolut, gar keine Frage. Wenn du bereit bist, dafür zu kämpfen und Veränderungen auch wirklich zu wollen, dann kannst du noch ganz viel erreichen.“

Sein Blick ging jetzt in die Ferne und für einige Momente war Carlos ganz weit weg. Ich nahm ihn in den Arm und er lehnte sich an meine Schulter. Dann folgten Minuten, die ich so schnell nicht vergessen werde.

„Ich glaube, du bist der Einzige, der sich wirklich vorstellen kann, was ich mit meinem Vater erlebe. Selbst hier versucht er immer noch Einfluss zu bekommen, was ich wie mache und wie ich trainieren soll. Kannst du dir vorstellen, wie ätzend das manchmal ist, wenn ich abends im Bett liege und Angst habe, dass er mir das hier kaputt machen könnte. Ich fühle mich hier so gut wie noch nie zuvor? Nur wenn Papa wieder meckert und Druck machen will, dann kommt die Angst zurück.“

Und jetzt war es um seine Beherrschung geschehen. Tränen flossen und ganz viel Wut und Zorn kamen heraus.

Ich ließ ihn gewähren und hielt ihn im Arm und gab ihm das Gefühl von Geborgenheit. Erst nach einigen Minuten beruhigte er sich wieder und als ob er erst jetzt merken würde, dass er sich so hat gehen lassen, meinte er leise:

„Es tut mir leid, ich wollte das nicht. Aber auch abends im Bett kommen einfach die Tränen und die Wut hoch.“

„Hey, dafür entschuldigst du dich nicht. Ich finde das großartig, dass du das Vertrauen hast, es mir zu zeigen. Und das ist doch erst die Schwelle, die du übertreten musstest, damit wir überhaupt bemerken können, dass es dir manchmal gar nicht gut geht. Carlos, versprichst du mir etwas?“

Er nickte wortlos.

„Du wirst in Zukunft diese Ängste nicht mehr allein schlucken. Du fängst an, mit uns darüber zu sprechen. Auch mit Tim, Carlo und natürlich auch den großen Jungs. Oder mit Marco. Wir können dir nur helfen, wenn wir auch wissen, wie schlecht es dir geht. Dass dein Papa nicht einfach ist, weiß ich noch aus der Zeit in Werste. Aber hier können wir ihm Grenzen aufzeigen und dich vor ihm schützen. Wenn du das möchtest, kann das sogar so weit gehen, dass du hier leben kannst, ohne dass er dir zu nahe kommen kann. Aber ich hoffe, dazu wird es nicht kommen. Tims Vater haben wir auch überzeugen können, sich herauszuhalten und es Tim zu überlassen, wann er welchen Kontakt möchte. Heute ist das Verhältnis zu seinem Vater wieder sehr harmonisch und gut. Also was ist? Spielst du mit unseren Regeln mit?“

„Ja, Chris und danke, dass du mich wieder ernst genommen hast und ich glaube, ich sollte mich bei Tim und Carlo auch bedanken. Eines finde ich allerdings schon schade. Du bist morgen schon wieder für zwei Wochen unterwegs. Ich würde dir gern noch mehr erzählen. Ich will das nicht mehr allein mit mir herumtragen. Ich spüre jetzt schon die Erleichterung, es dir erzählt zu haben.“

„Das ist doch ein guter Anfang. Gemeinsam können wir so viel bewegen. Du wirst sehen, das Problem werden wir auch in den Griff bekommen.“

Dann hielt ich ihm die Hand hin und er schlug ein. Danach drückte ich Carlos noch einmal ganz fest an mich und schlug zum Ende vor:

„Komm, lass uns noch eine Runde Billard spielen. So zum Entspannen. Das haben wir uns verdient. Was meinst du?“

Und wenige Minuten später standen wir mit Tim, Carlo und den anderen beiden Jungs im Billardraum und spielten noch einige Partien mit viel Spaß und reichlich guten Sprüchen.

Das war ein erfolgreicher Abend und hatte auch ein fröhliches Ende. Jetzt konnte ich mit einem guten Gefühl nach England fahren.

Dustin: Was für ein Gefühl, auf dem heiligen Rasen spielen zu dürfen

Die Anreise nach London war ohne Probleme gelaufen und Thorsten hatte uns nicht in einem Hotel untergebracht, sondern in dem Haus, in dem Jan bereits seit Jahren während des Turniers sein Quartier hatte. Nur dieses Mal nicht nur eine kleine Wohnung, sondern alle drei Appartements gleichzeitig. Dieses Haus lag nur wenige Fahrminuten von der Anlage entfernt. Logistisch ein Volltreffer und ich hatte mit Fynn ein großes Zimmer mit einem schönen Doppelbett.

Aber jetzt standen wir bereits das erste Mal auf dem heiligen Rasen von Wimbledon und schlugen uns die Bälle zu. Chris stand am Rand des Platzes und schaute uns zu. Heute sollte noch bekanntgegeben werden, wer von uns in die Qualifikation musste und wer direkt im Hauptfeld stehen würde. Das schwirrte mir gerade durch den Kopf und entsprechend unkonzentriert schlug ich an den Ball. Chris hatte es natürlich sofort bemerkt.

„Dustin, kommst du bitte einmal zu mir“, tönte es direkt über den Platz.

Fynn blickte zu mir, während er mit Justin weiterhin den Ball spielte. Und natürlich konnte ich die klickenden Kameras von den vielen Fotografen hören. So viel Aufmerksamkeit für uns hatte ich überhaupt nicht erwartet. Aber ich konnte es auch nicht verhindern, also bemühte ich mich, ganz normal auf dem Platz zu agieren. Das war mir leider nicht gelungen.

„Sag mal, Dustin, was geht dir gerade durch den Kopf? Du bist jedenfalls nicht ernsthaft auf dem Platz gewesen.“

„Es ist ja eh sinnlos, dir etwas vorzumachen. Ja, ich war abgelenkt. Ich konnte für einen Moment nicht ausblenden, dass wir ja noch nicht wissen, ob wir morgen in der Quali spielen oder doch erst am Montag im Hauptfeld. Und bevor du dich aufregst, ja, es ändert nichts an der Sache, ob ich darüber nachdenke oder nicht und ja, es hat mich abgelenkt.“

Chris schaute mir in die Augen und für einen Moment habe ich gedacht, oh je, das war vielleicht doch nicht so klug gewesen, so zu antworten, aber dann fing Chris plötzlich an zu schmunzeln, dann platzte es aus ihm heraus und er lachte laut und hielt mir einfach nur die Hand hin.

„Weitermachen, aber jetzt bitte nur noch auf den Ball achten.“

Ich schlug ein und ging zurück auf den Platz. Chris schickte mich aber nicht zu meinem Schatz auf die Seite, sondern zu Justin.

Nach einer guten Stunde richtigem Training und nur wenigen Korrekturen von Chris packten wir unsere Sachen zusammen und Chris meinte:

„Auslaufen, Duschen und dann treffen wir uns mit allen in der Players-Lounge. Bis gleich.“

Auf dem Weg in die Dusche in der großen Umkleide kamen mir Gedanken an die Historie dieses Raumes. 1985 hatte sich hier ein gewisser „Boris Becker“ ebenfalls umgezogen und als ungesetzter Deutscher den Titel geholt. Mit gerade einmal siebzehn Jahren. Theoretisch also in der gleichen Situation, wie wir es heute waren.

„Die Plätze sind sehr ähnlich wie bei uns in Halle. Ich finde sie sogar etwas langsamer. Was meint ihr?“, fragte uns Justin jetzt unter der Dusche.

Fynn erwiderte sofort:

„Ja, ich stimme dir zu. Wir sollten über die Saitenhärte noch einmal nachdenken. Vielleicht sollten wir Jan dazu fragen. Er war hier schon häufiger und hat mehr Erfahrungen.“

Ich war unsicher, denn ich hatte generell noch kein gutes Spielgefühl für mich erhalten. Mir fehlte noch komplett der Bezug zum Platz.

„Eigentlich würde ich lieber noch das nächste Training abwarten. Ich fühle mich noch gar nicht gelandet. Daher möchte ich erst noch mit meinen Schlägern so weiterspielen. Aber wir können gern mit Chris, Maxi und Jan darüber sprechen. Andy könnten wir auch fragen, schließlich hat er hier schon einmal gewonnen.“

Da wir am Nachmittag noch eine Einheit machen würden, stand noch keine Physio an. Deshalb dauerte es nur zwanzig Minuten, bis wir alle gemeinsam in der Players-Lounge saßen und Jan zuhörten. Er berichtete über die Besonderheiten dieses Turniers. Auch gab es ein paar Verhaltensregeln, die nur hier gültig waren. Alle Spieler hatten generell in Weiß auf dem Platz zu erscheinen. Also bunte Hemden und Hosen waren hier tabu. Deshalb hatten wir für dieses Turnier von unseren Ausrüstern komplett neue Garnituren bekommen.

Ebenfalls Thema von Jan waren jetzt noch Hinweise zum Umgang mit der britischen Presse.

„Bitte denkt daran, keine Interviews oder Aussagen zu machen, die nicht vorher mit uns abgesprochen sind. Hier ist die Presse ein Fall für sich. Wir möchten euch auch gar nicht verbieten, mit der Presse zu sprechen oder gar den Kontakt zu heimischen Personen, aber seid bitte vorsichtig mit den Dingen, die ihr hier von euch erzählt. Lernt die Menschen erst richtig kennen, bevor ihr private oder persönliche Dinge erzählt. Jetzt wird euch Maxi noch etwas zu dem weiteren Ablauf sagen.“

„Ja, sehr gern“, hatte sich Maxi erhoben und fuhr dann fort:

„Zuerst einmal zur Situation generell. Die Turnierleitung hat uns darüber informiert, dass alle direkt im Hauptfeld stehen und daher keine Qualifikation gespielt werden muss. Wir haben also noch zwei Tage mehr Zeit, uns an die Bedingungen zu gewöhnen. Damit diese Tage optimal genutzt werden, haben wir die Entscheidung gefällt, uns mit Roger zusammenzutun und gemeinsam zu trainieren und ein paar Matches zu spielen. Ab morgen wird zweimal am Tag mit Roger trainiert. Jan wird mit Andy trainieren und es wird immer einer von euch dort mittrainieren. Wir legen den Schwerpunkt auf das Spielen von Punkten und die Gewöhnung an die Bedingungen. Zum heutigen Training wird sich Chris gleich äußern. Gibt es bis hierher Fragen?“

Für mich stellten sich noch zwei Fragen, daher fragte ich:

„Wie seht ihr das Thema Besaitung? Ich habe irgendwie noch gar keine Beziehung zum Platz und weiß nicht, ob meine Empfindung richtig ist, dass diese Plätze etwas langsamer sind als bei uns in Halle. Soll ich etwas weicher besaiten oder noch alles so belassen, wie ich es gewohnt bin?“

Das war für Jan das Stichwort. Er nickte, als er antwortete:

„Sehr gute Anmerkung, Dustin. Du denkst mit und machst dir Gedanken über die Verhältnisse. Ich sehe an euren Gesichtern, dass die anderen beiden sich genauso damit beschäftigt haben. Ich schlage daher vor, belasst die Saiten heute noch so wie gewohnt. Heute Abend, nach dem zweiten Training auf dem Platz, werden wir uns die Wetterlage und eure Empfindungen anschauen. Dann sprechen wir gemeinsam über die Lage. Und ich muss dir zustimmen, die Trainingsplätze sind etwas langsamer, aber die großen Plätze sind deutlich schneller. Aber das besprechen wir später. Macht eure Erfahrungen und sprecht mit uns darüber. Es gibt hier kein richtig oder falsch. Jeder muss seinen Weg finden. Und fragt auch Roger oder Andy um Rat. Sie haben viel mehr Erfahrung.“

Ich war damit sehr zufrieden. Stellte jetzt aber noch die zweite Frage:

„Ich würde mir gern auch einmal die anderen Spieler beim Training anschauen. Ist das für uns erlaubt oder gibt das Ärger, wenn ich einfach so an einem der Trainingsplätze auftauche?“

Jan fing an zu schmunzeln und gab mit einem Augenkontakt zu Chris das Wort weiter.

„Ihr könnt euch hier vollkommen frei bewegen. Sollten Spieler beim Training allein sein wollen, müssen sie auf eine andere Anlage ausweichen. Also dürft ihr auch beobachten. Aber seid bitte zurückhaltend und stört deren Abläufe nicht. Sind sonst noch Fragen von euch oder können wir uns auf das zweite Training konzentrieren? Dazu möchte ich noch etwas sagen.“

Justin meldete sich noch.

„Ich habe mal gehört, dass die Presse zu den Trainingscourts hier ebenfalls keinen Zutritt hat. So wie bei uns in Halle. Ist das korrekt, oder müssen wir auch dort auf die Fotografen achtgeben?“

„Gute Anmerkung“, meinte Chris und ergänzte:

„Ja, das ist korrekt. Aber ihr müsst bitte immer euren Spielerausweis offen tragen, wenn ihr euch dort bewegt. Sonst könnte das Ärger mit der Security geben. Aber im Trainingsbereich sind Spieler und Betreuer unter sich.“

Damit war mir klar, ich würde mir mit meinem Schatz auf jeden Fall einige Spieler beim Training anschauen. Würden sie anders als wir trainieren? Das reizte mich schon sehr lange, mal bei den anderen Top-Spielern zu schauen.

Jetzt gab uns Chris noch einen kurzen Ausblick auf das zweite Training und wir waren bis zum Beginn entlassen. Fynn und ich entschieden uns, über die Anlage zu gehen und uns umzusehen. Wir trugen unsere Teamkleidung und ich muss zugeben, ich hatte mir keinerlei Gedanken darüber gemacht, dass wir hier in England vielleicht auch schon bekannt waren. Wie bekannt wir bereits waren, stellte sich bereits nach wenigen Minuten auf dem Gelände heraus. Obwohl das Turnier ja noch gar nicht begonnen hatte und nur die Ballkinder und Spieler für die Qualifikation unterwegs waren, wurden wir immer wieder angesprochen und um Fotos gebeten oder auch um Autogramme. Das fühlte sich für mich immer noch komisch an.

Bald standen wir vor dem großen Stadion des Center Courts. Hier wurde erst mit Beginn des richtigen Turniers gespielt. Also war der noch nicht zu betreten. Dennoch stand ich mit Fynn einige Minuten vor dem Eingang und mir kamen an die Gedanken an die Vergangenheit.

„Konntest du dir früher als kleiner Junge vorstellen, dass wir irgendwann einmal vor diesem Tor stehen würden und vielleicht sogar einmal auf diesem heiligen Rasen spielen werden? Krass, oder?“

Fynn schaute zu mir, schüttelte nur seinen Kopf und legte seinen Arm um mich, als er erwiderte:

„Nein, natürlich nicht. Aber weißt du was? Jetzt, wo wir schon einmal hier sind, sollten wir auch zusehen, dass wir tatsächlich dort auch spielen. Oder nicht?“

Danach gab er mir einen Kuss, als ob wir in unserem Zimmer wären. Nur für eine Sekunde zuckte ich zusammen, aber dann genoss ich seine Nähe und ließ mich von ihm fest umarmen und wir küssten uns.

Erst als wir uns lösten, musste ich mich einmal umsehen. Aber eigentlich war es mir mittlerweile auch vollkommen egal, ob uns jemand fotografiert hätte. Wir gehörten zusammen und fertig.

Auf dem Weg zurück zum zweiten Training begegneten wir noch Carlos Moya. Er begrüßte uns freundlich und er wünschte uns alles Gute für das Turnier.

Eine dreiviertel Stunde später scheuchte uns Chris schon wieder über den Platz. 'Serve and Volley' war jetzt der Schwerpunkt. Jeder Punkt wurde ausgespielt und jeder Volleypunkt zählte doppelt. Richtig spannend wurde es, als Jan mit Andy an unseren Platz kam. Jetzt sollte jeder von uns auch einen Durchgang gegen Andy spielen. Andy war zwar ein Weltklasse-Doppelspieler, aber er spielte im Einzel sehr selten Serve and Volley. Ich war gespannt, ob wir zumindest bei dieser Spielform etwas größere Chancen haben würden.

Für mich erstaunlich, wir konnten alle unser Match gegen Andy gewinnen. Und Andy gratulierte ohne zu murren und Jan wirkte auch noch zufrieden. Obwohl sein Spieler gegen uns verloren hatte. Ich war leicht irritiert. Und natürlich hatte Chris meine Verwunderung sofort bemerkt. Er reagierte aber nicht am Platz, sondern erst, als wir geschlossen auf dem Weg in die Umkleide waren, machte er eine typische Anmerkung:

„Bevor weitere Gedanken über diesen Verlauf aufkommen. Es ist alles bestens und ihr geht jetzt nach dem Auslaufen zur Physio und wenn hier alles erledigt ist, fahren wir auf direktem Weg ins Quartier. Das Abendessen machen wir gemeinsam bei einem schönen Italiener in der Nachbarschaft. Danach habt ihr Zeit für euch. Morgen wird der Ablauf ähnlich wie heute sein. Allerdings gibt es morgen am Platz Besuch von einem TV-Team aus Deutschland. Das Interview werden wir dann am Abend nach dem Training machen. Habt ihr noch Fragen?“

Meine Gedanken an den freien Abend mit meinem Schatz ließen meinen Puls bereits ansteigen. Ich war in freudiger Erwartung. Dustins Blick traf sich mit meinen Augen und da wusste ich, dass er auch in Vorfreude auf diesen Abend war.

Chris: Es wird ernst und das Turnier beginnt

Es hatte sich wirklich so etwas wie Routine in der Vorbereitung eingestellt. Die Abläufe waren immer gleich und selbst die Termine mit dem Fernsehteam wurden von den Jungs sehr souverän abgehandelt. Und im Anschluss lag der Fokus sofort wieder auf Tennis. Ich war beruhigt über diese Entwicklung. Immerhin waren wir in Wimbledon.

Heute war noch die Bekanntgabe der Auslosung und das war für Jan und mich ein Pflichttermin. Maxi wollte uns begleiten. Wer von den Jungs dabei sein wollte, stand noch nicht fest. Das sollten sie frei und selbst entscheiden.

Zwischendurch hatte ich mit Marc zweimal telefoniert und die Entwicklung der Jungs geschildert. Er wirkte zuversichtlich und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das trotz der Entfernung auf mich übersprang. Ich wollte jetzt auch zeigen, dass wir gut sind und auch in Wimbledon bestehen können.

Das Hauptfeld würde morgen beginnen und deshalb hatte ich heute schon ein reduziertes Training gemacht. Jetzt wartete ich mit Jan und Maxi auf unsere Jungs. Andy würde uns erst bei der Auslosung treffen. Er hatte noch einen Termin mit seinem Arzt.

„Bist du bisher zufrieden mit der Performance der Jungs?“, fragte ich meinen Bruder.

Er schaute mich lachend an und erwiderte:

„Aber ganz sicher. Ich staune einfach über die Art und Weise, wie cool deine Jungs mittlerweile ihr Programm abspulen. Sie sind sehr fokussiert und folgen deinen Ratschlägen mit voller Überzeugung. Ganz ehrlich - ich glaube, hier geht was. Hier ist nicht nach der ersten Runde Schluss für uns.“

In diesem Moment tauchten alle drei Jungs bei uns auf. Wir waren in unserer kleinen Wohnung und hatten uns einen Shuttleservice für die Auslosung bestellt. Auch das funktionierte perfekt. Allerdings wurde es noch einmal spannend, als wir am Ort der Auslosung ausstiegen. Der Veranstalter hatte sich dafür etwas Besonderes ausgesucht. Das Wimbledon Museum! Dort wurde die ganze Geschichte des „All England Lawn Tennis and Croquet Clubs“ aufgezeigt und zu dieser Auslosung waren alle ehemaligen Sieger eingeladen. Natürlich erschienen nicht immer alle noch lebenden Titelträger, aber einige wohnten der Zeremonie immer bei. In diesem Jahr gab es mit Björn Borg und Pete Sampras gleich zwei Tennislegenden, die als Ehrengäste dabei waren. Entsprechend groß war der Medienrummel. Für mich eine Herausforderung, denn ich mochte diesen Trubel überhaupt nicht.

Und als wir das Foyer des Museums betraten, wurden wir vom Sicherheitsdienst überprüft. Unsere Ausweise waren gültig und damit kamen wir ohne Probleme auch hinein. Aber es gab auch eine riesige Zahl von Presseleuten. Mich machte das nervös. So viele Menschen, die ich überhaupt nicht kannte. Es tauchten erneut Bilder in meinem Kopf auf, die ich schon ganz lange nicht mehr gehabt hatte. Mein Puls stieg rapide und auch der Druck in der Brust wurde mehr.

Plötzlich stand Jan neben mir.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Ich schaute ihn überrascht an.

„Nein, im Moment fühle ich mich hier unwohl. Es sind einfach zu viele Menschen hier. Und ständig klicken die Kameras. Okay, sicher nicht nur wegen uns, aber mir gefällt es einfach gar nicht.“

„Kann ich verstehen. Aber ich finde es gut, dass du es klar sagst. Wenn es dir zu viel wird, geh einfach mit einem der Jungs hinaus. Bitte geh nicht allein irgendwohin. Ich möchte sicher sein, dass alles in Ordnung bleibt.“

Ich nickte und versuchte, mich auf die gleich beginnende Auslosung zu fokussieren. Eigentlich sollte diese Auslosung nur etwa dreißig Minuten dauern, aber es gab natürlich auch ein Rahmenprogramm.

Wenige Minuten später saßen wir alle nebeneinander auf den Stühlen in einem großen Nebenraum des Foyers. Vorne stand der ATP-Turnier-Supervisor mit dem Turnierdirektor. Daneben ein Moderator, der jetzt alle begrüßte und den Ablauf erläuterte.

Was mir erst jetzt auffiel, ich saß zwischen Justin und Dustin. Und beide Jungs verwickelten mich immer wieder in ein leises Gespräch. Irgendwann fragte mich Justin:

„Wird hier mit dem Computer gelost oder ist das noch eine traditionelle Ziehung von Namen?“

„Hahaha, das ist gut. Obwohl hier alles noch richtig old school wirkt, ist auch hier die moderne Technik eingezogen. Es wird vom Computer gelost. Zuerst werden die gesetzten Spieler ins Tableau eingefügt und dann werden die Plätze für die Qualifikanten eingesetzt. Erst danach kommen alle anderen Spieler von oben nach unten in das Tableau. Also keine Losfee mehr.“

Justin nickte und musste schmunzeln. Noch einen drauf setzte dann Dustin, der mich lachend fragte:

„Warum gab es eigentlich nie eine männliche Losfee? Irgendwie ist das doch auch Diskriminierung, hihihi.“

Ich konnte nicht anders als laut zu lachen. Das hatte er so trocken gesagt. Einfach klasse. Natürlich führte das dazu, dass ich gerade die Zeremonie gestört hatte und alle Augen auf mich gerichtet waren. Sehr unangenehm.

Selbstverständlich entschuldigte ich mich mit eine eindeutigen Geste und beruhigte mich schnell wieder, aber Dustins Einwand schwirrte mir trotzdem noch im Kopf umher.

Die Auslosung selbst lief für uns außerordentlich gut. Keiner musste gegen einen Gesetzten spielen und Dustin hatte mit Yosuke Watanuki, fünfundzwanzig und Japaner, einen Qualifikanten als Gegner. Justin musste in der ersten Runde gegen Jason Kuebler spielen. Das war ein Australier, der bereits viel Erfahrung auf Rasen hatte. Aber von der Ranglistenposition ähnlich notiert war wie Justin. Fynn hatte die auf dem Papier schwerste Aufgabe zu lösen. Hugo Umbert, ein Franzose, der bereits im Davis Cup für Furore gesorgt hatte. Vor allem ein guter Rasenspieler. Was für einen Franzosen eher ungewöhnlich war. Andy hatte sich ebenfalls mit einem Qualifikanten auseinanderzusetzen. Also das hätte wirklich schlimmer kommen können. Aber für uns war jedes Match als ein Endspiel zu sehen und vielleicht würden wir ja auch eins dieser Spiele gewinnen. Abwarten hieß es jetzt und sich ganz normal auf die Begegnungen vorzubereiten.

Leider hatte diese Veranstaltung nach der Auslosung für uns noch kein Ende, denn Jan war hier in London natürlich eine bekannte Größe. Immerhin trainierte er eine britische Tennislegende. Also standen doch noch zwei Pressetermine an. Aber Jan hatte mich gefragt, ob ich mit den Jungs schon nach Hause fahren wollte. Ich wäre gern gefahren, aber als Andy dann darum gebeten hatte, dass die drei ihn bei den Interviews begleiten mögen, meinten meine Jungs, natürlich würden sie nur mit mir gemeinsam dorthin gehen. Also tat ich ihnen den Gefallen und begleitete sie dorthin.

Und es entwickelte sich tatsächlich interessanter als gedacht. Zum einen sorgte insbesondere Dustin für mich. Er ging immer vor mir her und Fynn an der linken Seite und Justin an der rechten Seite. Ich kam mir vor wie ein Boxer beim Einmarsch in die Arena, aber so hatte ich genug Abstand zu den Fotografen und den mittlerweile anwesenden Tennisfans. Andy schrieb natürlich fleißig Autogramme, aber auch meine Jungs waren gefragt. Jan ging vorweg und kannte den Weg. Es gab sogar ein kleines TV-Studio und genau dorthin sollte es gehen. Ich wurde richtig nervös. Aber das entwickelte sich spannender, als ich erwartet hatte, denn in dem Studio saß kein geringerer als John McEnroe mit drei sehr jungen Nachwuchsjournalisten. Jetzt war ich doch neugierig geworden.

John begrüßte zuerst Jan und dann kam er auf mich zu und umarmte mich sehr freundlich.

„Hallo Chris, wie schön, dass wir uns hier wiedersehen können. Heute darf ich euch für Eurosport interviewen und das freut mich sehr.“

Danach kamen die Jungs genauso freundlich an die Reihe. John stellte uns seine drei Kollegen vor. Es waren Schüler des Tennisinternats und sie durften John unterstützen. Ich wunderte mich etwas, dass es drei Jungs waren und kein Mädchen dabei war. Aber das klärte sich sehr bald mit einer großen Überraschung.

„Nachdem ihr jetzt wisst, mit wem ihr zu tun habt, lasst uns doch einfach beginnen“, nahm John das Zepter in die Hand.

„Gibt es mit den Kameras irgendwelche Regeln?“, fragte ich noch.

Sofort hörte ich aus dem Hintergrund eine Stimme, die nur meinte, wir sollen so normal wie immer sein. Der Regisseur hatte zumindest Humor. John begann das Interview mit einigen Fragen an Andy und Jan. Thema waren die Hüftoperationen und ob für ihn jetzt besonderer Druck vor eigenem Publikum ist. Andy merkte man seine Erfahrung sofort an. Ein alter Medienprofi und das spürte auch John, aber als die drei Nachwuchsjournalisten zum Zuge kamen, wurde es spannend.

Mike, übrigens mit vierzehn der jüngste der drei, fragte Andy:

„Wie ist das für dich, jetzt mit vier Spielern unterwegs zu sein und auch ständig mit dem Thema Homosexualität beschäftigt zu werden? Stört dich das in deinen Abläufen, nicht mehr nur für dich Abläufe zu haben?“

Andy blieb freundlich, aber seine Antwort war klar und eindeutig.

„Es ist anders, ja, aber mit Sicherheit nicht schlechter. Die drei Jungs sind richtig gut, haben mit Chris einen ganz ausgezeichneten Coach, von dem ich auch noch einiges gelernt habe, und das Thema „schwul“ kann eigentlich nicht oft genug im Leistungssport zum Thema werden. Ich habe es zu Beginn gar nicht mitbekommen, was die drei mit Chris schon erleben mussten. Aber als ich Chris dann über Jan richtig kennenlernen durfte, stieg mein Respekt schlagartig an. Ich bin mir sicher, dass wir noch ganz viel von diesen drei Jungs hören werden. Und eines kann ich euch versprechen, wir als Team werden hier sehr stark auftreten.“

„Also du würdest eher sagen“, fragte John nach, „es ist ein Gewinn, mit den drei Jungs jetzt gemeinsam unterwegs zu sein?“

„Ja. Auch Jan hat mir erklärt, dass es gerade hier in England wichtig ist, gemeinsam aufzutreten und klare Kante zu zeigen. Ich bin gut drauf, die Jungs übrigens auch und daher glaube ich, werden wir hier eine gute Performance zeigen können.“

Ich saß die ganze Zeit neben meinen Jungs und verfolgte das Geschehen. Aber ich konnte auch spüren, dass die drei jungen Frager unruhiger wurden. Und ich hatte etwas gesehen, das mich überraschte, aber mir auch erklären würde, warum John diese drei Jungs für dieses Interview dabei hatte.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fragte mich einer der drei Jungs:

„Du wirst ja in der Szene schon wie eine Legende gehandelt. Du hast mit Dustin und Fynn eine Schwelle überschritten, für die die ATP noch gar nicht vorbereitet war. Zwei Spieler, die die arrivierten Akteure richtig ärgern können und auch noch offen mit ihrer Beziehung umgehen und sie offen leben. Das hat für uns viele Türen geöffnet, aber du hast auch einen sehr hohen Preis dafür bezahlt. Immer wieder Anfeindungen und immer wieder auch Bedrohungen. Denkst du heute immer noch, es war richtig, das offenzulegen und die Welt vor den Kopf zu stoßen?“

„Absolut ja, mit voller Überzeugung stehe ich hinter allen Entscheidungen. Aber Dustin, Fynn und auch Justin haben es von mir auch gefordert. Nicht nachzugeben, sondern jetzt erst recht. Ich bin froh, drei solche tollen Menschen begleiten zu dürfen und ihnen von meiner Erfahrung etwas mitgeben zu können. Ich glaube auch, dass viele schwule Jugendliche, die in ihren Vereinen spielen, durch Dustin und Fynn Gallionsfiguren haben. Sie machen es ihnen leichter, offen zu sagen, hey, wir sind auch schwul und können genauso gut Tennis spielen.“

Die Reaktion der drei jungen Journalisten war toll. Sie schauten sich an und nickten sich zu. Was dann folgte, war schon klasse. Wir saßen schließlich in einem TV-Studio und die Kameras liefen mit. Gut, es wurde aufgezeichnet und man hätte es im Nachgang auch herausnehmen können, aber der Jüngste erwiderte energisch:

„Ihr glaubt gar nicht, was für einen Schritt ihr uns abgenommen habt. Ich kann jetzt weiterhin im Landesleistungszentrum trainieren. Auch nachdem ich mich geoutet habe. Genau wie meine beiden Mitstreiter. Sie leben genau wie Dustin und Fynn in einem gemeinsamen Appartement hier in London und niemand traut sich mehr, sich über uns lustig zu machen. Das verdanken wir euch und eurem Mut, allen zu zeigen, dass ihr genauso gut seid wie alle anderen Spieler. Es wäre schön, wenn immer mehr junge Spieler und Spielerinnen sich zu ihrer Orientierung bekennen würden, ohne mit Nachteilen rechnen zu müssen. Euer Weg ist fantastisch für uns hier in England. Und sollte jetzt auch noch einer von euch im Turnier für Furore sorgen, wäre es in der Zukunft noch einfacher, als schwuler Tennisspieler Erfolg haben zu können.“

„Das wird so kommen, ganz sicher“, meldete sich John nun zu Wort, „sie werden sich durchsetzen und dadurch auch noch stärker sein als viele andere Spieler. Dieses Team wird immer zusammenhalten und für den anderen im Team sich einsetzen. Das wird bereits hier zu sehen sein. Ich bin mir ganz sicher, euer Turnier wird hier nicht nach der ersten Runde zu Ende sein. Ich habe übrigens bei den britischen Buchmachern zehn Pfund auf euch gesetzt. Sollte meine Wette erfolgreich sein, dass einer von euch die dritte Runde erreicht, bekomme ich für die zehn Pfund einhundert Pfund zurück. Die werde ich dann sehr gern für ein Nachwuchsprojekt spenden.“

Jetzt musste Jan laut lachen und er ergänzte:

„Okay, ich darf ja leider nicht wetten, aber ich werde Thorsten bitten, für uns ebenfalls jeweils zehn Pfund einzusetzen. Dann hätten wir ja schon dreihundert Pfund für ein gutes Projekt.“

Das führte zu einem heiteren Ende des Interviews und Jan hatte mit John nach der ersten Runde ein weiteres Gespräch zu führen. Damit endete für uns dieser Tag doch noch recht entspannt und mit einem guten Gefühl. Am späten Abend saß ich mit Jan in unserem kleinen Appartement und ich schaute im Fernsehen Vorberichte über das diesjährige Wimbledon-Turnier. Unsere Jungs waren bereits alle im Bett verschwunden, inklusive Maxi. Er war ja eigentlich als Nachteule bekannt. Ich brauchte nicht einmal eine Zeit vorzugeben. Auch Andy war vor wenigen Minuten in Richtung Bett verschwunden. So hatten Jan und ich jetzt etwas Ruhe. Für mich war diese Zeit ganz wichtig, um von dem Tag herunterzukommen und mich zu entspannen. Jan studierte bereits Andys Gegner. Aber ich wollte jetzt ganz bewusst nicht mehr über Tennis nachdenken. Mein Kopf war leer und müde.

Nach etwa zehn Minuten schaltete ich den Fernseher ab und setzte mich auf unsere kleine Terrasse. Der Himmel war sternenklar und obwohl wir mitten in London waren, konnte ich doch noch einige Lichtpunkte erkennen.

Es dauerte noch vielleicht fünf Minuten, als Jan plötzlich auch herauskam und sich zu mir setzte.

Wir saßen schon einige Minuten still beieinander, als er mich fragte:

„Was geht dir gerade durch den Kopf? Ist alles in Ordnung?“

Ich blickte ihn an und es war ein komisches Gefühl für mich, dass mich mein Bruder ernsthaft nach meinem Befinden erkundigte.

„Danke, es ist alles in Ordnung. Ich staune nur etwas über meine Jungs. Irgendwie haben sie begriffen, dass sie für ihre Zukunft verantwortlich sind und ich muss gar nicht mehr jeden Schritt ansagen. Klar, das ist jetzt keine neue Erkenntnis, aber gerade heute wird es mir wieder sehr bewusst. Sie haben in ihren Abläufen Routine entwickelt und sind eigenverantwortlich geworden. Solche Freiräume wie jetzt hat es vor einem Jahr noch nicht gegeben. Ich weiß gerade nicht, ob ich mich darüber freuen oder mir Sorgen machen sollte, dass sie das vielleicht nicht ernst genug nehmen. Sie wollen viele Dinge jetzt selbst machen.“

„Ja, das kann ich verstehen. Das habe ich bei meinen ersten Spielern auch so erlebt. Aber ich kann dich beruhigen, gehe deinen Weg einfach so weiter. Die drei Jungs sind wirklich schon so weit, dass sie deine „Rund um die Uhr“-Betreuung nicht mehr benötigen, ohne dabei den Fokus auf das Tennis zu verlieren. Du wirst immer für sie eine wichtige Person bleiben, auch wenn ihr einmal nicht mehr jeden Tag zusammen seid. Aber noch wirst du hier sehr nah dran sein und sie genießen es, dass sie sich auf dich verlassen können. Ich bin mir sicher, wir werden hier ein tolles Turnier haben.“

Im Anschluss sprachen wir noch über unsere Eltern und irgendwann nach Mitternacht ging ich doch etwas beruhigter schlafen. Der morgige Tag würde zeigen, ob wir wirklich auf der ATP-Tour angekommen waren. Die erste Runde begann.

Da es sich um ein Feld mit 128 Spielern handelte, wurde die erste Runde auf zwei Tage verteilt. Für mich war das angenehm, denn heute spielten nur Justin und Dustin. Fynn würde erst morgen an der Reihe sein. Das hieß, ich konnte mich ganz auf Dustin konzentrieren, denn Justin hatte Maxi an seiner Seite. Dieses Duo hatten wir schon bei einigen Turnieren zuvor gehabt und das war sehr erfolgreich gewesen. Dadurch hatte ich viel weniger Stress in meinem Kopf. Ich hatte mich mit Maxi abgesprochen und jetzt standen wir gemeinsam auf einem der Trainingsplätze und Justin und Dustin schlugen sich intensiv dort ein.

Maxi und ich standen hinter Dustin an der Stirnseite des Platzes. Maxi meinte zu mir:

„Das sieht für neun Uhr am Morgen doch schon richtig gut aus. Oder was meinst du? Dass Dustin schon so hellwach ist, hatte ich nicht erwartet.“

„Doch, das schaut gut aus und doch, ich hatte bei Dustin nichts anderes erwartet. Er ist bis in die Haarspitzen motiviert und will sich beweisen, dass er hier richtig ist. Ich brauchte dafür auch nichts mehr im Vorfeld zu sagen. Viele Abläufe laufen selbständig.“

Maxi musste jetzt schmunzeln und erwiderte:

„Na ja, du hast ja auch viele Jahre Arbeit dafür investiert. Manchmal auch mit hohen Verlusten an Nerven. Vor allem, wenn ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand wollte.“

Ich schaute von der Seite zu Maxi und reagierte lachend:

„Okay, das stimmt. Aber auch du hast es irgendwann begriffen, dass das Leben eben nicht nur aus Spielen und Schlafen besteht. Es ist halt auch viel Arbeit erforderlich, um dorthin zu kommen, wo wir jetzt sind.“

Maxi nickte nur und als Justin gerade einen zweiten Ball in Folge leichtfertig ins Netz schlug, kam eine Ansage:

„Hey, konzentrier dich besser. Auch beim Einschlagen sind solche leichten Fehler nicht erwünscht.“

Interessant war jetzt die Reaktion von Dustin. Er drehte sich zu uns um und seine Augen waren auf mich gerichtet. Ich reagierte allerdings überhaupt nicht auf Maxis Kommentar. Es war schließlich absolut richtig und Justin war heute sein Spieler. Dustin sollte spüren, dass wir uns an diese Aufgabenverteilung auch halten würden.

Natürlich konnte mich Maxi jederzeit um Rat fragen und ich würde mit Sicherheit auch bei Justins Match zuschauen, sollte sich das zeitlich ermöglichen lassen. Und heute würde es vermutlich so aussehen, dass Dustin bereits fertig sein könnte, bevor Justin auf den Platz ging.

Es dauerte nur wenige Minuten und beide Jungs spielten wieder wie zuvor und alles sah gut aus. Da Dustin bereits in der ersten Runde mit Spielbeginn elf Uhr beginnen sollte, brach ich jetzt das Einschlagen nach guten fünfzig Minuten ab. Die restliche Zeit sollte sich Dustin mental vorbereiten und nur dafür Sorge tragen, nicht wieder kalt zu werden.

Für mich war der Japaner ein ziemlich unbeschriebenes Blatt, aber Jans Datenbank hatte doch einige Informationen gespeichert, die wir nutzen konnten. Und Dustin wirkte sehr konzentriert, als wir unmittelbar vor dem Match in der Umkleide saßen.

„Boah, Chris. Jetzt werde ich doch noch richtig aufgeregt. Bisher habe ich mich gefühlt wie immer vor einem Match. Aber jetzt spüre ich die steigende Anspannung. Was kann ich dagegen tun?“

„Ja, das ist doch gar nicht schlimm. Es zeigt doch nur, dass du ein ganz normaler Spieler bist. Glaub nicht, dass es dem Japaner anders geht. Geh einfach auf den Platz und spiel wie immer. Du musst auch an dich glauben. Wir tun es doch auch. Du kannst Tennis spielen und ich glaube ganz fest, du kannst den Knaben schlagen. Mach einfach!“

Danach hielt ich Dustin meine Hand hin und stand von der Bank auf. Er schlug mich ab und es folgte eine innige Umarmung mit einem leisen:

„Danke, es tut gut zu wissen, dass du an mich glaubst.“

Danach trennten wir uns und ich machte mich auf den Weg zu Court dreizehn. Das war ein Zuschauerplatz mit Platz für etwa 2000 Personen. Dort gab es auch eine kleine Box für die Trainer und die Freunde der Spieler. Jan hatte noch etwas Zeit, bis Andy spielen musste. Er saß bereits in unserer Box, als ich dort ankam.

„Na, wie geht es Dustin? Ist er sehr aufgeregt?“

„Ja, ich denke schon. Er spürt jetzt doch die Aufregung, aber er freut sich auch sehr auf das Spiel. Hoffentlich kann er ansatzweise zeigen, was er kann. Dann glaube ich, dass er gewinnen kann.“

Ich setzte mich auf meinen Stuhl und Jan erwiderte lachend:

„Dann ist ja alles im grünen Bereich. Ich hatte schon Sorge, Dustin würde überhaupt keine Anspannung aufbauen. So cool wie er vorhin noch wirkte. Und ich stimme dir zu, Dustin kann heute gewinnen. Wir müssen ihm die Sicherheit geben, die er jetzt benötigt. Also, ab jetzt bist du richtig gefordert. Und ich halte dir den Rücken frei.“

Dann hielt er mir die Hand hin und wir umarmten uns. Ein tolles Gefühl durchströmte meinen Körper.

Natürlich saß auch Fynn bereits in unserer Box und dort herrschte eine viel größere Anspannung als bei seinem Freund, der gerade mit seinem Gegner den Platz betrat.

Fynn fixierte förmlich seinen Freund mit den Augen. Erst als Dustin an die Grundlinie ging und sich die ersten Bälle geben ließ, atmete Fynn tief aus.

„Ich dachte schon, du wolltest gar nicht mehr atmen“, frotzelte ich.

Und erstaunlicherweise regte er sich nicht auf, sondern erwiderte:

„Jajaja, du hast ja recht, aber ich bin so aufgeregt. Hoffentlich kann Dustin sich hier gut präsentieren. Ich wünsche ihm sehr, dass er ein gutes Match macht.“

„Warst du noch auf der Toilette oder gibt es dort keine Gefahr?“, fragte ich lachend.

Fynn überlegte für eine Sekunde, ob er sich jetzt aufregen sollte, aber es kam eine viel bessere Antwort:

„Ja, ich war noch für kleine Jungs, also du musst keine Angst haben, dass ich eine feuchte Hose bekomme.“

Danach zeigte ich ihm den Daumen hoch und der Schiedsrichter sagte die „two minutes“ an. Jetzt wurden noch Aufschläge gemacht und dann begann das Spiel.

Innerhalb weniger Minuten war ich komplett im Tunnel und staunte über das Auftreten von Dustin. Selbstbewusst schlug er auf und es gelang ihm ein frühes Break. Von Angst überhaupt keine Spur. Auch die Kommunikation mit mir lief wie immer. Dustin spielte einfach unfassbar gutes Tennis. So kam er zu seinem ersten Satzgewinn auf dem „heiligen“ Rasen von Wimbledon.

„Was macht Dustin da?“, fragte mich Maxi ungläubig, „er spielt so, als ob wir in Halle trainieren würden. Das ist unglaublich cool.“

Für Fynn war das jetzt schwierig, ruhig zu bleiben. Er rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her. Er gab seinem Freund auch den Daumen hoch. Dustin saß in der Satzpause auf seinem Stuhl und wippte mit beiden Füßen. Für mich ein sehr gutes Signal. Er blieb fokussiert und wusste genau, was jetzt zu tun war. Nämlich mit voller Konzentration in den zweiten Satz starten, um dem Gegner kein Oberwasser zu geben.

„Gutes Tennis spielen“, kam trocken von Jan auf Maxis Frage.

„Sehe ich auch so, gutes Tennis spielt er gerade“, ergänzte ich.

Das war jetzt für Fynn etwas viel Untertreibung und Spaß zu einem ungünstigen Zeitpunkt.

„Warum seid ihr so zurückhaltend. Ich finde, er macht das genau richtig. Einfach spielen. Sagt ihr doch immer selber.“

Dann fing er an rhythmisch zu klatschen und die Zuschauer stiegen mit ein. So entstand Stimmung auf dem Platz. Dustin schaute mir jetzt genau in die Augen und da wusste ich, er hatte es begriffen. Er würde einfach ganz genau so weiterspielen. Ohne es zu übertreiben.

Und genau das geschah auch. Auch im zweiten Satz hatte sein Gegner keine einzige Breakchance. Allerdings gelang es Dustin auch nicht, ein Break, trotz einiger Chancen, zu machen. Es ging also in den Tiebreak.

„Boah, das ist so aufregend“, stöhnte Fynn hinter mir.

„Ja, das ist aufregend, aber für mich ist es immer aufregend, wenn einer von euch spielt. Warum habe ich wohl so viele graue Haare?“

Jan schaute mich grinsend an und setzte noch einen drauf:

„Haare? Welche Haare eigentlich?“

Fynn schaute einen Moment ungläubig Jan an und ich konnte sofort spüren, Fynn hatte diese flapsige Bemerkung als einen Angriff auf mich wahrgenommen. Sofort kniff er seine Augen zusammen und holte tief Luft. Jetzt musste ich schnell sein. Ich entschied mich für:

„Hat doch Vorteile, ich kann das Geld für den Friseur sparen. Ich muss nicht, wie du, alle vier Wochen zum Haareschneiden.“

Jetzt mussten wir beide lachen und Jan zeigte mir den Daumen hoch und gab mir „high five“.

Fynn hatte es begriffen und blieb ruhig. Ich hatte mir aber für die Nachbesprechung eine Notiz auf meinem Laptop gemacht. Das wollte ich noch einmal in Ruhe mit Fynn besprechen.

Dustin ließ sich davon aber überhaupt nicht ablenken. Er marschierte weiter vorwärts und gewann den Tiebreak recht glatt mit 7:4. Eine beruhigende 2:0 Satzführung war die Folge. Normalerweise wäre Dustin jetzt gerne in die Umkleide gegangen, um sich mit mir kurz auszutauschen. Das war hier in Wimbledon nicht möglich, denn kein Spieler durfte den Platz allein verlassen. Es würde immer ein Offizieller mitgehen. Also kommunizierten wir über unsere sehr gut eingespielten Gesten. Dustin signalisierte mir, dass er sich müde fühlte und die Beine Probleme machten.

Für mich war das kein Warnsignal, weil das normal für ein Best of five Match war. Also signalisierte ich Gelassenheit und forderte ihn nur auf, weiterzuspielen. Innerlich rechnete ich jetzt mit einem kleinen Einbruch und vielleicht auch mit dem Satzverlust im dritten Satz. Dustin hatte auch kaum Erfahrungen mit Spielen über drei Gewinnsätzen.

Jan blieb auch gelassen auf seinem Stuhl sitzen. Er meinte zu mir:

„Dustin verkauft sich sehr gut. Ich muss mich jetzt aber mit Andy vorbereiten. Ihr werdet das schon machen. Fynn, kannst du mich bitte per Whatsapp über den weiteren Verlauf informieren? Chris und Maxi sollen sich nur auf das Spiel und Dustin konzentrieren.“

„Klar, mache ich. Wenn ich es vor Aufregung nicht vergesse. Das ist doch einfach nur geil, was mein Schatz da macht, oder nicht?“

Jan zwinkerte ihm nur zu und auch ich nickte nur bestätigend.

Maxi und Justin hatten noch Zeit, bei uns zu bleiben. Gerade Justin war heute außergewöhnlich still. Aber ich wusste auch, dass er sich mit seiner Situation beschäftigte. Er hatte an sich immer hohe Ansprüche und wollte es besonders gut machen. Maxi war an der Stelle eine große Hilfe, weil sie altersmäßig nicht so weit auseinander waren und auch Maxi früher als Spieler immer sehr hohen Ansprüchen von seinem Vater ausgesetzt war. Deshalb wollte ich mich da nicht direkt einmischen und abwarten, was sich dort entwickelte.

Der dritte Satz begann wie befürchtet. Dustin verlor direkt sein erstes Aufschlagspiel und lag beim zweiten Seitenwechsel 0:3 zurück. Die Euphorie bei Fynn wechselte in Sorge und ein wenig auch in Hysterie, ob bei Dustin ein Problem vorliegen würde.

Das war nervig für mich und meine Kommunikation mit Dustin. Aber ich wusste auch, dass es jetzt nicht klug war, Fynn einzubremsen. Er brauchte das für seine Nerven. Also reagierte ich überhaupt nicht darauf, sondern gab Dustin per Zeichen den Rat, den dritten Satz einfach laufen zu lassen und die Kraft für den vierten Satz zu sammeln.

Entsprechend schnell ging der dritte Satz dann auch 1:6 an den Gegner. Und das einzige Spiel machte er bei 0:5 und eigenem Aufschlag, um bereits wieder Spannung für den vierten Satz aufzubauen. Auch hier zeigte Dustin seine Reife. Das beruhigte mich.

Und entgegen Fynns Panik und Befürchtungen startete Dustin furios in den vierten Satz und nahm seinem Gegner direkt den Aufschlag ab und setzte mit einem zu null gewonnenen Aufschlagspiel nach. Damit hatte sein Gegner maximalen Druck und ich erwartete jetzt eine Überreaktion von dem Japaner.

Tatsächlich begann er jetzt mit hohem Risiko zu schießen. Für mich ein klares Signal, dass Dustin der bessere Spieler war. Er durfte sich jetzt nur nicht provozieren lassen. Aber nach nur zehn Minuten konnte ich mich etwas entspannen. Dustin blieb seiner Linie treu und hatte eine gute halbe Stunde später tatsächlich den ersten Matchball.

Fynn saß vollkommen angespannt auf seinem Stuhl. Maxi und ich schauten uns an und mussten schmunzeln. Für mich war das Match entschieden und ich blieb erstaunlich entspannt, als Dustin dann letztlich mit dem zweiten Matchball das Spiel beendete und wirklich souverän in die zweite Runde einzog.

Erst jetzt konnte ich mich auch richtig freuen und Fynn mit einer Umarmung zu seinem Freund entlassen.

„Das war großes Kino“, gab ich Fynn noch mit auf den Weg, „wenn er mit seinem Programm fertig ist, kommt bitte zu Justin an Platz zehn. Die Nachbesprechung machen wir heute gemeinsam, nach Justins Match.“

Dieser Sieg gab mir enorm viel Ruhe. Es war der Beweis, dass wir auf dem richtigen Weg waren und Jan mit seiner Prognose wohl doch richtig lag. Meine Jungs konnten bereits auch bei einem Grand Slam mithalten.

Mein Weg führte mich jetzt zu Jan an den Platz. Andy spielte natürlich auf dem Center Court. Dort herrschten eine ganz eigene Atmosphäre und noch strengere Sicherheitskontrollen. Entsprechend lange dauerte es, bis ich bei Jan in der Coachingbox saß.

Anders als früher versuchte ich jetzt, das Match von Andy komplett als Zuschauer zu verfolgen und mich zu entspannen.

Justin: Anspannung pur

In der Box bei Dustin zu sitzen war irgendwie cool. Vor allem durch seinen Sieg hatte ich richtig Bock auf mein Match.

Maxi hatte mich in die Umkleide begleitet und gab mir Sicherheit. Meine Anspannung stieg von Minute zu Minute. Ich wollte es Dustin nachmachen und unbedingt in die zweite Runde kommen. Was er konnte, war für mich nicht unmöglich. Das wusste ich.

Maxi gab mir noch ein paar Informationen zu meinem Gegner und ich hörte zwar zu, aber so richtig war ich nicht mehr in der Lage, das zu verarbeiten. Und dabei fiel mir dann ein Unterschied zu Chris auf. Chris hatte mich direkt vor meinen Spielen in Ruhe gelassen und blieb einfach nur in meiner Nähe. Maxi versuchte mich auf eine andere Art zu beruhigen. Allerdings machte mich das eher unruhiger. Aber wie sollte ich ihm das erklären, ohne dass er das als Angriff empfand?

Als der Aufruf der Turnierleitung erfolgte, musste das sofort aus meinem Kopf verschwinden. Jetzt ging es los und ich wusste, dass Jason Kuebler keine einfache Aufgabe sein würde. Konzentrationsfehler würden sofort bestraft werden.

Als wir den Platz betraten, blickte ich mich um. Es war ein Platz ohne Tribünen und auch ohne TV-Kameras. Das war für mich angenehm. Und als ich Chris an seiner Position am Platz fand, beruhigte sich mein Puls auch wieder.

Es fühlte sich komisch an. Obwohl ich wusste, dass Maxi heute für mich als Coach verantwortlich war, genoss ich die Anwesenheit von Chris. Und auch als Maxi bei Chris angekommen war, hatte ich mit Chris immer wieder Augenkontakt.

Ich hatte die Aufschlagwahl gewonnen und mich für Rückschlag entschieden. Nach fünf Minuten hatte ich die Bestätigung, dass ich mich richtig entschieden hatte. Er schenkte mir praktisch das Spiel mit zwei Doppelfehlern.

Beim Seitenwechsel blickte ich in die Ecke des Platzes und wunderte mich. Chris war gegangen. Warum? Das kannte ich gar nicht von ihm, dass er während eines Spieles den Court verließ.

Maxi bemerkte sofort, dass ich mich damit beschäftigte und signalisierte mir aber, dass alles in Ordnung sei und ich mich nur auf mein Spiel fokussieren sollte.

Ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Kuebler haute mir direkt zwei Returns um die Ohren auf meinen zu harmlosen zweiten Aufschlag hin. 0:30 nach wenigen Sekunden. Na toll, das fing ja gut an.

Ich ließ mir die maximale Zeit zwischen den Punkten und konzentrierte mich auf den ersten Aufschlag. Weniger Risiko und mehr Präzision.

Das gelang gut und ich konnte auf 30:30 ausgleichen. Komisch kamen mir die Reaktionen der wenigen Zuschauer vor. Ich konnte jeden Applaus persönlich zuordnen und musste manchmal auch schauen, von wo die Unterstützung kam. Das war wie früher bei den kleinen Turnieren. Aber wir waren hier in Wimbledon. Dem wichtigsten Turnier der Welt.

Es dauerte aber nicht lange und meine Gedanken drehten sich nur noch um mein Spiel. Und mein Spiel lief gut. Ich konnte das frühe Break halten und schlug jetzt zum Satzgewinn auf. Leider war ich etwas zu lange mit dem möglichen Satzgewinn beschäftigt. Es stand wieder 0:30 und ich ärgerte mich gerade, als ich einen lauten Pfiff hörte. Sofort schnellte mein Kopf in Richtung Platzrand. Da stand jetzt Chris, tippte sich an den Kopf und ballte die Faust.

Da wusste ich was zu tun ist. Bevor ich Zeit hatte, mich über meine Nachlässigkeit zu ärgern, stellte ich mich zum Aufschlag und hämmerte meinem Gegner zwei erste Aufschläge um die Ohren, so dass es wieder 30:30 stand.

Von diesem Augenblick an lief es wie von selbst. Ich konnte einfach Tennis spielen und das Match auch genießen. Es war einfach unglaublich, aber mein Gegner hatte nicht eine Breakchance und ich konnte das Match in drei Sätzen glatt für mich entscheiden.

Was war hier gerade passiert? Egal, erst einmal freute ich mich über diesen Sieg und reckte nach dem Handshake die Faust Richtung Maxi und Chris.

Als ich meine Sachen in die Tasche gepackt hatte und den Platz wieder verließ, spürte ich die abfallende Anspannung und wie sie in pure Freude wechselte. Was für ein geiles Gefühl, hier so gut gespielt zu haben.

Als ich zur Umkleide kam, stand Maxi allein dort und wartete auf mich. Genau wie Chris blieb er vor der Umkleide. Aber die Glückwünsche waren sehr euphorisch und wir umarmten uns sogar.

„Meine Güte, war das geiles Tennis von dir“, grinste Maxi, „aber dass Chris dich erst wachpfeifen musste, darüber müssen wir noch einmal reden.“

Dabei lachte er befreit und ich konnte auch nicht anders als mitzulachen.

„Wenn es hilft, darf er gerne öfter pfeifen. Warum hast du eigentlich nicht gepfiffen?“, fragte ich immer noch lachend.

„Ich kann nicht so laut pfeifen wie Chris. Daher musste er das machen. Hat doch geklappt.“

Danach ging ich in die Umkleide, legte meine Tasche auf die Bank und ging auslaufen. Das entwickelte sich zu einem Gedankenspiel im Kopf. Dustin und ich hatten die erste Runde in Wimbledon gewonnen und würden in zwei Tagen die zweite Runde spielen. Das war für mich fast surreal.

Als ich zurück in der Umkleide war, schaute ich das erste Mal wieder auf mein Handy. Über zehn Nachrichten waren bereits eingegangen. Von meinen Eltern, aus der Schweiz und aus München. Wow, dachte ich. Alle hatten die Spiele im Internet verfolgt und freuten sich für uns.

Mein Adrenalinspiegel wollte nicht sinken. Auch bei der Physio war ich immer noch sehr aufgedreht und erst bei der abschließenden Massage konnte ich mich etwas mehr entspannen.

Ich zog mir anschließend meine Teamkleidung an und schloss meine Tasche in einem Schrank für die Spieler ein. Danach betrat ich den großen Platz vor dem Center Court. Auf mehreren Anzeigetafeln wurden alle laufenden Matches angezeigt. Ich konnte Andys Spiel nirgendwo mehr finden. Also schien er bereits fertig zu sein. Ich zog daher mein Handy heraus und wollte Chris anschreiben, aber er war mir bereits zuvorgekommen. Ich sollte mit meinen Sachen zum Ausgang fünf kommen. Dort würden wir uns treffen und direkt ins Quartier fahren.

Einerseits gefiel mir das, damit ich aus diesem Trubel kam, aber andererseits hätte ich auch gerne noch ein wenig bei den anderen Spielen geschaut. Aber Chris hatte mit Sicherheit einen Plan, wenn er so klar darum bat, nach Hause zu fahren.

Als ich mit der Tasche dann zum Treffpunkt unterwegs war, sprachen mich drei Jugendliche an.

„Hey, das war ein tolles Match von dir. Auch dein Freund Dustin hat heute geil gespielt. Könntest du für unseren Freund auf diesem Shirt unterschreiben?“

Sie hielten ein offizielles Wimbledon-T-Shirt in den Händen. Ich konnte sehen, dass bereits Dustin und Chris unterschrieben hatten. Also fehlten noch Maxi und Fynn. Ich fragte daher:

„Warum ist denn euer Freund nicht hier? Und wo kommt ihr her?“

Einer der drei erwiderte:

„Wir sind hier aus Wimbledon und Steve fehlt heute, weil er vor drei Tagen einen Unfall auf dem Weg aus der Schule hatte. Er liegt leider mit einem Gipsbein zu Hause. Und was du sicher noch wissen solltest, Steve ist der Freund von Pete.“

Dann zeigte er auf einen der beiden anderen Jungs. Ich hatte verstanden, daher fragte ich:

„Habt ihr noch einen Moment Zeit? Dann kommt mit. Wir treffen uns an Ausgang fünf. Dann bekommt ihr auch noch die anderen Unterschriften.“

Und so gingen wir gemeinsam zum Ausgang fünf. Chris stand bereits dort und unterhielt sich mit Jan und Andy. Jetzt wurden die drei Jungs doch etwas nervöser, als sie Andy erkannten.

„Na, hast du den Fanclub gleich mitgebracht?“, lachte Chris.

„Du hast doch auch schon unterschrieben, also sind sie dir ja schon begegnet. Aber Fynn fehlt noch und Maxi auch. Und wenn Jan und Andy schon mal da sind, könnten die ja vielleicht auch gleich unterschreiben.“

Ich stellte Jan noch die drei Jungs vor und erklärte den Grund für ihre Bitte mit den Unterschriften. Sofort nahm sowohl Andy als auch Jan den Edding und unterschrieben auf dem Shirt.

Bis Fynn und Maxi hinzukamen, sprachen wir noch ein paar Sätze mit ihnen. Wir erfuhren, dass sie selbst auch Tennis spielten und zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt waren. Als Fynn und Maxi ebenfalls signiert hatten, freuten sich die Jungs sehr über unsere Autogramme. Vielleicht würden wir uns ja noch einmal hier begegnen.

Eine Stunde später konnte ich verstehen, warum Jan und Chris unbedingt so schnell von der Anlage wollten. Wir saßen in dem kleinen Garten von unserem Appartement und genossen die Ruhe. Keine fremden Menschen, keine Presse und keine Hektik mehr. Einfach wunderbar.

Dustin und Fynn saßen Arm in Arm auf einer Bank in der Sonne. Ich hatte mich zu Jan, Chris und Maxi an den Gartentisch gesetzt, als mich Chris fragte:

„Hast du schon mit deinen Eltern Kontakt gehabt?“

„Ja, aber nur per Whatsapp. Dad hat sich als erster gemeldet und mir gratuliert und das freut mich sehr. Aaron ist momentan gar nicht zu Hause, er ist mit der Schule auf Klassenfahrt. Daher bekommt er nicht so viel von diesem Trubel mit.“

„Aber du kannst ihm ja jetzt berichten. Ich denke, er wird sich freuen, wenn du an ihn denkst“, meinte Jan und auch Chris nickte zustimmend.

„Das werde ich ganz bestimmt gleich noch machen. Aber wie geht es denn jetzt weiter? Muss ich morgen wieder spielen? Oder spielt nur Fynn morgen?“

Schon jetzt spürte ich, dass Jan und Chris noch keine Aussage machen wollten. Sie hatten den Laptop auf dem Tisch und schauten sich die Spielverläufe von heute an. Eigentlich hätte ich auch wissen müssen, dass sie lieber für alle gemeinsam den morgigen Tag besprechen wollten.

„Gib uns noch etwas Zeit, Justin. Der morgige Plan ist noch nicht veröffentlicht. Darauf müssen wir warten, bevor wir im Detail planen können. Klar ist, Fynn wird sein Spiel haben. Wann genau das angesetzt wird, sehen wir bald. Ich glaube nicht, dass Dustin oder du schon wieder spielen müsst. Aber trainieren werden wir dann natürlich. Bitte hab noch etwas Geduld.“

Plötzlich stand Dustin bei uns am Tisch und fragte:

„Was haltet ihr von einer Runde Doppelkopf? Irgendwie habe ich Lust, etwas zu spielen. Irgendwie mal den Kopf von Tennis freimachen.“

Das hatten wir schon lange nicht mehr gemacht. Ich hatte sogar einen Augenblick überlegen müssen, wie die Regeln waren. Allerdings hatte ich Lust auf diese Ablenkung und stimmte sofort zu. Jetzt fehlte uns noch der vierte Mann zum Spielen. Chris wollte noch mit Jan am morgigen Tag planen, aber Maxi hatte Lust und fragte Chris:

„Ist das okay, wenn ich mitspiele? Oder braucht ihr mich für die Planung morgen?“

Sofort gab Chris Maxi die Erlaubnis und wir gingen ins Haus und spielten am Tisch im Wohnzimmer.

Es war eine gute Idee von Dustin, denn schnell waren wir nur mit den Karten beschäftigt. Naja, Dustin und Fynn waren nicht nur mit den Karten beschäftigt. Sie spielten auch mit sich selbst.

Das hatte aber auch Vorteile für Maxi und mich. Sie waren nicht so konzentriert beim Spiel und wenn ich mit Maxi zusammen spielte, dann hatten wir kein Spiel verloren.

In jedem Fall hatten wir viel Spaß und erst als Chris plötzlich bei uns am Tisch stand, bemerkten wir, dass wir schon über eine Stunde dabei waren.

„Könnt ihr euer Spiel für eine kurze Lagebesprechung unterbrechen? Wir würden gern den morgigen Ablauf besprechen.“

Natürlich unterbrachen wir das Kartenspiel und gingen mit nach draußen. Dort erklärte uns Jan den Tagesablauf.

„Um halb neun werden wir hier frühstücken und ihr habt zuvor euer morgendliches Programm absolviert. Anschließend fahren wir gemeinsam zur Anlage und Fynn wird sich mit Justin einschlagen. Fynns Match ist für die zweite Runde angesetzt, auf Platz zehn. Das heißt auch, dass der genaue Start nicht feststeht. Allerdings findet dort ein Damenspiel statt. Ich gehe davon aus, dass du mit Chris ab zwölf Uhr bereit sein solltest. Daher wäre ein ausgiebiges Frühstück wichtig. Ich glaube nicht, dass du vor dem Spiel noch etwas essen kannst. Nimm genügend Energieriegel mit auf den Platz und auch ausreichend Bananen. Dustin wird mit Andy eine Trainingseinheit machen. Das werden Maxi und ich begleiten. Sobald diese beendet ist, könnt ihr natürlich zu Fynn an den Platz gehen. Ihr könnt aber auch mit Andy und mir zurück ins Quartier fahren. Wie ihr das dann möchtet. Fragen?“

„Das heißt also, dass Dustin und ich morgen spielfrei haben?“, fragte ich.

Jan nickte nur und Chris lachte:

„Ja, deine Auffassungsgabe spricht für dich.“

Danach folgte ein ernstgemeinter Hinweis:

„Wir gehen jetzt ins Bett. Also spielt nicht mehr so lange, denn Fynn muss morgen ausgeschlafen sein.“

Und diesen Hinweis nahmen wir ernst. Nach einer weiteren halben Stunde, beendete Fynn unsere Kartenrunde.

Obwohl ich nicht spielen musste, war ich noch so aufgedreht, dass ich nicht so schnell einschlafen konnte. Im Nebenzimmer, bei Dustin und Fynn, wurde die Aufregung entsprechend lustvoll aufgearbeitet. Aber nach nur wenigen Minuten war dann Ruhe. Mein Kopfkino bekam auch noch zusätzlich lustige Gedanken. Aber irgendwie hatte ich dadurch auch Lust bekommen. Und das sorgte dann für die nötige Entspannung und so konnte ich dann recht bald befriedigt einschlafen.

Am nächsten Morgen hatte ich von Aaron eine Nachricht auf meinem Handy und das freute mich sehr. Er hatte auch einige Fotos von seiner Klassenfahrt mitgeschickt.

Beim Frühstück, nach dem frühmorgendlichen Lauf, war ich nach Jan und Chris der erste am Tisch.

„Guten Morgen, Justin“, begrüßte mich Chris gut gelaunt, „konntest du ausreichend schlafen oder hat dich unser Pärchen wieder in deiner Nachtruhe gestört?“

„Alles bestens. Heute hatte ich eher das Problem, zur Ruhe zu kommen. Aber nicht, weil die beiden wieder unanständig waren.“

„Dann stärke dich mit einem guten Frühstück und wir können später, wenn du möchtest, mal in Ruhe besprechen, was dir so durch den Kopf geht.“

Das war so typisch Chris. Er nahm mich mit meiner Bemerkung sofort ernst und ließ mir aber auch die Entscheidung, ob und wann ich darüber sprechen wollte. Es gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Unterstützung. Einfach klasse!

Chris: Fynn steht sich selbst im Weg

Auch Dustin und Fynn erschienen gut gelaunt zum Frühstück. Für mich war das eine Erleichterung, dass ich die Standarddinge, wie den morgendlichen Lauf, nicht mehr ständig ansagen musste. Das lief eigenständig und gut.

Allerdings hatte ich Justins Bemerkung noch deutlich im Kopf, als sich Jan während des Frühstücks bereits von uns verabschiedete. Er hatte mit Andy einen TV-Termin. Andy war Brite und hier bereits einmal Titelträger. Da war die mediale Aufmerksamkeit in London sehr hoch. Jan und ich hatten besprochen, dass wir die Jungs hier nicht ständig mit den Medien belästigen wollten. Sie sollten sich nur auf sich konzentrieren können.

Natürlich gab es Pflichttermine für die Medien, aber nicht mehr als sinnvoll.

Die Matchvorbereitung verlief auch routiniert und als ich dann bei Fynn am Platz in der Box saß, hatte ich ein gutes Gefühl. Natürlich saßen Dustin und Justin bei mir und nur Maxi wollte sich ein anderes Spiel anschauen. Dort spielte der nächste Gegner von Justin.

Innerhalb von zwanzig Minuten hatte sich meine Gemütslage komplett gedreht. Fynn lag im ersten Satz 0:4 zurück und machte unfassbar viele und unnötige Fehler. Er spielte mit viel zu hohem Risiko und wollte die Punkte erzwingen. Das war wieder ein Rückfall in ganz alte Zeiten und ich hatte gehofft, dass wir das hinter uns gelassen hatten. Aber heute war es wieder soweit.

In meinem Kopf suchte ich nach der passenden Lösung dieses Problems. Ich wusste, ich musste Fynn aufwecken und wieder in die richtige Spur bringen, sonst wäre dieses Match sehr schnell zu Ende.

Beim nächsten Seitenwechsel stand es 0:5 und Fynn wirkte ratlos. Aber er vergrub sich jetzt nicht mehr unter dem Handtuch, er versuchte mit mir zu kommunizieren. Das gab mir Hoffnung. Dieser Satz war gelaufen, aber vielleicht könnte er einen Neustart machen und in den folgenden Sätzen besser agieren. Jetzt noch an einen möglichen Sieg zu denken, war eigentlich nur seinem Freund Dustin erlaubt.

Aber auch Dustin saß still und angespannt neben mir. Von dort kam heute auch noch kein einziger Kommentar. Fynn stand schlicht neben sich und ich hatte keinen Plan warum.

Beim Stand von 1:4 im zweiten Satz entschied ich mich zu einer riskanten Variante. Wobei das Risiko darin bestand, jetzt einfach weiter unterzugehen. Aber sollte er sich damit fangen können, würde es wieder Licht am Himmel geben.

Ich entschied mich, ihn zu ermutigen, einfach wieder zu spielen und nicht zu zweifeln oder Frust zu schieben. Einfach auf den Ball gehen und noch etwas Freude generieren. Egal was für ein Ergebnis dabei herauskommen würde. Mir war bewusst geworden, dass Fynn an seinem eigenen Druck scheiterte. Ich hatte es jetzt begriffen und entsprechend musste ich Dustin auch einbinden. Ich drehte mich zu ihm und gab ihm zu verstehen:

„Wir müssen Fynn jetzt entlasten. Er zerbricht gerade an der Situation, unbedingt gewinnen zu wollen. Kannst du versuchen, ihm lustige Dinge zu signalisieren? Er soll spielen und nicht mehr denken und zweifeln. Es ist mir komplett egal, was für ein Ergebnis am Ende steht. Ich werde ihm jetzt noch vermitteln, dass ich ihn in der Satzpause in der Umkleide sehen will.“

Dustin blickte mich an und nach einer Gedenksekunde fing er an zu lachen und erwiderte nur:

„Ja, ich verstehe. Das bekomme ich hin. Ich darf alles machen?“

„Alles, was erlaubt ist.“

Dustin nickte und ich verschwand in Richtung Umkleide. Hier in Wimbledon waren die Wege sehr weit und daher musste ich mich beeilen.

Allerdings dauerte es doch deutlich länger als erwartet, bis Fynn dort erschien. Er hatte tatsächlich noch zwei Spiele gewonnen und den Satz nur mit 3:6 verloren.

Aber sein Gesicht wirkte lockerer als auf dem Platz zuvor. Er lachte sogar etwas, als er meinte:

„Auch wenn ich ganz furchtbar begonnen habe, was hast du Dustin gesagt? Der sitzt da in der Box und macht einen Joke nach dem anderen? Ich kann mich kaum konzentrieren.“

„Dann hat er es genau richtig gemacht. Hör endlich auf zu denken und genieße die Situation. Was hast du denn gedacht? Dass du hierherkommen und alles einfach mal weghauen kannst? Lösche mal dein verwirrtes Hirn und spiele ein anderes Programm auf. Zeige dir und uns, dass Tennis Spaß macht. Dann wirst du auch wieder um Lichtjahre besser spielen können. Wir sind in Wimbledon und du bist gerade mal achtzehn geworden. So what? Los, geh zurück auf den Platz und lach mal wieder.“

Dann hielt ich ihm meine Hand hin. Er schlug ein und ich musste ihn anschließen noch umarmen. Er sollte spüren, dass ich dennoch hinter ihm stehe.

Bei Justin hätte ich jetzt gewusst, was passieren würde. Justin würde seinen Zorn auf jeden Ball bringen und sich komplett austoben. Aber bei Fynn war ich mir überhaupt nicht bewusst, was jetzt passieren könnte.

Er lag hoffnungslos mit 0:2 Sätzen hinten und hatte bislang überhaupt kein Bein an die Erde bekommen. Mal schauen.

Auf dem Weg zurück zur Box dachte ich über mein weiteres Vorgehen nach. Sollte ich Dustin jetzt das Feld allein überlassen oder einfach normal weitermachen?

Als ich wieder auf meinem Platz ankam, lief das Match bereits wieder im dritten Satz und meine Augen sahen auf dem Scoreboard ein 1:0 für Fynn. Er hatte seinen Aufschlag durchgebracht und hatte gerade sogar einen Breakball. Das war ein positiver Beginn.

Und dieser Breakball entwickelte sich zu einem Wendepunkt in diesem Match. Fynn spielte wie ein anderer Mensch. Er machte wieder instinktiv die richtigen Entscheidungen auf dem Platz und begann tatsächlich zu spielen. Er konnte den Spaß am Spiel wiederfinden. Das machte mir ein unglaubliches Glücksgefühl. Er hatte begriffen, warum er hier auf dem Platz stand. Jetzt war es mir vollkommen egal, welches Ergebnis am Ende stehen würde. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und feuerte Fynn nur noch euphorisch an. Er sollte es genießen und als Erfahrung mitnehmen.

Und was sollte ich sagen, Humbert machte den Fehler, dass er das Match wohl bereits für sich abgehakt hatte. Er fing an, fahrlässig Punkte abzugeben und damit baute er Fynn natürlich wieder auf.

Fynn begann, das Spiel einfach zu spielen. Von Punkt zu Punkt und jeden Ball, den er für sich verbuchen konnte, feierte er wie einen Matchball. Er pumpte sich auf und zeigte jetzt auch, dass er das Spiel beherrschte und ebenbürtig war.

Mir war natürlich bewusst, ein 0:2 Satzrückstand war eine große Hypothek, aber gerade auf Rasen war das möglich umzudrehen.

Es wurde ein richtiger Fight, auch auf hohem Niveau, als Fynn tatsächlich auch den vierten Satz mit 6:4 gewonnen hatte. Die Zuschauer tobten und feuerten Fynn als Underdog stark an.

Meine größte Sorge lag in der Dauer des Spieles. Wir hatten vor dem Beginn des fünften Satzes bereits dreieinhalb Stunden gespielt. Das würde also auch sehr viel Kraft kosten.

Was mir überhaupt nicht aufgefallen war, Justin hatte in der Satzpause vor dem fünften Durchgang unsere Box verlassen und kam gerade zurück. Er hatte für jeden ein Magnum dabei und reichte mir ein weißes.

„Oh, das ist cool, danke. Genau das habe ich gebraucht“, lachte ich.

„Wir können doch nicht verantworten, dass unser Drache das Match nicht durchhält, weil die Nervennahrung alle ist“, grinste Justin.

Jan, der mittlerweile seit dem vierten Satz wieder bei uns war, setzte noch einen drauf:

„Deine Jungs haben verstanden, dass du ohne Nervennahrung gefährlich sein kannst. Also werden sie dich immer gut versorgen. Gerade, weil es hier deine geliebte Fassbrause nicht gibt.“

Ich verdrehte kurz meine Augen, aber diese kleine Ablenkung tat mir auch gut.

Fynn startete furios. Er begann direkt mit einem Break und lag mit 2:0 im fünften Satz vorn. Meine Gemütslage war aufgewühlt. Ich hatte jetzt ernsthafte Hoffnungen, dass dieses Match noch ein gutes Ende nehmen würde. Trotz meiner Unzufriedenheit über die ersten beiden Sätze.

Beim Stand von 5:3 musste Fynn zum Matchgewinn aufschlagen. Meine Nerven lagen blank und Dustin war schon seit einer halben Stunde kaum noch zu bändigen. Heute hatte ich seine Unruhe laufen lassen. Obwohl ich wusste, dass es Jan tierisch nervte. Aber ich hatte für diesen Randschauplatz heute keine Kraft. Das hätte Jan ja auch selbst regeln können.

Der Blickkontakt zu Fynn vor diesem Spiel ließ mich hoffen. Er wirkte zwar erschöpft nach über vier Stunden Spielzeit, aber er wollte jetzt diesen Sieg. So entschlossen habe ich Fynn selten erlebt. Hoffentlich würde er es nicht übertreiben.

Die Zuschauer hatten diese Situation genau erfasst. Sie blieben zwar sportlich fair, aber die Sympathien lagen klar bei Fynn. Als es dann 30:0 stand, hatte der Schiedsrichter große Mühe, die Zuschauer zur Ruhe zu bekommen. Dann passierte etwas ganz Verrücktes.

Fynn konnte in der Unruhe nicht aufschlagen. Was machte er? Er stellte sich mitten in das Feld und legte seinen Finger auf den Mund und forderte damit die Zuschauer auf, Ruhe zu bewahren. Unglaublich. Aber das half und Fynn schlug danach auch noch ein Ass.

Dieser Punkt zog dem Gegner endgültig den Zahn und Fynn gewann dieses Spiel im fünften Satz nach einem 0:2 Satzrückstand. Bevor ich begreifen konnte, was hier gerade geschehen war, hatte ich eine Dusche mit Wasser bekommen. Justin und Dustin grinsten mich breit an und dann folgte eine innige Umarmung mit beiden Jungs.

Wie gut, dass unser Spieltag damit zu Ende war.

„Ganz ehrlich, Chris“, stöhnte mein Bruder, „ich bewundere dich, wie du dieses Szenario so lange schon aushältst. Wenn Dustin hier abgeht wie ein hungriger Löwe im Käfig, das ist kaum zu ertragen. Aber alle in der zweiten Runde, das ist geil.“

„Ja, ich weiß, das nervt etwas. Aber ich habe heute einfach nicht mehr die Kraft gehabt, Dustin runterzuholen. Du hättest ja jederzeit eingreifen können. Und es zeigt doch nur, dass jeder für jeden einsteht und mitfiebert.“

Dustin stand die ganze Zeit neben mir und im Gegensatz zu früher blieb er ruhig und meinte nur:

„Dann kann ich jetzt bestimmt zu Fynn gehen und ihm gratulieren. Dann kann ich euch nicht mehr so nerven.“

Dabei lachte er befreit und ich zeigte ihm den Daumen hoch.

Eine Stunde später hatte ich mich beruhigt und war gedanklich schon in der Unterkunft. Aber Fynn brauchte noch etwas Zeit, bis er mit allem durch war. Jan wollte schon aufbrechen und ich sollte dann mit Fynn nachkommen. Dass Dustin ebenfalls auf seinen Freund warten würde, war mir klar. Aber Justin würde so früher zur Ruhe kommen können. Entsprechend blieb ich mit Dustin im Players-Bereich zurück und wir warteten auf Fynn. Als letztes war er noch beim Saitenservice und ließ sich für morgen seine Schläger neu besaiten. Auch hier brauchte ich nichts mehr zu sagen. Es gab nur ein kurzes Gespräch, ob er die Härte, wegen des Wetters, ändern sollte.

Diese Dinge nicht mehr organisieren zu müssen, verschaffte mir mehr Freiräume. Das gefiel mir gut. Auch bei den Gegneranalysen vor dem Spiel brachten sich die Jungs viel mehr ein. Sie nutzten ihre gemachten Erfahrungen gut für sich aus.

Und ich achtete nur darauf, dass unsere Abläufe genauso liefen, als ob wir bei einem Future Turnier sein würden. Kein zusätzlicher Aufwand und erst recht kein zusätzlicher Druck.

Ich saß also mit Dustin am Tisch, als mein Handy sich meldete. Am Klingelton erkannte ich, das würde Marc sein.

„Hallo Marc, wie geht es euch in der Schweiz?“

„Hi Chris, uns geht es prima. Auch bei den Jungs ist alles bestens. Und bei euch läuft es ja auch toll. Alle in der zweiten Runde. Das finde ich grandios. Sabine hat jetzt allerdings gemeint, dass wir euch vor Ort unterstützen sollten. Immerhin ist London ja auch eine Reise wert. Aber ich habe darauf bestanden, dass ich zuerst mit dir über diese Idee sprechen möchte. Wäre das gut zu kommen oder würde das den Druck noch erhöhen?“

Ich überlegte nicht lange und natürlich wurde Dustin, der wieder zurück war, neben mir sofort aufmerksam, als er mitbekommen hatte, dass Marc am Telefon war.

„Doch, wenn ihr Lust habt, kommt her. Ich würde es eher als Anerkennung sehen, denn als Druck. Aber ich kann euch nicht sagen, ob wir übermorgen noch im Rennen sind.“

Dustin bekam ein Lächeln in sein Gesicht, als ich das gesagt hatte. Da wusste ich, es war die richtige Antwort gewesen.

Wir besprachen noch die Details und dass sich Marc bei mir melden würde, wenn sie genaue Zeiten für einen Flug hätten. Ich wusste auch, dass ich mich um nichts kümmern musste.

Marc würde auch ein Hotel für sich buchen. Und vermutlich würde er auch alles andere organisieren. Überraschungen inklusive.

„Cool, dass Marc uns unterstützen möchte. Er scheint wirklich Freude an Tennis zu haben“, lachte Dustin.

„Ja, das stimmt sicher, allerdings hat dieses Mal wohl Sabine die Initiative ergriffen. Aber du hast recht, beide verfolgen unseren Weg genauestens. Auch wenn sie mal nicht vor Ort sind.“

Ich hatte noch keine Informationen über den morgigen Spielplan. Es konnte durchaus sein, dass Fynn bereits morgen die zweite Runde spielen musste. Das wäre natürlich nach so einem harten Match heftig. Aber bei einem Grand Slam wurde einem gar nichts geschenkt.

Wir saßen noch im Players-Bereich, als Jan mir per Whatsapp den Plan für den nächsten Tag schickte. Justin und Dustin würden fast parallel spielen. Vermutlich würde aber Dustin früher anfangen können, da er das zweite Spiel nach einem Damenspiel auf Platz dreizehn hatte.

Justin hatte das zweite Match auf dem Platz eins, nach dem Spiel von Novak Djokovic. Dass er auf dem zweitgrößten Court spielen sollte, hatte natürlich einen Grund - sein Gegner.

Justin sollte jetzt gegen Casper Ruud spielen müssen. Das war immerhin die Nummer vier in der Welt. Ich war nicht so begeistert, da hier eine klare Niederlage zu erwarten war. Andererseits konnte Justin am ehesten diese Dinge ausblenden und einfach gegen den Gegner spielen. Egal, welche Platzierung er besser war. Und als Außenseiter auf dem großen Platz zu spielen hatte meist zur Folge, dass die Zuschauer den Außenseiter unterstützten. Ich war gespannt, wie Justin nachher mit dieser Situation umgehen würde.

Dustin hatte mit Gael Monfils die absolute Wundertüte als Gegner. Da lagen Genie und Wahnsinn sehr eng beieinander und alles war möglich.

Erfreulich für uns, Fynn brauchte nicht spielen. Er konnte sich einen Tag erholen. Vor allem würde er Maxi unterstützen können. Ich hatte mir überlegt, dass ich morgen Justin betreuen würde. Maxi und Fynn würden bei Dustin am Platz sitzen. Das sollte noch bei der Vorbesprechung heute Abend zum Thema werden. Ich wollte das nicht über den Kopf meiner Jungs hinweg entscheiden.

Marc: Sabine möchte nach Wimbledon

„Schatz, hast du schon eine Buchung für uns erreicht?“, fragte mich Sabine in meinem Büro.

Ich schaute von meinem Computer hoch und musste lachen. Sabine stand vor meinem Schreibtisch und lachte.

„Warum willst du jetzt so plötzlich nach Wimbledon. Ich habe ja den Verdacht, dass du nur einen Grund suchst, um schön in London einkaufen zu können.“

„Blödmann, aber du bringst mich da auf eine Idee. Das kann man bestimmt gut verbinden. Spaß beiseite, hast du noch einen Flug bekommen? Oder müssen wir mit dem Auto fahren?“

„Nein, nein. Das klappt schon. Aber du solltest schnell packen. Wir fliegen schon heute Abend ab Genf um 17:50 nach London Heathrow. Das Hotel habe ich zwar noch nicht fest gebucht, aber ich denke, unser Stammhotel wird uns ein passendes Zimmer zur Verfügung stellen können. Ich warte da noch auf eine Rückmeldung.“

Aufgrund meiner Zeit bei Audi hatte ich immer noch gute Verknüpfungen. Unser Hotel in London war ein schönes, historisches Gebäude mit einem gemütlichen Charakter. Dort hatten wir unsere Ruhe und wurden nicht von der Presse belästigt. Ich ging davon aus, dass wir dort auf jeden Fall einchecken konnten. Auch so kurzfristig.

„Was ist mit Luc und Stef? Können sie auch kommen oder müssen sie arbeiten?“

„Das könntest du mal abfragen. Ich war jetzt nicht davon ausgegangen, dass du das auch möchtest. Gibt es eigentlich einen Grund, warum du jetzt die Familie nach Wimbledon schicken möchtest, außer dem Turnier?“

Ihr Blick sagte mir sofort, dass es für sie einen Grund gab. Aber ich sollte klugerweise jetzt nicht weiter fragen. Sie hatte jedenfalls einen Plan. Und wie ich bald feststellen musste, hatte sie sogar Mick und Lukas nach London eingeladen. Irgendetwas war mir entgangen. Dass meine Frau so einen Aufwand betrieb, musste einen triftigen Grund haben. Vor allem so kurzfristig.

Ich saß noch in meinem Büro, als mein Handy klingelte. Mick rief mich an.

„Hallo Papa, wie geht es euch?“

„Hallo Mick, uns geht es gut. Nur denke ich die ganze Zeit darüber nach, was ich übersehen oder vergessen habe. Warum will Sabine jetzt so plötzlich alle nach London holen? Hast du da eine Idee?“

„Ja, diese Frage haben wir uns auch schon gestellt. Wir sind genauso ratlos wie du. Aber Lukas meint, dass wir auf jeden Fall fliegen und Sabine diesen Wunsch erfüllen sollten. Sie wird ganz sicher einen guten Grund dafür haben.“

„Ja, das ist sicher eine kluge Haltung. Ich werde mich auch nicht mit ihr darüber streiten und mich einfach mal überraschen lassen, was ihr Plan ist. Also ihr kommt auch?“

„Ja, genau. Wir fliegen auch heute Abend direkt nach Heathrow. Vielleicht treffen wir uns am Flughafen oder was meinst du?“

„Ja, wir werden um 16:50 von Genf abfliegen und 18:30 in Heathrow landen. Ich habe bereits für alle in unserem Stammhotel angefragt. Ich gehe davon aus, dass wir dort auch so kurzfristig einchecken können. Luc und Stef werden hoffentlich auch aus München raus können. Ich werde gleich mit Sabine sprechen, ob sie mit Karl schon telefoniert hat.“

In diesem Moment betrat Sabine erneut mein Büro und ich bat Mick einen Moment zu warten.

„Hast du mit Karl telefoniert?“, fragte ich sie.

„Natürlich habe ich das und Karl hat Luc dafür sofort grünes Licht gegeben. Also die Familie Steevens wird komplett in Wimbledon antreten.“

Dabei hatte sie ein Lächeln im Gesicht, das mir zeigte, wie wichtig ihr diese Aktion sein würde.

„Sehr schön, dann warte ich noch auf die Antwort vom Hotel.“

Ich widmete mich jetzt wieder Mick am anderen Ende der Leitung.

„Also dann sehen wir uns heute Abend in London. Treffen ist am Flughafen und von dort geht es dann gemeinsam ins Hotel. Abendessen im Hotel. Ich bin mal gespannt, was Sabine alles in ihrem Kopf vorbereitet hat. Das dürfte jedenfalls sehr spannend werden.“

Mick lachte am anderen Ende und wir beendeten damit unser Gespräch. Sabine hatte das Büro bereits schon wieder verlassen. Und ich sollte jetzt auch meine Tasche packen, damit wir in Ruhe das Haus verlassen konnten.

Eine Stunde später hatte Sabine im Garten einen Tee vorbereitet und wir saßen dort am Tisch, als ich eine Nachricht aus London erhielt. Das Hotel bestätigte unsere überfallartige Buchungsanfrage und freute sich über unsere Ankunft. Sie würden den Transfer vom Flughafen organisieren. Also wie immer ein verlässliches Hotel.

Sabine gab das enorme Beruhigung. Sie lehnte sich zurück und atmete befreit auf. Es musste ihr sehr wichtig sein, dass ihr Plan aufging.

„Bevor du dir Gedanken machst, ich habe mit Jan und Chris bereits Kontakt aufgenommen und sie informiert, dass wir nach London kommen. Wir werden heute Abend gemeinsam im Hotel zu Abend essen. Das Hotel habe ich auch gebeten, uns entsprechend Platz vorzubereiten. Wir werden immerhin dreizehn Personen sein.“

„Okay, ich sehe schon, du hast alles im Griff und ich kann mich zurücklehnen. Aber was der Grund für diesen spontanen Aufwand ist, verrätst du mir sicherlich nicht, oder?“

„Nein, natürlich noch nicht. Das erfahrt ihr noch frühzeitig in London.“

War ja klar. Sabine blieb ihrer Linie treu.

Als wir später in unser Flugzeug stiegen, war Sabine bestens gelaunt und darüber wunderte ich mich schon etwas. Aber ich wusste ganz genau, ich sollte ihr einfach die Führung überlassen und abwarten. Umso mehr war ich gespannt auf das Auftreten des Break-Point-Teams in Wimbledon.

Während des kurzen Fluges wurde ich immer ruhiger. Ich hatte mich entschieden, Sabine die komplette Führung zu überlassen und nur einzugreifen, sollte sie mich darum bitten würde.

Als wir gelandet waren, staunte ich über das wunderbare Wetter in London. Keine Wolke am Himmel und angenehme Temperaturen. Mick und Lukas hatten mir geschrieben, dass sie auf uns in einem Café warten würden. Ich hatte Sabine diese Information gezeigt und sie lachte:

„Sehr schön, unsere großen Jungs haben verstanden, wie ich das möchte. Dann lass uns mal schauen, wo das im Flughafen ist. Luc und Stef sind auch bereits im Anflug. Also das läuft doch prima. Welche Zeit hast du denn unserem Hotel gegeben, damit wir abgeholt werden?“

„Keine Zeit, ich soll dem Concierge mitteilen, wenn wir vollständig sind. Es sind nur wenige Minuten Fahrzeit.“

„Perfekt, dann können wir noch in Ruhe einen Tee trinken.“

Sie hakte sich bei mir ein und wir schlenderten mit unseren Taschen durch die große Halle des Flughafens. So entspannt hatte ich meine Frau schon lange nicht mehr erlebt. Und das, obwohl sie ja die Planung quasi allein gemacht hatte.

In Sichtweite des Cafés wurde ich doch etwas unruhig. Ich hatte Mick und Lukas auch schon einige Zeit nicht mehr gesehen und freute mich sehr auf diese Begegnung. Und das auch noch ohne ein Problem lösen zu müssen. Die Vorfreude stieg von Schritt zu Schritt.

Beim Betreten konnte ich die Jungs sofort erkennen. Mick war schon aufgestanden und kam uns entgegen. Sabine umarmte ihn freudestrahlend und auch ich musste meinen Ältesten mit einer innigen Umarmung begrüßen.

„Das ist ja toll, die Familie Steevens ist gleich komplett vereint“, lachte Lukas mit dem Handy in der Hand.

Er hatte schnell ein paar Bilder gemacht.

„Was darf ich euch bestellen? Latte oder etwas anderes?“, fragte Mick.

„Natürlich einen Tee“, lachte ich, „wir sind in England. Da muss man Tee trinken.“

Mick lachte und ging bestellen. Wir setzten uns zu Lukas an den Tisch und als Mick mit dem Tablett zurückkam, fragte Lukas:

„Wann kommen Luc und Stef aus München?“

Ich blickte auf die Uhr und erwiderte:

„Ich hoffe, sie landen in zehn Minuten. Also sollten wir gleich vollzählig sein und können ins Hotel fahren. Ich möchte nicht zu lange hier sitzen. Einen Menschenauflauf am Flughafen brauche ich nicht.“

In dem Augenblick, in dem ich das ausgesprochen hatte, ärgerte ich mich. Ich wusste, dass sich Mick sofort Gedanken machen würde. Seine Erlebnisse aus der Kindheit saßen sehr tief und der Unterschied zu früher, wo er fast panisch wurde; jetzt begann er jeden Menschen in unserer Umgebung zu scannen. Da kam mir eine Idee.

„Wollt ihr Luc und Stef vielleicht in Empfang nehmen und zu uns geleiten? Dann sind sie schneller hier.“

Lukas hatte es begriffen und übernahm die Führung. Er stand sofort auf und erwiderte:

„Gute Idee, Papa. Kommst du mit, Mick?“

Das ließ sich Mick nicht zweimal sagen und beide verließen das Café in Richtung Ankunftsterminal.

„Warum schickst du die beiden los? Wir haben doch Zeit und hätten auf die beiden warten können“, fragte Sabine, als die beiden gegangen waren.

„Weil ich erwähnt hatte, dass ich einen Menschenauflauf vermeiden möchte. Darauf reagiert Mick sehr empfindlich. Es war dumm von mir und ich ärgere mich auch darüber. Daher habe ich Lukas mit Mick losgeschickt.“

Ich erläuterte Sabine die Sachlage und sie hatte Verständnis sowohl für meine Reaktion als auch für Mick.

Zwanzig Minuten später saßen wir komplett am Tisch und Luc hatte mir eine Nachricht von Karl zukommen lassen. Er wünschte uns einen guten Aufenthalt in London und wir sollten Grüße an die Tennisjungs bestellen.

„Wann werden wir auf Chris mit den Jungs treffen?“, fragte mich Luc.

„Heute Abend zum Essen im Hotel. Da werden wir nicht gestört werden. Falls du mit Chris oder den Jungs Kontakt aufnehmen möchtest, wir sorgen für ihren Transfer und sie sollen bitte ab zwanzig Uhr bereit sein.“

„So spät? Damit war Chris einverstanden?“, fragte Stef.

Jetzt mischte sich Sabine ein. Sie erwiderte:

„Ja, wir werden gemeinsam essen und dann den morgigen Tagesablauf besprechen. Um halb elf werden sie wieder aufbrechen. Das würde in Ordnung sein, hat mir Chris bestätigt.“

„Cool, ich freue mich einfach, unsere Freunde wiederzutreffen. Und dann noch im Tennishimmel Wimbledon, hihihi. Wenn das kein gutes Omen ist“, lachte Luc.

Dieses Lachen faszinierte mich auch heute noch. Es erinnerte mich an schwierige Zeiten, aber es war dieses Lachen, das für mich so motivierend gewesen war, hart zu kämpfen und alle Probleme aus dem Weg zu räumen.

Und natürlich hatte unser Hotel sich nicht lumpen lassen und gar nicht erst versucht, alle in einzelnen Zimmern unterzubringen. Wir hatten die große Suite bekommen mit drei großen Schlafzimmern und ausreichend Platz für uns und den möglichen Besuch.

Ich kam gerade aus der Dusche, als Luc mit dem Handy in der Hand vor mir stand und fragte:

„Ist das Essen ein offizieller Termin und sollen sie Teamkleidung tragen oder ist das ein privater Anlass?“

„Wen hast du denn da am Telefon? Chris?“

„Ja, genau. Er hat dich nicht erreicht und dann mich angerufen.“

Ich nahm das Handy und sprach mit Chris.

„Hallo Chris, bei euch alles gut?“

„Hi Marc, ich hoffe, du bist mit duschen schon fertig gewesen. Hier ist alles gut, nur ist ein wenig Aufregung aufgekommen. Wir hatten nicht mit dem großen Kino gerechnet.“

„Hahaha, ja, sehr gut. Ich auch nicht. Und ich habe noch keine Ahnung, was genau Sabine vorhat. Heute Abend ist es auf jeden Fall ein privates Treffen. Kommt also, wie ihr möchtet. Vielleicht erzählt uns Sabine ja dann bereits, was genau ihr Plan ist.“

Ich konnte trotz der Lockerheit von Chris seine Anspannung fühlen. Chris hatte mit diesen Ungewissheiten noch mehr Probleme als ich. Er wollte immer alles im Plan haben können. Hoffentlich unterschätzte Sabine nicht die besondere Situation.

Aber ich freute mich auf das Wiedersehen und ich musste mir eingestehen, dass ich immer mehr fasziniert war von der Entwicklung der drei Jungs. Mittlerweile konnte ich mir sogar vorstellen, dass einer mal ein großes Turnier gewinnen könnte.

Kurze Zeit später saßen wir im Restaurant an unserem großen Tisch und erwarteten unsere Gäste. Natürlich hatte das Hotel für einen Hol- und Bringservice gesorgt. Also konnte ich mich entspannt zurücklehnen. Sabine meinte mit einem Blick zur Uhr:

„Sie müssten jeden Moment eintreffen. Ich freue mich auf unsere Freunde. Und ich glaube, Luc und Stef freuen sich mindestens genauso.“

Das hatten die beiden natürlich mitbekommen, obwohl sie sich gerade geküsst hatten.

„Worauf du dich verlassen kannst. Das war eine tolle Idee von dir, Mama. Aber ich möchte nicht wissen, was du Karl erzählt hast, dass er mir sofort frei gegeben hat.“

„Das bleibt ganz sicher noch mein Geheimnis. Aber du wirst noch mitbekommen, warum Karl das gemacht hat.“

Das Lächeln in ihrem Gesicht kannte ich. Es musste sich um eine wirkliche Überraschung handeln. Ich sollte mich auf das ganz große Kino einstellen.

Lange nachdenken konnte ich auch nicht, denn unsere Freunde betraten den Raum. Und Jan und Andy waren auch mitgekommen. Das freute mich sehr, denn Andy galt in England als Superstar und Tennislegende.

Entsprechend fiel die Begrüßung doch etwas unterschiedlich aus. Chris und die Jungs umarmten sich innig, während Andy doch etwas zurückhaltender war. Wir hatten uns ja auch noch nicht so häufig getroffen.

Interessanter wurde es dann am Tisch. Andy beobachtete mich genau. Auch als ich mich mit Dustin über ihren frisch gemachten Führerschein unterhielt, hörte er genau zu. Jan sprach mit Sabine und sie stimmten bereits Termine und Zeiten ab. Was da wohl auf uns zukommen würde?

Das Essen war einfach toll. Das Hotel hatte sich ganz hervorragend auf ein sportliches drei-Gänge-Menu vorbereitet. Selbst Jan war positiv überrascht und meinte nach dem Dessert:

„Ich wäre jetzt für einen Kaffee zum Abschluss. Das war echt ein tolles Essen. Vielen Dank für die Einladung. Kennt ihr den Tagesplan für morgen schon?“

„Nein“, antwortete ich, „ich gehe aber davon aus, dass alle morgen spielen müssen.“

„Gut“, meinte Chris, „dann erkläre ich euch den zeitlichen Spielablauf. Dustin beginnt auf Platz dreizehn als zweites Match auf dem Platz. Vor ihm findet ein Damenspiel statt. Das bedeutet, er wird gegen halb eins starten. Justin spielt das zweite Spiel auf Platz eins. Vor ihm spielt Novak Djokovic und das wird länger dauern. Danach geht es zurück ins Quartier und so wie ich Fynn verstanden habe, hat er morgen mit Sabine ein Date. Deshalb ist er nach dem Match von Dustin beurlaubt.“

Okay, dachte ich, was für ein Date? Ich war komplett raus aus der Nummer. Und natürlich nutzte Sabine das aus. Sie setzte noch einen obendrauf:

„Ja, genau. Fynn und ich haben morgen am Nachmittag einen Termin in der Stadt. Und ihr braucht nicht zu fragen. Ich sage dazu noch gar nichts. Die Jungs sollen sich nur auf ihr Tennis konzentrieren. Fynn spielt ja morgen nicht.“

Dustin war genauso überrascht wie Chris und es schien wirklich so zu sein, dass nur Sabine und Fynn genau wussten, um was es ging.

Da sie es uns auch jetzt noch nicht verraten wollten, fragte ich auch nicht weiter nach. Ich wusste, Sabine hatte einen Plan und den wollte ich nicht hinterfragen. Sie würde mich um Hilfe bitten, sollte es notwendig werden.

Wir unterhielten uns noch eine gute Stunde, aber dann wurde es für die Jungs Zeit zurückzufahren. Da gab es noch eine Sache zu klären, die Zugangspässe. Ohne diese Akkreditierung würden wir Chris nicht überall hin begleiten können.

Aber natürlich hatte sich Chris bereits darum gekümmert. Er hatte für die ganze Familie Steevens Ausweise beantragt, die wir morgen auf der Anlage erhalten würden. Typisch Chris, alle wichtigen Dinge, auch neben dem Platz, waren Chefsache.

Was mir aufgefallen war, obwohl wir in einem öffentlichen Bereich saßen, zeigten sich Dustin und Fynn vollkommen ungezwungen offen in ihrer Beziehung. Das gefiel mir immer besser und ich war gespannt, ob es hier im konservativen England noch zu Problemen kommen würde.

Wir hatten eine entspannte Nacht und ich wunderte mich etwas über Luc und Stef. Sie hatten schon beim Frühstück beste Laune. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie wären wieder fünfzehn. Erst nachdem wir alle fertig waren, kam die erste ernsthafte Frage von Luc:

„Was würde eigentlich passieren, wenn einer von unseren Freunden hier in die zweite Turnierwoche kommen würde? Und sei es nur im Doppel.“

Sabine schien von dieser Frage überrascht und ich war etwas genervt. Diese Frage hatte eigentlich keinen Sinn. Luc sollte wissen, bei welchem Turnier wir gerade dabei waren. Aber was mich wunderte, Chris hatte noch nichts von der Doppelkonkurrenz erwähnt.

„Woher weißt du eigentlich schon, dass Dustin und Fynn auch Doppel spielen werden? Chris hat bislang gesagt, Doppel nur bei den kleineren Turnieren, weil die Belastung beim Grand Slam viel höher ist.“

„Ja, ich weiß, Papa. Aber Fynn hat mir gesagt, dass sie hier unbedingt gemeinsam Doppel spielen wollen.“

Auch hier hatte ich den Eindruck, dass das mit der Aktion morgen zu tun haben könnte. Vielleicht hatten Dustin und Fynn hier eine Aktion geplant, die aber noch geheim war. Was mich wunderte, selbst Chris schien nichts von einer solchen Aktion zu wissen. Das war mehr als ungewöhnlich.

Am Eingang hatten sich bereits lange Schlangen gebildet. Und genau das wollte ich vermeiden. Hier jetzt Autogramme zu schreiben war das Letzte, was ich vorhatte. Aber natürlich hatte Chris hier wieder mitgedacht. Ich bekam eine Nachricht, da stand Folgendes drin:

„Hallo Marc, bitte geht zum Eingang Nummer zehn. Dort liegen eure Ausweise bereit und ihr kommt ohne Wartezeit hinein. Kommt dann bitte zu Platz T4. Dort bin ich mit den Jungs. Gruß Chris.“

Es verblüffte mich immer wieder auf ein Neues. Was Chris alles nebenbei im Kopf hatte, war unglaublich. Und auch hier lief alles genau nach Plan. Und nach zehn Minuten stand ich neben Chris auf dem Trainingsplatz und er hatte seinen Jungs auch genug Zeit für die Begrüßung gegeben. Allerdings trainierten Justin und Dustin bereits wieder, als er mich fragte:

„Hast du eigentlich eine Idee, was Sabine und Fynn heute für eine Sache aushecken? Muss ich mir da Gedanken machen? Ich bin mir sicher, dass Luc und Stef doch wissen, was sie vorhaben, oder nicht?“

„Hahaha, nein, ich glaube, da irrst du dich. Das ist eine Sache, die nur zwischen Sabine und Fynn klar ist. Aber ich bin mir sicher, dass Sabine ganz genau weiß, dass Fynn hier zum Tennisspielen ist. Sie werden nichts machen, was seine Performance beeinträchtigen könnte. Ich bin also genauso ahnungslos wie du.“

Das gefiel ihm überhaupt nicht. Ich wusste genau, dass Chris immer die Planungshoheit haben wollte. Gerade während eines Turnieres war ihm das enorm wichtig. Umso stärker empfand ich seine Entscheidung, Fynn das Vertrauen zu geben, diese Aktion zu machen, ohne nachzufragen.

Aber Chris hatte sich weiterentwickelt. Er nahm es einfach hin und vertraute auf Fynn und seine Einstellung. Früher hätte er sich viel mehr verrückt gemacht, weil er nicht wusste, was für eine Aktion hier laufen würde.

Ich konnte spüren, dass sich Chris sofort wieder auf das Geschehen auf dem Platz fokussierte. Auch hier hatte er Fortschritte gemacht. Er gab direkte Kommandos und Korrekturen und nach 45 Minuten beendete er die Session mit den Worten:

„Sehr schön, Bälle einsammeln und dann das übliche Programm. Wir treffen uns in dreißig Minuten im Players-Bereich.“

Sofort nahmen Dustin und Justin ihre Sachen und verschwanden vom Platz. Chris hatte die Balldosen in der Hand und fragte mich:

„Möchtest du zum Turnierbüro mitkommen? Ich muss dort die Bälle abgeben und dann kann ich auch gleich schauen, ob sich am Ablauf noch etwas verändert hat.“

Was ich nicht bemerkt hatte, Luc und Stef waren zu uns gekommen und beide standen hinter mir, als ich Lucs Stimme hörte:

„Können wir auch mitkommen?“

„Klar“, lachte Chris. „Dann lasst uns gehen.“

Auf dem Weg zum Turnierbüro mussten wir durch viele Besucher laufen. Chris ging voran und Luc rechts und Stef links von ihm, als plötzlich drei Jugendliche in Ballkinde-Outfit Chris ansprachen.

Sie waren sehr freundlich und Chris nahm sich Zeit für ein Foto und gab ihnen ein Autogramm. Ich wurde nicht behelligt. Das führte dazu, dass Luc sich köstlich amüsierte.

„Hey Papa, das kam noch nicht oft vor, dass Chris mehr Interesse weckt als du, hahaha.“

Chris war das unangenehm und er sorgte schnell für einen Themenwechsel.

„Ich werde gleich mit Dustin und Justin die letzten Absprachen machen. Dazu wird auch Maxi kommen. Er soll heute Dustin coachen, während ich bei Justin bleibe.“

Ich wunderte mich über den Wechsel.

„Warum tauscht ihr den Coach? Was für einen Grund gibt es dafür?“

„Oh“, antwortete Chris, „du hast die erste Runde verfolgt. Und natürlich habe ich das bewusst gemacht. Justin spielt auf dem Center Court gegen Ruud. Das ist ein vollkommen anderes Kaliber. Ein legendärer Platz mit vielen Zuschauern gegen die Nummer neun der Welt. Außerdem hat Nole vor ihm gespielt. Das wird Justin gut tun, wenn ich da in seiner Box sitze und Maxi kann sich mit Dustin um Monfils kümmern. Außerdem kann Jan bei Dustin die ersten zwei Sätze sitzen, bevor er sich um Andy kümmern wird. Er kennt den Franzosen sehr gut, schließlich hat er ihn eine Zeit lang trainiert.“

„Ich verstehe. Da fällt mir noch etwas ein. Wird hier kein Doppel gespielt? Ich habe jedenfalls kein einziges Doppelmatch im Spielplan gesehen.“

„Doch, doch. Aber die Doppelkonkurrenz beginnt bei den großen Turnieren immer später. Weil es 128er Felder sind, braucht man zu Beginn alle Plätze für die Einzelspiele. Warum fragst du?“

„Naja, ich könnte mir vorstellen, dass Fynn und Dustin sich hier gut zeigen könnten. So oft habt ihr ja noch nicht in England gespielt. Ich glaube, in Brighton war das, oder?“

„Genau, Papa“, meldete sich Stef, „da haben wir sie doch besucht und leider gab es da auch unschöne Sachen.“

Sofort konnte ich bei Chris eine Reaktion erkennen. Er erinnerte sich an diese Geschichte und ich sollte jetzt vorsichtiger sein.

„Ja, das stimmt. Aber dürften Dustin und Fynn denn überhaupt Doppel spielen? Oder würdest du ihnen das verbieten?“, fragte ich nach.

„Verbieten kann ich ihnen das ja eh nicht mehr. Wenn sie wirklich spielen möchten, sollen sie spielen. Ich weiß zwar, Jan würde das gar nicht gern sehen, aber das wäre mir dann egal. Das muss er dann akzeptieren.“

„Cool“

Ich drehte mich zu Luc um, der das gesagt hatte mit einem Grinsen im Gesicht. Da wusste ich, dass das hier bereits in der Planung war und die Jungs schon miteinander gesprochen hatten.

„Du weißt also schon mehr?“, lachte ich.

Luc wand sich etwas. Es schien so, als ob er es zu früh verraten hätte.

„Na ja, eigentlich sollte ich noch nichts verraten, aber ja, Dustin möchte mit Fynn Doppel spielen. Und da ich jetzt eh der Dumme bin, kann ich dir auch erklären, dass sie dort eine Überraschung planen. Aber ihr wisst noch von nichts.“

Jetzt war ich auf Chris‘ Reaktion gespannt. Er mochte es überhaupt nicht, bei einem Turnier in Aktionen, die nichts mit dem Turnier zu tun hatten, nicht eingebunden zu sein.

„Nun gut“, holte Chris Luft, „ich werde dich nicht bloßstellen, aber schmecken tut mir das gar nicht. Sie sollen sich hier auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich gutes Tennis zu spielen.“

„Ja“, erwiderte Luc, „und das wissen sie ganz genau. Sie wissen auch, dass du immer informiert sein möchtest. Aber dieses Mal wirst auch du im Nachhinein erfreut sein und sie haben mir versprochen, dass sie trotzdem Vollgas geben.“

Oh oh, dachte ich. Hoffentlich würde das gut gehen. An dieser Stelle war Chris immer noch sehr sensibel.

Ich entschied mich, das Thema zu wechseln.

„Wann müssen wir wo sein, damit wir dich auf dem Center Court unterstützen können? Und dürfen wir mit in deine Box?“

Chris drehte sich zu mir um.

„Hahaha, guter Versuch, Marc. Aber ist schon in Ordnung. Wir gehen jetzt direkt in den Players-Bereich. Dort findet der Aufruf für die Spieler statt. Soweit ich weiß, ist das Spiel von Nole noch nicht beendet. Wir müssen also noch etwas warten. Und da Jan und Maxi bei Dustin sind, können noch vier Personen bei mir sitzen. Zwei sollten zu Dustin gehen. Das wäre mir auch generell sehr lieb, damit er auch Unterstützung bekommt.“

Sabine hatte sich schnell entschieden.

„Ich gehe mit Luc und Stef zu Dustin. Mick und Lukas waren noch nicht bei einem so großen Turnier dabei. Fynn wird ja bestimmt auch noch bei uns sein.“

Fünf Minuten später standen wir im Players-Bereich und ich schaute mich um. Ich konnte einige bekannte Gesichter erkennen. Wir waren in dem Bereich, in dem die Spieler für die großen Plätze auf ihren Aufruf warteten. Natürlich mit ihren Trainern und Betreuern.

Nach wenigen Minuten konnte ich etwas Unruhe spüren. Chris unterhielt sich mit Justin. Während Luc und Stef auffallend bei mir blieben.

„Ich glaube, Papa“, meinte Stef, „einige Spieler haben dich erkannt. Ich bin gespannt, ob sie dich noch um ein Autogramm bitten werden. Hihihi.“

Das passierte nicht, aber nach wenigen Minuten konnten wir über einen Lautsprecher hören, dass sich Dustin bereitmachen sollte.

Chris umarmte Dustin und wünschte ihm ein gutes Match. Ich schloss mich dem an und schlug mich mit Dustin ab.

Luc und Stef verabschiedeten sich von Chris und Justin. Sie gingen dann mit Sabine und Fynn zu Dustin. Auch Fynn gab Justin noch die Faust, danach verließen auch sie dann diesen Bereich. Wir würden uns später wieder zusammenfinden.

Justin: Was für eine Atmosphäre

Nach dem Aufruf stand ich jetzt im Tunnel zum Center Court von Wimbledon. Ich versuchte mich nur auf den Gegner und das kommende Match zu konzentrieren, aber ich konnte diesen Moment nicht ausblenden. Ich würde gleich das berühmteste Tennisstadion der Welt betreten, in dem Namen wie Sampras, Borg, McEnroe, Federer und Djokovic bereits Titel geholt hatten. Und ich würde gleich gegen die aktuelle Nummer neun der Welt spielen. Einfach aufregend und leider stieg mein Puls noch mehr an, als mir ein Offizieller sagte, dass ich jetzt den Platz betreten dürfe.

Caspar Ruud stand fünf Meter von mir entfernt und wartete auf sein Go von der Turnierleitung.

Diesen Augenblick aus dem Tunnel hinaus auf den Platz werde ich nicht vergessen. Die Zuschauer klatschten freundlich für mich. Ich stellte meine Tasche neben meinen Stuhl. In Wimbledon gab es nur Stühle für die Spieler und keine Bänke. Erst als ich auf diesem Stuhl saß, konnte ich mich umschauen und die Atmosphäre aufnehmen. Ich bekam wirklich eine Gänsehaut. Aber als ich Chris in der Box erkannte, beruhigte ich mich wieder.

Chris hatte mir mit seinem Lächeln und einem ruhigen Kopfnicken so viel Beruhigung gegeben, dass ich mir sicher war, jetzt konnte ich auch Tennis spielen, ohne vor Ehrfurcht zu erstarren.

Mein Gegner hatte mittlerweile auch den Platz betreten und seine Tasche abgestellt. Der Schiedsrichter erwartete uns bereits am Netz zur Platzwahl. Er erklärte uns noch einmal die Matchmodalitäten und dann begann die Wahl. Ich hatte gewonnen und wollte mit Aufschlag beginnen.

Der Norweger begrüßte mich freundlich, wünschte mir ein gutes Match. Ich erwiderte das genauso freundlich und dann begann die Einschlagzeit.

Nach der Ansage des Schiedsrichters „two minutes“ begann ich mit Aufschlägen. Ich ließ mir die Bälle zuwerfen und schlug mit lockerer Bewegung die Bälle ins Feld. Dann erfolgte das „Time“ und ich ging noch einmal zu meinem Stuhl und nahm einen Schluck zu trinken. Auf dem Weg zurück warf mir ein Balljunge zwei Bälle zu und als ich an der Grundlinie bereit stand, folgte das „Ready, play!“ vom Schiedsrichter.

Jetzt spielte ich mein erstes Match auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Was für ein Gefühl.

Und der erste Punkt ging durch einen Service Winner an mich. Das gab Sicherheit. Auch mein Gegner begann nicht sonderlich aggressiv. So plätscherte das Spiel bis zum 3:3 vor sich hin. Jeder konnte ziemlich souverän seinen Aufschlag gewinnen.

Bei 3:3 schlug ich erneut auf und zum ersten Mal rückte er seinem Return ans Netz nach. Ich war darauf nicht vorbereitet und schnell gingen die ersten beiden Punkte an Rune. Jetzt spürte ich den Druck in meiner Brust und wollte am liebsten noch härter und schneller servieren. Mit einem Blick zu Chris wusste ich, dass das fatal wäre. Er forderte mich auf, ruhig zu bleiben und einfach weiterzumachen.

Ich konnte das Break verhindern und lag 4:3 vorn. Beim folgenden Seitenwechsel machte Chris deutliche Hinweise, jetzt mutiger zu spielen. Ich war irritiert. Erst nach einigen Augenblicken des Nachdenkens konnte ich ihm folgen.

Und tatsächlich, sofort nachdem ich zwei Punkte gemacht hatte, wachte das Publikum auf und witterte eine Überraschung. Ich wurde gepusht und dann tauchte ich in einen Tunnel ab.

Aus dem Tunnel wachte ich auf, als ich auf meinem Stuhl saß und auf das Score Board schaute. Dort stand Boulais 6 - Rune 4. Damit hatte ich den ersten Satz gewonnen, fühlte mich unfassbar stolz und fieberte dem zweiten Satz entgegen.

Chris blieb äußerlich ruhig wie immer. Das war wie eine Warnung an mich. Ich wusste das, Chris hatte es uns oft genug gesagt. Jetzt nicht ausruhen und denken, es ginge so weiter.

Allerdings hatte ich jetzt die Bestätigung, dass wir nicht mehr weit weg waren von den ganz großen Namen. Ich konnte zumindest einen Satz schon mithalten.

Das Publikum strahlte eine gewisse Unruhe aus. Teilweise konnte ich sogar die Gespräche auf der Tribüne hinter mir hören. Das irritierte mich.

Chris hatte ein gutes Gespür für die Situation und fing an, mit mir zu kommunizieren. Damit musste ich meinen Fokus auf ihn lenken und die Ablenkungen durch das Publikum waren plötzlich nicht mehr da. Erst das „Time“ des Schiedsrichters holte mich wieder in das Spiel zurück. Chris hatte mir klargemacht, dass ich nichts verändern und einfach nur hoch konzentriert weiterspielen sollte.

Das Verrückte, obwohl ich genau das tat, hatte ich das Gefühl, dass mir das Spiel aus den Fingern glitt. Mein Gegner machte einfach keine Fehler mehr und Punkt um Punkt, ohne dass ich das Gefühl hatte, schlecht zu spielen. Ich war ratlos.

Als ich beim Stand von 0:5 vom Stuhl zu Chris schaute, wirkte er entspannt und auch nicht unzufrieden. Was war hier los? Aber nach einer kurzen Geste der Beruhigung fing Chris an, mir zu signalisieren, aggressiver zu werden. Mehr ins Risiko zu gehen und einfach mal auf den Ball gehen. Also eigentlich genau das, was wir bisher nicht machen wollten. Aber eigentlich war es genau das, was mir am meisten Freude bereitete. Attacke und meine Wut auf den Ball bringen.

Und siehe da, ich konnte sogar ein Break machen und mein folgendes Aufschlagspiel gewinnen. Der zweite Satz ging dann aber mit 6:2 an Ruud. Aber ich wusste jetzt, ich musste über das normale Limit gehen, wenn ich eine Chance haben wollte.

Der dritte Satz verlief wieder ausgeglichener und ich erhöhte den Druck auf den Norweger. Er sollte weniger Zeit haben, sich zu positionieren. Natürlich war das anstrengender als der erste Satz, aber mir wurde bewusst, heute gab es nur ein Ganz oder Gar nicht. Mal sehen, wie sich das weiter entwickeln würde. Jedenfalls verlor ich mit jedem weiteren Spiel die Angst, Fehler zu machen. Das Spiel machte richtig Spaß. Leider reichte es nicht zum Satzgewinn und ich verlor knapp mit 5:7. Aber ich war nicht mehr so ratlos wie im zweiten Satz.

In der Satzpause nahm ich zum ersten Mal wieder die Zuschauer wahr. Ich wurde richtig gepusht und das half mir, meine müden Beine nicht so zu spüren. Diese drei Sätze waren anstrengend gewesen und ich ahnte bereits jetzt, dass es heute noch nicht für mich reichen würde.

Ruud spielte es einfach routiniert zu Ende und gewann verdient mit 6:3 im vierten Satz. Ich war enttäuscht, klar, aber auch stolz, hier spielen zu dürfen. Auf dem berühmtesten Center Court der Welt, gegen einen Top zehn Spieler.

Beim Handshake am Netz bekam ich von meinem Gegner auch anerkennende Worte zu hören.

„Hey, du bist für dein Alter schon richtig gut. Mach weiter und ich bin sicher, von dir werde ich noch viel hören. Außerdem hast du mit Jan und Chris eins der besten Trainerduos überhaupt. Ich bin froh, gewonnen zu haben. Du hast mich gefordert. Respekt.“

Das tat mir gut, aber es tat dennoch weh, verloren zu haben. Aber Chris stand in seiner Box und applaudierte. Also war meine Leistung in Ordnung. Ich war jetzt auf die Nachbesprechung gespannt.

Als wir gemeinsam den Platz verließen, bekam ich noch einmal Gänsehaut. Das Publikum verabschiedete uns mit viel Applaus und am Ausgang musste ich ebenfalls noch einige Autogramme schreiben. Das war immer noch ein komisches Gefühl.

In der Umkleide nahm ich mein Handy heraus und dort waren bereits etliche Nachrichten eingegangen. Auch aus unserer WG in Halle. Unsere Freunde hatten das Spiel verfolgt und gaben mir Unterstützung. Nicht ein Wort der Kritik. Sie versuchten, mich aufzubauen und ganz besonders freute ich mich über eine Nachricht von Carlos. Er hatte mir ein Bild vom Trainingsplatz geschickt. Dort standen alle am Netz und zeigten mir den Daumen hoch. Das war schon cool.

Bevor ich auslaufen ging, hörte ich mir noch die Sprachnachricht von meinem Vater an. Er war sehr stolz auf mich und meine Leistung, trotz Niederlage. Das löste bei mir Gänsehaut aus. Und große Freude.

Draußen beim Auslaufen kam ich an der großen Anzeigetafel vorbei. Dort waren alle aktiv laufende Spiele angezeigt. Auch Dustins Match. Und was ich dort las, ließ mein Herz direkt schneller schlagen. Er hatte tatsächlich den ersten Satz gegen Monfils gewonnen. Und aktuell lag er sogar im zweiten Satz mit einem Break vorn.

Obwohl ich versucht war, direkt zu Dustin an den Platz zu gehen, spulte ich mein Programm normal ab. Als ich zurück in der Umkleide war und mein Handy erneut in die Hand nahm, waren wieder einige Nachrichten eingegangen. Auch wieder aus Halle. Dort verfolgte man live das Spiel von Dustin und ich konnte die Euphorie spüren.

Chris hatte mir allerdings auch eine Nachricht geschrieben. Dort bat er mich, auch im Turnierbüro vorbeizugehen und mir den Preisgeldscheck abzuholen. Daran hätte ich jetzt ganz sicher nicht gedacht. Es waren ganz andere Gedanken, die mich gerade beschäftigten. Aber natürlich folgte ich Chris‘ Bitte und ging ins Turnierbüro. Dort war viel los und ich musste sogar etwas warten, bis ich an der Reihe war.

Aber trotz aller Hektik, die junge Dame war sehr freundlich zu mir und holte auch direkt den Scheck aus dem Tresor. Als ich den Raum verlassen hatte, schaute ich das erste Mal auf den Scheck. Die Zahl, die ich dort las, ließ mich staunen. 85 000 Pfund Sterling stand dort. Das war ein riesiger Betrag für mich. Und ich hatte in der zweiten Runde verloren. Im Kopf überschlug ich diese Summe in Euro. Das müssten fast 100 000 Euro sein. Das war sehr viel Geld für mich.

Deshalb steckte ich das Papier und in die Tasche und schaute auf dem Handy nach, ob Dustin noch spielte. Und das tat er. Sein Spiel befand sich gerade zu Beginn des vierten Satzes. Ich beeilte mich, dorthin zu kommen. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, mit Chris zu sprechen. Klar, das würde während des Spiels schwierig werden, aber ich wollte bei meinen Freunden sein.

Als ich bei Dustin am Platz ankam, tobten die Zuschauer. Dustin führte mit 2:1 nach Sätzen und Monfils schien angezählt. Innerhalb von fünf Minuten hatte er sich zweimal mit dem Schiedsrichter angelegt und beim dritten Mal verlor der Schiedsrichter die Geduld und verwarnte Monfils. Hier drohte das gerade zu eskalieren. Jan, Marc und Chris saßen am nächsten am Platz. Die anderen hatten sich dahinter platziert und boten mir einen Platz an.

Fynn saß vorn neben Chris und ich konnte die Anspannung in seinem Körper deutlich erkennen. Umso überraschter war ich, als sich Fynn zu mir umdrehte und mich sofort zu ihnen bat. Ich sollte mich neben Chris setzen. Das tat ich natürlich gern. So konnte ganz nah am Geschehen sein. Aber in dieser Situation hatte Chris gerade keine Zeit für mich. Maxi und Jan hatten bislang das Coaching von Dustin gemacht. Aber jetzt war eindeutig Chris gefragt. Dustin lief Gefahr, sich mit Monfils auf dem Platz anzulegen. Also genau in diese Falle zu laufen, die der Franzose gerade aufbaute.

Für Fynn war diese Situation auch nicht einfach, denn der Franzose fing an, auch Beleidigungen gegen Dustin auszuspucken. Und das auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Monfils war halt ein völlig durchgeknallter Typ, der immer für Überraschungen gut war. Sowohl positive wie auch negative.

„Du gehst nirgendwo hin“, hörte ich plötzlich Chris sehr bestimmend sagen und legte Fynn seine Hand auf die Schulter. Ich glaubte, Fynn hatte vor, auf den Platz zu gehen und seinem Freund beizustehen. Das war natürlich vollkommen unmöglich und würde mit Sicherheit ein riesen Skandal auslösen.

Die Reaktion des Publikums war mittlerweile gekippt und der größte Teil stand jetzt hinter Dustin. Und dann betrat der Supervisor den Platz. Gespielt wurde bereits seit einigen Minuten nicht mehr. Er ging zum Schiedsrichter und er sprach einige Sätze mit dem Unparteiischen, dann folgte eine Ansage des Stuhlschiedsrichters. Er beendete das Spiel und erklärte Dustin zum Sieger. Monfils wurde wegen unsportlichen Verhaltens disqualifiziert. Ohne eine weitere Verwarnung oder Punktabzug. Monfils rastete jetzt komplett aus und beleidigte sowohl den Schiedsrichter als auch den Supervisor. Erst als plötzlich drei Security-Mitarbeiter den Platz betraten, packte der Franzose seine Sachen und verließ wortlos den Platz. Was für ein Vorgang!

„So, Fynn. Jetzt hörst du mir genau zu. Du kannst jetzt zu Dustin in die Umkleide gehen. Aber sollte irgendetwas nicht normal laufen, rufst du mich sofort an. Darüber möchte ich nicht diskutieren. Ich will hier keinen weiteren Skandal haben. Das reicht für die nächsten Wochen.“

„Du lässt den Jungen jetzt allein dorthin gehen?“, fragte Sabine vorsichtig nach.

Bevor Chris reagieren konnte, sagte Marc:

„Vollkommen richtige Entscheidung. Da wird nichts passieren. Selbst wenn ihm Monfils begegnen sollte. Du kannst beruhigt sein, Schatz. Chris weiß genau, was er macht.“

Chris nickte ihm dankend zu und schon war Fynn verschwunden.

Jetzt drehte sich Chris zu mir um und mit einer Umarmung meinte er:

„Hey, das war ein sehr gutes Match von dir. Heute war das noch nicht zu gewinnen, aber du hast dich gut verkauft und gezeigt, dass da nicht mehr viel fehlt. Vor allem fehlen dir solche Matches auf diesem Niveau. Aber das wird kommen. Du musst dich nicht ärgern. Wie fühlst du dich gerade?“

„Danke, es geht so. Ich bin schon etwas enttäuscht, aber heute war nicht viel mehr drin. Eigentlich bin ich mit meinem Spiel zufrieden. Mein Return ist auf Rasen noch nicht so gut. So hat er mich auch bei meinem Service oft in Bedrängnis gebracht. Aber es war ein geiles Erlebnis, hier zu spielen. Und Ruud hat mich nach dem Spiel noch gelobt. Er meinte, dass wir uns mit Sicherheit noch häufiger begegnen werden. Das wäre schon cool, wenn wir uns hier fest integrieren könnten. Was denkst du zu meinem Spiel? Und ach, bevor ich das vergesse, ich war auch im Turnierbüro und habe das hier bekommen.“

Ich zog den Scheck aus meiner Tasche und reichte ihn Chris. Als er realisierte, um was es sich dabei handelte, fing er an zu lachen:

„Hahaha, sehr gut mitgedacht. Ich werde ihn sicher verwahren und dann wird dir das Geld überwiesen. Das wird wohl das höchste Preisgeld deiner bisherigen Laufbahn sein, oder?“

„Auf jeden Fall. Ich war schon etwas geschockt über die Höhe. Vielleicht kann ich mir ja davon dann mein erstes Auto kaufen.“

„Hahaha, das kannst du bestimmt. Es sei denn, du willst dir gleich einen Supersportwagen kaufen. Aber ein schönes Fahrzeug für den Anfang sollte es auf jeden Fall sein können. Aber würdest du das hier in Deutschland fahren oder lieber in Kanada stehen haben?“

„Boah, keine Ahnung, Chris. Da hoffe ich auf deine Unterstützung. Was da sinnvoll ist. Aber es eilt ja nicht. In Deutschland kann ich ja eh erst mit achtzehn fahren. Außerdem muss ich davon einiges ans Team und die Steuern abgeben.“

Chris: Dustins Spiel hallt nach

Mittlerweile hatten wir den Platz verlassen und hatten die Players-Area erreicht. Jan hatte sich zum Training mit Andy verabschiedet. Marc hatte die Idee, einen Tee zu bestellen. Damit er keinen Auflauf auslöste, hatte sich Maxi bereiterklärt, die Bestellung aufzugeben.

In dieser Zone hatten vor allem Pressevertreter und Zuschauer keinen Zutritt. Allerdings bekam ich von Jan eine Whatsapp-Nachricht, in der er mir mitteilte, dass es einige Interviewanfragen für Dustin gab. Natürlich hatte die Disqualifikation von Monfils großen Medienwirbel ausgelöst. Aber Dustin war noch im Turnier und ich wollte, dass er seine Ruhe hatte. Was wäre hier zu vertreten? Ich war unsicher.

Zuerst wollte ich mit Dustin sprechen und mir einen Eindruck von seinem Gemütszustand verschaffen. Und das antwortete ich auch Jan. Also momentan würden wir uns dazu nicht äußern wollen.

Innerhalb weniger Minuten bekam ich von Jan einen Daumen hoch als Bestätigung. Das beruhigte mich.

Plötzlich legte mir Maxi sein Handy auf den Tisch und meinte:

„Hier, schau dir mal das Doppeltableau an. Das wird lustig.“

Ich nahm das Handy und scrollte durch das Tableau. Als ich die Auslosung sah, musste ich lachen.

„Das kann ja nicht sein. Ausgerechnet gegen Monfils und Mahut. Na, das kann ja lustig werden.“

Alle anderen am Tisch schauten mich verwundert an. Marc fragte nach:

„Was hast du dir denn gerade angeschaut?“

Maxi erwiderte:

„Das ist die Auslosung für das Doppel. Dustin und Fynn müssen gegen Mahut und Monfils spielen.“

Marc fing an zu schmunzeln, während Sabine richtig geschockt wirkte. Marc meinte:

„Ich glaube nicht, dass dieses Spiel stattfinden wird. Monfils ist disqualifiziert worden. Das sollte für das gesamte Turnier gelten. Entweder kommt da noch ein anderes Duo rein oder die Jungs werden das ohne Spiel gewinnen. Sollte der Veranstalter das anders entscheiden, werde ich mich dazu öffentlich mit der englischen Presse unterhalten. Ich glaube nicht, dass der Veranstalter das möchte. Wer sich so daneben benommen hat, gehört nicht in ein Turnierfeld.“

Ich hatte es befürchtet. Da würde Marc mit seinem Gerechtigkeitsgefühl eingreifen. Ob das klug wäre, da war ich mir gerade nicht sicher.

Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erhielt ich von Jan ebenfalls eine Whatsapp-Nachricht.

„Doppel gegen Monfils und Mahut wird nicht stattfinden. Der Veranstalter hat sich bereits bei mir dazu gemeldet. Es wird vermutlich eine Nachrückerpaarung sein. Also kein Stress und entspannt euch. Wir sehen uns nachher in der Unterkunft.“

Ich bekam gerade eine Gänsehaut und musste mich einmal schütteln. Dass Jan sofort an mich und die Situation gedacht hatte, überwältigte mich einfach.

Sabine hatte es bemerkt und sie kam neben mich, legte ihren Arm um mich und meinte ruhig:

„Komm, lass uns den Tee in Ruhe genießen. Wir sind alle hier und das wird gut werden.“

„Ja“, stimmte ich zu, „das wird gut werden. Wie Jan gerade da mit mir umgegangen ist, das war emotional für mich. Ich glaube jetzt wirklich, er hat mich verstanden und akzeptiert. Früher hätte er nicht darauf reagiert. Zumindest nicht jetzt und per Whatsapp.“

Für einige Minuten saßen wir am Tisch und Marc erzählte uns von seinem neuesten Projekt. Er plante mit einem historischen Sport-Quattro eine historische Rallye. In der Schweiz durch die Alpen. Also auch über Alpenpässe fahren. Auf Zeit. Die Akustik in den Bergen würde mich schon reizen.

Dann kam Dustin mit Fynn zurück zu uns an den Tisch. Dustin wirkte relativ ruhig. Fynn war angespannt. Das beunruhigte mich. Ich ließ es aber so laufen. Sie sollten bestimmen, was sie mir in welcher Situation erzählen wollten.

Zumal jetzt Sabine mit Fynn zu ihrem Termin aufbrechen wollte. Fynn war, wie zu erwarten war, nicht bereit gewesen, schon während Dustins Spiel in die Stadt zu fahren. Sabine hatte das zwar nicht so gut gefallen, da sie wohl jetzt einen Termin verschieben musste, aber eigentlich sollte das klar gewesen sein.

Als die beiden gegangen waren, fragte Justin jetzt:

„Was ist eigentlich so wichtig, dass die beiden jetzt losgehen und vor allem Dustin nicht mitgehen kann? Irgendwie finde ich das seltsam.“

„Hihihi, ja“, lachte ich, „das ist seltsam, aber es ist halt so. Wir dürfen es noch nicht wissen, was sie da vorhaben. Wobei ich glaube, dass wir das noch rechtzeitig mitbekommen werden. Mein Gefühl sagt mir, dass wir nicht mehr lange warten müssen.“

Marc wollte das jetzt nicht weiter vertiefen. Er wechselte schnell das Thema.

„Ist eigentlich schon klar, wann Fynn morgen spielen muss? Und muss Dustin auch spielen oder hat er morgen spielfrei?“

„Ja, für Fynn steht der Gegner mittlerweile fest. Morgen wartet Radot Albot auf ihn. Jan kennt ihn gut, weil er schon mit ihm zwei Jahre gearbeitet hat. Wenn es zeitlich mit Andys Spiel passt, wird also Jan auch die Vorbereitung und das Coaching von Fynn übernehmen. Dustin hat morgen kein Spiel. Justin wird das Einschlagen übernehmen, da er nicht mehr im Turnier ist. Es kann übrigens sein, dass Justin ab jetzt auch für Andy als Hitting-Partner agieren wird. Das werden wir heute Abend im Quartier besprechen.“

„Marc“, fragte Dustin, „wenn du mit dem Sport-Quattro durch die Alpen hämmerst, brauchst du doch einen Beifahrer. Bei einer Rallye wird doch immer mit Beifahrern gefahren. Kann ich mich dafür bewerben oder steht der schon fest?“

„Kaum ist Fynn weg, wird er mutig“, lachte Marc. Ich empfand das auch etwas unpassend, aber auch wiederum lustig. Marcs Antwort ließ mich jedoch aufhorchen.

„Nein, du kannst dich nicht mehr bewerben, weil der Beifahrer bereits feststeht. Ich muss nur noch den Fahrer davon überzeugen, dass er fahren wird. Ich werde nämlich den Beifahrer machen. Ich habe einen Fahrer im Kopf, der das mit dem Auto viel besser kann als ich.“

„Meinst du etwa Walter Röhrl? Du kennst ja auch den Timo von Audi Tradition, vielleicht kann er diesen Deal machen. Damit seid ihr die Topfavoriten auf den Sieg.“

„Ja, Walter wird fahren, aber nicht meinen S2 evo. Er wird mit Christian Geistdörfer einen zweiten S2 evo fahren.“

Ich ahnte jetzt bereits, was Marc in der Planung hatte und ich konnte mich dunkel erinnern, dass er das bei meinem letzten Besuch in der Schweiz erwähnt hatte. Und Dustin hatte schnell geschaltet.

„Vielleicht fährst du ja mit Chris. Er kann auch mit diesem Monster umgehen. Das hat er ja bereits unter Beweis gestellt.“

Marcs Lächeln sprach für sich. Ich sollte mich ernsthaft darauf vorbereiten, dass Marc diese Sache verfolgte, und zwar nicht nur in der Theorie.

„Bevor ihr euren Abend plant“, sagte Marc geschickt ablenkend, „wir würden euch gern zu uns zum Abendessen einladen. Damit sich Jan und Chris auch mal etwas entspannen können. Passt das in den morgigen Ablauf oder würde das heute zu spät werden?“

Ich schaute in den Spielplan und wurde enttäuscht. Er war bislang nur für die großen Showcourts heraus. Aber da nicht vor elf Uhr begonnen wurde, konnte ich das eigentlich zusagen. Ich kannte Marc mittlerweile so gut, dass ich mich um nichts zu kümmern brauchte. Selbst den Transfer in ihr Hotel würde er übernehmen.

„Ich denke, das können wir machen. Ab wann sollen wir bereit sein?“

„Sehr schön, aber du sagst uns bitte, wann wir euch abholen lassen sollen. Wir richten uns nach euch.“

Eine Stunde später waren wir bereits wieder in unserer Unterkunft. Ich hatte einige Medienanfragen zu Dustins Match bekommen, die ich aber allesamt abgelehnt hatte. Zum jetzigen Zeitpunkt wollte ich das einfach nicht. Dustin sollte sich erholen können, ohne zusätzlichen Mediendruck. Das hatte ich mit Jan auch so besprochen und von ihm Rückendeckung bekommen. Ich war der Meinung, dass sich die Medien eher mit dem Franzosen beschäftigen sollten. Auch die ATP war jetzt gefragt. Für mich musste jetzt eine harte Strafe her, da das nicht der erste Ausraster von ihm war.

„Zieht euch bitte heute Abend die Teamkleidung an“, bat ich meine Jungs.

Justin schaute irritiert. Er fragte:

„Ist das ein offizieller Termin? Ich dachte, wir sind nur mit unseren Freunden zusammen.“

„Nein, kein offizieller Termin, aber wir sind bereits im Turnier und dort könnten Presseleute sein oder auch andere Spieler. Ich möchte, dass wir dort korrekt auftreten. Und nein, das hat Jan nicht angeordnet, ich bitte euch darum.“

„Kein Problem, ist eigentlich auch selbstverständlich und außerdem sehen die Sachen ja auch schick aus. Also einmal als Team auftreten. Wie immer eigentlich.“

Justin schaute Dustin an, der das gesagt hatte. Dann mussten wir alle lachen. Mir gab das ein gutes Gefühl, weil hier der Teamgeist wieder so deutlich zu spüren war.

Plötzlich klingelte mein Handy. Auf dem Display stand eine unbekannte Nummer. Eigentlich drückte ich solche Nummern immer direkt weg. Warum ich das heute nicht machte, keine Ahnung, aber es sollte sich als richtig herausstellen, denn unser Fahrdienst war bereits angekommen und bat uns herauszukommen. Ich holte meine Truppe zusammen und dann ging es los.

Dieser Abend verlief wieder sehr erholsam und ruhig. Keine Störungen und es zahlte sich wirklich aus, mit Marc jemanden an der Seite zu haben, der in jeder großen Stadt seine Kontakte hatte. Ein fürstliches Sportlermenu und einige Othello später saßen wir in lockerer Runde nicht mehr im Restaurant, sondern im Clubraum des Hotels.

Was mir hier besonders auffiel, Mick und Lukas wirkten sehr selbstbewusst und abgeklärt. Hier konnte man ihre Erfahrungen deutlich spüren. Luc und Stef wirkten bei bestimmten Situationen noch wie Jugendliche. Genau wie meine Jungs. Jan und Andy hatten sich bereits direkt nach dem Essen verabschiedet. Somit war das für mich fast ein Familientreffen. Auch Fynn wirkte wieder entspannt wie immer. Dennoch wurde sein Ausflug mit Sabine mit keinem Wort erwähnt.

„Ab wann wird die Doppelkonkurrenz gestartet?“, fragte mich Dustin.

„Wenn die zweite Runde komplett gespielt wurde. Dann sind genug Platzkapazitäten vorhanden. Also vermutlich ab übermorgen, wenn es keinen Regen gibt.“

„Okay, und die Auslosung kommt wann?“, fragte er.

„Schau doch einfach mal nach“, lachte ich.

Mit einer leichten Rotfärbung im Gesicht nahm er sich sein Handy und schaute auf der Homepage des Turnieres nach. Ich wusste bereits, dass sie gegen zwei Brasilianer spielen mussten, aber das war für mich noch nicht auf der Agenda. Außerdem hätten sie jederzeit selbst schauen können.

„Rafael Matos und Marcelo Demoliner, zwei Brasilianer“, entfuhr es Dustin.

Fynn nahm natürlich ebenfalls sein Handy heraus und schaute nach der Vita der beiden Brasilianer. Dann kam ein leichtes Lächeln in sein Gesicht.

„Ich glaube, dass hätte uns schlimmer treffen können. Ich will in die zweite Runde.“

„Das wollen wir doch immer, egal gegen wen“, protestierte Dustin.

Ich konnte nicht anders und musste lachen. Da waren die beiden wieder wie zu Beginn unserer Zeit, als sie noch fünfzehn waren. Richtig Kinder. Einfach herrlich.

Fynn musste aber morgen zuerst sein Zweitrundenmatch gegen Radot Albot spielen. Das war ein Moldavier, der sich durch die Qualifikation gespielt hatte und in der ersten Runde durch die Aufgabe seines Gegners in die zweite Runde kam.

„Okay, dann schlage ich jetzt vor, wir verabschieden uns von unseren Freunden und fahren ins Quartier zurück. Morgen wird wieder ein anstrengender Tag für uns.“

Erstaunlicherweise bekam ich kein Wort des Bedauerns oder gar der Kritik. Auch Marc ließ umgehend den Fahrservice aktivieren und so waren wir bald wieder zu Hause und erstaunlicherweise wurde es für mich eine Nacht, in der ich durchgeschlafen hatte.

Auch am nächsten Morgen hatte die Routine alle Abläufe unter Kontrolle. Bis zu dem Zeitpunkt, als es zum Warmspielen auf den Trainingsplatz ging, hatte ich nur die Beobachterrolle und konnte mich in Ruhe auf das Match vorbereiten. Jan musste mit Andy auch heute ein Spiel bestreiten. Natürlich wurde diese Begegnung auf dem Center Court angesetzt. Für mich stand der Platz dreizehn an. Leider ging unser Plan, dass Jan bei Fynn am Platz sein würde, nicht auf. Es ging zeitlich nicht.

Das war zwar ein kleinerer Außenplatz, aber auch dort gab es TV-Kameras. Entsprechend viele Zuschauer saßen immer dort.

Mittlerweile saß ich dort in meiner Box. Die gesamte Familie Steevens saß bei mir. Direkt neben mir hatte Dustin seinen Platz gefunden. Natürlich war aufgeregter als sonst. Das war aber für mich auch absolut in Ordnung.

Allein die Pressevertreter störten mich, da sie genau auf der anderen Seite des Platzes saßen und ich das ständige Klicken der Kameras mitbekam.

Ich wollte gerade mein Handy ausschalten, um mich auf das Match zu konzentrieren, da erhielt ich eine Nachricht von Carlos aus Halle. Ich konnte sehen, dass er Fotos geschickt hatte.

Ich war zu neugierig, um damit bis zum Ende des Spieles zu warten. Als ich die Bilder gesehen hatte, musste ich lachen.

In dieses Lachen kam das „two minutes“ der Schiedsrichterin. Entsprechend irritiert schaute mich Dustin an. Ich zeigte ihm mein Handy und meinte:

„Nur damit du weißt, dass jede deiner Bewegungen heute im TV gesehen werden.“

„Von wem sind die denn gekommen? Die müssen ja drüben auf der anderen Seite sitzen“, fragte Dustin.

„Nein, die sind aus Halle und das ist das TV-Bild. Carlos hat mir die geschickt und wünscht euch viel Erfolg und mir wünscht er gute Nerven. Warum wohl?“

Jetzt musste Dustin auch lachen und zeigte mir den Daumen hoch.

„Okay, wir versuchen, deine Nerven zu schonen, aber es könnte dann passieren, dass wir noch weit kommen könnten. Ob das so gut für dich wäre? Ich weiß ja nicht. Hahaha.“

Eine Stunde später war das Spiel richtig im Gange und ich saß angespannt auf meinem Stuhl. Aber nicht, weil Fynn etwa zurücklag und schlecht spielte, nein gar nicht, es lief mir zu glatt. Fynn hatte bereits den ersten Satz mit 6:2 gewonnen und auch im zweiten Satz lag er mit einem Break und 4:1 vorn.

Aber Justin schien das Match sehr entspannt zu verfolgen, im Gegensatz zu Dustin. Beim nächsten Seitenwechsel stand es 5:2 und plötzlich meinten Sabine und Marc im Chor:

„Wenn sich die Herren mal etwas entspannen könnten. Wir müssen ja Angst haben, dass ihr gleich den Herztod erleidet. Fynn führt und hat das Match komplett unter Kontrolle. Er spielt wie ein ganz Großer und ihr sitzt hier, als ob Fynn zurückliegt. Lacht mal oder seht zumindest zufrieden aus.“

„Jajaja, ihr habt gut meckern“, seufzte ich.

„Ist doch wahr“, lachte Marc, „Fynn führt und hat alles im Griff, zeigt geiles Tennis und ihr seht immer noch nach Niederlage aus. Fynn wird das in drei Sätzen gewinnen.“

Das war eine mutige Aussage, aber eigentlich musste ich ihm zustimmen. Für Dustin wirkte es leider wie eine leichte Provokation. Er holte schon tief Luft. Dem konnte ich direkt entgegensetzen:

„Lass Dampf ab. Marc hat doch recht. Dein Freund zeigt grandioses Tennis und eigentlich müsste ich sogar zustimmen, dass er heute glatt in drei Sätzen gewinnen wird. Wenn wir nicht in Wimbledon wären.“

Was jetzt folgte, hatte ich nicht erwartet. Dustin blies seine Backen auf und fing an zu lächeln.

„Endlich siehst du es mal auch so positiv, wie es tatsächlich ist. Mein Schatz spielt heute einfach richtig geil. Ich kann es auch kaum glauben. Aber vielleicht kann er ja wirklich schon richtig mit den guten Leuten mitspielen. Und wir sind nicht mehr die Underdogs. Aber ich schweige jetzt besser. Aber ein wenig träumen muss auch mal erlaubt sein.“

Mittlerweile hatte Fynn gerade den ersten Satzball zur 2:0 Satzführung und tatsächlich stand es bald 6:3 und wir hatten eine 2:0 Satzführung.

Eigentlich sah das gut aus, aber ich wusste zu gut, dass jetzt ein ganz wichtiger Zeitpunkt in einem Match kam, bei dem sich der Verlauf komplett drehen konnte. Entsprechend direkt folgte meine Ansprache an Fynn, jetzt die Konzentration hoch zu halten.

Hinter mir tuschelten Justin und Dustin. Plötzlich fing Justin an zu lachen und auch Sabine stimmte mit ein. Ehe ich mich versah, herrschte ausgedehnte Fröhlichkeit in unserer Box und ich schien der einzige zu sein, der keine Ahnung über den Grund hatte.

Aber Marc hielt mir sein Handy hin und ich sah ein Foto, bei dem ich auch sofort lachen musste. Er zeigte die WG in Halle und alle saßen mit Martina im Garten vor dem TV und schauten uns zu. Dabei winkten alle mit dem Daumen hoch.

Genau diese einfachen Dinge freuten mich enorm. Der Zusammenhalt auch bei hunderten von Kilometern Entfernung, einfach toll.

Die Satzpause ging zu Ende und alle setzten sich wieder auf ihre Plätze. Jetzt galt es und ich war direkt wieder im Match eingetaucht. Allerdings machte es Fynn nicht anders und startete furios. Wie ein ganz Großer nahm er seinem Gegner direkt den Aufschlag ab und strotzte nur vor Selbstbewusstsein. Jetzt wusste ich, heute konnte nur noch eine Verletzung diesen Lauf beenden.

Und Albot schien zu resignieren. Er musste anerkennen, dass Fynn heute der bessere Spieler war und so gewann er auch glatt den dritten Satz und stand ebenso wie Dustin in der dritten Runde.

Nach dem großen Jubel in unserer Box hatte ich für einen Moment Schwierigkeiten, mich nur auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Aber dann wurde mir bewusst, unsere Aufgabe war noch nicht beendet und somit ging ich sofort in die Vorbereitung für den nächsten Tag.

Zu den beiden Einzeln würde mit Sicherheit auch ein Doppel hinzukommen. Ab jetzt würde es richtig stressig werden. Aber die Jungs wollten Doppel spielen, also war das jetzt eben so.

Ich hatte ja insgeheim gehofft, Jan würde ihnen das ausreden oder gar verbieten, aber er hielt sich komplett aus dieser Entscheidung heraus. Mit einer für mich plausiblen Begründung. Ich sei für die Jungs verantwortlich und außerdem müssten sie diese Erfahrungen einfach selbst machen. Nun gut, dann sollte es jetzt so werden, wie es werden würde.

Allerdings stand jetzt erst einmal der Glückwunsch an Fynn an. Andy spielte bereits und da würde ich auf jeden Fall auch gleich hingehen. Schließlich hatte Jan auch bei mir gesessen. Den Jungs wollte ich das freistellen. Sie sollten selbst entscheiden, wie sie sich entspannen wollten.

Auf dem Weg in die Umkleide begleitete mich Dustin natürlich. Justin war schon mit Maxi zu Andy gegangen. Er hatte auch bereits das Einschlagen mit dem Briten gemacht.

„Na, das läuft doch prima“, freute er sich, „vielleicht geht ja auch noch mehr. Jetzt habe ich jedenfalls richtig Lunte gerochen und sehe, dass wir mithalten können. Oder denkst du, dass unsere Reise jetzt zu Ende sein wird?“

„Hahaha, gute Frage. Nein, das läuft wirklich gut. Ihr habt euch bewiesen, dass ihr auf der Tour angekommen seid. Mittlerweile könnt ihr das Niveau spielen und auch gewinnen. Ich genieße jede weitere Runde mit euch. Aber jetzt müssen wir deinem Freund erst einmal gratulieren.“

Fynn stand wie immer vor der Umkleide und Dustin hielt es nicht mehr aus. Er lief die letzten Meter zu seinem Freund voraus und belohnte ihn mit einem ausgedehnten Kuss. Für mich bedeutete das, ein paar Meter Abstand zu halten. Es sollte ihr Moment sein.

Aber Fynn löste sich von seinem Freund und mit einer Umarmung meinte er zu mir:

„Danke, Chris. Es ist so gut, dich dabei zu haben. So viel Sicherheit habe ich heute gespürt. Ich wusste, ich kann gewinnen und du hast mich immer geführt. So geil ist das.“

„Danke dir. Ja, du hast dich erneut gesteigert und nichts an Schwäche zugelassen. Das war eine großartige Leistung. So macht es viel Freude zuzuschauen. Macht weiter so, dann werden wir sehen, wo es noch hinführen wird. Jedenfalls ist der Weg noch lange nicht zu Ende.“

Beide Jungs schauten mich an und sie zogen ihre rechten Augenbrauen hoch. Dann folgte im Chor:

„Das von dir zu hören? So positiv bist du doch sonst nicht. Aber ist uns recht. Wir folgen dir einfach weiter und gehen voran. Wer wird unser nächster Gegner sein?“

Da musste ich lachen und beide umarmen. Es war ein großartiges Gefühl für mich.

Ich ließ die Jungs allein und wollte mich auf den Weg zum Platz von Andy machen, aber ich wurde von einer Gruppe deutscher Jugendlicher angesprochen. Sie hatten alle das gleiche Outfit mit einem Logo vom sächsischen Tennisverband.

„Hey Chris“, riefen sie plötzlich und kamen auf mich zu, „das läuft ja richtig gut für euch. Dürfen wir mit dir ein paar Fotos machen und gibst du uns vielleicht auf unsere Shirts ein Autogramm?“

Sie machten einen netten Eindruck und daher nahm ich mir ein paar Minuten Zeit und wir sprachen über den Turnierverlauf und sie erzählten mir noch, dass sie alle aus dem Landesnachwuchskader Sachsens kamen. Sie nahmen an einem Wettkampf in Brighton teil und waren für einen Tag nach Wimbledon gekommen.

Anschließend ging es zu Jan an den Platz. Dort herrschte bereits gute Stimmung und natürlich wurde Andy frenetisch angefeuert. Er war in England ein Nationalheld. Ich hatte einen riesigen Respekt vor ihm, da er sich nach seiner Hüftoperationen wieder zurück auf den Platz gekämpft hatte und wieder in der Weltspitze spielte. Seine Arbeitshaltung war vorbildlich für alle jungen Spieler.

Nach der Überprüfung meines Ausweises durfte ich zu Jan in die Box. Andy durfte häufig auf den großen Plätzen spielen. Heute war es erneut der Center Court und auch die Royal Box war heute gut besucht. Das konnte ich so schnell erkennen, da sich unsere Position direkt auf der anderen Seite befand.

Andy führte deutlich und Jan wirkte zwar konzentriert wie immer, aber, da er mich direkt begrüßte, auch entspannter als sonst.

„Hey, das ist ja wieder großes Kino gewesen. Zwei der Jungs stehen in der dritten Runde. Das ist richtig gut. Hier sieht es auch gut aus. Wie geht es dir jetzt?“, fragte er mich.

„Ja, ich bin sehr zufrieden. Und jetzt geht es mir wieder besser, da die Anspannung bereits etwas der Freude gewichen ist. Ich bin jetzt nur gespannt auf morgen. Was wird wohl passieren, wenn Dustin und Fynn im Doppel auftreten werden?“

„Sie werden gutes Tennis spielen und wir werden sicherlich gut unterhalten werden. Was sonst?“

Diese Antwort war so typisch für meinen Bruder. Das war der größte Unterschied zu mir. Er konnte es einfach rational und positiv sehen. Für mich sah das anders aus.

„Na, wenn du das sagst, wird es vermutlich so werden. Ich hoffe nur, dass es keine Zwischenfälle geben wird. Es wird im konservativen England nicht einfach sein.“

„Ja, aber das ist morgen und jetzt unterstützen wir Andy“, lachte er.

Andys Match ließ sich schnell zusammenfassen, denn er hatte keinerlei Schwierigkeiten, sein Spiel zu gewinnen. Damit war unser Tagesprogramm sportlich beendet.

Von meinen Jungs hatte ich einige Fotos bekommen. Dustin hatte seinen Freund beim Auslaufen und der Physio begleitet und sich auch gleich selbst eine Massage gegönnt. Ihre Frage nach unserem weiteren Ablauf konnte ich ihnen noch nicht beantworten. Das würde sich gleich mit Jan klären.

Bevor ich meinen Bruder fragen konnte, kam er zu mir und meinte:

„Fragst du deine drei Jungs bitte einmal, ob sie bereit sind für ein Interview mit der BBC? Ich habe eine Anfrage erhalten für ihre abendliche Sportsendung. Dort soll das ausgestrahlt werden. Also wird unser Gespräch aufgezeichnet werden. Andy hatte gemeint, dass es doch nur konsequent wäre, wenn wir die Jungs mitbringen würden. Das britische Publikum soll unsere Jungs auch mal außerhalb des Platzes kennenlernen und vielleicht begreifen doch einige Menschen mehr, dass sie ganz tolle Jungs sind mit einem unfassbaren Talent für Tennis.“

„Ich werde sie gerne fragen. Soll ich da auch mitgehen oder machst du das allein?“

„Was ist das für eine Frage? Natürlich gehst du mit. Du bist ihr Coach und ich möchte dich an meiner Seite haben. Es ist eine Anfrage an das Team „Break-Point“.“

Ich entschied mich, Dustin anzurufen.

„Hi Chris, was liegt denn an? Gibt es ein Problem?“

„Hallo Dustin, nein, kein Problem. Ich habe nur eine Frage an euch drei. Jan möchte mit uns zu einem Interview für die BBC und natürlich frage ich euch, ob ihr uns begleitet? Es soll eine Aufzeichnung werden für den Abend. Maxi wird uns auch begleiten.“

„Moment, ich frage Fynn und Justin gerade.“

Ich konnte ein leises Gemurmel im Hintergrund hören und dann meldete sich Dustin wieder:

„Wir kommen mit, aber nur, wenn du auch mitkommst. Wir wissen, wie ungern du solche Termine machst.“

„Jaja, schon gut. Ich bin auch dabei und dann kann ich Jan jetzt also zusagen?“

„Genau, du meldest dich gleich, wo wir wann sein müssen?“

„Ja“, und dann drehte ich mich zu Jan um, der mich lächelnd ansah.

„Lass mich raten, sie kommen mit, aber nur mit dir gemeinsam.“

Ich zuckte nur kurz mit den Schultern und wir beiden fingen laut an zu lachen. Jan meinte dann:

„Wir treffen uns in dreißig Minuten vor dem Pressezentrum. Sag ihnen bitte, sie sollen Teamkleidung tragen.“

Für mich war das mittlerweile selbstverständlich geworden und ich war mir sicher, dass ich das auch nicht mehr den Jungs erklären musste. Dennoch schrieb ich Dustin das in meiner Nachricht. Seine Antwort kam prompt mit einem Daumen hoch.

Fynn: Ein Interview mit der BBC

Ich war aufgeregt, als Dustin mit Chris über das kommende Interview gesprochen hatte. Das war eins der Dinge, an die ich mich noch nicht gewöhnt hatte. Aber da uns Chris begleitete, konnte ich etwas gelassener sein.

Schon beim Anziehen unserer Teamkleidung gingen meine Gedanken an dieses Gespräch. Warum wurden wir immer häufiger zu diesen Terminen eingeladen? Irgendwann gab es doch nichts Neues mehr zu berichten. Aber ich wusste natürlich, dass Pressearbeit ein wichtiger Bestandteil des professionellen Tennis war.

Heute sollte ein besonderer Tag sein, denn Dustin, Justin und ich waren vor Chris und Jan am Treffpunkt. Allerdings gab es dafür auch einen guten Grund. Jan und Chris hatten sich bereits den Tagesplan für den nächsten Tag angesehen und besprochen. Allerdings waren sie dennoch pünktlich.

Wie der Plan aussah, würde Chris uns nach dem Pressetermin erläutern. Jetzt ging es erst einmal in das BBC-Studio. Jan hatte uns ein Taxi bestellt und entsprechend gemütlich wurden wir durch die Londoner Straßen chauffiert. Andy würde erst dort auf uns treffen. Er hatte zuvor noch einen Termin mit einem Sportsender.

Vor dem großen Sendehaus hielt der Fahrer an und wir stiegen aus. Jan bezahlte das Taxi und anschließend betraten wir das modern aussehende Funkhaus. Jan ging zur Dame am Empfang und nach einem kurzen Gespräch winkte er uns heran.

„Wir werden hier gleich abgeholt. Ich möchte euch bitten, nur die Dinge zu sagen, von denen ihr sicher seid, dass ihr das öffentlich sagen wollt. Wenn ihr eine Frage nicht beantworten möchtet, dann teilt das offen mit. Wir sind hier in England. Da ist die Presse etwas anders aufgebaut als bei uns. Aber ihr braucht keine Angst zu haben. Chris und ich werden zu Beginn das Gespräch führen und dann schauen wir mal, wie es sich entwickelt.“

Jan wirkte entspannt. Das beruhigte mich schon, aber ich konnte gleichzeitig Chris‘ Unwohlsein erkennen. Er mochte diese Termine genauso wenig wie ich.

In diesem Augenblick kam ein junger Mann aus dem Fahrstuhl und ging auf Jan zu. Sie begrüßten sich kurz und dann stellte Jan uns vor. Er begrüßte uns und stellte sich als Scott vor. Wir würden jetzt zusammen zum Studio hochfahren und dort würde er uns alles Weitere erklären.

Im Fahrstuhl erkundigte er sich nach der Anfahrt und er beruhigte uns, dass die Moderatorin sehr nett sei und auch sehr gut Bescheid wüsste. Die BBC freue sich, dass wir heute zu Gast seien.

Er brachte uns zu einem Studioeingang und bat uns einen Moment zu warten. Nachdem er hineingegangen war, dauerte es nur Augenblicke, bis die Tür sich erneut öffnete und eine junge Frau lächelnd auf uns zu kam. Sie stellte sich als Susan Maxwell vor.

„Hallo und herzlich willkommen bei der BBC im neuen Sendehaus. Ich freue mich, dass ihr heute Zeit habt und uns für ein Interview zur Verfügung stehen könnt. Wir werden einfach etwas plaudern und dann schauen, wo es hingehen wird. Habt ihr noch Fragen?“

Wir schauten uns an und eigentlich wollte ich nur schnell wieder hier heraus sein. Jan antwortete ihr.

„Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich bin bereits einige Male hier gewesen und habe bislang gute Erfahrungen gemacht. Also lasst uns beginnen.“

Mit einem Lächeln führte uns Susan in einen Bereich, aus dem wir in das Studio hineinschauen konnten. Dort standen in einer Sitzgruppe Sessel und eine Couch.

Zuerst mussten wir aber alle in die sogenannte Maske. Da es ein TV-Interview war, mussten wir dafür erst vorbereitet werden. Sofort konnte ich Chris‘ Unwohlsein dabei spüren. Er mochte solche Auftritte mit „Verkleiden“ überhaupt nicht, aber er ließ das ohne Kommentar über sich ergehen. Als wir alle fertig für das Studio waren, gab es noch eine Beleuchtungsprobe und dann ging es auch schon los.

„Herzlich willkommen in unserem Studio. Heute begrüßen wir ein bekanntes Tennisteam aus Deutschland. Das Break-Point-Team aus Halle in Westfalen ist zu Gast.“

Für einen kurzen Moment schwieg die Moderatorin. In dieser Zeit konnte ich auf den Monitoren erkennen, dass wir alle im Bild vorgestellt wurden.

Das war schon ein komisches Gefühl, sich selbst live im TV zu sehen. Wobei es ja nicht live ausgestrahlt wurde, aber ich war dennoch sehr aufgeregt.

Jan wurde gebeten, sein Team persönlich vorzustellen. Als er bei Chris angelangt war, spürte ich bei Susan etwas Unruhe. Sie schien zu realisieren, dass Chris Jans Bruder war.

„Seit wann arbeitet dein Bruder mit dir zusammen?“, fragte sie entsprechend nach der Vorstellung, „Hier in Großbritannien ist das noch nicht so richtig bekannt.“

„Ja, das mag sein“, erwiderte Jan ruhig, „aber Chris ist eine Bereicherung für mich und das Team. Ich bin sehr froh, dass er sich überreden ließ, in unser Team zu kommen. Und erst recht dürften diese drei Jungs froh sein, dass Chris weiterhin mit ihnen arbeitet. Oder was meint ihr dazu?“

Mein Puls stieg jetzt stark an, aber Dustin war schneller mit seiner Antwort als ich.

„Da kannst du aber Gift drauf nehmen. Chris ist das Beste, was uns je begegnet ist. Nicht nur was Tennis betrifft, auch außerhalb des Platzes hat uns Chris so viel beigebracht. Ich bin sehr glücklich mit ihm als Coach. Allerdings weiß ich auch, dass das sehr anstrengend ist, mit drei verrückten Jungs zu arbeiten. Jan ist meistens nur mit einem Spieler unterwegs. Chris macht das seit einigen Jahren mit uns. Und das darf gern noch so weitergehen.“

„Ja, das glaube ich euch sofort. Leider hat es auch hier wieder eine Eskalation auf dem Platz gegeben. Monfils hat sich in dem Match gegen Dustin nun wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Wie geht ihr damit um? Jetzt ist es hier ja auch so, dass Fynn und Dustin gemeinsam im Doppel antreten. Auch das wird wieder viel Staub aufwirbeln. Sind euch die Reaktionen mittlerweile egal?“

Am liebsten wäre ich jetzt direkt darauf eingegangen und hätte klar Position bezogen. Aber Jan schien das vermeiden zu wollen.

„Nein, egal nicht, aber es ist mir wichtig, dass unsere Spieler so sein können, wie sie sind. Die Leistung zählt und nicht ob jemand homosexuell oder nicht ist. Und genau an diesem Punkt muss ich sagen, ich habe in den letzten Jahren wenige so junge Spieler gesehen. Und gerade im Doppel sind Dustin und Fynn eine Bank. Ich traue ihnen ganz viel zu. Ob das bereits hier zu sehen sein wird, bleibt abzuwarten. Dennoch stehen wir voll hinter dieser Entscheidung. Und ich kann allen nur raten, diese Jungs im Doppel sehr ernst zu nehmen. Sie sind einfach gut. Und mit Chris an ihrer Seite werden sie noch gefährlicher. Er kennt sie extrem gut. Und ich kenne Chris gut, daher würde ich vorschlagen, wir befassen uns heute nur mit dem Thema Tennis. Sonst könnte dieses Gespräch schnell sehr dynamisch werden.“

Chris schaute seinen Bruder an, zuckte nur mit den Schultern und Susan hatte es aber begriffen. Jetzt ging es nur noch um die nächsten Gegner und auch das Thema Doppel blieb sachlich und professionell.

„Ich möchte noch eine Frage stellen“, meldete sich Susan.

„Es gibt ja im Mixed auch einige Paare und jetzt seid ihr das erste Paar im Herrendoppel. Was habt ihr euch als Ziel gesetzt?“

Dustin und ich schauten uns an, dann nickte uns Chris mit einem Augenzwinkern zu und Dustin erwiderte wie aus der Pistole geschossen:

„Gewinnen ist das Ziel. Wie oft und wie hoch werden wir sehen, aber wir spielen, um zu gewinnen.“

„Eine Sache ist mir dabei noch wichtig“, meldete sich jetzt Chris zu Wort, „sie sollen sie selbst bleiben. Egal was die Öffentlichkeit über sie denkt und sagt. Beide Jungs sind tolle Menschen und sie sollen so bleiben, wie sie sind. Unabhängig von der sportlichen Entwicklung. Und wir als Team werden sie immer unterstützen, weil sie einfach ganz wunderbare Menschen sind, die ehrgeizig sind und Bock auf Erfolg haben. So einfach kann das sein.“

„Ihr wisst aber schon, dass es in Wimbledon ein spezielles Publikum gibt. Ihr habt mit Marc Steevens eine ganz große Persönlichkeit hinter euch stehen. Was für einen Einfluss hat er auf den Erfolg? Er hat bereits in der Vergangenheit durch seine klaren Statements viel Staub aufgewirbelt. Ist er auch finanziell in das Sponsoring eingebunden und inwieweit kann er Einfluss auf sportliche Entscheidungen nehmen?“

Das war ein Bereich, da würde Chris ganz empfindlich drauf reagieren. Er mochte diese provokanten Fragen überhaupt nicht. Genau wie ich. Ich empfand das als respektlos. Zumal Marc nicht bei diesem Termin dabei war.

Jan blieb allerdings cool und wusste der Journalistin jeglichen Wind aus den Segeln zu nehmen.

„Ja, Wimbledon hat ein besonderes Publikum, allerdings nicht immer ein vorbildliches. Es sollte sich einfach sportlich fair verhalten. Und was Marc Steevens betrifft, ja, er unterstützt unsere Arbeit. Insbesondere gegenüber der Presse und der Öffentlichkeit. Er kann viel bewegen und klare Ansagen machen, da er keinerlei Auseinandersetzungen scheut, sollte es einmal erforderlich werden. Über die Details unserer Zusammenarbeit werden wir keine öffentlichen Statements abgeben, schon gar nicht ohne sein Beisein. Ich bin sehr froh, ihn durch Chris kennengelernt zu haben und ihn als Freund und Unterstützer zu haben. Mehr ist dazu von unserer Seite nicht zu sagen.“

Das war dann auch das Schlusswort von Jan. Die Aufzeichnung würde heute Abend gesendet werden.

Als wir das Studio verlassen hatten und wieder im Taxi saßen, platzte Chris der Kragen.

„Sag mal, gibt es in England nur solche Pressefuzzis, die provozieren wollen? Das war doch ganz bewusst so gestellt, damit wir aus der Deckung kommen sollen. Irgendwie macht das so keinen Spaß in England.“

„Hahaha“, lachte Jan jetzt, „beruhige dich. Ja, du hast schon recht. Manche Journalisten sind einfach schlicht. Aber die Leute wollen das hier so. Ich kenne das bereits seit vielen Jahren und weiß damit umzugehen. Daher gebe ich ihnen immer direkte Ansagen mit auf den Weg. Ich finde, ihr habt euch großartig präsentiert und glaubt mir, heute Abend werden wir viele positive Reaktionen bekommen. Gerade von den Spielerkollegen. Und was die Presse letztlich schreiben wird, können wir eh nicht beeinflussen. Die Akzeptanz bei den anderen Spielern ist wichtig für euch auf dem Platz. Und genau die werden wir bekommen. Vermutlich werden sie sogar die letzte Sequenz mit Marc gar nicht erst zeigen. Sie wissen ja, wie Marc in England mit der Presse umgegangen ist und keiner Auseinandersetzung aus dem Weg geht, wenn es um das Thema Homosexualität im Sport geht. Also entspannt euch. Wir fahren ins Quartier und richten unseren Fokus auf die morgigen Spiele.“

Ich war auf die Reaktionen gespannt. Vielleicht hatte Jan recht und sie würden bestimmte Stellen auch gar nicht zeigen.

Chris schaute verdächtig still aus dem Fenster und ich wusste genau, dass es in ihm arbeitete. Das machte mich nervös. Mein Schatz hatte ein gutes Gefühl dafür und versuchte Chris in ein Gespräch mit einem ganz anderen Thema zu verwickeln.

Dustin: Heute das erste Doppel für uns in Wimbledon

Ich hatte zwar gut geschlafen, aber jetzt brach bei mir die Nervosität durch. Heute stand unser erstes Doppel an. Und ich musste zusätzlich noch mein Einzel spielen. Aber auch mein Schatz hatte ein volles Programm. Chris hatte uns nach dem Frühstück nur zum Anschwitzen gebeten. Kein richtiges Training und Einschlagen. Und ich konnte spüren, dass Chris auch angespannter war als sonst. Allerdings strahlte er nach außen eine große Ruhe aus.

Während des Frühstücks gab er uns die Feedbacks aus Halle über unser Interview und dass wir viel Rückendeckung bekommen hatten. Genau wie Jan es angekündigt hatte. Viele unserer Spielerfreunde aus den vergangenen Monaten hatten sich gemeldet und uns unterstützt. Auch Justin hatte gute Laune, obwohl er schon nicht mehr im Turnier war. Er half uns, wo immer er konnte. Genau dieses Gefühl des Zusammenhalts spornte mich noch mehr an.

Unser Spielplan war heute etwas anders als sonst. Wir mussten um elf mit unserem Doppel beginnen und hatten dann am späten Nachmittag unsere Einzel zu spielen.

Und Chris hatte uns noch nicht viel zu unseren Gegnern gesagt. Er hatte uns nur auf das Doppel vorbereitet. Für die Einzel wäre im Anschluss noch genügend Zeit. Allerdings hatten Fynn und ich uns das Tableau natürlich genau angeschaut und wir wussten, dass es heute eigentlich nicht mehr viel zu gewinnen gab.

Fynn hatte mit Novak Djokovic ein ganz dickes Brett zu bohren und mit Jannik Sinner war mein Brett nicht viel dünner. Allerdings hatten wir beide so überhaupt nichts zu verlieren und ich hatte mir ganz fest vorgenommen, ohne Angst spielen zu wollen. Die Strategie mit Chris ausarbeiten und danach einfach Tennis zu spielen. Ob das funktionierte, würde ich dann sehen.

„Ihr müsst euch bereit machen für das Doppel. Ich denke, innerhalb der nächsten zwanzig Minuten geht es auf den Platz“, hörten wir von Chris, als er zu uns in die Umkleide kam.

„Alles klar, Chris“, erwiderte Fynn.

In meinem Bauch kribbelte es gewaltig und mein Kopf hatte gerade ein großes Gewitter auszuhalten. Aber auch mein Schatz war angespannter, als es wirkte.

Aber natürlich war Chris das nicht verborgen geblieben. Er setzte sich neben uns, legte Fynn seinen Arm auf die Schulter und strahlte eine Ruhe aus, die mich immer wieder erstaunte.

„So, ihr beiden Nervenbündel. Es ist und bleibt weiterhin nur ein Tennismatch. Niemand wird euch den Kopf abreißen, solltet ihr schlecht spielen und keinen Ball treffen. Da ich aber weiß, dass das nicht passieren wird, wünsche ich euch ein tolles Match. Genießt jeden Ball. Ihr seid in Wimbledon und nicht viele Spieler können von sich behaupten, dass sie hier im Hauptfeld gespielt haben. Heute könnt ihr der Welt zeigen, dass ihr ein ganz gefährliches Doppelteam seid. Und ganz wichtig, zeigt allen Menschen, dass ihr euch sehr nahe steht. Versteckt euch nicht. Ergänzt euch und spielt eure Stärken aus.“

Obwohl ich genau wusste, was gleich passieren würde, gab mir Chris mit diesen Worten und seiner Nähe die Sicherheit, die mir vor fünf Minuten abhanden gekommen war.

Fynn saß neben mir und dann gab er mir einen Kuss. In der Umkleide und alle anwesenden Personen hatten es mitbekommen. Ich war überrascht, aber es fühlte sich toll an. Chris lachte und klopfte Fynn auf die Schulter.

„Das war doch schon ein guter Anfang. Ich gehe jetzt an den Platz und warte dort auf euch. Ihr werdet von einem Offiziellen hier abgeholt. Der bringt euch dann, mit euren Gegnern, zum Platz.“

Dann hielt er uns noch einmal seine Hand hin. Wir schlugen ab und ich versuchte, mich nur noch auf das kommende Spiel zu konzentrieren. Allerdings kamen mir auch Gedanken zu meinem Einzel am Nachmittag in den Kopf. Plötzlich stieß mich Fynn in die Seite und meinte:

„Hey, nicht an Sinner denken. Wir spielen gegen zwei Brasilianer. Der Tiroler kommt erst am Nachmittag. Und ich will jetzt gewinnen. Auch wenn ich richtig Schiss vor meinem Einzel habe. Aber Chris würde uns in den Hintern treten, wenn wir verlieren und als Grund unsere Gedanken an das Einzel angeben.“

Unsere Blicke trafen sich und als ob mir jemand den Kopf leermachte, atmete ich tief aus und küsste meinen Freund.

„Ja, du hast recht. Wir gehen jetzt raus und spielen geiles Tennis. Mit dieser Chance im Doppel können wir viel bewegen. Lass es uns tun.“

In diesem Augenblick kam ein Mann in einem offiziellen Outfit zu uns und erklärte uns, dass es Zeit wäre, auf den Platz dreizehn zu gehen. Also jetzt ging es wirklich los.

Unterwegs meinte mein Schatz zu mir:

„Platz dreizehn ist auch ein Showcourt. Dort gibt es TV-Kameras. Warum wir wohl dort spielen sollen?“

Ich schaute zu meinen Freund, wusste natürlich warum, aber wollte mich damit gerade überhaupt nicht beschäftigen.

„Weil wir ein gutes Doppel spielen. Warum sonst?“

Aber ich konnte dabei leider nicht ernst bleiben und fing an zu lachen. Unsere offizielle Begleitung wirkte irritiert, da Fynn auch nicht mehr anders konnte als laut zu lachen. Wir sprachen natürlich Deutsch und er konnte uns anscheinend nicht verstehen.

Als wir vor dem Zugang zum Platz auf unsere Gegner trafen, kicherten wir immer noch.

Die beiden Brasilianer begrüßten uns freundlich. Damit hatte ich unmittelbar vor dem Match nicht gerechnet. Wir sprachen sogar noch ein paar Sätze miteinander. Als das „Go“ vom Offiziellen kam, schlugen wir uns gegenseitig noch einmal ab und betraten dann gemeinsam den Platz. Jetzt ging es wirklich los.

Als ich meine Tasche neben unseren Stühlen abgelegt hatte, machte ich meinen obligatorischen Rundblick. Sofort erblickte ich Chris mit Marc und Sabine in der Box. Justin kam gerade hinzu und begrüßte Marc und Sabine. Chris nickte mir zu und allein diese Geste beruhigte mich einfach.

Dass schon am frühen Morgen einige hundert Zuschauer an unserem Platz saßen, erstaunte mich allerdings schon. Wir waren eigentlich „nobodys“, die ihr erstes Doppel auf dem heiligen Rasen von Wimbledon spielten. Und überall waren Fotografen und auch einige TV-Kameras standen am Platz.

Erst nach den ersten Ballwechseln fühlte ich mich besser und konnte mich mehr dem gelben Filzball widmen als den Geschehnissen auf den Tribünen.

Nach drei Minuten meinte Fynn zu mir:

„Endlich geht es los. Ich bin so aufgeregt. Hoffentlich mache ich mir nicht gleich noch in die Hose.“

Ich blickte ihn entsetzt an und konnte mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Als dann kurze Zeit später das „Time“ vom Schiedsrichter kam, schaute ich noch einmal in unsere Box. Chris zeigte mir den Daumen hoch und allein zu wissen, dass er dort saß und jeden Ball mitspielte, gab mir viel Kraft.

Wir hatten die Wahl verloren und unsere Gegner hatten sich für Rückschlag entschieden. Mir war damit sofort klar, dass Fynn mit Aufschlag beginnen wollte. Daher stellte ich gar nicht erst die Frage, wer von uns aufschlagen sollte. Mein Schatz ließ sich auch sogleich die Bälle geben und kam erst danach zu mir.

„Bei dir jetzt alle klar im Kopf? Lass uns einfach Tennis spielen und dieses Erlebnis genießen.“

Dann folgte noch ein kleiner Kuss auf dem Platz.

Es überraschte mich total, aber sofort spürte ich die Energie und jetzt ging es wirklich los.

Der erste Punkt war schnell gespielt, denn unsere Gegner konnten Fynns Aufschlag nicht richtig returnieren. Erst nach diesem Punkt realisierte ich die immer noch herrschende Unruhe am Platz. Der Schiedsrichter musste die Zuschauer sogar zur Ruhe ermahnen.

Fynn hingegen sagte mir nur direkt an, wohin er aufschlagen würde. Damit war mein Weg auf dem Platz, nach dem Service, klar. Und dieses Mal spielte Matos den Ball direkt in meine Reichweite. Ich machte mit einem guten Volley den Punkt und damit stand es 30:0. Ein guter Start ins Match.

Im Doppel waren die Ballwechsel generell kürzer als im Einzel. Aber die mentale Anstrengung war sehr hoch. Man musste ständig auf Ballhöhe denken und eine Zehntelsekunde zu spät reagieren hieß mit hoher Wahrscheinlichkeit Punktverlust.

Allerdings schien uns das besonders gut zu gelingen. Denn bereits nach fünf Minuten führten wir mit 2:0 und einem Break. Aber jetzt musste ich aufschlagen und meine Hand zitterte, als ich mir die Bälle zuwerfen ließ.

Fynn stellte sich vor mich:

„Das waren zwei geile Spiele und spiel einfach so weiter. Das läuft richtig gut.“

Wieder folgte eine zärtliche Umarmung. Ich war einfach irritiert über diese neue Selbstsicherheit von meinem Freund. Andererseits half mir das, gut aufzuschlagen. Ich dachte halt nicht über das Spiel nach. Bei 3:0 wurden erneut die Seiten gewechselt und eine große Last fiel von mir ab. Ich hatte mein erstes Aufschlagspiel ebenfalls gewonnen.

Unser Blick ging zur anderen Seite des Platzes. Dort saß uns Chris direkt gegenüber. Er nickte uns zu und auch Justin zeigte uns den Daumen hoch. Marc und Sabine unterhielten sich und ich fühlte mich jetzt im Spiel angekommen. Meine Unsicherheit war von mir gewichen.

Unsere Abstimmung auf dem Platz lief blind und fast ohne Worte. Das schien unsere Gegner komplett zu verwirren. Bevor sie realisierten, dass sie uns ernstnehmen sollten, hatten wir den ersten Satz gewonnen.

In der Satzpause saß Fynn neben mir und wir sprachen miteinander.

„Läuft doch richtig gut für uns“, meinte Fynn und schlug mir auf den Oberschenkel.

Ich nickte und mir war einfach nach einem Kuss. In dem Augenblick, als ich das tat, hörte ich das Gemurmel auf den Tribünen.

„Scheint bei den Leuten immer noch nicht angekommen zu sein, dass wir zusammen sind. Aber mach weiter, das gefällt mir gut“, lachte Fynn.

Ich legte noch einen Kuss nach und dann konnte ich Chris beobachten, wie er uns den Daumen hoch zeigte und dabei frech grinste. Marc und Sabine klatschten und auch Justin zeigte uns die Faust.

Dieses Gefühl der Unterstützung war einfach klasse. Erst das „Time“ des Schiedsrichters riss mich aus den Gedanken. Aber es fühlte sich gut an, hier auf dem Platz zu stehen. Obwohl ich genau wusste, dass ich jetzt die maximale Konzentration brauchte, freute ich mich über die Situation. Wir führten mit einem Satz in unserem ersten Doppel in Wimbledon. Ein guter Start und meinetwegen konnte es gern so weitergehen.

Demoliner begann den zweiten Satz mit Aufschlag und dieses Mal servierte er sehr stark und wir konnten nichts gegen den Spielgewinn machen. Nach einem Satzgewinn war es erlaubt, die Reihenfolge des Aufschlags zu ändern. Eigentlich wäre Fynn jetzt an der Reihe gewesen, aber er kam zu mir und meinte:

„Fang du jetzt an. Ich glaube, damit rechnen sie nicht und wir gehen jetzt noch mehr in die Offensive. Ich werde mich mehr am Netz bewegen, sodass sie sich nicht auf etwas einstellen können. Was meinst du, fühlst du dich gut für den Aufschlag?“

„Klar, das mache ich. Kein Problem. Ich finde es einfach nur krass, wie wir auch von den Zuschauern unterstützt werden. Ist dir das noch gar nicht aufgefallen?“

„Doch, natürlich. Und insbesondere wenn du mir einen Kuss gibst, gibt das eine Reaktion. Also, bekomme ich jetzt noch einen?“

Irgendwie empfand ich das schon als eine leichte Provokation, aber das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Jetzt führte das aber zu einer Reaktion unserer Gegner. Auf Englisch meinte Rafael Matos lachend zu uns:

„Hey, das ist unfair. Ich kann meinen Partner so nicht motivieren. Aber ich finde es total klasse, dass ihr euch nicht mehr versteckt. Aber das ist ein leichter Vorteil für euch.“

Ich war verunsichert. Wie sollte ich darauf reagieren? Fynn nahm mir dieses Problem ab, indem er lachend erwiderte:

„Genau das ist doch unser Plan. Unser Coach hat uns immer wieder gesagt, dass wir so normal wie möglich auftreten sollen. Und genau das tun wir jetzt. Aber wir passen natürlich auf, dass es nicht unanständig wird.“

Dabei grinste er richtig frech. Aber die beiden Brasilianer lachten nur und wir klatschten uns auf dem Platz ab. Auch das war im Profitennis während eines Matches eher ungewöhnlich. Aber mir gefiel das gut.

Das erste Aufschlagspiel verlief ohne Probleme für mich. Und auch der zweite Satz brachte uns nicht in Schwierigkeiten. Als Fynn den Matchball zum 6:3 im zweiten Satz verwandelt hatte, umarmten wir uns nur kurz. Aber meine Freude war groß. Das erste Match im Doppel war besser gelaufen, als ich es erwartet hatte. Es war für uns von Vorteil, dass die Doppelkonkurrenz im Modus „best of three“ und nicht „best of five“ gespielt wurde. So war die Belastung nicht so hoch.

Erst als wir unsere Taschen gepackt hatten, bemerkte ich eine junge Frau mit einem Mikrofon in der Hand. Sie machte nun zwei Schritte auf uns zu und fragte:

„Können wir ein kurzes Siegerinterview auf dem Platz machen? Ihr habt heute schließlich schon etwas Geschichte geschrieben. Das erste männliche Paar hat ein Spiel im Doppel gewonnen. Wir als Veranstalter möchten das entsprechend würdigen.“

Fynn und ich schauten uns an. Ablehnen würde jetzt sicherlich ganz komisch rüberkommen. Also legten wir unsere Taschen wieder ab und stellten uns mit Celine, so hieß die junge Dame, mitten auf den Court.

„Herzlichen Glückwunsch zu diesem vielleicht historischen Sieg. Wie ist es euch ergangen und wie fühlt ihr euch jetzt?“

„Danke“, erwiderte ich etwas zögerlich, aber dann überwand ich meine Unsicherheit und führte fort, „jetzt bin ich doch sehr froh, dass es so gut gelaufen ist. Auch hat es mir ein gutes Gefühl gegeben, dass die Zuschauer uns immer unterstützt haben. Dafür vielen Dank. Ehrlicherweise war ich doch vor dem Spiel sehr angespannt. Jetzt wissen wir, dass zumindest die Zuschauer hier uns akzeptieren und unterstützen.“

Als ich das gesagt hatte, kam lauter Beifall von den noch anwesenden Zuschauern auf.

„Es war schon Anspannung bei mir vor dem Spiel“, ergänzte Fynn jetzt, „umso größer ist die Freude, jetzt gewonnen zu haben und gleichzeitig noch das Gefühl zu haben, wir werden akzeptiert. Sicher nicht von allen Menschen, aber von den Zuschauern hier am Platz. Wir freuen uns, noch ein weiteres Match hier in Wimbledon spielen zu dürfen. Vielen Dank.“

Wieder hörte ich lauten Beifall von den Rängen. Celine fragte nach:

„Euer nächster Gegner könnte das deutsche Doppel Krawitz/Pütz werden. Sie spielen heute auch ihr erstes Match und sind hier an Position drei gesetzt. Das wäre sicher eine Paarung für einen großen Platz. Habt ihr euch damit schon beschäftigt?“

„Nein“, antwortete ich sofort, „ganz bestimmt nicht. Unser Coach Chris hat uns immer gesagt, dass wir uns nur mit dem nächsten Gegner beschäftigen sollen. Er wird uns mit Sicherheit gut darauf vorbereiten und als nächstes haben wir beide noch ein Einzel zu spielen. Erst wenn das vorbei ist, geht es zum nächsten Gegner im Doppel. Ich habe mit Jannik Sinner ein heftiges Einzel vor mir und Fynn hat mit Novak Djokovic auch nicht unbedingt einen Nasenbohrer als Gegner.“

Das führte sofort auf den Rängen zu Gelächter und wieder gab es Applaus von den Zuschauern. Damit entließ uns Celine vom Platz. Allerdings nicht, ohne uns weiterhin viel Erfolg zu wünschen.

Erst in der Umkleide konnten wir uns richtig freuen. Allerdings dann auch umso mehr und befreiter. Allerdings fehlte mir Chris. Eigentlich wartete er nach dem Match immer vor der Umkleide auf uns. Heute war das nicht so.

„Weißt du, warum Chris nicht gekommen ist? Hoffentlich ist alles in Ordnung.“

Ich konnte an Fynns Gesicht erkennen, dass er ernsthaft in Sorge war.

„Ganz bestimmt. Es ist ein ziemlicher Weg vom Platz hierher. Und wenn er wieder von der Presse aufgehalten wurde, dann kann er noch gar nicht hier sein. Sieh nicht immer alles so negativ. Es wird schon alles gut sein.“

Und kaum hatte ich es ausgesprochen, ging die Tür auf und ein gelöster Chris betrat die Umkleide.

„Sorry, Jungs. Heute bin ich zu spät gewesen, um euch vor der Umkleide in Empfang zu nehmen. Aber ich habe auf dem Weg hierher bestimmt schon fünfzig Autogramme geschrieben. Aber jetzt gratuliere ich zuerst. Was für ein cooles Match von euch.“

Danach folgte eine innige Umarmung.

„Das war echt großes Kino. Die Presseleute werden beim nächsten Spiel mit Sicherheit noch mehr Bilder von euch machen. Ihr habt es begriffen. Erst wenn ihr als Einheit auch auf dem Platz agiert, seid ihr richtig gut. Das war ein Weltklassedoppel und ihr müsst hier vor niemandem im Doppel Angst haben.“

Mein Schatz und ich schauten Chris ungläubig an. So euphorisch war unser Coach selten nach einem Sieg.

„Ich gehe jetzt wieder und lasse euch in Ruhe. Bitte ausgiebiges Auslaufen, Massage und Physio. Wenn ihr damit fertig seid, schreibt mich bitte an. Dann sage ich euch, wo wir uns zum Essen treffen. Heute Nachmittag stehen dann die Einzel an. Ab jetzt beginnt die Vorbereitung darauf. Also Kraftsparen ist angesagt.“

Und schon war Chris wieder verschwunden.

Fynn: Ein besonderes Spiel

Nach unserem Sieg im Doppel lag der Fokus nun auf unseren beiden Einzeln. Das Mittagessen mit Marc und Sabine war eine willkommene Ablenkung. Mit jeder Stunde stieg meine Nervosität. Chris hatte mir gesagt, dass Novak viel mehr Druck haben würde. Alles außer einem klaren Dreisatzsieg sei für ihn nicht gut. Ich hingegen sollte nur jeden Punkt neu spielen und überhaupt nicht auf den Spielstand achten. Es sei ein Trainingsmatch mit einem der besten Spieler der letzten Jahre. Mehr nicht.

Mehr hatte mir Chris auch nicht zu meiner Taktik gesagt. Und die Vorbesprechung mit Dustin zu Jannik Sinner dauerte ebenfalls nur wenige Minuten. Mein Schatz meinte nur, Chris hätte ihm geraten, mit mir einfach im Spielerbereich zu bleiben und dort zu entspannen. Wobei Entspannung bei mir nicht geklappt hat. Allerdings hatten wir unsere Ruhe vor der Presse.

Etwa eine halbe Stunde vor Ansetzung meines Spiels tauchte Chris bei mir auf. Ich hatte mich bereits mit Justin aufgewärmt und eingeschlagen. Und das war der einzige Punkt, der heute anders verlaufen war. Chris war beim Einschlagen nicht dabei gewesen. Maxi begleitete uns, während Chris das Aufwärmen von Novak beobachtete.

Aber als Chris zu uns kam, konnte ich an seinem Gesicht erkennen, dass er noch eine kleine Überraschung parat hatte.

„Na, ihr beiden Helden. Ich habe noch eine Information für Fynn. Du spielst ja auf dem Center Court und ich kann dir jetzt schon sagen, dass er gut gefüllt sein wird. Und es wird auch offiziellen Besuch in der Royal Box geben. Prinz William wird mit seiner Frau und den Kindern eurem Spiel beiwohnen. Also erwarte ich besonders vorbildliches Benehmen.“

Beim letzten Satz konnte Chris kaum noch ernst bleiben. Dennoch führte er bei mir für wenige Sekunden zu Verwunderung.

„Habe ich in der letzten Zeit bei meinem Benehmen Grund zur Beanstandung gegeben?“, fragte ich.

Da war es um Chris dann geschehen. Er fing heftig an zu lachen und meinte:

„Nein, natürlich nicht. Aber der Supervisor hatte mich darauf hingewiesen. Einfach nur krass, aber wir sind halt in England und da heißt es eben: „God save the King“.“

„Muss ich jetzt irgendetwas beachten oder darf ich mich normal verhalten?“, fragte ich sicherheitshalber nach.

Es wäre mir schon etwas peinlich, am nächsten Tag in der Zeitung zu stehen, weil ich einen royalen Skandal ausgelöst hätte. Chris wurde ernst als erwiderte:

„Nein, du spielst einfach Tennis. Alles andere ist nicht deine Baustelle. Und wenn du Nole dabei dann noch nach Hause schicken kannst, dann gefällt mir das besonders gut. Geh auf den Platz, zeig dich und genieße das Match. Spiele von Punkt zu Punkt und kämpfe. Dann wird das Publikum schnell hinter dir stehen. Die Briten sind gern bei den Underdogs und unterstützen Spieler, die einfach alles geben.“

Und in diesem Moment kam ein Offizieller des Turniers zu uns und bat mich, ihm zu folgen. Unser Match sei an der Reihe und der Center Court vorbereitet.

Ich konnte es nicht verhindern, dass mein Herz doch schneller schlug, als es sonst vor einem Match der Fall war. Aber die Freude war auch groß, auf dem heiligen Rasen von Wimbledon antreten zu dürfen. In einem Stadion, in dem bereits die größten Spieler aller Zeiten gekämpft hatten.

Ich bekam freundlichen und lauten Applaus, als ich den Zuschauern durch den Sprecher angekündigt wurde. Natürlich bekam Novak viel mehr Aufmerksamkeit. Und mir war auch bewusst, dass die meisten Zuschauer seinetwegen hier auf der Tribüne saßen. Dennoch wollte ich zeigen, dass ich mitspielen konnte.

Umso beruhigter war ich, als ich Chris mit Marc, Sabine und Justin in der Box sah. Auch Jan kam sogar mit Andy Murray in die Box. Das führte auf den Rängen zu Applaus, als den Zuschauern bewusst wurde, dass eine Wimbledon-Legende anwesend war. Und das in der Box vom unbekannten Deutschen.

Und das sollte noch eine Rolle spielen.

Der Start ins Match war für mich schwierig. Eine Mischung aus Nervosität und tatsächlich Angst zu scheitern ließ mich auf dem Platz wie gelähmt sein. Ich war immer einen Moment zu spät am Ball oder in der Bewegung. So stand es schnell 0:5 und Novak zerlegte mich nach Belieben. Das war frustrierend.

Beim folgenden Seitenwechsel blickte ich zu Chris und staunte. Er forderte mich deutlich auf, mutiger zu werden und nicht vor Ehrfurcht zu erstarren. Ja, das war auch der Plan von Beginn an gewesen. Ich hatte es halt nicht hinbekommen.

Aber nach dem Verlust des ersten Satzes mit 1:6 gelang es mir, aggressiver zu werden und einfach dagegen zu halten. Und plötzlich wachte das Publikum auf und pushte mich deutlich mehr nach vorn.

Ehe ich über das Spiel nachdenken konnte, stand es im zweiten Satz plötzlich 5:4 für mich. Ich hatte meine Aufschlagspiele alle durchgebracht. Allerdings hatte ich auch keine reelle Breakchance. Aber das Publikum begann jetzt, offen gegen Novak zu sein. Der Underdog, also ich, wurde unterstützt.

Leider gelang mir das Break nicht und bei 6:6 ging es dann in den Tiebreak. Für mich war das erstaunlich, aber jetzt wollte ich natürlich mehr und gab alles. Beim Stand von 7:7 hatte ich Pech und Novak machte mit einem Netzroller den Punkt zum 8:7. Damit hatte er Satzball und eigenen Aufschlag.

Und das zeichnete einfach die Weltklassespieler aus. Sie konnten in diesen Situationen eben ihr allerbestes Tennis abrufen. Er schlug einfach ein As und beendete damit den zweiten Satz.

Ich hatte aber mittlerweile Blut geleckt und spielte einfach weiter. Auch im dritten Satz mussten wir erneut in den Tiebreak gehen. Ich konnte meine Aufschlagspiele halten und jetzt wollte ich einen Satz haben.

Es war schon frustrierend, denn jetzt machte Novak beim Stand von 5:5 zwei grandiose Punkte und gewann auch den dritten Satz. Damit war das Match verloren und ich ging zum Handshake ans Netz.

Novak zollte mir Respekt und war der Überzeugung, dass ich meinen Weg machen würde. Ich sollte einfach weiter hart arbeiten und mich entwickeln.

Ich war zwar schon enttäuscht, ohne Satzgewinn geblieben zu sein, aber durch seine Worte ging mein Blick direkt nach vorn. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns, aber so weit war ich nicht weg vom besten Spieler der Welt. Das hatte mir das Match im zweiten und dritten Satz gezeigt.

Beim Verlassen des Platzes bekam ich viel Applaus. Auch Andy klatschte in unserer Box. Das tat mir in meiner Enttäuschung gut.

Leider fehlte mir mein Schatz ganz besonders. Allerdings hatte Dustin mit Jannik Sinner gerade eine nicht minder große Aufgabe zu bewältigen. Umso erstaunter war ich, als mich Chris vor der Umkleide abfing. Warum war er nicht bei Dustin?

„Wie geht es dir gerade?“, fragte mich Chris.

„Außer der Enttäuschung ganz gut. Aber ich bin echt platt. Das ist doch eine heftige Erfahrung, gegen so eine Legende und in dem Stadion. Dennoch habe ich ab dem zweiten Satz gut mitgespielt. Zu Beginn habe ich einfach meinen Kopf nicht im Griff gehabt. Oder was denkst du?“

Sein Gesicht entspannte sich, als er antwortete:

„Sehr gute Zusammenfassung. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Über den ersten Satz sprechen wir heute Abend in Ruhe. Dustin ist bereits auf dem Platz. Ich werde jetzt Maxi dort unterstützen. Jan muss mit Andy auch gleich an den Platz. Also du machst jetzt das normale Programm und kannst dann zu mir an den Court kommen. Heute war ein anstrengender Tag für dich.“

In der Umkleide waren natürlich auch noch andere Spieler und insbesondere ein Spieler erstaunte mich. Rafa Nadal kam auf mich zu und meinte auf Englisch zu mir:

„Das war ein gutes Match. Du wirst bald deutlich besser in der Weltrangliste stehen. Ihr arbeitet gut und habt ein tolles Team hinter euch. Ich bin mir sicher, dass ihr erfolgreich sein werdet. Ich freue mich schon, euch wieder bei uns zu begrüßen.“

Danach nahm er seine Tasche und verließ die Umkleide. Ich freute mich natürlich über diese Anerkennung.

Chris: Die Jungs wachsen über sich hinaus

Fynns Niederlage ärgerte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich war zufrieden mit seinem Auftreten und seiner Leistung. Noch war ein Novak Djokovic zu gut für ihn und gerade im ersten Satz war der Respekt noch zu groß gewesen. Wenn es Fynn gelingen würde, von Beginn an seine Leistung zu zeigen, dann wäre mit Sicherheit auch jetzt schon ein Satzgewinn möglich.

Ich saß zwar bereits bei Dustin am Platz, aber im Kopf beschäftigte mich Fynns Match noch. Das kannte ich von mir so nicht. Aber Maxi hatte hier alles im Griff und so konnte ich noch einige Minuten verschnaufen.

Dustin war gut ins Spiel gestartet und hatte noch kein Break bekommen. Also stand es 4:4 und Jannik Sinner schlug auf. Es wurde auf einem Außenplatz gespielt. Dort war der Auslauf etwas geringer als auf den beiden Showcourts. Das sollte für Dustin eher ein Vorteil sein, da wir normalerweise immer auf solchen Plätzen spielten.

Allerdings war auch hier das Publikum deutlich auf Dustins Seite. In England werden die „Underdogs“ immer gern unterstützt. Vor allem, wenn sie Kampfgeist zeigten. Und das tat Dustin natürlich ganz besonders.

Ich war wenige Minuten später wieder komplett im Spiel und unterstützte Maxi dabei, Dustin zu beruhigen. Er übertrieb es manchmal mit der Art, einen Punkt zu spielen. Einfacher war hier oft besser. Aber Maxi gelang es nicht, Dustin das zu vermitteln. Ganz bitter war ein Punkt beim Stand von 5:5 und Aufschlag Sinner. Bei 15:40 hatte Dustin den Ballwechsel dominiert und brauchte nur noch den Punkt zu Ende zu spielen. Das wäre ein Break zum 6:5 gewesen.

Leider wollte Dustin mit einem spektakulären Volleystopp den Ballwechsel beenden, der dann neben die Linie fiel und es halt 30:40 stand und nicht 6:5 für Dustin. Und jetzt brach bei Dustin ein altes Verhalten wieder auf. Er wurde ungeduldig und wollte es nun erzwingen. Gegen einen Jannik Sinner war das keine gute Idee. Er war die Ruhe selbst und drehte das Aufschlagspiel und Dustin stand jetzt unter dem Druck, seinen Aufschlag gewinnen zu müssen.

Und Maxi gab in diesem Moment vielleicht die falschen Signale. Er pushte Dustin weiter nach vorn. Ich hätte jetzt auf jeden Fall versucht, Dustin zu beruhigen und runterzuholen. Aber ich würde auf keinen Fall Maxi jetzt einen Vorwurf machen. Leider hatte das zur Folge, dass der erste Satz mit 5:7 verloren ging.

Dustins Schläger flog gefrustet unter seinen Stuhl. Der Stuhlschiedsrichter zeigte jetzt seine Erfahrung und ermahnte Dustin nur. Er hätte auch direkt eine Verwarnung aussprechen können.

Erstaunlicherweise entschuldigte sich Dustin direkt beim Unparteiischen und suchte jetzt direkt den Blickkontakt zu mir.

Ich beruhigte ihn und forderte ihn auf, direkt weiter aggressiv zu spielen. Nicht nachzulassen und die Konzentration zu behalten. Im Gegensatz zu früher nickte Dustin nur kurz und machte seine gewohnten Dinge in einer Satzpause. Für mich eine tolle Reaktion und das ließ mich hoffen, dass dieses Spiel weiterhin spannend bleiben würde.

Und es blieb spannend. Der zweite Satz ging sogar in den Tie-Break. Das Publikum stand wie eine Wand hinter Dustin und witterte eine große Überraschung.

Für Maxi war diese Situation mit Sicherheit nicht angenehm, denn Dustin hatte sich intuitiv zu mir gewandt und ich war direkt darauf eingestiegen. Allerdings hatte ich gerade keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Der Tie-Break war bis zum 9:9 sehr ausgeglichen und dann kam der neue Dustin zum Vorschein. Sinner schlug noch einmal auf und Dustin stellte sich beim zweiten Aufschlag provokativ einen Meter ins Feld. Sein Return war ein Alles-oder-nichts-Ball und dieses Mal schlug der Ball unerreichbar im Feld ein. Damit hatte Dustin tatsächlich einen Satzball. Bei eigenem Aufschlag.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich wusste, jetzt war Gelassenheit gefragt. Dustin schaute zu uns in die Box, bevor er sich zum Aufschlag stellte.

Das Publikum tobte, denn mit einem Satzgewinn konnte hier niemand rechnen.

Und dieser Punkt entwickelte sich zu einem kleinen Drama. Sinner traf bei seinem Return die Netzkante und Dustin erreichte den Ball nur mit Mühe. Eigentlich ein klarer Vorteil für den Tiroler, aber er verschlug seine Vorhand und damit hatte Dustin den zweiten Satz für sich entschieden.

Tiefes Durchatmen bei uns in der Box. Bei mir kam sogar etwas Freude auf, denn Dustin hatte sich diesen Satzgewinn mit einer tollen Leistung verdient.

Ich überlegte aber jetzt, wie ich das Coaching-Thema lösen sollte. Eigentlich wechselten wir nicht während eines Matches den zuständigen Coach. Ich wollte das auch heute nicht, aber Dustin hatte sich so entschieden. Vermutlich gar nicht einmal bewusst, sondern aus der Gewohnheit heraus.

Ich entschied mich, Maxi wieder die Verantwortung zu überlassen und verließ für einige Minuten unsere Box. Damit musste Dustin wieder mit Maxi kommunizieren und ich konnte mich bei meiner Rückkehr wieder in den Hintergrund begeben. Das klappte auch ohne Probleme. Dustin tauschte sich mit Maxi aus, als ob es das gesamte Match so gewesen wäre.

Und Maxi war ein gefragter Mann, denn Sinner legte doch noch einen Gang zu und hatte beim Stand von 5:4 und eigenem Service die Chance, den dritten Satz zu gewinnen. Dustin hatte jetzt leider zweimal nicht das Glück auf seiner Seite und verlor diesen Satz mit 4:6.

Aber er wirkte nicht enttäuscht. Dennoch konnte ich erkennen, dass er müde wirkte. Sein Akku hatte sich entleert und die harten Spiele zeigten Wirkung. Sinner hatte noch zuzusetzen und daher war der vierte Satz schnell erzählt. Dustin brach etwas ein und ein schnelles 6:2 war die Konsequenz.

Damit waren alle Jungs aus dem Einzelwettbewerb ausgeschieden. Aber erst in der dritten Runde. Für mich war das ein großer Erfolg und das zeigte ich auch Maxi und Justin bereits in der Box. Wir umarmten uns, als ich meinte:

„Das war eine klasse Leistung von uns. Gerade Maxi als Coach hat sich gut geschlagen. Ich finde, wir dürfen uns heute ruhig eine Belohnung gönnen. Was denkst du, Marc?“

Bevor er antworten konnte, lachte Sabine:

„Aber ganz bestimmt. Und auch du solltest dich belohnen. Also heute Abend gehen wir ganz schick bei uns im Hotel essen. Ich hoffe, die Jungs müssen morgen nicht schon um elf Uhr auf den Platz gehen.“

Der Spielplan für den morgigen Tag war zwar noch nicht offiziell bestätigt, aber ich konnte bereits erkennen, dass wir nicht vor dreizehn Uhr auf den Platz gehen würden.

Aber jetzt stand zuerst einmal ein kurzes Gespräch mit Dustin an. Maxi und ich verließen zügig unsere Box und tatsächlich wurden wir bereits erwartet.

„Sorry, Chris, aber ich war im vierten Satz einfach tot. Meine Beine wollten nicht mehr so wie ich wollte. Aber bis dahin habe ich gut mitgespielt. Oder nicht?“

Das war wieder der alte Dustin. Immer noch etwas Selbstzweifel.

„Das war ein hervorragendes Match, Dustin. Du kannst absolut zufrieden sein. Ich glaube nicht, dass du zum jetzigen Zeitpunkt schon besser spielen kannst. Im ersten Satz hat dir vor allem die Erfahrung gefehlt. Und die bekommst du nur durch das Spielen solcher Matches. Lass dich jetzt ausgiebig massieren und wenn du mit allem fertig bist, treffen wir uns im Spielerbereich. Heute Abend gehen wir mit Marc und Sabine schick essen. Das haben wir uns verdient.“

Dustin nickte und er umarmte zuerst Maxi und dann mich mit einem „Danke“. Erst danach verschwand er in der Umkleide.

Das nutzte ich, um mit Maxi über die Situation während des Spieles zu sprechen. Er hatte natürlich bemerkt, dass Dustin in dieser schwierigen Situation mit mir in den Dialog gegangen war.

„Ich wollte das eigentlich nicht, aber wenn er mich so direkt anspricht, kann ich das auch nicht verweigern. Ich glaube, dass er das gar nicht bewusst so gemacht hat. Er hat einfach Sicherheit gesucht.“

„Hey“, erwiderte Maxi entspannt, „ist doch gar nicht schlimm. Ich glaube, ich hätte es genauso getan. Du bist für Dustin die gewohnte Person. Er weiß genau, wie du tickst und was du machst. Und danach haben wir doch auch wieder gut harmoniert. Ich würde Dustin nur später mal fragen dürfen, ob er das bewusst so gemacht hat oder nicht.“

„Ein guter Gedanke. Und ich finde es großartig, dass du damit kein Problem hast. Jetzt müssen wir beide uns mal Gedanken machen, wie es weitergehen wird. Dustin und Fynn spielen morgen ihr Doppel. Und ich überlege, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn du mit Justin schon nach Halle zurückfährst. Oder du allein zurückfährst, damit du bei deiner Mutter sein kannst. Ich gehe zwar davon aus, dass Krawietz/Pütz klare Favoriten sind, aber momentan traue ich Dustin und Fynn im Doppel alles zu.“

„Ja, dieser Gedanke, nach Hause zu fliegen, ist mir auch schon gekommen. Jetzt spielen wir ja nur noch Doppel. Aber ich glaube, dass es klüger wäre, Justin bleibt hier. Dustin und Fynn sind es gewohnt, bis zum Schluss als Team zusammen zu bleiben. Wenn ich zurückfliege, das wäre nicht so schlimm. Und Mama freut sich mit Sicherheit, wenn ich ein paar Tage mehr zu Hause bin.“

„Ja, kann ich verstehen. Versuch doch mal, einen Flug zurück zu bekommen. Wenn das klappt, dann machen wir das so. Jan ist ja auch noch da.“

Und tatsächlich hatte Maxi noch am Nachmittag die Möglichkeit, einen Flug zurück nach Deutschland zu bekommen. Damit war das beschlossen. Ich hatte Jan informiert und er war auch einverstanden. Justin sollte Andy als Trainingspartner zur Verfügung bleiben. Damit war das auch gut gelöst.

Einige Zeit später saß ich mit Jan in unserer Unterkunft und die Jungs saßen auf der Couch im Wohnzimmer. Ich hatte den Laptop vor mir auf dem Tisch und schaute mir das Doppel von Krawietz/Pütz als Aufzeichnung an.

„Hast du bei unseren Gegnern schon etwas gefunden, was für uns von Vorteil sein könnte?“, fragte Fynn von der Couch und kam zu mir an den Tisch.

Ich blickte zu ihm hinauf und erwiderte:

„Natürlich, es gibt immer Schwachpunkte bei einem Doppel. Die Frage ist doch nur, gelingt es uns, diese Schwachstellen im Spiel auch zu nutzen.“

Ich wusste, dass ich damit seine Neugier geweckt hatte. Fynn wollte immer alles wissen, um sich verbessern zu können. Dustin wollte auch immer das Maximum aus sich herausholen. Er hatte natürlich mitbekommen, was ich gesagt hatte. Aber Dustin hatte dazugelernt. Früher wäre es einfach gewesen, ihn mit so einer Geschichte auf den Arm zu nehmen. Heute gelang das nicht mehr.

„Du hast doch schon einen Schlachtplan, sonst würdest du so eine Aussage nicht machen“, schmunzelte Dustin und gab seinem Freund einen Kuss.

„Hey“, warf Jan lachend ein, „deine Jungs lernen immer schneller. Sie wissen, dass du ein exzellenter Stratege bist und lassen dich in Ruhe arbeiten. Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hätten sie dir jetzt Löcher in den Bauch gefragt. Hihihi“

Und jetzt zeigte sich ihre positive Entwicklung deutlich. Beide reagierten mit einem Lachen und setzten sich einfach zu uns an den Tisch.

Ohne dass ich sie aufgefordert hatte, kamen wir so in die Matchvorbereitung und es entwickelte sich ein tolles Gespräch. Beide konnten zugeben, dass sie vor ihrem Gegner großen Respekt hatten. Es war ihnen bewusst, dass das eins der besten Doppel der Welt war, aber sie hatten keine Angst mehr.

Ihnen war bewusst, dass ihre Fähigkeiten mittlerweile gut genug waren, um gegen jeden Gegner mitspielen zu können. Das hatte ihr Selbstbewusstsein deutlich gestärkt. Vielleicht würde es morgen auch zu einer besonderen Leistung führen. Vor allem, weil sie ausgeruht waren.

Und sie waren am nächsten Morgen nicht nur ausgeruht, sondern bester Laune und entspannt. Vor einem Match hatte ich das noch nicht so oft erlebt. Natürlich hatte Justin das auch bemerkt. Und er war es mit der Bemerkung:

„Oha, ihr müsst ja eine tolle Nacht gehabt haben. So entspannt am frühen Morgen, hihihi.“

Und sofort begann mein Kopfkino mir ein Grinsen in das Gesicht zu zaubern. Justins Schlafzimmer lag dieses Mal nicht neben dem von Dustin und Fynn, daher hatte es keine Nebengeräusche gegeben für Justin. Aber die Reaktion von Dustin freute mich.

„Ja, die Nacht war sehr erholsam und jetzt sind wir entspannt und befriedigt und können unsere Gegner richtig ärgern.“

„Aber erst nach einem guten Frühstück. Vorher mache ich keinen Handschlag“, ergänzte Fynn lachend.

Na, das war doch mal ein Start in den Tag. So locker war es vor einem wichtigen Spiel selten. Das gab mir ein gutes Gefühl und während des Frühstücks blieb es lustig mit lockeren Sprüchen. Dustin zeigte mir eine Whatsapp-Nachricht aus der WG. Auch dort machten sich alle natürlich Gedanken über die letzte Nacht. Aber sehr lustig und locker.

Als Jan zu uns kam, herrschte schon das blühende Leben am Tisch und staunend nahm Jan neben mir am Tisch Platz.

„Was ist denn hier passiert? Die Jungs mit bester Laune beim Frühstück. Das muss ja eine tolle Nacht gewesen sein, hihihi.“

Ich nickte und erwiderte:

„Ja, schaut so aus. Aber soll mir recht sein. Dann haben wir deutlich weniger Stress vor dem Doppel. Und wenn sie ihre Lockerheit bis auf den Platz nehmen, dann müssen sich Krawietz und Pütz sehr warm anziehen.“

„Ja, das stimmt, aber ich denke, dass sie das ohnehin machen sollten. Ich glaube an unsere Jungs. Da geht was. Im Doppel ist nahezu alles möglich.“

Obwohl Dustin und Fynn, je näher die Startzeit rückte, doch angespannter wurden, war ich guter Dinge. Sie hatten überhaupt keinen Druck und genau das wollte ich ausnutzen.

Auf dem Weg in die Umkleide hatte ich noch einmal die Gelegenheit, mit ihnen über das kommende Spiel zu sprechen.

„Passt auf, ihr beiden, ich möchte, dass ihr einfach so aggressiv anfangt, als ob es ein Trainingsmatch wäre. Sollte das wider erwarten nach hinten losgehen, könnt ihr immer noch reagieren. Aber sollte das klappen, werdet ihr das Überraschungsmoment auf eurer Seite haben und zumindest im ersten Satz immer mit einer Führung im Rücken agieren können.“

Beide schauten mich fast entgeistert an. Fynn fragte nach:

„Meinst du das wirklich ernst? Die lachen sich doch über uns dann tot, wenn das nicht klappt …“.

Bevor er fortfahren konnte, haute Dustin einen oben drauf.

„Hey, gar nicht zweifeln, wir machen das einfach so. Chris kennt uns wie kein anderer. Er hat einen Plan und wir haben mit seinen Plänen bisher immer Erfolg gehabt. Außerdem finde ich das geil. Einfach mal Attacke machen und dann schauen, was passiert. Gefällt mir gut. Chris hatte es gestern doch schon erwähnt.“

Er hielt mir direkt seine Hand hin und ich schlug ein. Auch Fynn zögerte nur kurz, um dann lachend zu erwidern:

„In Ordnung, dann lasst uns zum Angriff blasen. Wir hauen sie weg. Sie sind ja nur die Nummer drei der Setzliste. Hihihi. Das wird eine geile Show.“

Danach ließ ich die beiden allein. Sie sollten die letzten Minuten für sich sein können. Ich ging zurück zum Platz und wurde am Eingang nach meinem Ausweis gefragt. Natürlich hatte ich den auch bei mir und als ich ihn vorgezeigt hatte, meinte der Security-Mitarbeiter:

„Ich wünsche euch viel Erfolg. Die beiden Jungs machen einen tollen Job hier. Ich glaube, da geht noch mehr.“

Ich nickte freundlich und meinte dazu nur:

„Schauen wir mal, aber es stimmt. Sie machen einen tollen Job bis hierher. Und danke für den Support.“

An das, was jetzt folgte, werde ich noch lange denken. Dustin und Fynn betraten wenige Minuten später mit ihren Gegnern gemeinsam den Platz. Die Zuschauer begrüßten die vier mit freundlichem Applaus.

Schon während der fünfminütigen Einschlagzeit konnte ich erkennen, dass sich Dustin und Fynn mächtig was vorgenommen hatten.

Mit Spielbeginn zündeten beide ihren Nachbrenner und spielten wie aufgedreht. Aggressiv, entschlossen und präzise flogen die Bälle ins Feld. Vorn am Netz standen sie wie eine Wand und boten keinerlei Schwachstellen.

Sie redeten miteinander auf dem Platz und hatten alles gut im Griff. Wobei ich innerlich Freudenztänze machte, denn es stand nach zwanzig Minuten 5:0 im ersten Satz. Bevor Tim Pütz und Kevin Krawietz realisierten, dass der Satz komplett an ihnen vorbeigelaufen war, stand es 6:0 für Dustin und Fynn.

Das Publikum feuerte unsere Jungs geradezu frenetisch an und erst bei 3:0 im zweiten Satz gelang Tim Pütz der erste Servicegewinn. Ich war gewarnt, denn es war mir vollkommen klar, dass das Spiel nicht so weiterlaufen würde.

Entsprechend überlegte ich, meinen Jungs einen Warnhinweis zu geben, aber andererseits lief es gerade richtig gut. Sollten sie jetzt leichtsinnig werden, würde ich eingreifen, sonst sollten sie so weitemachen dürfen.

Allerdings fehlten nur noch drei Spiele zu einem vollkommen überraschenden Sieg gegen die Nummer drei der Setzliste. Und das führte bei mir zu einer steigenden Nervosität, die ich nach außen unbedingt verbergen musste.

Bei 5:2 schlug Dustin zum Matchgewinn auf. Jetzt saßen beide Jungs auf ihren Stühlen und blickten zu mir. Ich zeigte ihnen nur meine Faust und den Zeigefinger an die Schläfe. Dustin stutzte für einen Augenblick und plötzlich begann er zu lachen. Fynn blickte irritiert zu seinem Freund, der ihm als Antwort einen Kuss gab und dann wieder vom Stuhl aufstand, bevor vom Schiedsrichter das „Time“ kam.

Allerdings sprachen sie noch kurz vor dem Aufschlag miteinander und Fynn schaute erneut zu mir und nickte. Jetzt war ich mir sicher, das würde nicht mehr schiefgehen. Und richtig, Dustin schlug zwei Asse und einen Service-Winner. Damit stand es nur nach Sekunden bereits 40:0 und drei Matchbälle folgten. Das war so unglaublich, wie die beiden das deutlich besser eingestufte Doppel geradezu abfertigten.

Den letzten Punkt machte dann Fynn vorn am Netz. Unsere beiden Jungs hatten gewonnen und standen im Achtelfinale in der Doppelkonkurrenz. Was für eine Performance und ein Auftritt, der mit Sicherheit noch Gesprächsthema sein würde.

Plötzlich bekam ich einen Schlag von hinten auf meine Schulter. Ich war so tief im Spiel eingetaucht, dass ich nicht mehr daran gedacht hatte, dass Marc und Sabine bei mir gesessen hatten.

Als ich mich umgedreht hatte, umarmte mich Marc mit den Worten:

„Was für eine geile Vorstellung. Das war ganz großes Kino. Damit hatte ich so überhaupt nicht gerechnet. Heute ist hier ein neues Doppel geboren worden, das noch viel bewegen kann. Lass uns gehen und mit den Jungs freuen.“

Auch Sabine strahlte und freute sich mit mir.

„Zur Belohnung gehen wir eine Latte trinken. Auch wenn wir in England sind. Das muss jetzt sein“, lachte Sabine.

„Ihr könnt schon vorgehen. Ich muss unbedingt die beiden Jungs vor der Umkleide abfangen. Sonst wird Dustin sofort unruhig werden. Außerdem möchte ich ihnen gratulieren. Das Spiel war eine Demonstration ihrer Stärken.“

„Na gut, hahaha, ausnahmsweise genehmigt“, lachte Sabine und wir verließen den Platz.

Ich beeilte mich, zu den Umkleiden zu kommen. Und tatsächlich war ich vor meinen Jungs dort. Sie kamen überraschenderweise mit ihren Gegnern gemeinsam zurück. In einer entspannten Unterhaltung. Das hatte ich gar nicht erwartet. Und als die vier bei mir angekommen waren, meinte Tim Pütz zu mir:

„Du hast deine Jungs richtig gut vorbereitet. Das war unglaublich gut gespielt. Wie gut können die noch werden? Sie sind gerade mal achtzehn Jahre alt. Ganz großes Kino, wirklich. Sie haben vollkommen verdient, auch in der Deutlichkeit, gewonnen. Wir wünschen euch noch viel Erfolg und wenn ihr so weitermacht, kommt ihr hier noch sehr weit.“

Ich bedankte mich für das faire Lob und dann verabschiedeten sich Tim Pütz und Kevin Krawietz von uns. Dustin konnte es kaum noch erwarten, mich zu umarmen.

„Danke, Chris. Deine Unterstützung ist einfach geil. Ich habe mich so gut auf dem Platz gefühlt. Das war absolut krass. Auch, dass mein Schatz mit mir auf dem Platz steht, macht so viel Spaß.“

Dustin sprudelte fast über vor Freude und Euphorie. Für einen Moment musste ich das laufen lassen, aber das Turnier war noch nicht vorbei.

„Danke für dein Lob, Dustin. Allerdings sehe ich das eher bei euch beiden selbst. Ihr seid diejenigen, die selbstbewusst und mit ganz viel Freude und Lust auf Tennis auf dem Platz stehen und ein richtig gutes Team darstellen. Mit dieser Leistung ist hier noch nicht Schluss. Aber jetzt ist das normale Programm nach einem Match angesagt. Und vergesst die Siegerpressekonferenz nicht.“

Nach dem letzten Satz musste ich lachen. Aber ich wollte schnell wieder in die normale Routine zurück. Klar, das war ein großer Erfolg und da sollte Freude auch erlaubt sein, aber ich wollte jetzt noch mehr. Mir war bewusst geworden, dass diese beiden Jungs ein ganz besonderes Doppel werden könnten.

Meine Anspannung wollte noch nicht so richtig weichen. Gedanklich war ich schon beim nächsten Gegner. Ein recht unbekanntes Team aus Ecuador. Das hieß allerdings in der Doppelkonkurrenz nicht viel.

Fast hätte ich gar nicht bemerkt, dass mittlerweile Mathias Stach vor mir stand. Er war früher selbst Bundeligaspieler gewesen und seit einigen Jahren Eurosport-Mitarbeiter.

„Hallo Chris, das war mal ganz großes Kino. Eins der Favoritendoppel mal eben abserviert. Ich möchte über euch gern einen Bericht für Eurosport machen. Können wir ein Interview mit den beiden Jungs machen?“

„Dass du einen Bericht machen möchtest, kann ich verstehen. Auch dass ihr ein Interview möchtet, aber jetzt brauchen die beiden Ruhe und keine Presse um sich herum. Sei mir nicht böse, aber morgen früh steht schon das nächste Spiel an. Sollten sie das auch noch gewinnen, dann haben sie einen freien Tag. Da können wir das gern machen.“

Mathias war zwar etwas enttäuscht, aber er hatte Verständnis für meinen Vorschlag. Also akzeptierte er das und wir hatten besprochen, dass er sich morgen nach dem Match melden sollte.

Auf dem Weg zur Players-Lounge wunderte ich mich über mich selbst. Ich hatte der Presse im Prinzip einen Korb gegeben, ohne mit Jan gesprochen zu haben. War das richtig und durfte ich das jetzt? Obwohl ich davon überzeugt war, dass es im Sinne der Jungs war, kamen Selbstzweifel hoch. Wie früher.

Als ich im Players-Bereich ankam, hatten sich Marc und Sabine bereits mit Justin einen Platz gesucht und für mich einen Platz am Tisch freigehalten. Leider war Jan noch beschäftigt. Ich hätte mit ihm jetzt gerne das Thema Presse besprochen. Es ließ mir keine Ruhe.

Marc bestellte mir eine Latte Macchiato und Sabine schaute mich an und lächelte, als sie meinte:

„Du bist noch angespannt. Ich finde, wir können uns jetzt etwas entspannen. Du hast mal Pause. Oder gibt es gerade noch ein wichtiges Problem, das du genau jetzt lösen musst?“

„Ich habe gerade eine Interviewanfrage von Eurosport abgelehnt. Die Jungs sollen zur Ruhe kommen, aber ich habe Jan nicht fragen können. Er wollte immer über die Presseanfragen informiert sein. Jetzt habe ich das auf nach dem nächsten Match verschoben.“

„Hast du Jan eine Nachricht geschrieben?“, fragte Justin.

„Ja, natürlich, aber ich habe keine Antwort erhalten, vermutlich weil er bei Andy am Platz sitzt.“

„Genau“, lachte Justin, „ich habe bis vor zehn Minuten bei Jan gesessen und er hat deine Nachricht gelesen. Er lässt dir ausrichten, dass du es genau richtig entschieden hast. Und dass du solche Entscheidungen auch treffen sollst. Er möchte nur eine Info haben, damit er dich unterstützen kann, wenn es problematisch werden sollte.“

Das war für mich eine wichtige Information und beruhigte mich. Sofort entspannte sich mein Körper und als Marc mit dem Latte Macchiato kam, konnte ich diese Minuten richtig genießen.

Diese wenigen Minuten mit Marc und Sabine waren wichtig für mich und meine Psyche. Obwohl ich genau wusste, wie sehr ich auf Stress reagiere, konnte ich hier nicht einen Gang zurückschalten. Auch die Nacht war unruhig und ich fühlte mich am nächsten Morgen einfach nicht gut.

Allerdings hatten meine Jungs mittlerweile wohl erkannt, dass es ihrem Coach nicht gut geht. Justin war tatsächlich vor mir aufgestanden, hatte bereits frische Brötchen vom Bäcker geholt und hatte gerade die Kanne mit frischem Kaffee auf den Tisch gestellt.

„Hallo Chris, wie geht es dir heute? Wir brauchen deine ganze Kraft am Platz. Immerhin können wir ein Viertelfinale bei einem der wichtigsten Turniere überhaupt erreichen.“

„Hallo Justin. Vielen Dank für deine tolle Vorbereitung hier. Um auf deine Frage zu antworten, es geht mir heute nicht so richtig gut. Die Nacht war unruhig. Aber das behältst du bitte für dich. Dustin und Fynn brauchen all ihre Energie für das Match. Ich komme nicht wirklich zur Ruhe und das kostet Kraft.“

„Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, das vor uns zu verheimlichen. Wir haben es bereits gestern schon bemerkt. Wir brauchen dich gesund und fit am Platz. Also du setzt dich an den Tisch und wir kümmern uns um das Frühstück.“

Wo kam das denn her? Ich drehte mich um und auch Dustin und Fynn standen in der Zimmertür und kamen herein. Also ein klarer Fall von abgesprochener Aktion. Aber Dustin kam zu mir und meinte:

„Pass auf, Chris, wir sind nur als Team so stark. Du brauchst auch mal Ruhe und wir sind ja auch keine kleinen Kinder mehr. Und weißt du was, du hast Justin gerade klar gesagt, dass es dir nicht so gut geht. Das finde ich toll. Also nicht, dass es dir nicht gut geht, sondern dass du es klar gesagt hast. Wir bekommen das schon wieder auf die Reihe. Ich bin mir sicher, mit der Leistung von gestern gewinnen wir auch heute unser Spiel.“

Danach umarmte und drückte er mich ganz fest. Auch Fynn tat es ihm nach und erst als alles fertig auf dem Tisch stand, begannen wir gemeinsam unser Frühstück. Jan hatte heute einen anderen Zeitplan und daher würden wir uns erst auf der Anlage treffen.

Meine Jungs hatten sich weiterentwickelt und das gefiel mir. Sie gerieten nicht in Panik, sondern sie begannen aktiv die Situation zu verändern. Auch beim Frühstück blieb alles ruhig und besonnen. Erst als es in die direkte Vorbereitung für das Doppel ging, spürte ich eine leichte Unsicherheit, insbesondere bei Dustin.

„Wir fahren gleich zur Anlage und ihr könnt euch einschlagen. Ich werde bei euch bleiben und somit der Presse bestmöglich aus dem Weg gehen. Ihr habt auf dem Platz die meiste Ruhe und wir können uns gut vorbereiten. Ich glaube, dass tatsächlich ein Viertelfinale möglich ist. Was meint ihr?“

Dustin schaute mich irritiert an. Nach einer Gedenksekunde fing er an zu lachen.

„Hey, das klang richtig gut. Und ja, ich stimme zu. Heute ist ein Viertelfinale im Doppel möglich. Und ich möchte das auch haben. Also, volle Attacke und keine Angst vor dem Gegner.“

„Dann sind wir uns ja einig. Also wir schaffen das heute“, lachte ich und es half mir, mit der für mich schwierigen Situation leichter umgehen zu können.

Auch Marc und Sabine ließen uns weitestgehend in Ruhe. Insbesondere Sabine blieb aber in meiner Nähe am Platz. Allerdings mischte sie sich nirgends ein. Marc lenkte quasi mit seiner Anwesenheit die Presse ab und so konnte ich mich mit den Jungs optimal vorbereiten. Das war möglicherweise der Schlüssel für ein tolles Match, das folgen sollte.

Mitte des zweiten Satzes fing ich so langsam an zu realisieren, dass Dustin und Fynn alles unter Kontrolle hatten und souverän auf dem Platz agierten. Insofern folgten tatsächlich ein glatter Zweisatzsieg und das Erreichen des Viertelfinales in Wimbledon.

Obwohl beide sich unbändig freuten, blieben sie auf dem Platz cool und zurückhaltend. Erst als sie mich vor der Umkleide in Empfang nahmen, brach es aus ihnen heraus.

„Wie geil ist das eigentlich gerade? Viertelfinale im Doppel in Wimbledon. Einfach crazy, Chris“, strahlte Dustin und auch Fynn umarmte mich fest.

Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl gab mir viel Sicherheit und Stärke zurück. Meine Jungs waren angekommen und zeigten ihre große Stärke auf dem Platz. Sie verstanden sich praktisch blind und jeder wusste, was der andere dachte und tat. Ich musste nicht mehr ständig eingreifen oder Hinweise geben. Aber sie waren sich auch einig, als Dustin noch einen draufsetzte:

„Wir werden auch das nächste Spiel sehr stark sein. Du gibst uns die Sicherheit, dass wir frei spielen können. Das macht im Moment so einen Spaß. Ehrlicherweise habe ich auch etwas Angst, dass ich gleich aus diesem Traum aufwachen und alles vorbei sein könnte.“

„Hahaha“, lachte ich, „ich kann dir ganz sicher sagen, es ist kein Traum und du musst keine Angst haben, aufzuwachen. Wir können heute das ernten, was wir in den letzten Jahren gesät haben. Mir gefällt das richtig gut.“

Als ich endlich wieder im Players-Bereich saß, wunderte ich mich. Von Marc und Sabine noch nichts zu sehen. Auch Justin konnte ich nirgends finden. Also holte ich mir eine Latte Macchiato und setzte mich an einen freien Tisch, nahm mein Handy heraus und staunte. Fünfzehn Nachrichten waren eingegangen. Aus Halle, aus München und von Jan. Diese Nachricht musste ich natürlich als erste lesen. Dort schrieb er mir, dass er bei Andy am Platz wäre und wenn ich mich etwas erholt hätte, würde er sich freuen, mich dort zu begrüßen. Auch Marc hatte mir ein Bild geschickt. Dort konnte ich erkennen, dass er mit Justin und Sabine bei Jan am Platz saß.

Dennoch ließ ich mich heute das erste Mal nicht hetzen und bestellte mir sogar noch eine zweite Latte Macchiato, bevor ich dann zu Platz dreizehn ging.

Auf dem Weg dorthin begegnete mir erneut Mathias Stach. Natürlich hakte er jetzt nach dem morgigen Interview nach und jetzt konnte ich nicht mehr nein sagen und wir verabredeten uns für den frühen Nachmittag. Aber in unserer Unterkunft und nicht auf der Anlage. Ich wollte am freien Tag mit den Jungs meine Ruhe haben.

Das war schnell besprochen und dann kam ich an den Platz. Vor dem Eingang standen viele Jugendliche und warteten anscheinend auf Andy, sollte er nach dem Match den Platz verlassen. Für den Center Court benötigte man ein zusätzliches Ticket. Das war sehr teuer und daher blieben viele Jugendliche vor dem großen Stadion.

Umso größer war meine Verwirrung, als die Kids auf mich zuliefen und mich um ein Autogramm baten. Es bildete sich schnell eine kleine Traube um mich herum und mir behagte das überhaupt nicht. Aber wie sollte ich das jetzt lösen?

Ich schrieb fleißig Autogramme und ließ auch einige Selfies machen. Aber irgendwie wurden es kaum weniger Fans.

Allerdings hatte ich doch noch etwas Glück, denn bald kam der Djoker vorbei und damit war natürlich die Aufmerksamkeit schnell auf den Serben gerichtet und ich konnte zu Jan auf die Tribüne gehen.

Ich musste bis zum nächsten Seitenwechsel warten, dann durfte ich Jans Box betreten. Diese Box lag genau gegenüber der Royal Box. Und dort saß heute Prinz William mit seiner Familie. Das war schon ein besonderer Moment für mich. Allerdings nicht, weil er der Thronfolger war, sondern weil er ein außergewöhnlich engagierter Mann war, wenn es um benachteiligte Menschen ging. Und vielleicht auch, weil er sehr offen gegenüber homosexuellen Menschen auftrat. Das war im konservativen Königshaus von Großbritannien nicht so selbstverständlich.

Woran ich mich überhaupt nicht gewöhnen konnte, waren die vielen Klicks der Kameras, als ich die Coachingbox betrat. Ich war ein „Nobody“ im professionellen Tennis und hatte, im Gegensatz zu Jan, noch nicht viel erreicht.

Jan begrüßte mich während der Wechselpause erstaunlich locker. Mit einer Umarmung. Auch das war für mich noch recht neu, gefiel mir aber gut.

„Na, das ist doch mal ein geiles Ergebnis“, lachte er leise, „So langsam macht mir der Erfolg der Jungs etwas Angst. Wo soll das denn noch hinführen, wenn sie schon beim ersten Wimbledon-Turnier ins Halbfinale kommen.“

„Viertelfinale“, erwiderte ich, „noch ist es Viertelfinale. Also mal schön die Kirche im Dorf lassen.“

Jan reagierte eigenartig. Er wusste etwas, was ich noch nicht wusste. Auch Justin hatte dieses leichte Grinsen im Gesicht. Aber es konnte keine weiteren Gespräche geben, denn das Match wurde fortgesetzt. Mit einem Blick auf das Scoreboard konnte ich die gute Stimmung auf den Rängen verstehen. Andy lag mit zwei Sätzen vorn. Allerdings im dritten Satz stand es 1:2 bei Service von Andy. Es war also alles noch in der Reihe.

Erstaunlicherweise konnte ich jetzt beim Match von Andy sogar schon etwas entspannen. Jan war verantwortlicher Coach und da war ich nicht gefordert. Umso besser gefiel mir die Möglichkeit, in den Wechselpausen mit Marc, Sabine und Justin leise zu sprechen. Auf die vielen Kameras hatte ich eh keinen Einfluss.

Während mir Marc ein paar Bilder und Nachrichten von Luc und Stef zeigte, meinte er zu mir:

„Verhalte dich wie immer. Du musst die Presse einfach ausblenden. Sei du selbst und alles wird richtig sein. Du hast überhaupt keinen Grund, irgendetwas an deinem Verhalten zu verändern. Das wird die Presse auch bald mitbekommen. Noch bist du neu in diesem Bereich.“

Ich schaute kurz in Marcs Gesicht und erwiderte:

„Ich fühle mich wie in einem Schaukasten und kann nicht einmal daraus entfliehen.“

„Falsch“, kam von Sabine mit einem freundlichen Schmunzeln, „stell dir vor, sie möchten von dir etwas und du entscheidest, ob und was sie bekommen. Wenn du so normal wie sonst bist, werden sie dich bald alle kennen und nicht ständig so tun, als ob du etwas Besonderes bist. Und wenn du privat bist und nicht bei der Arbeit, dann haben sie nichts bei dir verloren, es sei denn, du hast sie eingeladen.“

„Und genau das musst du ihnen dann auch so sagen und durchsetzen“, ergänzte Marc und reichte mir eine kalte Cola.

Das Spiel ging in die entscheidende Phase des dritten Satzes und bei Jan konnte ich zum ersten Mal eine richtige Anspannung fühlen. Das war mir noch nie so aufgefallen. Justin fragte mich beim Spielstand von 5:4 für Andys Gegner:

„Luc hat mich gefragt, ob du einverstanden wärest, wenn sie zum Halbfinale herkommen würden.

„Warum, verdammt nochmal, redet ihr alle schon vom Halbfinale? Es ist doch erst das Viertelfinale. So langsam nervt mich das.“

Justin nahm sein Handy, blätterte auf dem Screen und dann hielt er mir eine Mitteilung vom offiziellen Turnierbüro aus Wimbledon vor die Nase. Dort stand tatsächlich geschrieben, dass der Gegner von Dustin und Fynn zurückgezogen hatte, da Daniil Medwedev sich nur auf sein Einzel konzentrieren möchte. Also tatsächlich wäre es das Halbfinale in der Herren-Doppelkonkurrenz. Und es bedeutete einen weiteren Tag Erholung.

Erneut fragte mich Justin, ob ich die Anreise von Luc und Stef erlauben würde.

„Dann ist das natürlich erlaubt und gern gesehen. Haben Sabine oder Marc schon etwas gesagt, wie das mit dem Quartier sein wird?“

Justin nickte und grinste:

„Worauf du Gift nehmen kannst. Du brauchst dich um gar nichts zu kümmern. Marc hat das im Griff. Nach dem Spiel wird er dir erklären, was genau geplant wird.“

Mittlerweile konnte ich diese Sache gut abgeben und genoss es auch, dass mich Marc und Sabine hier entlasten konnten und für mich Freiraum schafften. Das musste aber auch gehen, wenn sie nicht dabei sein würden. Wie ich das dann regeln würde, war mir noch nicht klar. Aber ich hatte gelernt, mich nicht mehr mit „ungefangenen Fischen“ zu beschäftigen.

Jetzt wollte ich den Rest des Einzels von Andy verfolgen, ohne störende Randschauplätze.

Und Andy zeigte seine Routine in bester Form. Hier konnten unsere Jungs noch viel lernen. Andy gewann sein Einzel erneut klar und deutlich.

„Gratulation“, umarmte ich Jan mit Freude, „das Turnier entwickelt sich zu einem tollen Erfolg.“

„Danke, ja. Das kannst du laut sagen. Ich möchte gern mit euch gleich etwas besprechen. Können wir uns bei Marc im Hotel treffen?“

Diese Frage machte mich neugierig. Jan hielt eigentlich nicht viel von geheimen Treffen, ohne dass die Presse etwas mitbekommen sollte. Aber Marc schien darauf bereits vorbereitet zu sein.

„Das können wir bestimmt. Ich bräuchte nur eine Personenzahl und werde das vorbereiten lassen“, meinte er sofort.

„Gut“, erwiderte Jan, „dann bitte heute Abend zum Abendessen in eurem Hotel und vorher brauchen wir einen Raum für sieben Personen. Luc und Stef werden erst morgen anreisen. Wir benötigen den Raum für maximal eine Stunde.“

Marc bestätigte das sofort und verließ direkt die Box, um telefonieren zu können.

Ich versuchte, so schnell wie möglich das Stadion zu verlassen. Ich wollte zur Ruhe kommen und fragte Jan:

„Könnte ich bereits zu den Jungs gehen? Ich möchte hier aus dem Trubel heraus.“

„Klar, könntest du natürlich, aber das ist nicht notwendig. Ich komme nämlich mit und wir besprechen auf dem Weg dorthin den weiteren Ablauf. Ich möchte hier auch schnell verschwinden.“

Jan hatte auf dem Weg in den Players-Bereich noch drei kurze Interviews zu machen und ich war froh, dass ich nicht gefragt wurde. Mir waren diese aussagefreien Statements immer zuwider.

Als wir im Players-Bereich eintrafen, saßen Marc und Sabine bereits mit Dustin und Fynn an einem Tisch. Sie winkten uns zu sich.

„Wie schön, dass ihr schon einen Tisch genommen habt. Weiß jemand, wo Justin ist?“, fragte ich.

„Natürlich wissen wir, wo Justin ist. Du kannst dich jetzt entspannen. Er ist mal für kleine Jungs und ist gleich zurück“, lachte Sabine.

In der Tat beruhigte mich das sofort. Es war mir wichtig, dass es meinen Jungs gut ging und alles in Ordnung war.

Jan bestellte eine Runde Getränke und als Justin zurück war, meinte Jan:

„Kurze Information für alle. Dustin und Fynn stehen direkt im Halbfinale, da ihr Gegner zurückgezogen hat. Luc und Stef kommen morgen aus München. Sie werden im Hotel bei Marc und Sabine wohnen. Alles Weitere besprechen wir heute Abend in Ruhe. Wir sollten zusehen, dass wir schnell hier verschwinden und uns auf den weiteren Verlauf fokussieren. Eine Frage habe ich doch noch an Dustin und Fynn. Wäre es für euch hilfreich, eure Familie zum Halbfinale dabeizuhaben? Oder lieber nicht?“

Diese direkte Frage in der großen Runde empfand ich unglücklich. Aber Jan hatte sich mit Sicherheit dabei etwas gedacht.

Ich spürte die Unsicherheit, insbesondere bei Dustin. Daher sprang ich den beiden etwas zur Seite.

„Denkt in Ruhe darüber nach. Heute Abend werden wir das besprechen. Und wir möchten eine ehrliche Aussage. Es wäre in Ordnung, wenn euch das zu viel ist.“

Dustin nickte und ich wusste, damit hatte ich viel Druck vom Kessel genommen.

Dustin: Familie ja oder nein?

Mit dieser Frage hatte mir Jan eine Aufgabe gestellt. Wollte ich das wirklich? Ich fühlte mich gerade überfordert. Was wäre, wenn ich ausgerechnet dann meine Nerven nicht im Griff haben würde und auf dem Platz versage? Es war das wichtigste Turnier des Jahres und wir standen völlig überraschend im Halbfinale im Doppel.

Chris hatte gemeint, dass wir direkt zu Marc ins Hotel fahren sollten, damit wir der Presse entfliehen konnten. Marc hatte wie immer eine Suite mit einem schönen Wohnzimmer. Chris hatte sich bei Marc etwas hingelegt, um besser entspannen zu können. Justin und mein Schatz saßen mit mir um den Wohnzimmertisch.

„Was denkt ihr denn dazu? Luc und Stef kommen ja auch morgen, aber ich habe etwas Schiss, wenn unsere Eltern zum Halbfinale kommen. Was passiert, wenn ich im Match meine Nerven nicht im Griff habe?“

„Dann werden wir verlieren. Na und?“

Ich schaute meinen Schatz entgeistert an. Fynn verzog keine Miene. Aber Justin reagierte schnell:

„Er hat recht. Und das wäre überhaupt kein Beinbruch. Jan möchte euch eine Freude machen und euch für euer Turnier belohnen. Deshalb hat er euch gefragt. Chris hatte sofort begriffen, dass ihr Zeit für diese Entscheidung benötigt. Und ich finde, ihr solltet die Familie herkommen lassen. Sie wird euch helfen und nicht behindern. Ganz bestimmt.“

„Schau mal, Dustin“, nahm mich Fynn in den Arm, „wir stehen im Halbfinale. Was soll denn jetzt noch passieren? Außerdem sind unsere Eltern gut im Bilde und wissen, dass wir ein besonderes Spiel vor uns haben. Wobei ich das niemals vor Chris so sagen würde, denn dafür bekäme ich richtig einen übergebraten. Hihihi. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie herkommen könnten. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt noch einen Flug geben würde.“

Das waren gute Argumente und ich wusste das eigentlich auch, aber meine Zweifel waren noch vorhanden.

Besonders schön war, dass weder Justin noch Fynn danach versuchten, noch einmal auf mich einzureden. Wir wechselten das Thema und unterhielten uns über die WG in Halle. Es freute mich sehr, ständig von den anderen Jungs Informationen von zu Hause zu bekommen. Auch Carlos hatte uns ein paar Bilder und Nachrichten geschrieben. Das gab mir enorm viel Sicherheit hier in London. Alle standen hinter uns und kein einziger war neidisch auf diesen Erfolg.

Chris hatte sich mittlerweile wieder zu uns gesetzt und einen Tee gemacht. Er hatte extra seinen Tee aus Deutschland mitgenommen. Und das war auch immer wieder ein Highlight, diesen gemeinsam zu genießen.

Wir saßen jetzt in gemütlicher Runde im kleinen Wohnzimmer in Marcs Hotel und unterhielten uns über alles außer Tennis. Fynn hatte dann plötzlich den Schalk im Nacken.

„Könnten wir eigentlich mal das Wohnmobil nutzen, dass uns Karl für das Team zur Verfügung stellt? Ich hätte Lust, mal eine Woche mit Dustin unterwegs zu sein. Vielleicht nach Südfrankreich oder so. Finanziell könnten wir uns das wohl auch mal leisten. Ich glaube, unser Konto verkraftet mal etwas Spaß.“

Chris blickte zu mir und was nun folgte, überraschte mich.

„Aber natürlich. Ich halte das für eine gute Idee. Den Urlaub haben wir uns alle mal verdient. Ich würde sogar vorschlagen, wir machen nicht nur eine Woche, sondern gleich zwei Wochen. Ihr seid mit dem Wohnmobil unterwegs, Justin fliegt nach Hause und besucht seine Familie und ich werde in die Schweiz fahren und mich bei Marc und Sabine erholen. Und damit ihr schon einmal mit der Planung beginnen könnt, nachdem das Turnier hier beendet ist und wir wieder in Halle angekommen sind, starten wir direkt in den zweiwöchigen Urlaub.“

„Ein guter Plan“, warf Marc jetzt ein, „wir freuen uns, dich wieder bei uns begrüßen zu dürfen.“

Das gefiel mir gut und auch Fynn schien sich sofort damit anfreunden zu können. Dass Justin sich über den Heimatbesuch freuen würde, war klar. Er vermisste insbesondere seinen Bruder.

„Bei wem müssen wir denn fragen, ob das Wohnmobil zur Verfügung steht?“, fragte Fynn.

„Ich kläre das mit Thorsten ab und sage euch morgen Bescheid. Aber soweit ich weiß, sind keine Ferien mehr und daher sollte das kein großes Problem sein. Es müsste nur gereinigt sein und fertig vorbereitet werden. Ich habe gerade keinen Überblick, wer als letztes damit unterwegs war.“

Meine Freude auf diese Reise stieg direkt und auch meine Laune ging wieder hoch, denn ich hatte plötzlich die Eingebung, dass ich unsere Familie hier zum Halbfinale begrüßen wollte. Warum ich plötzlich keine Zweifel mehr hatte, keine Ahnung. Es war einfach so.

Fynn hatte sich mit der Tasse in der Hand eng an mich gekuschelt, als ich Chris fragte:

„Wie hoch ist die Chance, dass es noch einen Flug nach London gibt? Ich möchte unsere Familie dabeihaben. Wer weiß, ob ich überhaupt noch einmal hier in einem Halbfinale sein werde. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen. Außerdem wird sich Patrick bestimmt freuen, wenn er dafür einen Tag in der Schule fehlen darf.“

„Du möchtest das jetzt? Dann werde ich mich darum direkt kümmern und ich denke schon, dass das klappen wird. Da eure Eltern schon bei mir angefragt haben, werden sie sich sehr darüber freuen. Und ich freue mich, dass du deine Zweifel weglegen kannst. Sie werden euch helfen und unterstützen. Ganz sicher.“

Diese Sicherheit, mit der Chris das gesagt hatte, gab mir ein gutes Gefühl. Und als es jetzt entschieden war, konnte ich mich auch richtig auf diesen Besuch freuen.

Zuvor war aber noch die Besprechung mit Jan. Ich war gespannt, was dort noch zum Thema anstand.

Bevor es zum Abendessen ging, hatte uns Jan ja zu einer kleinen Besprechung gerufen. Es ging um zwei Themen. Der erste Punkt war schnell abgehandelt, da ging es um den Termin mit Mathias Stach und Eurosport in unserem Quartier. Das sollte morgen an unserem spielfreien Tag passieren.

Der zweite Punkt drehte sich um die Unterstützung aus der Heimat. Thorsten hatte bei Jan angefragt, ob es eine Möglichkeit gäbe, die WG ebenfalls als Unterstützung nach London zu schicken. Allerdings war uns das nicht ganz geheuer. Wobei ich das für unsere Freunde schon toll gefunden hätte, aber Chris hatte Bedenken und ich war ihm sehr dankbar, dass er das nicht so gern befürworten wollte. Für Jan war damit dieser Gedanke vom Tisch. Es würde also bei der Liveübertragung im Fernsehen bleiben.

Das Abendessen war erneut ein Festessen und entsprechend gesättigt saßen wir mit Marc, Sabine und Chris noch zusammen. Jan hatte sich bereits direkt nach dem Essen verabschiedet. Er musste das Match für Andy am nächsten Tag noch vorbereiten.

Chris fragte nach einem Espresso in die Runde:

„Was wollen wir mit dem ruhigen Abend machen? Wollt ihr noch rausgehen oder sollen wir bei uns mal eine Runde Doppelkopf spielen?“

„Auf gar keinen Fall noch weggehen. Ne Runde zocken mit Chris bei uns ist cool. Da bin ich sofort dabei“, lachte Justin.

Und so wurde es auch gemacht. Und wir hatten viel Spaß und Chris ließ das Ende offen. So kamen wir erst weit nach Mitternacht ins Bett, aber dieser Abend hatte mir gefallen. Wir hatten nicht mehr über Tennis gesprochen und viel gelacht. Chris war allerdings im Doppelkopf zu gut für uns. Das war mir aber vollkommen egal.

Mir stand nun eine wundervolle Nacht mit meinem Schatz bevor.

Nach der erholsamsten Nacht seit langem stand heute ein richtiges Training an. Auch Justin war mit auf dem Platz. Chris stand wie immer in der einen Ecke des Platzes und gab präzise Anweisungen und Korrekturen. Schon nach etwa dreißig Minuten lief der Schweiß ordentlich.

Als wir die erste richtige Pause machten, realisierte ich überrascht die vielen Presseleute auf der kleinen Tribüne des Außenplatzes.

Sogar ein richtiges Kamerateam hatte sich am Platz aufgebaut. Und dann tauchte plötzlich Jan mit Mathias Stach auf. Sie unterhielten sich angeregt, aber sie blieben am Rand des Spielfeldes stehen und Chris schickte uns wieder auf den Platz. Ich hatte ein wenig gehofft, dass ich mit Fynn noch etwas Doppel trainieren könnte. Das sah aber bislang gar nicht danach aus. Und ich wusste auch, dass wir dafür ja auch noch einen vierten Mann brauchten. Justin würde sicher mitspielen, aber es fehlte der Partner für ihn.

Plötzlich unterbrach Jan sein Gespräch, betrat den Platz und ging zu Chris. Sie sprachen kurz miteinander und dann ging Chris zu seiner Tasche und nahm sich einen Schläger heraus. Er stellte sich zu Justin auf die Seite und spielte mit uns einige Minuten lange Bälle zum Aufwärmen.

Jan holte uns am Netz zusammen.

„Bevor mich Fynn oder Dustin steinigen, ich mische mich nicht in die Arbeit von Chris ein, aber zum Doppel gehören vier Leute. Daher war Chris der Meinung, dass er mit euch einen Satz spielen will. Ich möchte aber, dass es keine Überlastung für Chris wird. Daher wird Chris nicht aufschlagen, sondern Justin übernimmt das für beide. Jetzt wird ernsthaft gespielt und ich will richtiges Doppel sehen. Fragen?“

Boah, wie cool ist das denn? Chris traut sich zu, mit uns einen Satz Doppel zu spielen. Das bedeutet, dass er sich gut fühlt und wir mit Sicherheit auf Überraschungen gefasst sein müssen.

Und Chris war gut dabei. Wir durften uns keine Nachlässigkeiten erlauben. Justin machte viel Druck von der Grundlinie und Chris spielte einen exzellenten Volley. Dadurch, dass Justin für Chris aufschlug, wurde der Nachteil vom schwächeren Aufschlag ausgeglichen. Justins Service war schließlich eine Waffe. Und entsprechend war es nicht möglich, ein Break zu erzielen. Jan stand die ganze Zeit wieder am Rand und hatte seine Unterhaltung mit Mathias Stach wieder aufgenommen. Aber er war auch immer auf Ballhöhe, denn beim Stand von 5:5 rief er über den Platz:

„Genug gespielt, Training für heute ist beendet. Wir treffen uns gleich nach der Dusche zur kurzen Besprechung.“

Wir klatschten uns am Netz ab und Chris wirkte zwar kaputt, aber auch gelöst. Er lachte, als er meinte:

„Wir hätten uns vielleicht für die Doppelkonkurrenz melden sollen, Justin. Dann könnten wir die beiden noch etwas mehr ärgern.“

„Neneneee, das geht gar nicht. Wir müssten ja dann auf Chris Rücksicht nehmen. Ich möchte nicht beim nächsten Training sein, wenn wir gegen Chris gewonnen hätten. Hihihi“, scherzte Fynn.

Mir war das etwas unangenehm, aber Chris blieb richtig entspannt.

„Okay“, erwiderte er, „dann will ich mal nicht so sein, aber denkt daran, dass wir gleich noch das Eurosport-Interview mit Mathias Stach machen. Also keine unanständigen Sachen in der Dusche. Ich hole mir erst noch eine Massage für meinen Rücken ab und dann treffen wir uns im Players-Bereich für den Shuttledienst. Bis gleich.“

Mittlerweile konnte ich Chris‘ Art von Humor gut einordnen. Und natürlich waren wir in der Dusche artig und beeilten uns, zum Treffpunkt zu kommen. Auf dem Weg fragte mich mein Schatz:

„Ich bin langsam echt aufgeregt. Auch wenn wir noch zwei Tage Zeit haben bis zum Halbfinale. Aber ich freue mich auch auf die Ankunft unserer Familie. Wie geht es dir damit?“

„Ganz ehrlich, so richtig begriffen habe ich es noch nicht. Ich freue mich halt einfach auf dieses Spiel. Ich glaube aber mittlerweile, dass es gut ist, wenn unsere Familie herkommt. Es könnte mich etwas ablenken und ich werde hoffentlich nicht zu nervös sein.“

Fynn legte mir seinen Arm um die Schulter und antwortete:

„Da passt Chris bestimmt auf uns auf. Und ich glaube, dass Mama uns ablenken wird. So können wir gar nicht so viel über das Spiel nachdenken. Ich bin gerade viel unruhiger wegen des anstehenden Interviews.“

„Das regelt Jan doch bestimmt. Und Chris wird auch dabei sein. Also das bekommen wir schon hin.“

„Jan kann gar nicht dabei sein. Er muss doch Andy gleich noch coachen. Deshalb wollte Chris das ja unbedingt in unserem Appartement machen. Damit wir ungestört sind.“

Das war mir überhaupt nicht bewusst, dass Andy noch spielen musste. Das fand ich schade, dass wir das nicht am Platz schauen konnten. Aber ich wollte auch nicht den ganzen Tag auf der Anlage sein und ständig Trubel um mich herum haben.

„Da sind ja unsere Helden“, lachte Marc, als wir an den Tisch kamen.

„Holt euch etwas zu trinken und setzt euch noch einen Moment. Es gibt doch noch eine Planänderung“, erklärte uns Chris.

Kurze Zeit später saßen wir mit unseren Getränken wieder bei unseren Freunden und Chris bat kurz um Aufmerksamkeit.

„Wir haben uns beraten und dann entschieden, dass wir das Eurosport-Interview nicht bei uns machen. Dort ist es sehr eng mit den Kameras und die Vorbereitung auch sehr aufwendig. Marc hatte daher die Idee, das bei ihnen im Hotel zu machen. Dort gibt es einen gemütlichen Salon und dort kann Eurosport alles vorbereiten und wir brauchen nur hinzufahren und das Gespräch zu machen. Anschließend können wir dort noch etwas essen und wieder in unser Appartement zurückfahren. Das heißt also, der Shuttledienst wird uns jetzt direkt zu Marc ins Hotel bringen. Alles andere besprechen wir dann vor Ort. Gibt es Fragen?“

„Ja“, meldete ich mich, „ich habe nur eine Shorts und ein Poloshirt vom Ausrüster, aber keine Teamkleidung dabei.“

Chris schaute mich kurz an und seine Antwort war wieder so typisch.

„Das ist doch gar nicht schlimm. Du siehst auch so sehr schick aus. Ich habe eine Teamjacke an und das muss reichen. Es ist ein privates Interview und Mathias möchte mit euch über die letzten Monate eurer Entwicklung sprechen. Mach dir keine Gedanken.“

Damit war ich beruhigt und auch Fynn schien das recht locker zu nehmen. Justin war sowieso immer entspannt bei solchen Terminen.

So saßen wir eine Stunde später in Marcs Hotel in einem sehr gemütlich eingerichteten Raum mit drei TV-Kameras und einer ganzen Heerschar von Technikern im Raum und Mathias Stach um einen kleinen Couchtisch. Die Sessel waren gemütlich und Mathias hatte uns bereits sehr locker begrüßt und mit uns den Ablauf kurz besprochen.

Es war kein „Live“-Interview und das gab mir doch noch mehr Sicherheit, als Mathias begann:

„Herzlichen willkommen bei unserem Eurosport-Bericht über drei sehr erfolgreiche Tennisnachwuchsprofis aus der Break-Point-Base in Halle. Würdet ihr euch bitte einmal kurz selbst vorstellen“, bat er uns.

Nachdem wir uns kurz vorgestellt hatten, wechselte Mathias die Ansprache zu Chris.

„Chris, du bist seit Jahren mit diesen drei Jungs als Coach und Mentor unterwegs. Wir kennen uns ja auch schon einige Zeit, Jan kenne ich schon sehr lange. Wie siehst du mittlerweile euren Werdegang? Hier in Wimbledon seid ihr ja sehr erfolgreich und im Doppel sogar mit Fynn und Dustin im Halbfinale. War das jetzt schon zu erwarten?“

„Ein klares Nein. Das war so natürlich nicht zu erwarten. Und ich möchte aufgrund dieses Erfolges auch keine großen Erwartungen wecken. Es ist ein toller Erfolg, aber mit Sicherheit noch nicht die Regel. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, aber alle drei Jungs liegen absolut vor dem Plan. Wir arbeiten hart und konsequent an der Entwicklung der Jungs.“

„Du sagst, ihr liegt vor dem Soll. Was ist denn euer nächstes Ziel? Ihr habt einen steilen Aufstieg in der Weltrangliste hingelegt und die Richtung geht weiterhin nach oben. Steigt der Druck nicht dadurch auch enorm an? Ihr werdet bald nicht mehr die unbekannten Underdogs sein. Die Medien werden mit Sicherheit auch viel mehr von euch fordern. Wie wollt ihr damit umgehen?“

„So wie bisher immer. Ruhig und sachlich. Medien sind für mich kein Druckmittel. Ich habe mit meinem Bruder einen sehr erfolgreichen Trainer an meiner Seite, der genau weiß, wie unser Weg aussehen kann. Wenn die drei Jungs verletzungsfrei bleiben, können wir uns mit Sicherheit noch weiter nach oben arbeiten und vielleicht unter den Top Dreißig etablieren. Wir haben keinerlei Erfolgsdruck. Und die Jungs arbeiten wirklich sehr gut mit und wir sind als Team sehr stark. Von daher sehe ich überhaupt keinen Grund, irgendetwas zu verändern.“

Chris blieb äußerlich ruhig, aber ich erkannte seine Anspannung in der Sitzhaltung. Ich war mittlerweile auch aufgeregt. Insbesondere als Mathias sich jetzt uns zuwandte.

„Dustin und Fynn, euch fällt durch eure Beziehung eine besondere Rolle zu. Ihr seid weiterhin ziemlich einzigartig im professionellen Tennis als schwules Paar gemeinsam als Spieler unterwegs. Was hat sich aus eurer Sicht am meisten verändert, seit ihr auf der großen ATP-Tour spielt?“

Ich blickte zu meinem Schatz und war sehr froh, dass er darauf antwortete.

„Eigentlich hat sich gar nicht viel verändert. Wir spielen weiterhin Tennis und die Turniere sind etwas größer geworden. Dass wir hier in Wimbledon im Doppel ins Halbfinale gekommen sind und auch im Einzel erfolgreich waren, ist sicherlich noch nicht regelmäßig zu erwarten. Dennoch ist das das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit und vor allem der Begleitung von Chris zu verdanken. Er hat uns in allen schwierigen Situationen immer begleitet und auch manchmal beschützt. Das Break-Point-Team ist für uns so etwas wie eine Familie geworden. Und genau das macht es uns auch relativ einfach, in Ruhe arbeiten zu können. Jan und Chris geht es um die Entwicklung. Das hat dann den Erfolg als logische Konsequenz zur Folge.“

Mathias nickte und ich war stolz auf diese Aussage von Fynn.

„Wie fühlst du dich im Break-Point-Team, Justin? Deine Freunde stehen zwangsläufig immer etwas mehr im Fokus. Stört dich das vielleicht? Oder siehst du es sogar als Vorteil, mehr Ruhe zu haben?“

„Ich fühle mich sehr wohl in Halle. Und ich sehe das anders. Dustin und Fynn stehen überhaupt nicht mehr im Fokus. Wir treten immer als Team auf und so empfinde ich es auch. Wir sind eher eine Familie und Chris ist unser Trainer, Mentor und auch Freund. Und ich denke, das ist der Grund unserer Stärke. Jeder ist für den anderen da. Ich glaube sogar, dass es für mich jetzt schwierig wäre, nur für mich allein unterwegs zu sein. Ohne meine Freunde fehlt mir etwas. Daher freue ich mich sehr, dass wir gemeinsam diesen Erfolg haben.“

Chris blickte etwas ungläubig zu Justin, aber ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Chris, wenn man deine Jungs hier so hört, dann könnte man glauben, dass die Vergangenheit einfach verlaufen ist. Dem ist ja nun gar nicht so. Auch heute müsst ihr euch einzelner Anfeindungen noch erwehren. Ist Kitzbühel noch im Kopf oder ist das mittlerweile abgelegt?“

„Eine schwierige Frage und ehrlich gesagt, habe ich mich mit Kitzbühel lange nicht mehr bewusst befasst. Dadurch, dass wir unter den Spielern eine viel größere Akzeptanz besitzen, ist es viel angenehmer, auf der Tour zu spielen. Auch die Öffentlichkeit hat verstanden, dass wir in erster Linie eine gute Leistung zeigen. Diejenigen, die uns nur auf die Homosexualität von Fynn, Dustin und mir reduzieren, haben eh ein anderes Ziel als sportliche Berichterstattung. Damit werden wir immer leben müssen. Aber, und das ist mir sehr wichtig, nicht mehr nur das Team in Halle, sondern auch die ATP steht hinter uns und unterstützt uns. Das macht uns die Arbeit etwas einfacher. Es wird als normal angesehen und wir überzeugen durch Leistung und durch korrektes Auftreten.“

„Korrektes Auftreten“, reagierte Mathias, „das ist sehr zurückhaltend formuliert. Ich habe euch immer freundlich und offen erlebt. Auch anderen Jugendlichen gegenüber. Und ihr seid auch hier in Wimbledon bei der Jugend sehr beliebt. Aber Chris hat damals einen sehr hohen Preis für diesen Erfolg bezahlt. Auch ihr seid mit Sicherheit nicht unbeeinflusst geblieben. Gibt es etwas, was ihr aus heutiger Sicht anders machen würdet?“

Wir schauten uns an und ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Daher staunte ich über Justin.

„Ich würde nicht viel anders machen. Eine Sache allerdings schon. Heute würde ich in einer vergleichbaren Situation wie in Kitzbühel härter zuschlagen und auch in Kauf nehmen, dabei einen Täter auszuschalten. Wir sind aufmerksamer geworden und schützen uns gegenseitig besser. Daran hat auch Marc einen großen Anteil. Er hat uns auf diese Situation in der Öffentlichkeit hervorragend vorbereitet und auch geholfen, damit umgehen zu können. Ohne Chris als Mentor und Coach würden wir heute nicht hier sitzen. Davon bin ich überzeugt. Also wissen wir, dass Chris von uns zu beschützen ist. Genau wie er uns beschützt. Halt wie in einer Familie. Das zeichnet uns aus und macht uns auch so erfolgreich.“

Justin blickte dabei die ganze Zeit zu Chris. Ich wusste, wie unangenehm Chris dieses Thema war und Mathias spürte das scheinbar auch, denn er ging jetzt wieder mehr in die aktuelle Zeit.

„Was werdet ihr nach Wimbledon machen? Eure Position in der Weltrangliste geht in Richtung Top vierzig. Welche Turniere spielt ihr als nächste?“

Das war für Chris eine gute Frage.

„Zuerst einmal werde ich zwei Wochen Urlaub in der Schweiz machen. Fynn und Dustin wollen mit dem Wohnmobil eine Tour machen und Justin fliegt nach Kanada zu seiner Familie. Danach werden wir wieder auf die US-Tour gehen und versuchen, uns für die US Open direkt zu qualifizieren.“

Mathias stutzte bei der letzten Aussage von Chris.

„Ich glaube, dieses Ziel der direkten Qualifikation ist bereits heute erreicht. Ich bin mir sehr sicher, solltet ihr verletzungsfrei bleiben, sehen wir euch regelmäßig im Viertelfinale oder besser. Eure Verbundenheit untereinander ist außergewöhnlich. Das ist eine zusätzliche Stärke zu euren spielerischen Fähigkeiten. Und was ich auch aus Halle mitbekommen habe: Ihr seid immer noch die netten Jungs von nebenan, die in Halle mit allen anderen Jugendlichen trainieren und spielen. Das gefällt mir richtig gut. Ich wünsche euch weiterhin viel Erfolg und so eine Entwicklung. Eine Sache ist mir persönlich noch wichtig, passt bitte auf euch auf und bleibt euch treu. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für dieses Gespräch bedanken und verabschiede mich von den Zuschauern.“

Überraschenderweise lud uns Mathias noch zum Essen ein. Ohne Kameras und das war eine tolle Geste. Marc und er schienen sich gut zu verstehen. Auch Sabine wirkte entspannt und redete viel mit Chris.

Gegen Mitternacht lag ich mit meinem Freund im Arm im Bett und wir waren froh, dass wir noch einen Tag länger frei hatten und unseren Gegner beobachten konnten.

Der nächste Tag stand in der Ankunft unserer Familie. Chris hatte sich die Zeit genommen, sie persönlich mit uns vom Flughafen abzuholen und über Patrick wunderte ich mich am meisten. Er hatte kaum noch diese nervenden Züge, dass er immer im Mittelpunkt stehen musste. Er war ein ganzes Stück erwachsener geworden. Das tat allen sehr gut.

Chris hatte uns nach dem täglichen Training den Nachmittag frei gegeben und das haben wir genutzt für eine Stadtrundfahrt in London. Justin hatten wir gern mitgenommen. Chris wollte sich mit Marc und Sabine etwas entspannen. Der Halbfinaltag würde wieder die volle Konzentration verlangen.

Chris: Halbfinale, ein Krimi sondergleichen

Die letzte Nacht entwickelte sich für mich sehr unruhig. Meine Gedanken machten sich selbstständig und das ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Entsprechend müde saß ich am frühen Morgen am Tisch und hatte meinen Becher Kaffee in der Hand.

Die Jungs konnten noch etwas schlafen. Das Halbfinale war auf fünfzehn Uhr angesetzt. Ich wollte am Vormittag ein lockeres Anschwitzen machen und obwohl Andy sein Einzel verloren hatte, spielte er mit seinem Bruder im anderen Halbfinale im Doppel. Also hatte Jan das so organisiert, dass die beiden Murrays mit Dustin und Fynn gemeinsam eine Spieleinheit machen werden.

Bei uns hatte sich so etwas wie eine Turnierroutine eingestellt. Damit waren viele Abläufe automatisiert und ich musste kaum Vorgaben geben. Dustin und Fynn wussten, wie sie sich vorzubereiten hatten. Lediglich zeitliche Abläufe hatten wir gestern Abend noch abgestimmt, damit auch Fynns Familie über die Dinge informiert war.

Über Fynns Bruder war ich positiv überrascht. Er hatte nicht einmal versucht, Fynn gegenüber nervend aufzutreten. Fynn hatte mich noch zuvor gefragt, ob er es ablehnen darf, wenn Patrick bei ihnen schlafen möchte. Natürlich habe ich ihm diese Entscheidung freigestellt. Allerdings kam es nicht zu dieser Frage. Patrick hatte klar im Kopf, dass sein Bruder viel Ruhe brauchte. Das entspannte die Situation sogleich.

Ehrlicherweise musste ich zugeben, dass ich heute mit den Abläufen am meisten Schwierigkeiten hatte. Ich war unruhig und nervös, mit der Sorge im Kopf, ich könnte etwas vergessen haben.

Plötzlich meldete sich mein Handy. Am frühen Morgen war das ungewöhnlich. Ich erkannte Jan als den Anrufer.

„Guten Morgen, Jan. Was gibt es denn schon am frühen Morgen?“, fragte ich aufgeregt.

„Hallo Chris. Wie geht es dir heute früh?“

Früher hätte ich gedacht, er wollte mich damit provozieren, aber das klang heute nicht danach. Es schien eine ernstgemeinte Frage zu sein. Als ob er ahnen würde, dass ich aufgeregter als sonst war.

„Nicht so besonders gut. Ich habe schlecht und unruhig geschlafen. Mir kommt immer wieder der Gedanke, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe. Ich bin im Gegensatz zu den Jungs aufgeregt.“

„Das ist mir von meinem ersten Halbfinale eines Grand-Prix-Turniers in guter Erinnerung geblieben. Deshalb wollte ich mit dir telefonieren. Mach dir nicht so viel Druck. Es ist alles wie immer und du hast die Jungs bestens vorbereitet. Genieße diesen Tag. Auch wenn es schwerfällt. Deine Jungs werden abliefern. Egal, wie das Ergebnis sein wird.“

Wir redeten noch einige Minuten und als ich das Handy weglegte, ging es mir deutlich besser. Jan hatte mir Sicherheit gegeben und das war ein gutes Gefühl.

Und er sollte absolut Recht behalten. Meine Jungs kamen bestens gelaunt zum Frühstück und sie hatten ihre Routine gefunden. Ich brauchte nicht mehr viel zu sagen und ließ sie einfach laufen. Sie hatten ihre Hausaufgaben bestens gelöst.

Und nach dem morgendlichen Training kehrte mein gutes Gefühl zurück. Marc hatte mir den Rat gegeben, meine Jungs machen zu lassen. Sie würden genau wissen, was gefragt war. Es fiel mir schwer, es laufen zu lassen. Aber die Laune der Jungs war gut, als wir gemeinsam zu Mittag aßen. Das Halbfinale war kaum Thema. Erst als es wieder zur Anlage ging, fragte mich Dustin:

„Wie siehst du jetzt eigentlich das kommende Match gegen die großen Favoriten? Gibst du uns eine reelle Chance?“

Das beruhigte mich heute sehr. Obwohl es eine vollkommen überflüssige Frage war. Und Dustin wusste es genau, dennoch stellte er mir diese Frage.

„Wenn ich keine reelle Chance sehen würde, dürfte ich euch nicht antreten lassen. Und ich bin von euren Fähigkeiten absolut überzeugt. Also geht auf den Platz und spielt einfach. Genau so, wie wir das immer gemacht haben. Es ist nur ein Tennis-Match. Nicht mehr.“

Plötzlich fing Fynn an, laut zu lachen.

„Hahaha, wie geil ist das denn wohl. Was habe ich dir gesagt, Schatz. Chris vertraut uns total. Er hat gesehen, dass wir unsere Dinge wie immer getan haben. Deshalb hat er uns nicht mehr viel gesagt. Aber er ist voll auf Ballhöhe. Wir können also befreit spielen und sicher sein, Chris steht hinter uns. Und jetzt zeigen wir allen, dass wir geiles Tennis spielen können. Wie wir das immer gemacht haben.“

Dann nahm er seinen Freund liebevoll in den Arm und küsste Dustin. Das war ein wunderbares Bild. Ich bekam Gänsehaut. Das war es, für das ich die Jahre die Jungs begleitet hatte. Jetzt spürte ich deutlich, dass wir es richtig gemacht hatten. Jetzt konnte für mich nichts mehr schiefgehen. Ein wunderbares Gefühl.

Der Gegner war eines der weltbesten Doppel, Austin Krajicek und Ivan Dodig. Sie waren absolute Spezialisten für das Doppel. Sie hatten ihre Einzelkarriere beendet, um nur noch Doppel zu spielen. Und das taten sie extrem erfolgreich. Ich wusste, alles andere als eine klare Niederlage wäre eine riesige Überraschung. Allerdings hatten unsere Jungs schon gegen Kevin Krawietz und Tim Pütz eine solche Überraschung geschafft.

Jan konnte mich nicht unterstützen, da das andere Halbfinale parallel gespielt wurde und er dort am Platz sitzen sollte.

Aber die Anwesenheit der Familie Steevens half mir, ruhig zu bleiben und mich nicht zu sehr aufzuregen. Und der Spielverlauf gab mir ebenfalls viel Sicherheit.

Der erste Satz im vollbesetzten Stadion von Court 1 verlief vollkommen ausgeglichen. Und erstaunlicherweise stand das Publikum mehrheitlich hinter Dustin und Fynn. Bei 5:5 schlug Ivan Dodig auf. Dustin returnierte aggressiv und das führte zum ersten Punkt für meine Jungs. Durch einen Doppelfehler stand es sogar 0:30 und meine Gedanken gingen für wenige Momente an ein mögliches Break. Dodig schlug sehr gut auf und Krajicek konnte einen leichten Volleypunkt machen. 15:30! Der nächste Ballwechsel verlief spektakulär und endete mit einem ohrenbetäubenden Jubel der Zuschauer für Dustin und Fynn. Damit hatten die Jungs tatsächlich zwei Breakbälle. Mein Herz raste und ich musste mich zwingen, nicht mit den Zuschauern mitzujubeln.

Aber ich ballte meine Fäuste und zeigte sie auch den Jungs. Wenn es jetzt zu einem Break kommen würde, wäre das fast der Gewinn des ersten Satzes. Das war mir absolut bewusst.

Beim nächsten Punkt gab es für Dustin und Fynn nichts zu holen. Aber es gab noch einen Breakpunkt. Und diesen Ball werde ich nicht so schnell vergessen. Es entwickelte sich ein sehenswerter Ballwechsel bis zu dem Moment, als Krajicek den Ball nicht sauber traf und sich dadurch für Fynn eine scheinbar einfache Gelegenheit ergab, mit einem Schmetterball den Punkt zu machen. Ich hielt den Atem an und dann geschah genau das, was eigentlich nur beim Tennis möglich war. Ein sogenannter „Miss Hit“. Fynn schlug den Ball schlicht und ergreifend neben die Linie.

Jetzt war meine ganze Erfahrung gefragt, denn das konnte jedem anderen Spieler auch passieren. Der Moment war natürlich sehr ungünstig. Es half aber nichts. Fynn wirkte sogar recht gefasst. Aber das Spiel ging verloren und bei 5:6 wurden die Seiten gewechselt. Ich nahm mit den Jungs sofort Blickkontakt auf und spürte, dass Fynn diesen Ball noch nicht weglegen konnte. Sein Blick war leer und er wirkte enttäuscht. Nicht einmal wütend, einfach nur enttäuscht, diesen Punkt nicht gemacht zu haben.

Natürlich konnte ich seinen Gemütszustand nachvollziehen. Dennoch musste er schnellstmöglich wieder nach vorn blicken. Leider fehlte sowohl Fynn als auch Dustin dafür noch die Erfahrung. Und das führte zum Verlust des ersten Satzes.

Für mich kein Weltuntergang, trotz einer gewissen Enttäuschung. Meine größte Sorge bestand darin, dass die Jungs jetzt komplett einbrechen würden. Was aber auch kein Drama sein würde. Es war einfach menschlich. Und ich wusste genau, dass ihnen das passieren könnte.

Ich überlegte, ob ich etwas machen sollte, was ich bislang noch nicht getan hatte, entschied mich aber, alles weiter zu machen wie bisher. Und es funktionierte tatsächlich. Fynn war in der Lage, sich neu zu fokussieren und spielte auch im zweiten Satz ein ganz hervorragendes Match. Leider reichte es heute nicht für einen Sieg.

Ich war absolut zufrieden mit der Performance unserer Jungs. Für mich eine Bestätigung des Potenzials der Jungs. Sie waren noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung angekommen. Jetzt hieß es aber zuerst einmal zu den Jungs zu gehen.

„Wir treffen uns gleich in der Players-Lounge. Dann besprechen wir die nächsten Schritte. Ist das okay?“, fragte mich Marc.

„Ja, das hört sich vernünftig an. Luc und Stef, wollt ihr zu den Jungs mitkommen? Vielleicht sind sie enttäuscht. Ein wenig Beistand könnte vielleicht helfen.“

Luc wunderte sich etwas, aber Stef fand diese Idee sehr gut. Luc fragte mich:

„Aber es gibt doch eigentlich gar keinen Grund, enttäuscht zu sein. Sie haben ein sensationelles Turnier gespielt.“

„Völlig richtig. Aber nach diesem Matchverlauf könnte gerade bei Fynn Enttäuschung vorhanden sein. Ich möchte, dass ihr bei ihnen bleibt und sie ablenkt. Vor allem geht bitte mit ihnen im Turnierbüro vorbei. Sie sollen nicht vergessen, ihren Preisgeldscheck abzuholen. Das dürfte nämlich eine stolze Summe werden.“

Das löste Gelächter aus und somit machte ich mich mit Luc und Stef zum gewohnten Treffpunkt auf. Und tatsächlich, beide warteten wie immer vor der Umkleide. Ich ging auf sie zu und mir war nach einer Umarmung.

„Das war ein geiles Match. Und es fehlte nur ein wenig Erfahrung, dann hätte das auch anders ausgehen können. Wir können mit stolz geschwellter Brust nach Hause fahren.“

Fynn reagierte als erster und für mich überraschend abgeklärt.

„Ja, es war eine geile Erfahrung. Und ich spüre, wir werden zurückkommen und im nächsten Jahr mit einer Verbesserung antreten. Im ersten Satz bei 5:5 muss ich diesen Breakball machen. Aber ich werde mich nicht darüber ärgern. Du hast uns oft genug erklärt, dass uns das nicht hilft. Ich möchte dieses Turnier in guter Erinnerung behalten. Es war schließlich unser erster Grand Slam im Hauptfeld.“

Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Allerdings bestätigte sich damit die Reife von beiden und dass sie auf das nächste Level gekommen waren. Es würde uns in der zukünftigen Arbeit voranbringen.

Luc und Stef brauchten also gar nicht zu trösten oder abzulenken. Deshalb kamen sie mit mir zurück und wir würden uns mit den Jungs später bei Marc und Sabine im Hotel zum Essen treffen. Wir würden erst morgen zurückfliegen. Diesen Abend mit Marc und Sabine wollte ich uns nicht vorenthalten.

Bereits auf dem Rückweg spürte ich durch das Vibrieren meines Handys, dass etliche Nachrichten eingingen. Ich nahm es heraus und konnte schnell erkennen, dass diese aus der Heimat kamen.

In der Players-Lounge angekommen, konnte ich die Zeit noch nutzen und in Ruhe mit Fynns Familie reden. Selbst Patrick schien beeindruckt von der Leistung seiner Brüder zu sein. Und das, gleichwohl sie heute verloren hatten. Fynns Vater fragte mich:

„Wie wird es jetzt weitergehen? Fynn hat von einer Urlaubsfahrt mit dem Wohnmobil gesprochen. Ist das korrekt? Und was wird das nächste Turnier sein?“

„Ja, das ist korrekt. Wir werden jetzt zwei Wochen Urlaub machen. Zumindest meine drei Jungs und ich. Justin wird nach Montreal fliegen und Ihre Söhne wollen mit dem Wohnmobil aufbrechen. Ich selbst finde, das ist eine tolle Idee. Sie können dort einfach unbehelligt von der Presse abschalten. Denn eines ist klar: In Deutschland wird sich die Presse jetzt auf uns stürzen. Diesen Hype braucht kein Mensch. Also werden sie irgendwohin fahren, wo sie Ruhe haben. Das Team in Halle wird die Pressearbeit übernehmen.“

„Und kannst du auch etwas Energie auftanken? Oder geht es für dich direkt mit anderen Turnieren und anderen Spielern aus der WG weiter?“, fragte mich Fynns Mutter.

Das war für Sabine das Stichwort. Lachend meinte sie:

„Für das Auftanken werden Marc und ich sorgen. Chris wird uns für zwei Wochen in der Schweiz besuchen. Dort werden wir mit Sicherheit genug Ruhe haben und viele schöne Dinge machen.“

„Genau“, ergänzte ich, „ich werde nur kurz den Koffer auspacken, andere Sachen wieder einpacken und mich dann auf die Reise in die Schweiz machen. Und darauf freue ich mich sehr. Mein Akku ist gerade ziemlich leer.“

Etwas schade empfand ich, dass Jan uns nicht mit nach Hause begleiten würde. Jan flog direkt mit Andy von London in die USA. Andy spielte am Samstag auch noch das Doppelfinale. Das war natürlich ein riesiger Erfolg und sehr erfreulich.

Leider konnte Fynns Familie beim Abendessen nicht mehr dabei sein. Herr Grehl musste am nächsten Tag wieder bei der Arbeit sein. Deshalb mussten sich die Jungs bald von ihrer Familie verabschieden. Ein Taxi brachte sie zum Flughafen und die Jungs versprachen aber, bevor sie in den Urlaub aufbrechen würden, noch einmal zu Hause vorbeizukommen. Diese Ankündigung freute mich sehr, denn es zeigte die mittlerweile entspannte Beziehung von Fynn zu seinem Vater. Auch hier hatte sich in den letzten Monaten viel Positives entwickelt.

Beim Abschlussessen mit Familie Steevens wollte ich für alle drei Jungs die Schecks offenlegen. Da die Jungs jetzt volljährig waren und sie vor allem regelmäßig in die Preisgelder der Turniere kamen, hatten wir ihre Verträge schon vor einiger Zeit verändert. Sie bekamen die volle Summe auf ihr Konto, abzüglich eines festen Prozentsatzes für die Teamkosten und die Zeit der Ausbildung.

Ich hatte ein festes Gehalt, genau wie Jan auch und alles was übrig blieb, ging erneut in die Teamkasse. Dafür würden wieder neue, junge Talente ausgebildet. So hatte Jan vor vielen Jahren sein Konzept aufgebaut.

Justin, Fynn und Dustin hatten das großes Ziel, auf der ATP-Tour spielen zu können, erreicht. Jetzt würden wir uns nach dem Urlaub im Team zusammensetzen und die weiteren Ziele besprechen.

Wir saßen an einem großen Tisch und hatten gerade den Nachtisch verarbeitet, als Sabine in die Runde fragte:

„Wer möchte noch einen Kaffee oder etwas Ähnliches?“

Diese Runde wollte ich nach dem Schlusskaffee auflösen. Ich war einfach müde und erschöpft. Daher legte ich meinen Umschlag auf den Tisch und holte drei Schecks heraus.

Dustin hatte es als erster bemerkt und tippte Fynn in die Seite. Auch Marc und Sabine wurden ruhig und Marc meinte:

„Ich glaube, jetzt hat Chris noch etwas für euch mitgebracht. Damit ihr einmal konkret realisieren könnt, wie sich euer Erfolg auch in Zahlen auswirken wird, gibt euch Chris jetzt einmal die Schecks und ihr könnt euch so langsam mal überlegen, wie ihr in Zukunft damit umgehen wollt. Denkt immer daran, euch genug Sicherheiten anzulegen für Verletzungszeiten oder für die Zeit nach eurer Karriere.“

„Ich würde euch empfehlen, nehmt euch einen guten Finanzberater, der mit euch ein gutes Konzept erarbeitet.“, schlug ich vor.

Dustin hatte sofort geschaltet.

„Du hast doch den Jörg in Leipzig. Ist der nicht Vermögensberater? Wir könnten ihn doch bitten, uns bei den Finanzen zu helfen und mit uns einen Plan zu erarbeiten.“

Ich schaute Dustin ungläubig an. Auf diese Idee wäre ich nicht gekommen, aber ich musste ihm zustimmen. Und tatsächlich baten mich die drei Jungs, mit Jörg Kontakt aufzunehmen.

Um eine Größenordnung zu bekommen: Für das Erreichen des Halbfinals im Doppel hatten die Jungs 173.776 Euro erhalten. Allerdings gab es auch enorme Kosten bei so einem Grand-Slam-Turnier.

Mittlerweile saßen wir am nächsten Tag im Flugzeug zurück nach Halle. Diese Reise hatte für mich einen besonderen Stellenwert bekommen. Jetzt war ich mir sicher geworden, dass alle drei Jungs auf der großen ATP-Tour angekommen waren. Wir hatten eine Schwelle überschritten und es würde eine realistische Chance auf eine erfolgreiche Profikarriere geben. Und diese Chance würden wir ergreifen wollen.

Mit diesem Gefühl und einer großen Vorfreude auf mein eigenes Bett in Halle setzte der Flieger zur Landung an. Ein weiterer, positiver Effekt im Flugzeug: Wir wurden nicht um Autogramme oder Selfies gebeten. Thorsten hatte uns zur Feier des Tages first class zurückfliegen lassen. Mit Champagnerfrühstück für die Jungs.

Außerdem hatte ich bereits etliche Whatsapp-Nachrichten aus der WG erhalten. Die Jungs dort hatten einen echten Empfang vorbereitet und ich sollte Dustin, Fynn und Justin noch nichts verraten.

Vom Flughafen holte uns Maxi ab.

Schon bei der Begrüßung spürte ich, dass uns noch eine größere Überraschung bevorstand. Denn eigentlich ließ es sich Torsten sonst nicht nehmen, uns nach so einem Erfolg persönlich in Empfang zu nehmen.

„Hi Maxi. Schön, dass du uns nach Hause bringst. Ich bin reif für mein Bett“, lachte ich, als wir uns zur Begrüßung umarmten.

Nachdem er auch die drei Jungs genauso herzlich begrüßt hatte und wir die Taschen im Teambus verstaut hatten, stiegen wir ein und starteten direkt in Richtung Heimat.

„Ihr macht ja echt Sachen“, lachte Maxi, als er den Bus auf die Autobahn lotste, „kaum lässt man euch mal allein, da zieht ihr ins Halbfinale in Wimbledon ein. Was soll denn da jetzt noch kommen? Das ist doch kaum noch zu toppen.“

Ich zuckte mit den Schultern, aber Justin konterte direkt:

„Ein Finale wäre doch mal ganz nett. Vielleicht nicht gleich Wimbledon, aber in Montreal wäre doch auch cool.“

Ich drehte mich um und hatte sofort einige Bilder im Kopf.

„Ob das so klug ist? Dann würdest du mit Sicherheit keine ruhige Minute mehr in der Heimat haben. Denk mal an das letzte Mal. Und da seid ihr noch vollkommen unbekannt gewesen.“

„Richtig“, hörte ich jetzt Fynn von hinten, „da hast du am Anfang keinen Ball getroffen und dich nur mit deinem Papa gestritten. Ob das klug wäre, wenn du dort ins Finale kommst? Ich würde eher sagen, ich komme ins Finale. Dann wäre es für dich einfacher, hihihi.“

Sofort lachten alle im Bus. Die Stimmung war hervorragend und ich habe ganz viel gelacht. Die Jungs hatten echt den Schalk im Nacken und hauten einen Spruch nach dem anderen heraus.

Das hatte den Effekt, dass wir die Zeit auf der Autobahn nicht wirklich bemerkten. Aber als Maxi den Bus vor der Ampel in Halle anhielt, um nach rechts Richtung WG abzubiegen, wurde es doch wieder still. Auch die Jungs waren aufgeregt und fieberten ihrem Zuhause entgegen.

Aber der Knaller kam erst noch. Maxi bog in die Straße der WG ein und fuhr in die Einfahrt. Bevor wir auch nur eine Tür öffnen konnten, strömten die Jungs aus der WG von der Terrasse nach vorn. Sie hatten sogar ein Banner in der Hand mit der Aufschrift:

„Welcome home, ihr seid die Geilsten“

Als die Schiebetür vom T6-Bus aufging, gab es lauten Jubel und Applaus. Ich blieb für einen Moment noch sitzen und überließ den Jungs den Vortritt.

Allerdings tauchte dann Carlos an meiner Tür auf und holte mich aus dem Fahrzeug.

„Hallo Chris, willkommen zu Hause. Ihr macht ja coole Sachen auf der Insel.“

Danach umarmte er mich fest und diese Freude war ehrlich von Carlos. Er freute sich sehr über meine Rückkehr.

Martina hatte sich bislang im Hintergrund gehalten. Sie hatte aber einen großen Korb mit Getränkeflaschen in der Hand. Sie begrüßte mich herzlich und drückte mir direkt eine Fassbrause in die Hand.

„Herzlich willkommen in der Heimat. Prost mit einer richtigen Fassbrause aus Deutschland.“

Sie hatte ebenfalls eine Flasche in der Hand und wir stießen damit an.

Die Stimmung war toll und alle freuten sich für die drei Jungs. Für mich war ein großer Schritt auf die ATP-Tour erfolgt. Dustin, Fynn und auch Justin hatten sich auf die Herrentour gespielt und wir hatten zusätzlich dafür gesorgt, dass das Thema Homosexualität im Leistungssport nicht mehr totgeschwiegen wurde.

Aber jetzt freute ich mich auf den morgen beginnenden Urlaub.

Nachwort

An dieser Stelle möchte ich als Autor allen Lesern danken für die vielen Feedbacks und Anregungen. Allein „Auf der Tour“ hat sieben Jahre gebraucht, um an diesem Punkt ein Finale zu finden. Es ist für mich ein Geschenk, dass die Leser viel Freude beim Lesen gehabt haben. Ich hatte mir niemals vorstellen können, dass meine Idee, über diese drei Jungs zu schreiben, so einen Umfang bekommen könnte. Ich glaube aber jetzt, das Ziel, auf die Tour zu kommen, ist erreicht und vieles wird sich in Form von Routine wiederholen. Deshalb möchte ich diese Geschichte mit einem großen Erfolg beenden. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, später noch einmal einen Blick auf das Break-Point-Team zu werfen. Bevor mich Leser fragen, ob ich weiterhin schreiben werde, möchte ich ankündigen, dass ich noch die eine oder andere Idee für eine weitere Story habe. Jetzt möchte ich nach sieben Jahren dauerhaftem Schreiben eine kleine Pause einlegen. Also nicht traurig sein, ich werde, solange ich Freude am Schreiben habe, für Nickstories in die Tasten hauen.

Zum Ende dieser Geschichte bedanke ich mich ganz besonders bei MoNo. Er hat mich immer wieder begleitet und nicht nur als Korrektor exzellente Arbeit gemacht. Auch als Berater und mein strengster Kritiker hat er großen Anteil an der Qualität dieser Geschichte. Als Autor war es mir nicht immer möglich, Schwächen in der Geschichte zu erkennen. An dieser Stelle war MoNo für mich ganz besonders wichtig. Er konnte mich dann mit guten Argumenten davon überzeugen, diese Stellen zu streichen und/oder neu zu fassen. Meistens mit großem Erfolg kam eine viel bessere Geschichte heraus.

Lieber MoNo, ich wünsche mir auch in Zukunft deine Hilfe und Unterstützung. Hoffentlich kann ich dich auch von meinen folgenden Geschichten überzeugen und dich wieder mit im Boot haben. Vielen, vielen Dank.

Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei einem Leser, der mit viel Arbeit und Akribie dafür gesorgt hat, dass jeder Leser eine Liste einsehen kann, in der jede Figur aus meinen Geschichten erklärt wird. Mittlerweile sind es doch ganz schön viele geworden. Da kann es auch mal passieren, dass ein Leser Schwierigkeiten bekommt, diese Personen noch zu sortieren.

Lieber „Barking Frog“, an dieser Stelle vielen Dank für die enorme Zeit und Mühe, diese Datei zu erstellen. Ich werde sie mit der Veröffentlichung des letzten Teils von „Auf der Tour“ für die Leser freigeben.

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