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Lucien

Teil 5

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bislang habe ich diese Geschichte ausschließlich aus der Perspektive von Lucien erzählt. Ab diesem Teil werde ich hin und wieder einen Perspektivwechsel vornehmen, um auch innere Vorgänge der anderen Protagonisten kennenlernen zu können, um dadurch das Ganze für den Leser einsichtig und deutlicher werden zu lassen.

Lucien: Eltern – eine unschöne Episode führt zu einer Entscheidung

Papa bog auf unser Grundstück ein und fuhr direkt in die Garage. Wenige Augenblicke später standen wir in unserem Wohnzimmer. Dort warteten Leif und zwei Polizisten auf uns. Stef schien noch immer nicht zu realisieren, dass seine Eltern vor wenigen Minuten versucht hatten, sich unerlaubt Zugang zu unserem Haus zu verschaffen.

Papa bat die Polizisten, uns den aktuellen Stand der Ermittlungen mitzuteilen. Dabei stellte sich heraus, dass die Eltern uns bereits seit zwei Tagen beobachtet hatten und ernsthaft versuchen wollten, Stefan zu entführen.

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.

Die Polizei konnte uns nur zusagen, die Eltern kurzfristig festzuhalten. Für einen Haftbefehl würde das nicht ausreichen. Allerdings würden die Eltern aufgefordert, umgehend die Schweiz zu verlassen. Der Antrag auf Einreiseverbot würde gestellt, aber das dauere auch seine Zeit.

Stefan saß wie betäubt zwischen Papa und mir und hörte den Erzählungen der Beamten zu. Nachdem auch alle Formalitäten geklärt waren, verabschiedeten sich die Polizisten und wir waren wieder allein.

„Stefan, wie geht es dir im Moment?“, fragte Papa.

„Ich … ich weiß es nicht. Irgendwie begreife ich das nicht. Warum tun sie das?“

„Das wissen wir leider auch nicht, aber ich verspreche dir, wir werden es herausfinden. Hier bist du aber jetzt sicher vor ihnen. Sie werden dich nicht mehr belästigen, dafür werde ich sorgen.“

Mir war nicht ganz klar, wie Papa das in Zukunft verhindern wollte.

„Papa, wie soll das gehen? Wir können ja Stef nicht rund um die Uhr bewachen lassen.“

Obwohl die Situation sehr ernst und bedrückend war, fing Papa an zu lachen.

„Nein, das ist auch sicher nicht notwendig. Ich werde sofort meinen Anwalt beauftragen, dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr ohne Anmeldung und Erlaubnis in Stefans Nähe kommen. Und seid euch sicher, das wird für sie richtig unangenehm werden. Sie haben den Bogen überspannt und einen Fehler gemacht, auf den ich schon lange gewartet habe. Allerdings müssen wir Mario informieren. Er muss darüber Bescheid wissen.“

Stef saß wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa. Er war völlig in sich zusammengesunken.

„Warum machen sie so etwas? Was habe ich ihnen denn getan? Ich will doch nur meine Ruhe haben und endlich damit abschließen können.“

Papa stand auf und ließ mich mit Stef allein auf dem Sofa zurück, er wollte als Erstes Mario anrufen. Ich blieb mit Stef zurück und mir fiel etwas ein.

„Vielleicht haben sie Angst, du könntest sie anzeigen und ihnen ihr Leben kaputt machen. Allerdings haben sie jetzt einen Fehler gemacht, der ihnen böse Kopfschmerzen bereiten wird.“

Stef schaute mich aus seinen traurigen Augen an.

„Wie meinst du das? Das verstehe ich jetzt nicht.“

„Nun, sie haben den Fehler gemacht und sich mit Papa angelegt. Bislang hatte Papa nur die Möglichkeit, dich zu begleiten und für dich etwas Unterstützung zu organisieren. Jetzt aber haben sie sich unerlaubt auf unser Grundstück gewagt und damit gegen Papa gewandt. Er wird dafür sorgen, dass deine Eltern nie wieder auf diese Idee kommen werden, denn unsere Privatsphäre ist ihm heilig. Ich glaube, Papa ist fest entschlossen, ihnen ihre Grenzen aufzuzeigen. Warte es ab. Ich vermute, er hat auch bereits schon einen Plan im Kopf, sonst würde er nicht jetzt sofort mit deinem Bruder telefonieren wollen.“

„Was kann Mario schon tun? Er ist in München und hat dort eine sehr gute Arbeit und ich werde jetzt bestimmt nicht nach München zurückgehen. Da wäre ich ja noch näher an meinen Eltern.“

„Nein, das ist sicher auch nicht sinnvoll. Das würden Papa und Dr. Steyrer wohl auch nicht zulassen, aber ich bin ganz sicher, dass es eine Veränderung geben wird, die zu deinem Vorteil sein wird. Wir müssen abwarten. Hier bist du jedenfalls sicherer als irgendwo sonst auf der Welt.“

Jetzt musste er schmunzeln und umarmte mich mit den Worten:

„Ja, da gebe ich dir recht. Ich will hier auch nicht wieder weg. Luc, danke für alles. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich so glücklich bin, dein Freund sein zu dürfen.“

Ich gab ihm einen Kuss und dann stand ich auf. Ich wollte Papa fragen, ob wir nach draußen gehen durften.

Marc: Das Gespräch mit Mario und die Weichenstellung für Stefan

Ich war in mein Büro gegangen, um Mario anzurufen. Ich wollte mit ihm über das Vorgefallene sprechen und meinen Plan offenbaren. Stefan konnte jetzt nicht mehr zu seinen Eltern zurück, das war klar geworden. Aber Stefan brauchte einen Erziehungsberechtigten, der sich um seine Belange kümmern würde, wenn es notwendig war.

Ich saß also an meinem Schreibtisch und hatte das Telefon bereits in der Hand, als Luc hereinkam.

„Papa, ich möchte mit Stef an die frische Luft. Ist das ok oder sollen wir das lieber lassen?“

„Nein, ihr könnt euch frei bewegen. Die Eltern werden nicht mehr zurückkommen. Dafür kenne ich die Schweizer Behörden, sie werden dafür sorgen, dass die Eltern außer Landes kommen.“

Lächelnd schloss Luc die Tür und ich wählte zuerst noch die Nummer von Sabine. Sie war noch immer mit ihren Freunden aus dem Verein unterwegs. Ich hatte dort ja alles stehen und liegen gelassen, als der Anruf von Leif kam.

„Marc, endlich rufst du an. Was ist mit Luc und Stefan? Und ist alles in Ordnung bei euch?“

„Ja, Schatz, hier ist alles wieder in Ordnung. Die Eltern wurden von der Polizei begleitet und vermutlich befinden die sich jetzt schon wieder auf dem Weg nach Deutschland. Die Beamten haben mir zugesichert, dass ihre Rückkehr nach Deutschland überwacht wird.“

„Wie geht es den Jungs? Marc, soll ich nach Hause kommen? Ich mache mir Sorgen und finde es blöd, dass du jetzt wieder allein damit beschäftigt bist.“

„Also, ganz ruhig, Schatz, Luc kümmert sich sehr liebevoll um seinen Freund. Die brauchen uns gar nicht ständig um sich zu haben.“

Ich musste lachen bei den Gedanken, die mir jetzt kamen. Sabine ging es genauso.

„Du bist doof. So meinte ich das nicht.“

„Schon gut. Nein, du bleibst dort bei deinen Freundinnen. Ich habe hier bereits alles geregelt. Ich telefoniere jetzt anschließend noch mit Mario und dann ist hier erst einmal alles wieder ruhig. Die weiteren Dinge besprechen wir, wenn du wieder hier bist. Stefan ist sicher schwer getroffen, aber er wird sich wieder fangen. Leif hat sich toll verhalten, Luc kümmert sich um Stefan und ich werde morgen Herrn Steyrer informieren. Er soll den Eltern erst einmal auch dort ein Hausverbot erteilen, sicherheitshalber.“

„Denkst du, dass Luc damit alleine klarkommt, was heute passiert ist?“

„Das ist eine gute Frage, aber ich kann sie dir nicht beantworten. Er nimmt sich das immer sehr zu herzen. Wir müssen das abwarten und entsprechend hinschauen.“

„Also gut, dann bleibe ich hier und versuche, noch ein schönes Wochenende zu haben. Was machst du jetzt noch mit den Jungs?“

„Ich weiß es noch nicht, aber ich werde auf jeden Fall schauen, dass wir etwas zusammen machen. Da fällt uns bestimmt noch etwas ein. Wie kommst du morgen zurück? Kannst du irgendwo mitfahren oder sollen wir dich abholen?“

„Nein, ich kann bestimmt mit Martina zurückfahren. Wenn das gar nicht klappt, melde ich mich noch einmal. Marc, kannst du mir etwas versprechen?“

„Was denn, Schatz?“

„Wenn irgendetwas bei euch passiert oder es mit Luc Probleme gibt, rufst du an.“

„Versprochen, aber das klappt hier schon alles.“

„Na gut, irgendwie wird es bei uns auch nie langweilig.“

Jetzt mussten wir beide lachen und ich antwortete noch darauf:

„Deshalb liebe ich dich auch so.“

„Ich dich auch.“

Dann war dieses Gespräch beendet und das nächste stand an. Zuvor rief Leif noch nach mir.

„Ich bin im Büro, Leif“, rief ich zurück und kurze Zeit später schaute Leif durch die Tür.

„Komm rein.“

„Papa, was machen wir heute noch? Luc ist mit Stefan nach draußen gegangen und ich bin mit den Schulsachen fertig.“

„Ich weiß noch nichts Genaues. Ich denke aber, wir sollten vielleicht am Nachmittag was zusammen machen. Was hast du vor?“

„Noch nichts Bestimmtes, vielleicht mit Tommy und Nico was unternehmen.“

„Ok, dann frag sie doch, ob sie Lust hätten, auf die Kartbahn mitzukommen. Da könnten wir alle gemeinsam etwas Spaß haben und heute Abend gehen wir gemeinsam essen.“

„Kann ich machen. Wann soll das denn losgehen?“

„Keine Ahnung, sag Bescheid, wenn du mit ihnen gesprochen hast. Ach, noch etwas Leif, - ich bin stolz auf dich. Du hast dich hier ganz toll verhalten. Ich bin sehr froh darüber, dass du sofort reagiert hast.“

Mein Sohn lächelte mich jetzt an und ich konnte erkennen, das Lob tat ihm gut. Er nickte nur und ging anschließend hinaus.

Meine Gedanken kreisten um viele Dinge. Es gab mir ein gutes Gefühl, dass Leif eben nicht nur Partys im Kopf hatte, sondern im richtigen Moment auch Verantwortung übernehmen konnte. Ein anderer Gedanke war nun das anstehende Gespräch mit Mario. Mal sehen, wie sich das entwickelte. Ich wählte seine Nummer und nach kurzem Klingeln vernahm ich seine Stimme.

„Hallo Marc, was ist denn nun los? Ist etwas passiert? Du rufst doch sonst nicht bei mir an.“

„Hallo Mario, ja, leider hast du recht. Ich muss dir etwas sehr Unerfreuliches berichten. Es geht um eure Eltern.“

„Um unsere Eltern? Was ist passiert?“

Jetzt musste ich die Katze aus dem Sack lassen, und als ich mit meinem Bericht fertig war, gab es für einen Moment völlige Stille am anderen Ende der Leitung.

„Sag mal, bist du dir sicher, dass das nicht in einem Krimi stattgefunden hat?“, fragte Mario sichtlich ungläubig.

„Es tut mir leid, Mario, aber leider hat es sich genau so abgespielt. Wir müssen uns überlegen, was wir nun tun. Ich werde auf jeden Fall Strafanzeige gegen eure Eltern stellen und das hat zur Folge, dass wir uns über die Sorgerechtsfrage Gedanken machen müssen. Ich denke, es kann und darf nicht bei euren Eltern bleiben.“

„Hmm, diese Geschichte überrascht mich echt total. Aber du rufst mich ja nicht an, ohne dass du dir etwas überlegt hast. Also was hast du vor?“

„Ganz ehrlich, auch wenn du mich jetzt für verrückt erklärst, aber ich möchte, dass du das Sorgerecht für deinen kleinen Bruder bekommst und dann rechtlich für ihn zuständig bist. Alles andere kann erst einmal so bleiben, wie es ist. Vor allem haben wir jetzt ein gutes Argument in der Hand, dass Stefan nicht wieder nach Hause zurück muss.“

„Boah, das trifft mich jetzt ziemlich unerwartet. Das muss ich aber nicht jetzt sofort entscheiden, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Wir sollten darüber persönlich reden. Ich werde dafür mit Luc und Stefan nach München kommen. Also du hast noch ein paar Tage Zeit, mal darüber nachzudenken. Ich wollte heute eigentlich nur, dass du Bescheid weißt und dich von deinen Eltern bitte fernhältst.“

„Alles klar, und wie geht es Stef jetzt? Wie hat Luc das verkraftet?“

„Soweit alles im Griff hier. Allerdings wird bei Stefan sicher noch der große Effekt kommen.

Deshalb bin ich ja auch hier geblieben und nicht wieder zu Sabine zurückgefahren.“

„Danke, dass ihr euch so um ihn kümmert. Ich wüsste nicht, wie ich das hier alles regeln sollte. Wann wirst du denn nach München kommen und soll ich mich bei Stef melden?“

„Ja, ich denke, es wäre gut, wenn du ihn anrufen und mit ihm sprechen würdest. Vielleicht heute nur kurz, dass er weiß, du kennst den Sachverhalt und er kann dich dann morgen in Ruhe anrufen und ihr redet ausführlich miteinander.“

„Alles klar, danke Marc. Ich werde ihn später kurz anrufen und ihm sagen, dass du mich informiert hast. Von deiner Idee soll ich ihm vermutlich noch nichts sagen, oder?“

„Genau, das soll er noch nicht wissen. Erst wenn wir das geklärt haben, werden wir mit ihm darüber sprechen. Er ist hier ja erst einmal in Sicherheit.“

Wir verabschiedeten uns und ich verließ mein Büro und suchte Leif. Lange brauchte ich ihn nicht zu suchen, denn er wartete in der Küche auf mich.

„Was hat Mario gesagt?“

„Er war entsetzt und besorgt, aber er wird sich etwas Gedanken machen. Dann werden wir sehen.“

„Was hast du eigentlich jetzt vor?“

„Leif, es ist noch zu früh, darüber zu sprechen. Warte bitte etwas. Hast du mit Nico und Tommy telefoniert?“

„Klar, rate mal, was ihre Antwort war.“

„Sie finden das total langweilig und wollen mit dem alten Sack Steevens nicht mehr irgendwo auftauchen.“

Jetzt mussten wir beide herzlich lachen. Ich hatte den gewünschten Effekt, Leif sollte sich nicht mehr unnötig mit Stefans Eltern beschäftigen.

„Papa, du bist unmöglich. Nein, sie freuen sich über diesen Vorschlag. Sie schlagen vor, sich um fünf dort zu treffen.“

Ich schaute zur Uhr und fand, das war eine gute Zeit. Bis dahin sollten Stefan und Luc auch wieder zurück sein und ich konnte auch mit Stefan noch ein kurzes Gespräch führen.

Luc: Panik und Hoffnung

Was ist hier eigentlich gerade passiert? Diese Frage geisterte immer noch durch meinen Kopf, während ich mit Stef durch die klare Luft ging. Stef lief still neben mir her und in mir machte sich Wut breit. Diese Eltern gehörten für mich hinter Schloss und Riegel. Sie würden sonst meinem Freund und auch mir das Leben immer wieder zur Hölle machen. Stef schien sich ein wenig gefangen zu haben.

„Luc, warum eigentlich immer ich? Warum kann ich nicht einmal in Ruhe Ordnung in mein Leben bringen?“

Er schaute mich ratlos an und ich überlegte einen Moment, bevor ich dann ganz leise sagte:

„Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht erklären.“

Wir waren mittlerweile an unserem Lieblingsplatz in dem kleinen Wäldchen angekommen und auf den Hochsitz gestiegen, von dem aus wir auf unser Haus schauen konnten.

„Was soll ich jetzt noch machen? Ich kann doch nicht weiter bei euch bleiben und euch gefährden.“

Dieser Satz traf mich ins Mark.

„Was soll das jetzt? Natürlich bleibst du bei uns. Komm jetzt nicht auf komische Ideen. Papa wird das für dich regeln. Du bist hier sicherer als sonst irgendwo. Und hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Es ist nicht deine Schuld.“

Stef fing an zu weinen und er zitterte am ganzen Körper. Es schien so, als ob der ganze Stress jetzt erst von ihm abfiel und er sich das bewusst machte, was hier gerade abgelaufen war. Ich hielt ihn fest und streichelte ihn. Er sollte spüren, dass ich bei ihm war und wir ihn unterstützen.

Plötzlich wurde Stef hektisch, seine Augen waren weit geöffnet und er wollte sich aus meinen Armen befreien und weglaufen. Ich hielt ihn ganz fest. Fast zornig fuhr ich ihn an.

„Stef, du bleibst hier. Was ist denn nun los? Warum hast du plötzlich so eine Panik?“

Er wollte sich gar nicht wieder beruhigen und fast schon hysterisch sagte er:

„Luc, wir müssen sofort zurück. Ich muss wissen, ob Mario in Sicherheit ist. Was ist, wenn sie ihm auch etwas antun wollen.“

Ich war erschrocken. Dieser Gedanke war für mich total absurd. Allerdings war es bis vor zwei Stunden für mich auch absurd, dass Eltern ihr eigenes Kind entführen würden.

„Papa wird bestimmt schon mit ihm gesprochen haben. Bleib ruhig.“

Leider stellte ich fest, dass ich in der ganzen Aufregung kein Handy eingesteckt hatte.

„Ich will das sofort wissen. Was ist, wenn er in Gefahr ist, oder Hilfe braucht? Bitte, Luc, lass uns nach Hause gehen. Ich habe Angst.“

„Ist in Ordnung, aber du versprichst mir, nicht wegzulaufen. Wir bleiben zusammen und gehen gemeinsam nach Hause.“

Völlig entgeistert schaute er mich an.

„Natürlich, warum sollte ich vor dir weglaufen. Ich will dich doch nie wieder hergeben.“

Eigentlich war diese Antwort sehr lustig, vor allem, weil er mich gleichzeitig küsste. Ich musste einfach lachen, das war zu komisch.

„Dann lass uns nach Hause gehen und Mario anrufen.“

Stef stieg die Leiter hinunter und ich folgte ihm. Unten angekommen, machten wir uns auf den Weg nach Hause. Die ersten Meter liefen wir schweigend nebeneinander her. Ich hatte seine Hand genommen und er ließ sie auch keinen Moment wieder los. Irgendwann, als wir wieder in die Nähe der Häuser kamen, fragte er mich:

„Denkst du, dass sie auch bei Mario waren?“

Ich konnte mir das nicht vorstellen und gab das Stef auch deutlich zu verstehen. Aber ich wollte auch, dass er Gewissheit bekam und von daher liefen wir jetzt zügigen Schrittes nach Hause. Ich schloss die Tür auf und wir standen im Flur unseres Hauses. Ich konnte Papa schon aus dem Wohnzimmer rufen hören.

„Luc? Seid ihr zurück? Ich bin im Wohnzimmer, kommt ihr bitte mal.“

Stef konnte kaum stillstehen, als ich noch meine Jacke an die Garderobe hing. Wir betraten das Wohnzimmer und Papa begriff sofort, dass etwas in der Luft lag.

„Kommt her und setzt euch. Stefan, was ist mit dir? Du hast große Sorgen im Gesicht.“

Stef schaute mich fragend an, setzte sich aber mit mir zu Papa an den Tisch. Dann begann er seine Gedanken zu erläutern. Welche Angst ihn gerade beschäftigte und er unbedingt mit Mario telefonieren wollte. Papa ließ ihn in Ruhe zu Ende erzählen und ich hatte Stefs Hand genommen, um ihm zu zeigen, dass ich zu ihm stand. Papas Gesicht entspannte sich immer mehr, und als Stef fertig war, lächelte Papa.

„Kann ich gut verstehen, dass du dir auch Sorgen um deinen Bruder machst. Wenn eure Eltern dich bedrohen, dann könnten sie das sicher auch bei Mario versuchen. Aber ich kann dich beruhigen, Mario geht es soweit gut. Ich habe natürlich schon mit ihm gesprochen. Er weiß bereits Bescheid und wird entsprechend vorsichtig sein. Du brauchst dir darum keine Sorgen zu machen.“

In diesem Moment fiel Stef erleichtert an meine Brust und schmiegte seinen Kopf an meine Schulter.

„Papa, wie soll das denn nun weitergehen? Ich finde es richtig schlecht, dass die Eltern einfach immer wieder Terror auf Stef ausüben.“

„Sei dir sicher, das wird nicht so weiter gehen. Ich habe alles Notwendige bereits veranlasst. Sie werden Stef hier nicht mehr bedrohen können. Außerdem werden sie diesen Fehler bereuen. Das verspreche ich euch.“

Die letzten Sätze hatte Papa mit einer Kälte in seiner Stimme gesprochen, wie ich sie noch nicht oft verspürt hatte. Er musste sehr zornig gewesen sein und auch bestimmt in der Strategie. Stef hatte sich ein wenig wieder von mir gelöst und schaute nun zu Papa.

„Marc, heißt das, du bist der Meinung, ich sollte hier bei euch bleiben, auch wenn ich euch immer wieder neue Probleme mache?“

Erst jetzt schien Papa zu begreifen, wie sehr sich Stef mit der Sache beschäftigt hatte. Er zögerte keine Sekunde in seiner Antwort.

„Natürlich bleibst du hier. Was hast du denn gedacht? Nur weil deine Eltern in ihrem verwirrten Kopf nicht wissen, was sie tun, wirst du hier nicht weggehen. Ich werde dafür sorgen, dass ihnen jetzt richtig in den Hintern getreten wird. Du bleibst so lange hier in der Schweiz, bis wir eine klare Regelung haben, die für dich gut ist.“

„Marc, ich weiß gerade nicht, was ich denken soll. Ich …“

Papa stand auf, legte seine Hand auf Stefs Kopf und sagte ganz ruhig:

„Es ist gut. Du musst dir keine weiteren Gedanken machen. Wir werden ab jetzt, heute nur noch an schöne Dinge denken. Das ist ein Befehl.“

Ich musste schmunzeln. Das war wieder mein Papa, wie ich ihn kannte. Locker, immer für uns da und dennoch sehr bestimmt in dem, was er tat. Er gab uns dann seinen Plan für den weiteren Tagesablauf bekannt. Am Schluss fragte er nur Stef noch:

„Überleg dir, ob du in der Woche wieder ins Internat gehen oder ein paar Tage bei uns bleiben möchtest, damit du zur Ruhe kommst. Du kannst dir das bis morgen Abend noch überlegen.“

Stef nickte stumm und ich war so froh, so einen Papa zu haben.

Luc: Auf der Kartbahn

Am Nachmittag sind wir dann gemeinsam auf die Kartbahn gefahren. Wir waren eine lustige Truppe. Insbesondere Nico und Tommy hatten wieder mal den Schalk im Nacken. Immer wieder machten sie ihre Scherze. Stef wurde immer lockerer und er konnte auch wieder lachen. Papa hatte sich ein wenig mit dem Fahren zurückgehalten und saß mit Mama in der Zuschauerlounge und schaute uns dabei zu. Mama war natürlich entgegen der Absprache doch sofort nach Hause gekommen. Sie war der Meinung, wenn hier die Hütte brennen würde, könnte sie doch nicht zu ihrem Vergnügen mit den Frauen Party machen. Umso erstaunter war ich, dass Mama auch gleich mitgekommen war. Sie hatte sonst nie für sowas etwas übrig. Wie ich beobachten konnte, hatten sie aber auch ihren Spaß. Immer wieder sah ich, wie Papa lachte und sich mit Mama freute.

Wir hatten schon einige Runden gedreht und Stef war auch immer schneller unterwegs. Mittlerweile konnte er unser Tempo gut mithalten. Wir hatten auch schon einige andere Piloten kennengelernt und standen eben in einer Pause im Fahrerlager. Nico erklärte Stef gerade, wie er noch besser fahren könnte, als ein Junge zu Leif und mir kam. Leif schien ihn zu kennen, denn sie begrüßten sich sehr herzlich.

„Hi, Sven, was machst du denn hier?“

„Leif, was macht man hier wohl? Bestimmt Ballett tanzen.“

„Blödmann, bist du wieder häufiger hier?“

„Vielleicht, meine Eltern wollen mich hier aufs Internat schicken. Ich komme dahinten einfach nicht richtig klar.“

„Das wäre ja cool. Dann können wir hier wieder die Gegend unsicher machen.“

Ich stand etwas ratlos die ganze Zeit neben Leif und verfolgte das Gespräch. Ich konnte mit diesem Sven überhaupt nichts anfangen. Leif bemerkte dies auch irgendwann und er stellte mich Sven vor.

„Sven, das hier ist mein kleiner Bruder Lucien. Du wirst ihn noch nicht kennen. Luc, das ist ein ganz alter Freund aus meiner Klasse. Er ist vor einigen Jahren mit seinen Eltern hier weggezogen. Früher haben wir viel gemeinsam gemacht.“

Sven schaute nun sehr verwundert zu mir und schüttelte mit dem Kopf.

„Wie? Dein kleiner Bruder? Hat dein Vater uns damals einen Bruder verschwiegen? Ich kann mich nur an Mick und Lukas erinnern. Aber einen Lucien?“

Wir mussten nun lachen. Jetzt verstand ich auch, warum Leif so vertraut mit Sven war. Wir erklärten ihm die neue Situation in unserer Familie und er staunte doch ein wenig. Nachdem wir nun einige Zeit mit Sven geplaudert hatten und auch Nico und Tommy wieder bei uns waren, konnte ich Stef bei Mama und Papa sitzen sehen. Das fand ich nicht so toll. Er sollte doch mit uns wieder auf die Piste kommen. Da hatte Leif eine verrückte Idee.

„So, Leute, wir sind alle zusammen. Jetzt wird es Zeit, dass wir unsere Eltern mal auf die Piste bekommen. Was meint ihr?“

Nico und Tommy lachten, Leif und ich waren uns einig, also marschierten wir fünf in Richtung Fahrerklause, wo Mama, Papa und Stef saßen. Sven war sichtlich angespannt. Er hatte wohl damals schon Marc immer sehr verehrt.

Einige Momente später standen wir bei ihnen am Tisch und Leif kannte keine Gnade.

„So, ihr drei. Jetzt müsst ihr aber mit uns zum Schluss noch ein Rennen fahren. Wir gehen nicht nach Hause, bevor ihr mit uns gefahren seid.“

Mama bekam einen richtig roten Kopf und Papa amüsierte sich köstlich. Stef fand diese Idee auch richtig klasse. Papa stand bereits auf und wollte mit uns losziehen, aber Mama wollte partout nicht mit uns fahren. Da nahm Papa ihre Hand und zog sie an sich heran, gab ihr einen Kuss und damit war ihr Widerstand gebrochen. Also gingen jetzt sieben Personen in den Startbereich. Papa hatte Sven begrüßt und er konnte sich auch an ihn erinnern. Stef ging jetzt neben mir und er flüsterte mir zu.

„Man, Luc, das macht richtig Spaß. Ich habe schon lange nicht mehr so viel gelacht. Danke.“

Dann gab er mir einfach einen Kuss auf die Wange. Sven hatte das mitbekommen und schaute etwas verwundert, sagte aber nichts weiter dazu.

Papa organisierte noch schnell für Mama und sich selbst einen Helm und dann ging es auch schon los. Diese letzte halbe Stunde war einfach grandios. Papa musste immer wieder Mama mal anschieben, damit sie schneller durch die Kurven kam. Das führte natürlich zu großem Gelächter. Papa nahm das alles sehr locker und am Ende hatte Nico die schnellsten Runden gefahren und war am Schluss der Erste, der über die Ziellinie fuhr. Nico freute sich natürlich, schneller als Papa gewesen zu sein. Das Wichtigste aber war doch an diesem Abend, dass Stef wieder lachen konnte. Wir hatten also unser Ziel erreicht. Als wir alle durch das Ziel gefahren waren und die Karts wieder abgestellt hatten, kam der Betreiber der Bahn zu uns und bat Papa für einen Moment mit in den Aufsichtsraum zu kommen. Wir hingegen alberten herum und zogen Mama immer wieder mit ihrer großen Geschwindigkeit auf. Allerdings wunderte ich mich doch ein wenig, wie locker und lustig sie mit uns herumtollte. Das kannte ich so von ihr noch nicht.

Als Papa wieder bei uns war, gab er Mama einen Kuss und wir verließen bestens gelaunt die Halle. Allerdings waren wir alle doch ziemlich verschwitzt.

„Leute, wie sieht das jetzt aus? Sollen wir so zum Essen fahren oder erst kurz nach Hause zum Duschen?“

Nico und Tommy verabschiedeten sich von uns. Sie hatten am Abend noch etwas anderes vor. Ich wollte auf jeden Fall noch duschen, denn ich war komplett durchgeschwitzt und wollte nicht krank werden.

„Also, ich würde gerne erst duschen. Ich bin total verschwitzt.“

Leif stimmte mir zu und somit fuhren wir gemeinsam zu uns nach Hause. Bevor ich mit Stef in mein Zimmer gehen konnte, ermahnte uns Papa noch, nicht zu lange zu brauchen. Leif verschwand ebenfalls direkt in seinem Zimmer. In fünfzehn Minuten sollten wir uns wieder im Wohnzimmer treffen.

Ich zog meine Sachen aus und bemerkte erst jetzt, dass Stef ja gar keine Sachen zum Wechseln dabei hatte.

„Stef, nimm dir von mir Sachen. Die Unterwäsche ist in dem kleinen Schrank da vorne und wo die anderen Sachen sind, weißt du ja schon.“

Er war sichtlich verunsichert. Ich wollte aber nicht, dass er den ganzen Abend so verschwitzt mit uns draußen unterwegs war.

„Meinst du wirklich? Und kann ich dann auch bei dir duschen? Ich habe keine Sachen mit.“

„Los, such dir ein paar Sachen heraus und dann komm mit mir in die Dusche. Wir duschen zusammen, geht schneller.“

Er legte sich ein paar Sachen heraus und dann zog er sich seine nassen Sachen aus. Gemeinsam verschwanden wir in der Dusche. Es war ein wenig eng und es kam auch zu einigen sehr schönen Berührungen. Leider hatten wir nicht genug Zeit, das auszunutzen. Etwas enttäuscht stieg ich aus der Dusche und nahm mir eins der großen Handtücher, rubbelte mich schnell trocken und verließ das Bad, um mich schon einmal anzuziehen. Plötzlich meldete sich Stefs Handy. Ich schaute auf sein Display und sah, dass es Mario war. Ich nahm das Gespräch an.

„Hallo Mario, hier ist Luc. Dein Bruder steht bei mir gerade unter der Dusche.“

„Hi, Luc. Ich wollte auch nicht lange mit ihm sprechen. Wie geht es ihm denn jetzt nach dieser Sache mit unseren Eltern?“

„Wir waren bis eben alle zusammen beim Kartfahren. Da hatte er viel Spaß und ist auf andere Gedanken gekommen. Wie das wird, wenn er zur Ruhe kommt, weiß ich nicht. Warte mal, er kommt gerade aus dem Bad. Stef, Mario ist am Telefon. Kommst du mal bitte.“

Er nahm sich schnell die Boxer und zog sie an, kam dann zu mir und nahm mir das Handy ab.

„Hallo Mario, was gibt es denn?“, fragte er etwas angespannt.

Ich konnte natürlich nicht hören, was Mario ihm sagte, aber Stefs Reaktion war eindeutig.

„Ja, das stimmt. Sie haben wirklich versucht, mich hier wegzuholen. Nein, es geht mir gut.

Leif hatte sofort Marc angerufen.“

Stef hörte einen Moment zu, was Mario ihm sagte und dann meinte er nur noch:

„Alles klar, danke. Ja ist in Ordnung. Bis morgen dann. Ja, Mario, ich werde das Wochenende bei Luc bleiben. Ok, tschüss.“

„Ist alles in Ordnung?“, wollte ich wissen.

„Ja, Luc. Mario wollte mir nur kurz Bescheid sagen, dass dein Vater ihn schon angerufen hatte und er über alles informiert ist. Er will morgen ausführlich mit mir sprechen.“

„Ah, ok. Dann können wir jetzt schön zum Essen fahren? Ich habe nämlich Hunger.“

Stefan: Warum kann meine Familie nicht so sein

Meine Gedanken waren für mich in den letzten Wochen immer wieder von Verwirrung, Trauer und Angst gezeichnet. Im Gegensatz dazu gab es auch Freude, Hoffnung und freudige Erwartung. Diese ständigen Gegensätze hatten mich zermürbt. Ich fühlte mich einfach leer. Immer wieder gelang es Marc, Luc und allen anderen Freunden, mich aufzufangen. Aber ich spürte, ich war kein Familienmitglied. Ich wusste, ich war hier Gast. Meine Familie, oder das, was sich so nannte, sah anders aus. Ich würde niemals so einen Rückhalt bekommen wie Luc. Was hatte er in München für sich erlebt. Er hat immer jemanden gehabt, der ihm geholfen hat, wenn es nötig war. Diese Sicherheit hatte ich in den vierzehn Jahren meines Lebens nie. Was für ein Film lief hier ab? Marc hat mich einfach, ohne Bedingungen oder Fragen zu stellen, aufgenommen. Er kümmert sich, genau wie Dr.Steyrer, um mich. Sie tun all die Dinge, die meine Eltern nie für mich getan haben, aber warum tun sie das? Sie machten sich unheimlich viel Arbeit, meinetwegen. Das machte mir ein schlechtes Gewissen. Wie sollte ich etwas zurückgeben können? Auch jetzt wieder, Marc hatte einfach gesagt, wir würden gemeinsam Kart fahren und anschließend auch noch gemeinsam Essen gehen. Es war für ihn selbstverständlich, dass ich dafür nichts zu bezahlen hatte.

Ich saß mit Luc, Leif, Sabine und Marc in ihrem Auto und bekam ein ganz komisches Gefühl. Einerseits war es einfach toll, mit Luc zusammen zu sein, aber ich wusste auch, dass diese Liebe eigentlich keine Zukunft hatte. Wie sollte ich mich gleichberechtigt einbringen und ihm das geben können, was er mir gab. Ich brauchte Klarheit für mich und auch für Luc. Konnte ich mit ihm weiterhin zusammen sein, ohne immer wieder auf fremde Hilfe angewiesen zu sein?

Was mir jetzt allerdings auffiel, wir fuhren gar nicht zu Salvatori. Es schien so zu sein, dass sich Marc und Sabine etwas anderes überlegt hatten.

Durch meine eigenen Überlegungen hatte ich aber auch nicht viel mitbekommen. Ich zuckte ein wenig zusammen, als ich mit meinen Gedanken wieder im Hier und Jetzt war.

„Na, Stef, wo bist du gerade gewesen?“, fragte mich Sabine.

Mist, auch das noch. Es war aufgefallen.

„Sorry, hattet ihr eben mit mir gesprochen? Ich war vollkommen in Gedanken. Tut mir echt leid.“

„Ist schon in Ordnung, wir hatten dich eigentlich nur gefragt, ob du einverstanden bist, wenn wir heute mal woanders essen gehen.“

Wieder so eine Situation, ich wurde gefragt, ob ich einverstanden bin. Ich hatte doch überhaupt kein Recht, mich dazu zu äußern. Marc und Sabine würden es erneut bezahlen und kein Wort darüber verlieren. Wieder überkam mich so ein schlechtes Gefühl.

„Klar, kein Problem. Ich bin mit allem einverstanden, nur asiatisch ist gar nicht so mein Ding.“

In diesem Moment nahm Luc meine Hand und erwiderte darauf:

„Ein weiterer Punkt für dich. Ich mag es auch nicht. Und außer Mama ist hier niemand, der asiatisch mag. Also wird das wohl kein Problem werden.“

Alle im Auto lachten über diese Bemerkung, ich freute mich auch, aber lachen konnte ich gerade nicht wirklich. Zu viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Womit hatte ich es eigentlich verdient, in so einer Familie aufgenommen zu werden, ohne Vorbedingungen und ohne Gegenleistung? Ich, der auf den Strich gegangen war, um sich etwas zu essen und zu trinken kaufen zu können, wurde in einer der berühmtesten Familien der Schweiz aufgenommen. Ich wurde immer trauriger, aber ich wollte ihnen auch nicht den Abend verderben. Sie taten es ja eigentlich, um mich aufzufangen und mir zu helfen.

Luc kam ganz dicht an mich heran und gab mir einen Kuss. Es durchzuckte mich, wie ein Blitz. Es war schön, aber warum hat er sich ausgerechnet mich ausgesucht? Er hätte jeden anderen normalen Jungen haben können.

Einige Minuten später stellte Marc das Auto auf einem Parkplatz ab. Wir stiegen aus und eine klare Luft strich mir durch das Gesicht. Luc legte seinen Arm um mich und wir gingen zusammen hinter Marc und Sabine her. Leif folgte uns. Ich konnte jetzt erkennen, wo wir uns befanden. Wir standen vor einer wunderschönen alten Villa. Über dem Eingang stand geschrieben: „Züricher Hof“.

Ich war sprachlos und mein schlechtes Gewissen plagte mich immer mehr. Dieses Restaurant galt als eines der besten der Schweiz. Es hatte sogar zwei Michelin Sterne. Warum wollte Marc ausgerechnet heute hier essen gehen?

Wenige Minuten später hatten wir an einem wunderschön dekorierten Tisch Platz genommen und jeder hatte eine Speisekarte in der Hand. Marc legte seine Karte an die Seite und ich war einfach unsicher. Konnte ich einfach etwas auswählen?

„Marc, ich fühle mich gerade etwas unsicher und unwohl. In so einem Lokal bin ich noch kaum gewesen und ich könnte es mir auch nicht leisten. Ich weiß nicht, was ich mir zu essen bestellen darf.“

Marc schaute mich mit einem freundlichen Blick an und er blieb ganz ruhig, während Luc schon Luft holte, um mir etwas zu antworten.

„Luc, du hast Sendepause. Das möchte ich beantworten.“

So bestimmt hatte ich Marc selten erlebt. Er bremste Luc direkt aus. Die Reaktion der anderen war entsprechend. Sie schauten aufmerksam von ihren Speisekarten auf und blickten zu Marc.

„Stefan, du kannst genauso frei wählen, wie Luc oder Leif. Ich habe es schon bemerkt, dass dich etwas beschäftigt. Wenn du darüber reden möchtest, dann kannst du immer zu uns kommen. Ich möchte hier etwas klarstellen. Du bist für uns ein Teil der Familie geworden, du bist der Freund und Partner von Luc. Das heißt für mich und Sabine, du bist damit ein Familienmitglied für uns.“

Ich hatte diese Worte zwar gehört, konnte sie aber nicht wirklich verarbeiten. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Erst, als Luc meine Hand nahm und mir mit seiner anderen Hand durchs Gesicht strich, wurde mir bewusst, was Marc gerade gesagt hatte.

„Danke euch, ich kann im Moment noch nicht begreifen, was in den letzten Wochen passiert ist. Verzeiht mir bitte meine Abwesenheit, aber mir gehen gerade so viele Gedanken durch den Kopf. Manchmal würde ich am liebsten einfach weglaufen oder auch etwas anderes, vielleicht Unüberlegtes tun. Es geht mir einfach nicht gut.“

Alle am Tisch Anwesende schauten sehr betroffen und selbst Leif schien zu versuchen, sich vorzustellen, wie es mir gerade ging. Aber Sabine stand von ihrem Platz auf, setzte sich neben mich und nahm mich wortlos in den Arm. Das Gefühl, in ihrem Arm zu sein, war so schön. Sie streichelte mir durch mein Haar und nach einer Weile sagte sie ganz leise:

„Stefan, ich glaube, niemand von uns kann sich wirklich vorstellen, was du in deinem Leben schon alles ertragen musstest. Du solltest anfangen, über deine Geschichte zu sprechen. Nicht heute, nicht morgen, aber bald. Du brauchst jemanden, der mit dir das aufarbeitet, was du erlebt hast. Heute sollst du einfach merken, wir sind ab heute deine Familie, auch wenn du noch nicht bei uns lebst. Aber du bist ein Teil von uns. Also mach dir nicht zu viele Gedanken in dieser Hinsicht. Du sollst heute und morgen ein schönes Wochenende genießen in unserer Familie.“

Mir liefen die Tränen, ich konnte es einfach nicht mehr zurückhalten. Niemand sagte etwas, Sabine hielt mich einfach fest und auch Luc hielt meine Hand. Es brauchte noch einige Minuten, bis ich mich wieder etwas beruhigt hatte. Sabine blieb die ganze Zeit bei mir sitzen.

„Geht es jetzt wieder etwas besser?“, fragte mich Marc.

„Ja, ich glaube schon, danke.“

Sabine nahm meine Speisekarte vom Tisch und öffnete sie. Sie hielt sie mir hin und wir schauten tatsächlich zusammen hinein.

„Ich möchte, dass du dir jetzt das aussuchst, was du gerne essen möchtest. Luc hat ein tolles Menü ausgesucht, wie wäre es denn, wenn ihr das für zwei Personen bestellt. Als Partnermenü.“

Dabei hielt sie weiterhin Kontakt zu mir. Ich empfand dieses Gefühl so stark, dass ich nur nicken konnte und sie sagte noch leise.

„Eine gute Entscheidung. Dein Freund hat euch etwas ganz Tolles ausgesucht.“

Dann stand sie wieder auf und setzte sich zu Marc. Luc hielt weiterhin meine Hand und Marc ließ den Ober an unseren Tisch kommen. Erst jetzt realisierte ich, dass wir schon zwanzig

Minuten am Tisch saßen. Niemand hatte uns gestört.

Der Kellner kam und Marc gab für alle die Bestellung auf. Dann fragte der Kellner noch nach unseren Getränkewünschen und zog sich anschließend wieder sehr dezent zurück.

Luc: Die Vorbereitungen für den Ausflug

Die Stimmung war bedrückend. Mama hatte mir sehr geholfen. Jetzt wollte ich aber auch die Stimmung wieder auflockern, obwohl mir bewusst war, dass Stef noch lange nicht im normalen Leben war. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, das hatte mir Papa auch schon einmal sehr ausführlich zu Hause erklärt.

„Mama, am Dienstag fahren wir ja mit der Klasse zum Skilaufen. Ich habe aber meine Skier noch gar nicht vorbereiten können. Die Anzüge habe ich schon probiert, die passen. Aber die Skier müssen noch präpariert werden.“

„Das fällt dir aber früh ein, dann musst du das am Montag noch machen.“

„Wie hätte ich das denn vorher machen sollen? Ich wusste doch bis vor ein paar Tagen noch gar nicht, dass ich mitfahren darf.“

Jetzt überraschte mich Stef, denn er mischte sich ein.

„Entschuldigt bitte, wenn ich mich jetzt einmische, aber wie lange hast du die Skier nicht mehr benutzt?“

Ich schaute ihn etwas verwundert an und auch Papa schien etwas fragend zu gucken.

„Äh, also bestimmt drei oder vier Jahre nicht mehr. Warum ist das wichtig?“

„Also wenn die schon so lange unbenutzt sind, dann werden die für dich vermutlich gar nicht mehr passend sein. Außerdem sind heute die Skier viel mehr tailliert. Da wäre es doch bestimmt besser, du würdest dir dort erst einmal ein Paar leihen.“

Eigentlich ein guter Vorschlag, aber ich wollte ja auch wieder häufiger fahren und dafür sollte doch eigenes Material her. Die Skischuhe passten natürlich auch nicht mehr. Ich war doch einiges gewachsen.

„Das stimmt schon, die Schuhe muss ich ja auch leihen. Allerdings möchte ich in Zukunft wieder regelmäßig fahren. Da sollte auch wieder eigenes Material her. Aber was ich fragen will, kannst du auch Ski fahren, Stef?“

Jetzt kam ein Leuchten in seine Augen, so strahlten sie schon lange nicht mehr.

„Ja, ich bin auch gern gefahren, aber seit zwei Jahren leider nicht mehr. Es war nicht genug Geld dafür da.“

„Heißt das, du kannst richtig Skilaufen?“, wollte Papa nun wissen.

„Ja, eigentlich schon. Wir sind früher im Winter immer in die Berge gefahren.“

Ich konnte sofort ahnen, was Papa durch den Kopf ging.

„Luc, du wirst dir dort erst einmal etwas leihen. Wenn du merkst, dass du wieder Spaß am Fahren hast, dann lässt du dich dort beraten und bringst dir was Vernünftiges mit.“

Leif war die ganze Zeit stumm dem Gespräch gefolgt und wurde jetzt natürlich lebendig. Allerdings überraschte er mich mit seiner Bemerkung, denn ich hatte erwartet, er würde das ausnutzen, um für sich auch neue Skier zu fordern.

„Cool, dann können wir ja endlich auch mal wieder zusammen auf die Pisten gehen. Da warte ich schon lange drauf.“

Papa fing an zu lachen und auch Mama musste schmunzeln. Stef hingegen wurde wieder traurig. Ich konnte ahnen warum.

„Aber nur, wenn wir Stef auch mitnehmen. Ich will nicht, dass wir uns vergnügen und er hier im Internat allein herumsitzt.“

„Luc, ich kann es mir aber nicht leisten, das ist viel zu teuer für mich. Fahrt allein für ein Wochenende. Ich werde schon ein Wochenende ohne dich auskommen.“

An Papas Gesicht konnte ich erkennen, dass er andere Pläne hatte. Mittlerweile kam aber unsere Vorspeise und somit war das Gespräch erst einmal beendet und wir widmeten uns dem tollen Essen. Das Essen musste man eigentlich schlemmen nennen, denn das war wirklich etwas ganz besonderes.

Etwa zweieinhalb Stunden später befanden wir uns in einem kleinen Bistro und standen vor einer Dartscheibe. Stef hatte den ganzen Abend gar keine Gelegenheit mehr, über die Situation mit seinen Eltern nachzudenken. Wir haben auch nicht einmal über die Probleme gesprochen.

Gegen halb eins in der Nacht machten wir uns auf den Heimweg. Im Auto war die Stimmung sehr gelöst und mir wurde bewusst, Papa war es gelungen, Stef von seinen Zweifeln und Ängsten abzulenken. Wir standen schon vor unserem Haus, als Stef dann doch noch einmal tief Luft holte und uns etwas mitteilen wollte.

„Ähm, ich weiß, es ist vielleicht nicht der richtige Ort hier draußen, aber ich möchte euch etwas sagen.“

Mama und Papa drehten sich noch einmal um und blieben auf dem Weg stehen. Leif und ich standen neben Stef, als er fortfuhr:

„Vielen Dank für diesen wunderschönen Abend. Ich habe mir immer gewünscht, mit meiner Familie so etwas erleben zu können. Ich bin sehr glücklich bei euch, aber ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Wie soll ich mich in eurer Familie einbringen? Ich habe keine Möglichkeiten, euch etwas zurückzugeben.“

Dabei schien seine gute Stimmung wieder zu kippen. Papa reagierte sehr schnell und schlagfertig.

„Warum sagst du so etwas, Stefan. Wenn ich mir Luc ansehe, dann gibst du schon sehr viel in unsere Familie zurück. Du machst ihn nämlich mit deiner Anwesenheit sehr glücklich und mit deiner Liebe zu ihm. Damit machst du auch uns sehr glücklich und das kann man mit keinem Geld der Welt machen. Also genieße es einfach. Wir freuen uns, wenn du bei uns bist. Ich habe es vorhin schon einmal gesagt, wenn du bei uns bist, gehörst du zur Familie.“

Ich bekam ein tolles Gefühl im Magen, legte Stef meinen Arm um die Schulter und küsste ihn. Dieser Moment war wunderschön. Stef erwiderte nach einem kurzen Zögern den Kuss, dadurch verloren wir das Zeitgefühl, denn Mama meinte plötzlich:

„Wenn die Herrschaften ihre Liebesbezeugungen vielleicht im Haus fortsetzen könnten. Es ist schon spät und ich möchte dann doch ins Bett.“

Mit hochrotem Kopf, aber glücklich, betraten wir dann auch unser Haus. Stef war sichtlich beeindruckt und ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Dennoch löste er sich von mir und ging auf meine Eltern zu. Erst verstand ich nicht, was er vorhatte, aber dann umarmte er meine Eltern. Sie erwiderten diese Geste genauso herzlich. Ich war sehr stolz auf meine Eltern. Auch Leif umarmte ihn offen und herzlich. Mit diesem Erlebnis gingen wir in mein Zimmer und machten uns fertig für das Bett.

Es dauerte auch nicht mehr lange und Stef und ich lagen in meinem Bett. Wir hatten erst gar nicht mehr das Gästebett vorbereitet. Stef schien über etwas nachzudenken, denn er war sehr still. Ich hatte das Gefühl, ich musste ihn aus seinen Gedanken lösen.

„Woran denkst du gerade? Warum bist du so still?“

„Ich bin einfach gerade sehr glücklich. Weißt du eigentlich, dass deine Eltern ganz tolle Menschen sind? Ich habe von meinen Eltern noch nie so eine Unterstützung gefühlt. Deine Eltern stellen sich einfach hin und sagen, wir nehmen dich bei uns auf und du gehörst zu uns. Ich kann es einfach noch nicht richtig begreifen.“

„Ja, du hast schon recht, aber so sind sie einfach. Sie haben für uns Kinder immer alles getan. Stell dir vor, Marc hatte damals seinen Kindern zuliebe seine Karriere vorzeitig beendet. Er hatte einfach erkannt, dass das Wohl seiner Kinder für ihn mehr Gewicht hatte, als der Spaß beim Rennfahren. Ohne Vorbedingung hatte er gesagt, es reicht. Die Kinder sollen nicht mehr länger auf ihn verzichten müssen.“

„Ich weiß, Leif hatte es mir mal erzählt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie beeindruckt ich von deinen Eltern bin. Ich fühle mich eigentlich so gut bei euch, aber …“

„Aber was?“

„Was kann ich denn schon bieten? Ich habe sogar Schwierigkeiten, die Schule zu schaffen. Nicht einmal das bekomme ich ohne Hilfe hin. Wie soll ich in eurer Familie einen Platz finden.“

„Du hast ihn doch schon gefunden, an meiner Seite. Ich weiß, was du für ein toller Mensch bist. Außerdem sehen meine Eltern das genauso, sonst würden sie sich nicht so sicher sein und dich in unserer Familie aufnehmen. Das haben sie bislang nur mit Menschen getan, wo sie sich sehr sicher waren, dass es richtig war.“

„Meinst du?“

„Ja, absolut. Und jetzt lass uns schlafen. Sonst ist der morgige Tag sehr kurz. Das wäre schade.“

Ich legte meine Arme um ihn und er ließ sich einfach fallen. Es wurden noch ein paar sehr schöne gemeinsame Minuten, bevor wir einschliefen.

Erstaunlicherweise schlief Stef ohne Probleme durch und somit wachten wir erst recht spät auf. Die Sonne schien in mein Zimmer und mit einem Blick auf die Uhr erkannte ich, dass es bereits kurz nach elf war. Ich überlegte einen Moment, ob ich Stef schon wecken oder erst vorsichtig aus dem Bett steigen und in die Dusche gehen sollte. Ich entschied mich für letztere Variante, und als ich aus der Dusche kam, saß Stef bereits auf der Bettkante und schaute mich aus noch total verschlafenen Augen an. Ich musste schmunzeln, er sah echt süß aus.

„Guten Morgen, hast du auch so gut geschlafen wie ich?“, fragte ich ihn gutgelaunt.

Er strahlte mich an und das tat so gut, ihn lachen zu sehen.

„Ja, es war wundervoll. Ich habe seit langer Zeit mal einen schönen Traum gehabt. Sag mal, was machen wir heute eigentlich?“

„Keine Ahnung, auf jeden Fall erst einmal frühstücken. Du gehst am besten erst mal duschen. Ich werde mich anziehen und schon mal in die Küche gehen.“

„Also gut, dann wollen wir mal.“

Er stand auf und kam die Leiter herunter und verschwand im Bad. Ich zog mir schnell ein paar bequeme Sachen an und verschwand in Richtung Küche. Dort empfing mich meine Mutter.

„Na, Schatz. Ausgeschlafen? Wie hat Stefan geschlafen?“

„Hallo Mama, ja, wir haben beide sehr gut geschlafen. Stef ist noch duschen. Liegt heute etwas an, oder können wir frei planen?“

Nebenbei legte sie ein paar Brötchen in den Ofen und ich setzte Milch auf dem Herd auf, um Kakao zu kochen. Mama musste uns sicher nicht helfen, aber sie tat es gerne und ich fand es auch schön, dass sie sich Zeit dafür nahm. Wie ich von ihr erfuhr, war Leif schon zum Tennis und Papa in der Werkstatt.

„Du Luc, Papa hat gefragt, ob ihr vielleicht in der Werkstatt vorbeikommen könntet. Er braucht dort jemanden, der mit anfassen kann. Thomas und Stephan sind heute nicht da.“

„Hat er eine Zeit gesagt oder können wir kommen, wann es passt?“

„Ruf doch einfach an und besprich das mit ihm. Dann erfährst du auch gleich, was genau anliegt.“

„Ja, Mama, da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Danke, wenn ich dich nicht hätte.“

Ich musste sie dafür drücken. In diesem Moment betrat Stef die Küche.

„Guten Morgen Sabine.“

„Hallo Stefan, gut siehst du heute Morgen aus. Gut geschlafen?“

„Ja, wenn Luc in meiner Nähe ist, kann ich richtig gut schlafen.“

Dabei strahlte er und Mama wuschelte ihm durch die Haare. Ich freute mich natürlich auch über so ein Kompliment. Wir nahmen am Tisch Platz und es wurde ein lustiges Frühstück. Stef war zu keinem Moment mit seinen Eltern beschäftigt. Wir genossen diese Zweisamkeit, und als wir mit dem Frühstück fertig waren, fragte mich Stef:

„Sag mal Luc, was machen wir denn heute? Der Tag ist eh schon viel zu schnell vorbei, ich möchte die Zeit mit dir nutzen.“

Lächelnd legte ich ihm meine Hand auf die Schulter und erwiderte:

„Wir werden gleich zu Papa in die Werkstatt fahren. Er hat mich gebeten, ihn bei etwas zu unterstützen. Das werde ich tun. Du kannst gerne mitkommen, aber wenn du lieber hier auf mich warten möchtest, ist das natürlich auch in Ordnung.“

Meine Hoffnung, er würde mitkommen, wurde nicht enttäuscht. Somit waren wir kurze Zeit später mit den Pedelecs unterwegs in Richtung Werkstatt. Stef hatte Mamas und ich hatte Papas genommen. Meines war das nächste Projekt, was noch zu regeln war.

Gut gelaunt fuhren wir durch die schöne Landschaft. Ich wunderte mich über Stef, denn er war seit gestern Abend nur noch gut gelaunt. Keine Spur von Angst oder Wut gegenüber seinen Eltern. Als wir an der Werkstatt ankamen, öffnete ich die Tür und wir schoben die Pedelecs in die Halle. Papa hatte uns schon bemerkt und kam uns entgegen.

„Hallo ihr zwei. Das finde ich klasse, dass ihr schon da seid. Ich habe hier ein Problem, das ich nicht allein schaffe. Ich brauche ein paar starke Hände zum Anfassen.“

Zur Begrüßung umarmte er uns beide und nahm Stef gleich am Arm mit unter die Cobra. Sie stand auf der Hebebühne und Papa erklärte uns das Problem. Der Krümmer der Cobra sollte ausgetauscht werden. Papa hatte sich von Geiger einen Fächerkrümmer schicken lassen. Allerdings würde der Auspuff herunterfallen, wenn Papa den Krümmer abschrauben und herausnehmen würde. Stef sollte also jetzt unter dem Auto das Rohr halten, während Papa und ich versuchten, die Schrauben am Krümmer zu lösen. Allerdings war das nicht so einfach, denn das Auto stand ja auf der Hebebühne und wir mussten von oben arbeiten. Also kletterten wir auf das Auto und hingen praktisch im Motorraum. Was ich nicht wusste, Papa hatte die Schrauben bereits gelöst und wir mussten sie nur noch herausdrehen. Da der Krümmer aber über die Zeit und durch die Hitze vom Motor festsaß, mussten wir doch recht kräftig hin und her ruckeln. Irgendwann gab er jedoch nach und die erste Seite war gelöst. Die zweite folgte auch recht zügig. Jetzt konnte der weitere Auspuff mit einem Draht unter dem Auto befestigt werden. Nachdem Stef das gemacht hatte, kam er unter dem Auto hervor und wir konnten es herablassen. Die neuen Krümmer waren recht schnell montiert. Jetzt mussten nur noch die Rohre wieder mit den neuen Krümmern verbunden werden.

Alles in allem hatten wir mit sechs Händen das absolut schnell erledigt. Papa fuhr die Hebebühne nach unten und jetzt waren wir doch gespannt, wie würde sie klingen. Papa stieg ein, schaltete die Zündung ein. Das Surren der Benzinpumpen war zu hören, und als diese verstummten, drückte Papa auf den Anlasser. Mit einem Donnergrollen erwachte der acht Liter große Achtzylinder zum Leben. In der Halle war es infernalisch laut und Papa gab mir ein Zeichen, dass ich das Tor öffnen sollte. Ich tat also, worum er mich gebeten hatte und er rollte langsam nach draußen. Eine Wohltat für die Ohren. Draußen hörte sie sich zwar immer noch sehr böse an, aber es war längst nicht mehr so laut.

Papa stellte den Motor wieder ab und stieg aus. Er kam in die Halle und meinte, wir könnten uns die Hände waschen gehen. Die Arbeit sei getan.

Stef und ich waren schon fertig, als Papa auch aus der Toilette kam.

„Jungs, vielen Dank für eure gute Hilfe. Allein wäre das nie und nimmer gegangen. Was meinst du Stefan, machen wir eine Probefahrt?“

Stef schaute zu mir, ich nickte ihm zu und somit schickte Papa ihn schon einmal nach draußen. Er sollte schon einsteigen. Papa blieb noch einen Moment bei mir.

„Luc, sei mir nicht böse, aber ich möchte mit Stefan ein paar Minuten allein reden. Er soll das aber eigentlich nicht merken, dass die Probefahrt nur ein Vorwand ist. Würdest du hier gleich alles abschließen und dann kannst du schon nach Hause fahren. Ich komme mit Stefan dann mit der Cobra nach Hause.“

„Klar, aber was ist mit Mamas Rad? Soll das hier stehen bleiben?“

„Ja, das holen wir in den nächsten Tagen dann ab. Mach dir darüber keinen Kopf.“

Papa bedankte sich noch einmal bei mir und anschließend verließ er die Werkstatt. Ich konnte hören, wie sie vom Hof fuhren. Ich löschte das Licht und schloss alle Türen ab. Nahm meine Jacke und fuhr Richtung Heimat. Was wollte Papa mit Stef wohl besprechen? Diese Frage ging mir auf dem Heimweg durch den Kopf.

Marc: Ein Gespräch mit Stefan über die Zukunft

Mit wehenden Haaren fuhren wir über die recht leeren Straßen. Ich hatte vor, wieder die gleiche Strecke zu fahren, die ich neulich mit Luc gefahren war. Stefan saß neben mir und schaute immer wieder nachdenklich aus dem Auto in die Landschaft.

„Na, Stefan, fährt sich gut, oder?“

Er schaute mich an und musste grinsen.

„Ja, Marc, und hört sich auch gut an.“

Jetzt musste ich lachen und ich zeigte ihm den Daumen nach oben. Ich beschleunigte und fuhr zügig mit der Cobra über die enge Passstraße. Immer wieder ließ ich das Heck ausbrechen und driftete durch die Kurven. Allerdings nur dort, wo ich vorher auch einsehen konnte, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet wurde. Stefan lachte jedes Mal laut auf, wenn ich Gas gab und das Heck nach außen schwänzelte. Irgendwann kamen wir auf halber Höhe an einen ruhigen Parkplatz. Dort hielt ich die Cobra an und stieg aus, um den Motor zu kontrollieren. Ich öffnete die Motorhaube und schaute hinein.

„Stefan, kannst du bitte mal Gas geben. Ich muss mal etwas checken.“

Ich schaute an der Motorhaube vorbei zu ihm. Er schaute mich fragend an und meinte:

„Du meinst, ich soll mich auf den Fahrersitz setzen und Gas geben?“

„Richtig, genau das meine ich.“

Er stieg aus und auf ging hinter dem Fahrzeug her und stieg auf der Fahrerseite wieder ein. Mit einigen kurzen Gasstößen ließ er den Motor aufbrüllen. Ich schloss die Haube wieder und bat Stefan den Motor abzustellen. Der Motor erstarb und Stille kehrte ein.

„Gibt es ein Problem, Marc?“, fragte Stefan mich jetzt.

Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, es ist alles in Ordnung. Aber ich möchte dir noch einen tollen Ausblick zeigen. Komm, steig mal aus und folge mir.“

Wir liefen noch etwa einhundert Meter entlang der schmalen Straße und kamen dann an eine Stelle, wo man frei in das Tal schauen konnte. Ich stand dort mit Stefan und er schaute staunend mit großen Augen in die Landschaft.

„Boah, Marc, was für ein geiler Ausblick. Ich habe noch gar nicht richtig begriffen, wie schön das hier ist.“

„Ja, ich war mit Luc auch schon häufiger an dieser Stelle. Ich kann mir gut vorstellen, dass du bisher ganz andere Gedanken im Kopf gehabt hast und noch immer nicht die Freiheit genießen kannst. Ich möchte mit dir mal etwas besprechen.“

Er schaute mich ein wenig unsicher an und ich legte meinen Arm auf seine Schulter. Schweigend standen wir an dem Hang und schauten ins Tal.

„Stefan, Sabine und ich haben in den letzten Wochen viel über deine und Marios Situation gesprochen. Wir stellten uns die Frage, was genau in deiner Kindheit passiert ist. Was hat Mario bisher alles erleiden müssen. Weißt du, du bist der Freund von unserem Sohn und wir fühlen uns für ihn verantwortlich. Genauso wie wir uns für dich verantwortlich fühlen. Ich würde dich bitten, erzähl mir von deiner Zeit in München. Was habt ihr zu Hause erlebt?“

Stefan schien zu begreifen, dass ich ahnen würde, dass er und Mario noch viel mehr erleiden mussten, als wir bisher wussten. Er wurde sehr ängstlich und traurig. Nach einigen stillen Sekunden holte Stefan tief Luft und sagte:

„Marc, wenn ich das erzähle und meine Eltern bekommen das heraus, dann ist Mario in akuter Gefahr. Er weiß alles und hat … geschwiegen. Er wollte nicht, dass ich unsere Eltern anzeige.“

Ich erschrak. Wie meinte Stefan das nun?

„Wie meinst du das, was weiß Mario alles?“

Stefan schien sich bewusst zu werden, dass er jetzt nicht mehr zurück konnte. Er fing an zu zittern und ich hielt ihn fest.

„Stefan, du musst keine Angst haben. Beruhige dich erst einmal wieder. Wir müssen das jetzt nicht fortführen.“

Wenige Minuten später hatte er sich wieder beruhigt und bat mich weiterzufahren. Es schien so, als ob er es wieder verdrängt hatte, was auch immer er erlebt hatte. Ich ging mit ihm zurück zum Auto und hielt ihn die ganze Zeit im Arm. Wir stiegen wieder ein und fuhren den Berg bis zu dem Dorfgasthof hinauf. Dort hielt ich an und fragte ihn:

„Was meinst du, wollen wir uns eine Cola gönnen?“

Er nickte und wir gingen hinein. Ich bat ihn, sich schon einmal an einen Tisch zu setzen. Ich wollte noch schnell zur Toilette. Als ich zurückkam, saß Stefan mit leerem Blick am Tisch. Ich setzte mich zu ihm und bestellte uns etwas zu trinken. Mit einem Blick auf die Uhr erkannte ich, dass wir auch eine Kleinigkeit essen könnten.

„Wie sieht es bei dir mit Hunger aus? Isst du mit mir ein paar Bratkartoffeln? Hier gibt es die besten Bratkartoffeln der Gegend.“

Stefan fing an zu lachen, sein Gesicht war wieder sehr lebendig.

„Ja, Marc, Luc hat mir davon erzählt, dass ihr hier schon einmal gegessen habt. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich auch gerne von diesen Bratkartoffeln probieren.“

Ich bestellte also für zwei Personen eine Platte Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Anschließend wollte ich mit Stefan eigentlich über das Skifahren sprechen. Jedoch schien Stefan für sich eine Entscheidung getroffen zu haben. Er holte tief Luft und seufzte einmal.

„Marc, wenn ich dir alles erzähle, was bei uns zu Hause passiert ist, versprichst du mir, dass Mario keinen Ärger bekommt.“

Ich war vollkommen irritiert. Warum sollte Mario Ärger bekommen, wenn Stefan von seinen Erlebnissen berichtete.

„Egal was du mir berichten wirst, ich werde alles versuchen, um euch wieder ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.“

Er nickte, allerdings traute er sich nicht, mir etwas zu berichten. Seine Angst war noch zu groß. Außerdem kam bereits das Essen. Stefan schien ein Meister des Verdrängens zu sein. Als wir fertig waren, änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig.

Er zögerte, er überlegte, aber der Druck musste unendlich groß gewesen sein, denn mit einem Ruck, der durch seinen Körper ging, begann er zu erzählen.

Allerdings war das, was er berichtete, alles andere als beruhigend. Er begann seine Erzählung, als er neun Jahre alt war. Da hatte er die ersten Misshandlungen an Mario mitbekommen. Stefan wurde ständig von seinen Eltern bedroht, wenn er irgendjemandem davon erzählen würde, sollte Mario noch mehr bestraft werden. Er redete sich immer mehr in Rage. Sein Erinnerungsvermögen war erschreckend. In allen Details berichtete er von Misshandlungen, Schlägen und später auch von sexuellem Missbrauch. Sowohl bei Mario als auch später bei ihm. Über eine halbe Stunde lang erzählte er mir die Horrorgeschichte von ihm und Mario. Mir wurde immer deutlicher, wie schwer die Verfehlungen waren. Die Eltern waren in meinen Augen krank und gehörten in eine psychiatrische Klinik. Auf jeden Fall durften beide, sowohl Mario als auch Stefan, nie wieder in die Hände ihrer Eltern kommen.

Als seine Erzählungen endeten, sackte er förmlich zusammen. Eine enorme Last schien von ihm zu weichen. Allerdings hatte er auch große Angst, dass Mario nun dafür bestraft würde. Er hatte ja gewusst, dass auch Stefan misshandelt wurde und er hatte nichts dagegen getan. Diese Angst mussten ihm wohl auch die Eltern förmlich eingeprügelt haben. Ich war sprachlos und fühlte mich an die Zeit erinnert, als Benny damals von seiner Geschichte erzählte. Eine ähnliche Wut durchfuhr mich jetzt.

Ich nahm Stefan in die Arme und hielt ihn fest. Er war so fertig, dass er nicht einmal mehr weinen konnte. Ich bezahlte die Rechnung und verließ mit einem vollkommen erschöpften Stefan die Dorfkneipe. Ich setzte ihn ins Auto, und nachdem ich in angeschnallt hatte, fuhr ich nach Hause. Immer wieder schaute ich zu ihm hinüber. Ich hatte Sorge, er könnte einen Kollaps erleiden. Unterwegs rief ich Sabine an.

„Maergener“, meldete sie sich.

„Hallo Schatz, ich komme mit Stefan nach Hause. Sag Luc bitte, er soll uns in der Garage erwarten und schon mal ein heißes Bad für Stefan vorbereiten. Rufst du bitte Mario in München an und bittest ihn, heute nicht mehr wegzugehen. Ich muss mit ihm sprechen. Heute noch.“

Sabine schien geschockt.

„Was ist passiert? Wo seid ihr? Marc, ich habe Angst, so hast du noch nie mit mir gesprochen.“

„Keine Angst, Stefan ist bei mir und wir kommen jetzt nach Hause, aber es hat sich einiges verändert. Und Luc soll Stefan keine Fragen stellen.“

Sie hatte verstanden, die Lage war ernst und sie stellte keine weiteren Fragen mehr. Nach einer weiteren halben Stunde stellte ich die Cobra bei uns in die Garage und Luc stand wie besprochen bereit, Stefan in Empfang zu nehmen. Luc schaute mich besorgt an, nahm Stefan ohne Kommentar in Empfang und begleitete ihn in sein Zimmer. Ich folgte ihnen bis zur Zimmertür, dort drehte sich Stefan zu mir um und fragte nur:

„Was wird jetzt mit Mario passieren? Wirst du ihm auch helfen?“

Es tat mir in der Seele weh, ich musste mit ansehen, wie sich ein vierzehnjähriger Junge um seinen großen Bruder sorgte.

„Stefan, du musst dir keine Gedanken darüber machen. Mario bekommt die gleiche Unterstützung wie du. Das verspreche ich dir.“

Die beiden Jungs verschwanden nun in Lucs Zimmer und erst jetzt bemerkte ich Sabine, die sehr besorgt in der Tür zum Wohnzimmer stand.

„Hallo Schatz, danke, dass du hier alles so gut vorbereitet hast. Lass uns einen Tee trinken und dann erzähle ich dir, was vorgefallen ist.“

Wir saßen in der Küche und ich berichtete von den Ereignissen der letzten Stunden. Als ich geendet hatte, schaute mich Sabine sehr sorgenvoll an und wir diskutierten über das weitere Vorgehen. Jedenfalls war uns beiden nun klar, warum die Eltern um jeden Preis verhindern wollten, dass die Jungs auspacken würden. Das würde sie vermutlich in sehr große Schwierigkeiten bringen.

„Marc, was hast du jetzt vor? Du hattest mich gebeten Mario anzurufen, er ist jetzt verständlicherweise sehr aufgeregt.“

„Oh Mist, das hätte ich fast vergessen. Er muss aus München vorübergehend weg. Wenn die Eltern herausbekommen, wo er wohnt, könnte er in Gefahr sein. Ich werde jetzt erst einmal mit ihm telefonieren und das weitere besprechen. Kannst du mal nach den Jungs schauen?“

Sie nickte nur und wir trennten uns, sie ging zu den Jungs und ich wählte Marios Nummer. Nach nur einmaligem Klingeln hörte ich seine Stimme.

„Hallo Marc, was ist denn eigentlich los? Warum soll ich nicht mehr weggehen?“

„Hallo Mario, ich habe ein sehr schwieriges Gespräch mit Stefan gehabt und ich glaube, dass wir uns unterhalten müssen.“

Ich konnte sofort merken, dass er unruhig wurde. Er versuchte allerdings ruhig zu bleiben.

„Warum das denn? Hat er noch etwas von zu Hause erzählt?“

„Ja, Mario, hat er. Er hat nicht nur etwas erzählt, er hat mir alles erzählt. Auch, was du selbst erlitten hast und heute noch mit dir herumträgst. Wir sollten darüber sprechen. Deine Eltern werden alles versuchen, um zu verhindern, dass ihr aussagen werdet.“

„Nein, bitte nicht. Er … er hat wirklich alles erzählt. Das … das kann nicht sein. Verdammt, warum hat er das getan.“

„Mario, beruhige dich bitte. Du musst keine Angst vor Strafe haben. Du brauchst genauso Hilfe wie dein Bruder. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass eure Eltern für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden.“

Er schwieg, aber ich konnte mir ungefähr vorstellen, was gerade in seinem Kopf vorging.

„Marc, wie geht es Stefan? Mir ist nur wichtig, dass es meinem kleinen Bruder gut geht.“

„Es geht ihm nicht gut, aber er ist hier in guten Händen, im Gegensatz zu dir. Du brauchst auch Unterstützung und ich will mit dir über die Zukunft sprechen.“

„Was soll es da groß zu besprechen geben. Ich habe versagt. Ich habe jahrelang gewusst, was zu Hause passiert und nichts dagegen getan.“

Jetzt verlor er die Fassung und fing an zu weinen und zu schluchzen. Ich versuchte ihn zu beruhigen und auf ihn einzureden. Minutenlang war es mir nicht möglich, mit ihm vernünftig zu sprechen. Mir kam eine Idee. Ich verließ mit dem Handy die Küche und ging zu den Jungs ins Zimmer. Luc saß mit Stefan im Arm auf dem Sofa und sie unterhielten sich leise. Stefan machte einen gefassten Eindruck. Sabine saß ebenfalls im Raum. Ich erklärte Stefan ganz kurz den Plan. Er verstand sofort, worauf ich hinaus wollte. Er nahm sich das Handy und redete auf seinen Bruder ein. Innerhalb kürzester Zeit schien sich Mario zu fangen, denn sein Bruder machte ihm klar, dass er ihn brauche und er soll gefälligst jetzt mit uns zusammenarbeiten. Das half. Als er sehr deutliche Worte gefunden hatte, gab er mir mein Handy zurück, mit den Worten:

„Hier, Mario möchte mir dir reden.“

Ich musste grinsen und wuschelte Stefan durch die Haare. Er setzte sich wieder zu Luc und sie schauten beide gespannt, was jetzt passieren würde. Ich nahm das Handy ans Ohr und hörte Marios Stimme.

„Marc, was soll ich denn jetzt machen? Ich muss doch arbeiten und meine Prüfungen machen. Ich kann hier nicht weg aus München.“

„Sollst du ja auch nicht unbedingt. Ich werde jetzt gleich noch bei Karl anrufen und ihn informieren, dass sich die Lage geändert hat. Ich werde ihm keine Details erzählen, das wirst du bitte selbst tun. Ich will, dass du heute noch mit Karl redest und wir uns gemeinsam etwas überlegen.“

„Und was ist, wenn er mich dann rauswirft? Ich habe ja schließlich jahrelang geschwiegen. Ich fühle mich so scheiße. Warum konnte ich Stefan nicht helfen?“

„Jetzt hör mir mal zu, Karl wird dich bestimmt nicht rauswerfen. Wie kommst du auf so eine Idee? Karl und Barbara haben euch immer sofort geholfen. Ich rede mit ihm gleich. Also beruhige dich und bleib bitte zu Hause, bis sich einer von uns bei dir gemeldet hat. Entweder rufe ich dich gleich wieder an oder Karl meldet sich bei dir. Hast du das verstanden? Du bist nicht verantwortlich für diese Situation.“

Er seufzte und ich konnte mir vorstellen, in welcher Gefühlslage er sich gerade befand. Ich beendete das Gespräch und hatte in diesem Moment eine Entscheidung gefällt.

„Sabine, komm, lass uns mal einen Moment hinausgehen. Jungs, bei euch alles soweit in Ordnung?“

Die beiden kuschelten sich aneinander und Stefan nickte mir zu. Das schien für mich ein gutes Zeichen zu sein. Wir verließen Lucs Zimmer und gingen ins Wohnzimmer.

„Schatz, kümmerst du dich bitte um einen Flug mach München. Ich werde Mario dort besuchen und vor Ort klären, wie es weitergeht. Ich rufe Karl in der Zeit an, und wenn du einen Flug noch für heute bekommst, dann bitte gleich buchen.“

Innerhalb weniger Minuten hatte sich Sabine mit dem Flughafen in Verbindung gesetzt und ich hatte Karl in München angerufen. Karl war entsetzt, als ich ihm den Sachverhalt erklärt hatte. Er versprach, sich sofort mit Mario in Verbindung zu setzen und ich nahm mit meinem Anwalt Kontakt auf. Ich wollte mich beraten lassen, was jetzt zu tun war.

Nach einer halben Stunde hatte Sabine mir einen Flug nach München gebucht und ich eine Adresse für einen örtlichen Anwalt bekommen. So konnte Mario vor Ort unterstützt werden. Nachdem ich mich mit Sabine beraten hatte, ging ich wieder zu den Jungs. Sie schienen auf mich gewartet zu haben, denn Stefan machte einen sehr gespannten Eindruck und Luc hatte wirklich gute Arbeit geleistet, denn Stefan machte mittlerweile einen sehr viel besseren Eindruck.

„So Jungs, folgende Lage.“

Ich erklärte ihnen, was ich geplant hatte und bat Luc, sich um Stefan zu kümmern. Heute sollte er bei uns bleiben und ab morgen wieder ganz regulär im Internat sein. Er sollte so normal wie irgend möglich seinen Alltag fortsetzen. Sabine würde Dr.Steyrer morgen informieren und ich bat Luc zum Schluss noch um einen Gefallen.

„Luc, deine Aufgabe ist es, hier die Stellung zu halten. Wenn es Probleme gibt, möchte ich von dir informiert werden. Damit das klar ist, Stefan, wenn du mit irgendetwas Probleme bekommst, erwarte ich von dir, dass du mit Luc oder Sabine redest. Keine weiteren Alleingänge mehr.“

Erstaunlicherweise stand Stefan von der Couch auf und stellte sich vor mir auf. Ich hatte keine Ahnung, was nun kommen würde.

„Marc, ich gebe dir mein Wort darauf, dass ich versuchen werde, dich nicht zu enttäuschen.“

Er streckte seine Hand aus und ich nahm sie und dann musste ich ihn einfach umarmen und drücken.

Es kam sogar ein wenig Lustigkeit auf. Eine schöne Abwechslung und es tat uns allen auch gut. Ich verabschiedete mich von den beiden und ließ sie allein zurück.

Ich ging in unser Schlafzimmer und packte mir schnell eine Tasche mit ein paar Sachen zusammen und dann wurde es auch schon Zeit in Richtung Flughafen aufzubrechen. Ich schmiss meine Tasche in den Ferrari und verabschiedete mich von Sabine und Leif. Die beiden anderen wollte ich nicht noch einmal stören. Leif war sichtlich ergriffen, als Sabine ihm kurz erklärt hatte, was der Stand der Dinge war. Er wünschte mir viel Erfolg und hoffte, dass es Mario bald wieder besser gehe. Mit dieser Verabschiedung schloss ich meine Fahrertür und fuhr los in Richtung Flughafen.

Stefan: Gedanken über die Zukunft und Angst um Mario

Die letzten Stunden waren für mich einerseits der absolute Horror, andererseits ist mir aber auch klargeworden, dass ich mich von meinen Eltern verabschieden musste. Für immer. Nie wieder wollte ich mich in ihre Gewalt bringen lassen.

Zu Hause habe ich jahrelang in Angst gelebt. Wenn mein Vater aus der Kneipe nach Hause kam und schlechte Laune hatte, musste früher Mario das Opfer für ihn sein und später ich. Als ich in München Luc kennengelernt und er mir gezeigt hatte, dass es eben nicht normal sei, so behandelt zu werden, wurde ich immer deprimierter. Wie sollte ich jemals aus dieser Situation herauskommen. Als Luc nach den drei Wochen Praktikum wieder in die Schweiz fahren musste, hatte ich sogar ernsthaft darüber nachgedacht, mich vor eine S-Bahn zu werfen. Ich wollte nicht mehr in die Hölle zurück. Luc und auch insbesondere Marc hatten mir aber immer wieder Wege aufgezeigt, wie es für mich weitergehen konnte. Sie holten mich sogar in die Schweiz.

Jetzt stellte sich aber heraus, ich war nicht einmal hier vor meinen Eltern sicher. Dieser Gedanke machte mir Angst. Jetzt saß ich bei Luc im Zimmer und erneut habe ich das Leben meiner Freunde durcheinandergebracht. Meinetwegen ist Marc sofort nach München aufgebrochen, um sich um Mario zu kümmern. Mir war das einfach nur extrem unangenehm. Immer wieder hatten meine Freunde meinetwegen Schwierigkeiten oder ihre Tagesabläufe wurden geändert. Alles nur, weil ich nicht in einer normalen Familie leben konnte.

Die Reaktion von Marc nach dem letzten Vorfall mit meinen Eltern hatte mich zutiefst berührt. So zornig hatte ich ihn noch nie erlebt. Auch so bestimmt hatte ich ihn noch nie zuvor gegenüber seinen Kindern erlebt. Ich hatte das Gefühl, Marc hatte einen Entschluss gefasst, etwas endgültig zu verändern. Das machte mir Angst. Er opferte unseretwegen seine Zeit und seine Ruhe. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeiten, mich angemessen für die Hilfe zu bedanken. Es war mir einfach nur peinlich.

Ich saß mit Luc in seinem Zimmer und kuschelte mich an ihn. Wir schwiegen, denn Marc hatte sich gerade spontan und entschlossen auf den Weg nach München gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Luc hielt mich fest und ich realisierte erst jetzt so ganz langsam, dass ich ein Teil seiner Familie geworden war. Niemand hatte nur ein Wort darüber verloren oder gefragt, ob das überhaupt gehen könnte. Marc und Sabine hatten es einfach gemacht. Immer wieder. Jetzt war Marc sogar meinetwegen auf dem Weg nach München. Ich hoffte nur, dass Mario keine Schwierigkeiten bekommen würde. Er hatte jahrelang von den ganzen Misshandlungen gewusst und nichts unternommen.

Plötzlich stand Luc vom Sofa auf und nahm mich an die Hand. Er zog mich einfach mit auf den Flur und gab mir meine Jacke. Wir zogen uns an, und nachdem er Sabine informiert hatte, verließen wir das Haus. Wortlos liefen wir durch den Ort und die untergehende Sonne spendete noch ein wenig Wärme. In meinem Kopf war Leere, totale Leere. Ich lief wie eine Marionette neben meinem Freund her. Auch Luc sagte nichts. Irgendwann kamen wir an einem sehr schönen kleinen Park an. Es gab dort einen See, an dessen Ufer wir entlang liefen. Über den See ging eine kleine Holzbrücke. Auf dieser Brücke blieb Luc stehen und nahm meine Hände.

„Stef“, sagte er mit leiser Stimme, „ich möchte, dass du weißt, wir werden immer für euch da sein. Wie geht es dir jetzt?“

Er schaute mir in meine Augen und hielt immer noch meine Hände. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Angst und Wut auf der einen Seite und Freude und Glück auf der anderen Seite, trugen in meiner Seele einen Kampf aus. Ich war nicht in der Lage, seine Frage zu beantworten. Ich schüttelte meinen Kopf und wollte mich von ihm wegdrehen. Es war mir peinlich, da stand mein Freund vor mir, kümmerte sich liebevoll um mich und ich konnte nicht einmal seine Frage beantworten.

Er hielt mich allerdings fest. So fest, dass mir klar wurde, er wollte mich nicht gehen lassen.

„Stef, bitte bleib ruhig. Ich möchte dir etwas sagen.“

Jetzt versuchte ich mich zu konzentrieren. Mein Verstand sagte mir, meine Angst ist unbegründet, aber meine Gefühle spielten mir einen Streich. Meine Kräfte schwanden und mir wurde plötzlich schlecht. Dann wurde es dunkel. Ich fiel in einen tiefen dunklen Tunnel.

Luc: Eine dramatische Entwicklung

Ich fühlte eine unbändige Wut auf die Eltern von Mario und Stef. Was mussten die beiden alles ertragen. Jetzt war ich mir allerdings ganz sicher, Papa würde für eine grundlegende Veränderung sorgen. Die Eltern hatten einen entscheidenden Fehler begangen. Sie waren in die Privatsphäre unserer Familie eingedrungen. Das war praktisch eine Kriegserklärung und damit verstand Papa überhaupt keinen Spaß. Mir war klar, er würde alles tun, damit diese Eltern uns niemals wieder bedrohen würden. Diese Situation wollte ich meinem Freund erklären und war mit ihm in den kleinen Park gegangen. Ich stand vor ihm auf der Brücke und hätte ihn am liebsten geküsst. Ich traute mich nicht, weil ich spürte, wie enorm groß seine Angst war. Ich hatte Sorge, dass es ihn vielleicht überfordern würde. Er wollte auch wieder weglaufen. Das ließ ich jedoch nicht zu. Ich hielt ihn fest und versuchte, ihm Sicherheit zu geben. Plötzlich spürte ich, wie ihm die Beine weg sackten. Geistesgegenwärtig griff ich ihm unter die Arme und konnte so verhindern, dass er auf den Boden knallte. Ich war vollkommen perplex. Was war passiert? Ich geriet in Panik, denn Stef zeigte keine Reaktion mehr. Er war bewusstlos in meinen Armen zusammengesackt und lag jetzt auf der Brücke in diesem Park.

„Hey, Stef, was ist los? Sag doch was.“

Ich versuchte ihn anzusprechen und dabei schlug ich leicht gegen seine Wangen, aber er reagierte nicht. Ich hatte keine Ahnung, was passiert sein konnte. Meine Angst stieg mit jeder Minute. Dann musste ich akzeptieren, hier war Hilfe erforderlich. Medizinische Hilfe. Ich nahm mein Handy und wählte den Notruf. Sofort meldete sich jemand auf der Rettungsleitstelle. Ich gab ihm meinen Namen und erklärte mit zittriger Stimme, was hier vorgefallen war. Er versuchte, mich zu beruhigen und erklärte mir, wie ich Stef in die stabile Seitenlage bringen und seine Atmung kontrollieren sollte. Ich legte das Handy an die Seite und tat, was mir gesagt wurde. Der Disponent erklärte mir dann noch, dass sowohl der Notarzt als auch der Rettungswagen bereits unterwegs seien.

Meine Angst wurde immer größer, ich begann ebenfalls zu zittern und meine Stimme versagte mir den Gehorsam. Der Disponent spürte meine Lage und versuchte, mich immer wieder zu beruhigen. Er machte mir Mut und nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich das Einsatzhorn der Rettungskräfte hören. Ein Pkw fuhr mit Blaulicht in den Park und ein Mann sprang aus dem Auto und kam auf uns zu gelaufen. Ein weiterer Mann folgte ihm mit einem Rucksack in der Hand. Der erste Mann kniete sich zu mir herunter und stellte sich als Notarzt vor. Er befragte mich nach dem Geschehen und sofort überprüfte er den Kreislauf von Stef. Der andere Mann bereitete schon eine Infusion vor, als der Rettungswagen auch eintraf. Ich wollte Stef nicht verlassen, aber der Rettungsassistent führte mich etwas an die Seite und untersuchte auch meinen Blutdruck. Ich zitterte am ganzen Körper. Er sprach beruhigend auf mich ein. Allerdings war ich nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Einen Moment später kam der Notarzt zu uns und sie sprachen miteinander. Danach gab mir der Arzt eine Spritze und kurze Zeit später saß ich in einem Tragestuhl im Rettungswagen. Stef lag auf der Trage und war mittlerweile festgeschnallt und mit Kabeln verbunden. Alles lief sehr ruhig ab und der Doktor erklärte mir, dass es Stef soweit gut gehen würde und ich mir keine Sorgen machen müsste. Er fragte mich noch nach meinem Namen und der Adresse und dann erklärte er mir, wir würden in die Kinderklinik fahren.

Ich wollte noch mit dem Handy Mama anrufen, aber er nahm mir das Handy ab und steckte es in meine Tasche. Er versprach mir, meine Mutter zu informieren. Danach weiß ich nicht mehr, wie wir in die Klinik gefahren sind. Vermutlich war in der Spritze ein starkes Beruhigungsmedikament.

Erst, als ich realisierte, dass meine Mutter an meinem Krankenbett saß, kam meine Erinnerung wieder. In großer Sorge hatte sie sich auf den Weg in die Klinik gemacht. Leif war auch mitgekommen und jetzt hieß es für mich erklären, was passiert war. Mama hörte aufmerksam zu und als ich fertig war, lächelte sie mich an.

„Schatz, du hast toll reagiert. Stefan geht es auch schon wieder besser, aber der Arzt meinte, es wäre vielleicht besser, ihn für ein oder zwei Tage hier zu behalten, um auch weitere Maßnahmen zu besprechen.“

„Weitere Maßnahmen?“, fragte ich, „Was heißt das? Ist er ernsthaft krank?“

Mama schüttelte den Kopf.

„Nein, Luc. Der Arzt meinte, er habe einfach die ganzen Ereignisse nicht mehr verkraftet und einen Kollaps erlitten. Er braucht jetzt viel Ruhe und dann vielleicht eine Therapie. Das müssen wir besprechen, wenn Papa wieder da ist und du auch wieder voll bei Kräften bist.“

„Aber mir fehlt nichts, ich möchte zu ihm. Warum bin ich eigentlich hier?“

„Nun, mein Sohn, du hast dich auch sehr aufgeregt und einen kleinen Schock erlitten. Du kannst aber heute wieder mit mir nach Hause fahren.“

Jetzt meldete sich Leif. Er kam an mein Bett und schaute recht ernst.

„Du kommst aber nur mit, wenn du versprichst, uns in Zukunft nicht wieder so zu erschrecken.“

Dabei hatte er schon wieder sein typisches Grinsen im Gesicht. Ich wollte schon aufstehen und ihm an die Gurgel gehen, aber als ich mich schnell aufrichten wollte, wurde mir fast wieder schwarz vor Augen.

„Langsam, kleiner Bruder. Du bist noch nicht wieder voll fit.“

„Ok, ok, hast du aber Glück gehabt. Dann verschiebe ich das mal.“

Mama war richtig böse und schimpfte mit uns beiden. Deshalb kam dann auch eine direkte Ansage.

„Leif, du hilfst deinem Bruder aus dem Bett und dann sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen.“

Erstaunlicherweise half mir Leif sehr behutsam aus dem Bett und somit waren wir auch recht schnell soweit, dass wir das Zimmer verlassen konnten. Als wir uns bei der Stationsschwester abmelden wollten, musste ich noch einen Versuch starten, Stef wenigstens kurz sehen zu dürfen.

Die Schwester musste lachen und führte mich dann doch zu Stef ins Zimmer. Sie bat mich allerdings sehr leise zu sein, weil er Ruhe brauchte und tief schlafen würde. Ich betrat das halb dunkle Zimmer und konnte ihn schlafend im Bett erkennen. Ich ging ganz vorsichtig zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann verließ ich das Zimmer wieder. Die Schwester schaute mich lächelnd an und meinte sehr freundlich zu mir.

„Lucien, ich glaube, jetzt verstehe ich auch, warum du dich so für ihn eingesetzt hast. Ich verspreche dir, wir passen gut auf deinen Freund auf. Morgen wirst du ihn dann sicher auch wieder besuchen dürfen.“

Ich lächelte und schon waren wir auch wieder bei Mama und Leif. Wir begaben uns zum Auto und Mama fuhr direkt nach Hause. Wir sprachen nicht viel unterwegs.

Eine halbe Stunde später saß ich mit Mama in der Küche, einen großen Pott heißen Kakao vor mir stehend. Mama setzte sich zu mir an den Tisch.

„Luc, ich soll dir von Papa ganz liebe Grüße bestellen und auch von Mario. Karl und Barbara waren sehr besorgt, als ich Papa angerufen hatte. Sie lassen ebenfalls schöne Grüße ausrichten. Papa allerdings meinte nur, er wäre nicht sehr überrascht, dass dies so passiert ist. Er hatte damit schon gerechnet. Die Belastung für Stefan muss sehr groß gewesen sein.“

„Aber warum sagt Stef nicht, dass es ihm zu viel wird? Es hätte doch auch viel mehr passieren können.“

„Luc, das sagst du so einfach. Die Sache ist aber nicht so einfach. Ich glaube, er hat es nicht einmal bemerkt, dass es ihm zu viel wird. Deshalb soll er jetzt auch viel Ruhe haben, damit er wieder richtig auf die Beine kommt und genug Kraft hat für die Zukunft.“

Ich nickte und meine Gedanken gingen ins Krankenhaus. Ich war sehr traurig, dass Stef dort war und es ihm nicht gut ging. Wut kam erneut hoch, als ich über die Ursachen nachdachte. Wut auf diese verdammten Eltern, die sich einen Dreck um den Zustand ihrer Kinder kümmerten. Mama bemerkte das und sie legte mir ihre Arme um mich und streichelte mir über den Rücken. Das tat jetzt einfach nur gut.

Luc: Wie geht es weiter? Wird Stef wieder gesund?

Ich saß mit Mama in der Küche und meine Gefühle wechselten von Sorge und Traurigkeit über Wut und Zorn bis hin zu Enttäuschung. Enttäuschung darüber, weil Stef mir nicht gesagt hatte, dass es ihm zu viel wurde. Ich wusste jetzt noch nicht einmal, was genau ihm so zu schaffen gemacht hat. Ich war ratlos.

„Mama, warum hat er mir nicht vertraut? Ich hätte ihm doch helfen können. Was wäre passiert, wenn er allein gewesen wäre, als er zusammenbrach.“

Ich musste mit meinen Gefühlen kämpfen. Mama saß immer noch neben mir und hatte ihren Arm um mich gelegt. Ihre Nähe tat mir gut.

„Ich glaube, er hat es dir gar nicht sagen können. Weißt du, bei solchen Situationen hast du ja keine Schmerzen oder es ist dir schlecht. Du bemerkst nicht, dass dein Körper nicht mehr kann und nicht mehr richtig funktioniert. Irgendwann passiert dann das, was Stefan jetzt geschehen ist. Du darfst nicht an seinem Vertrauen zweifeln. Damit tust du ihm Unrecht.“

„Ich möchte doch, dass es ihm besser geht. Mama, am liebsten würde ich seinen Eltern sagen, wie böse und dumm sie sind. Ich bin so wütend auf sie. Warum helfen sie ihren Kindern nicht? Warum quälen sie sie? Ich verstehe es einfach nicht.“

Ich verkrampfte mich dabei immer mehr. Meine Wut wurde immer größer, bis Mama mir etwas sehr Schönes sagte:

„Luc, was Stefans Eltern machen, kann man nicht verstehen. Man darf es auch nicht verstehen. Du musst aber aufhören, an dir zu zweifeln. Zeige deinem Freund, dass du ihm weiterhin vertraust und für ihn da bist. Das wird für ihn die größte Hilfe sein. Deine Liebe, deine Gefühle für ihn.“

Sie drückte mich ganz fest und ich spürte eine Kraft von ihr zu mir fließen. Sie gab mir zu verstehen, dass es für sie klar war, welche Bedeutung Stef für mich hatte. Ich begriff, Stef brauchte mich jetzt mehr denn je.

„Mama, ich möchte für Stef mehr tun. Was kann ich jetzt noch tun?“

Sie lächelte und streichelte meinen Rücken. „Du musst für ihn da sein. Das wird ihm die größte Hilfe sein, höre ihm zu, wenn er dir etwas erzählt. Sei nicht enttäuscht, sondern zeige ihm, dass du sein Freund bist. Das wird für ihn die größte Hilfe sein. Luc, zeige ihm deine Gefühle für ihn und hör auf, dir Vorwürfe zu machen oder an dir zu zweifeln.“

Ich schloss für einen Moment meine Augen, atmete tief ein und fasste für mich einen Entschluss.

„Mama, du hast Recht. Ich werde mit ihm gemeinsam für unsere Zukunft kämpfen. Seine Eltern werden sich warm anziehen müssen. Werdet ihr uns dabei unterstützen?“

Jetzt musste sie lachen, richtig laut lachen.

„Ja, Luc, darauf hast du unser Wort. Wir werden gemeinsam für Stefan und Mario eine bessere Zukunft aufbauen.“

„Danke, Mama. Jetzt geht es mir etwas besser. Fahren wir morgen wieder in die Klinik zu Stef?“

„Wenn der Arzt es für sinnvoll hält, ja. Du musst aber daran denken, dass er jetzt erst einmal viel Ruhe braucht. Auch wenn du es gut meinst, er muss zu sich selbst finden und seine Batterie neu aufladen. Deshalb werde ich morgen dort anrufen und fragen, ob es bereits sinnvoll ist, ihn zu besuchen.“

Ich nickte und bekam das Bedürfnis, in meinem Zimmer, mich auf andere Gedanken zu bringen.

„Danke, Mama. Ich gehe jetzt in mein Zimmer und versuche, mich etwas abzulenken.“

Sie lächelte und stand auch auf. Wir trennten uns, ich ging in mein Zimmer und sie ins Wohnzimmer. Ich hatte mich bereits umgedreht, als sie noch sagte:

„Schatz, wenn es dir nicht gut geht, kommst du bitte zu mir, ok?“

Ich drehte mich noch einmal um und nickte ihr wortlos zu. Hoffentlich würde das nicht notwendig sein. Auf dem Weg in mein Zimmer hing ich meinen Gedanken nach. Warum musste es soweit kommen? Dass Stef in der Klinik war und wir getrennt waren, tat mir sehr weh. Ich wollte aber den Rat meiner Mutter befolgen und jetzt alles für ihn tun, was sinnvoll wäre. In meinem Zimmer angekommen startete ich meinen Computer und meine Anlage. Ich machte leise Musik, nahm am Schreibtisch Platz und wartete, bis der PC hochgefahren war. Ziellos surfte ich im Internet. Irgendwann klopfte es an meiner Zimmertür. Ich rief herein und die Tür öffnete sich, ich drehte mich zur Tür und staunte. Dort stand Leif und fragte sehr freundlich:

„Darf ich hereinkommen oder störe ich gerade?“

„Hallo Leif, nein komm herein. Setz dich irgendwo hin.“

Er betrat mein Zimmer, setzte sich auf meine Couch und beobachtete mich intensiv. Ich fühlte, dass etwas Außergewöhnliches geschehen würde. Ich blieb auf meinem Stuhl am Schreibtisch sitzen und wir schauten uns an. Für einen Augenblick schwiegen wir beide uns an. Dann brach Leif sein Schweigen.

„Wie geht es dir? Mama hatte mir erzählt, was im Park geschehen ist.“

Diese Frage erstaunte und verwirrte mich. Leif kam zu mir, seinem kleinen Bruder und erkundigte sich ernsthaft nach meinem Befinden.

„Wenn ich ehrlich bin, nicht besonders gut. Ich weiß auch nicht, aber ich komme mit der Situation gerade nicht klar. Ich weiß nicht, was ich noch tun kann.“

„Möchtest du dich zu mir setzen?“

Ich nickte und setzte mich zu ihm an den Couchtisch.

„Luc, ich weiß, wir haben in den letzten Wochen nicht so viel zusammen gemacht und ich bin auch manchmal nicht besonders nett zu dir gewesen, aber ich möchte dir sagen, dass ich es sehr gut finde, wie du dich um Stefan kümmerst. Gut, er ist dein Freund, aber ich bin sehr beeindruckt von der Hilfe und deinen Bemühungen, ihm zu helfen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass du dir zu viel aufgeladen hast. Du machst dich verantwortlich für das, was passiert ist. Mama hat mir gesagt, du machst dir Vorwürfe, du hättest Stef nicht genug geschützt. Das stimmt aber einfach nicht. Du bist für das Verhalten von Stefan und das seiner Eltern nicht verantwortlich. Du kannst doch nur heute versuchen, für Stefan ein Freund zu sein.“

Diese Worte waren so verwirrend. Mein Bruder, der sonst nur Partys und Spaß im Kopf hatte, kam zu mir und sagte mir so etwas.

„Ich weiß, aber es ist dennoch sehr schwer für mich zu akzeptieren, dass ich nicht verhindern konnte, was passiert ist. Ich bin so wütend auf diese Eltern. Warum tun sie das? Was hat ihnen Stef denn getan, oder Mario? Was hat er angestellt, dass sie ihn über Jahre so misshandeln mussten? Ich verstehe es einfach nicht. Und jetzt? Jetzt liegt Stef in der Klinik und kann nicht mehr. Ich finde das so ungerecht.“

„Ich verstehe das, aber du darfst jetzt nicht aufgeben oder Stefan dafür Vorwürfe machen. Er braucht dich jetzt mehr denn je. Luc, du liebst ihn und er dich. Mach dir nichts vor. Ihr passt toll zusammen und er hat sich auf dich verlassen. Zu Recht, du hast alles richtig gemacht. Weißt du, Luc, ich möchte dir etwas sagen.“

Meine Verwunderung stieg von Minute zu Minute über meinen älteren Bruder. Vielleicht sollte ich mir über meine Einstellung, ihm gegenüber, auch noch einmal Gedanken machen.

„Was meinst du damit, Leif?“

„Nun, du bist jetzt traurig, weil du nichts für deinen Freund tun kannst, aber ich denke, du hast schon so viel für Stefan getan. Auch jetzt, du denkst an ihn und du bist traurig, dass du nicht bei ihm sein kannst. Aber das solltest du nicht tun, sondern besser deine Kraft sammeln, um jetzt mit vereinten Kräften auf die Zukunft zuzugehen. Er braucht dich jetzt und ich bin mir sicher, er wird sich auf dich verlassen können. Ich bin stolz auf dich. So wie du dich bemüht hast, das hätte ich vermutlich nicht geschafft. Ich hätte schon viel früher aufgegeben. Aber du hast mir damit auch gezeigt, was es bedeutet, echte Freunde zu haben. Luc, es tut mir leid, dass ich dich so oft unfair behandelt habe.“

Was war hier gerade passiert? Mein großer Bruder, der eigentlich zurzeit nur Partys, Alkohol und Mädchen im Kopf hatte, war zu mir gekommen und hatte mir das gerade gesagt. Wow!

„Danke Leif, versteh das nicht falsch, aber ich kann das noch nicht so richtig fassen, was du hier gerade gesagt hast. Meinst du das wirklich ernst?“

„Ja, ich meine das sehr ernst. Ich war ein Arschloch, auch Stefan gegenüber und es tut mir leid. Ich möchte euch in Zukunft besser unterstützen und ich bewundere dich, wie du immer zu ihm gehalten hast. Gibst du mir eine neue Chance, ich möchte mich ändern. Ich habe verstanden, was es heißt, jemanden zu haben, der bedingungslos hinter einem steht. Ich möchte, dass wir beide wieder zueinander finden. Luc, es tut mir wirklich leid.“

Er stand jetzt auf und wollte gehen. Ich war überwältigt, deshalb brauchte ich einen Moment, um zu realisieren, was er gerade gesagt hatte.

„Wo willst du hin, Leif? Bitte bleib noch einen Moment.“

Ich war auch aufgestanden und so standen wir uns jetzt genau gegenüber. Wir schauten uns in die Augen und ich konnte erkennen, dass die Augen meines sonst so dauercoolen Bruders feucht waren.

„Darf ich dich umarmen, Luc?“

Ich nickte und dann kam er auf mich zu und er umarmte mich ganz fest. Wir standen eine ganze Zeit stumm beieinander, als Mama plötzlich hereinkam. Wir waren so mit uns beschäftigt, dass wir ihr Klopfen nicht bemerkt hatten. Sie blieb in der Tür wie angewurzelt stehen. Ich stand mit dem Gesicht zu ihr gewandt und konnte ihre Reaktion sehen. Nach dem ersten Schrecken bekam sie ein entspanntes Lächeln in ihr Gesicht. Mir war es zuerst ein wenig unangenehm, aber nachdem ich das Lächeln sah, wurde mir klar, dass sie es gut fand, dass Leif zu mir gekommen war.

Nachdem Leif mein Zimmer verlassen hatte, brauchte ich einen Moment Ruhe. Irgendwie war mir ein wenig schwindelig. Ich rief nach meiner Mutter, die auch sofort mit einem Lächeln in mein Zimmer kam.

„Luc, was gibt es denn?“

„Mama, ich habe Angst. Mir ist total schwindelig gerade. Woher kommt das?“

Sie blieb ruhig und lächelte immer noch.

„Vielleicht ist es die Aufregung. Sollen wir beide ein wenig an die frische Luft gehen? Wenn es nicht besser wird, dann schauen wir, was wir machen.“

„Wir beide machen einen Spaziergang?“

Das hatten wir schon ganz lange nicht mehr gemacht, ich fand diesen Vorschlag toll und somit waren wir wenige Minuten später in der frischen Luft unterwegs. Es dauerte auch nicht lange und mir ging es wieder viel besser.

„Na, mein Sohn, wie geht es dir jetzt? Ist dir immer noch schwindelig?“

„Nein, ich fühle mich wieder viel besser. Sag mal, hattest du Leif etwas gesagt? Ich war vorhin total überrascht, dass er zu mir gekommen ist.“

„Nein, ich war genauso überrascht, als ich euch zusammen gesehen hatte. Was wollte er eigentlich von dir? Hattet ihr Streit?“

Ich erzählte ihr von dem Gespräch mit Leif und sie freute sich mit mir über diese Entwicklung. Leif war ihrer Meinung nach momentan sehr schwierig und stur. Alles was Papa und sie ihm sagten sei eben nicht richtig.

„Du magst Stefan wirklich sehr, oder?“

„Ja, Mama, ich mag ihn sehr und es tut mir weh, ihn so leiden zu sehen. Ich will, dass das aufhört. Seine Eltern sollen ihn in Ruhe lassen. Er soll wieder gesund werden.“

„Beruhige dich. Marc wird sicher eine Lösung finden und sich darum kümmern. Das ist nicht deine Aufgabe. Du sollst dich um Stefan kümmern. Er braucht dich als Fels in der Brandung. Du gibst ihm Schutz und Nähe. Das ist viel wichtiger jetzt.“

„Hast du mit Papa schon gesprochen? Was hat er in München erreicht?“

„Ja, ich habe natürlich mit ihm gesprochen. Mario wird wohl mit Stefan hier die stationäre Therapie machen. Wie es danach weitergehen wird, muss sich dann zeigen. Die beiden sollen jedenfalls in Zukunft zusammen leben. Mario ist Stefans letzte Bezugsperson. Deshalb müssen die beiden wieder zusammenkommen und zusammenleben.“

„Stef wird wieder nach München zurück gehen, oder?“

„Das wissen wir noch nicht. Es gibt einige Möglichkeiten, eine dieser Möglichkeiten ist natürlich, dass beide wieder in München leben.“

Wir drehten jetzt um und gingen wieder nach Hause zurück. Ich wurde sehr nachdenklich. Sicherlich würde ich es begrüßen, wenn Stef hierbleiben würde und Mario in die Schweiz ziehen würde. Mir war aber auch sehr bewusst, dass Mario in München einen tollen Job hatte und sie dort beide ihre Wurzeln und Freunde hatten. Ich würde jeden Entschluss unterstützen, der beiden helfen würde. Wer wusste denn auch, was in drei oder vier Jahren bei mir sein würde. Ich musste meine momentanen Gefühle besser unter Kontrolle bekommen.

Für morgen nahm ich mir vor, Stef in der Klinik zu besuchen. Leider hatte ich auch wieder Schule, deshalb beschloss ich, heute sehr zeitig ins Bett zu gehen.

Mario: Entscheidungen stehen an

Heute war für mich ein zukunftsweisender Tag. Marc war mit mir unterwegs in München. Zuerst sollte ich eine Strafanzeige gegen meine Eltern stellen, dann standen noch andere Termine an. Mir ging es nicht besonders gut. Ich wusste, dass meinetwegen mein kleiner Bruder in der Schweiz im Krankenhaus lag. Außerdem hatte mir Marc sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich einige Dinge ändern musste. Diese Veränderungen sollten heute beginnen. Ich war wild entschlossen, aber auch ängstlich vor der Zukunft. Jetzt saßen wir in einem Auto, dass uns Karl zur Verfügung gestellt hatte. Ein Vorführfahrzeug der Firma Geiger. Vor dem Polizeigebäude parkte Marc die Corvette. Mir war es ein wenig unangenehm, mit so einem Fahrzeug bei der Polizei vorzufahren.

Marc hingegen strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das mir Angst einflößte. Er stieg aus dem Auto und ging sehr zielstrebig in Richtung Eingang. Ich zögerte und er bemerkte das.

„Mario, was ist los? Wir haben noch einiges vor heute.“

Ich fühlte mich einfach unwohl. Es gab aber keinen anderen Weg und ich wusste das auch.

„Du sagst das so einfach, immerhin bin ich gerade auf dem Weg meine Eltern anzuzeigen und ich muss erneut meine Vergangenheit aufwühlen. Das fällt mir nicht leicht.“

„Ich kann es mir gut vorstellen, aber je länger du nachdenkst, desto schwerer wird das. Los, auf geht’s. Wir werden deinen Eltern das Handwerk legen und damit für euch ein neues lebenswertes Leben beginnen lassen.“

Diese Dynamik war einfach umwerfend. Wo nahm er nur die Energie dafür her? Ich konnte kaum Schritt halten, aber er hatte Recht. Also überwand ich meine Zweifel und meine Angst und betrat mit Marc das Polizeigebäude. Jetzt wurde es ernst.

Der Empfang war freundlich und nachdem Marc unser Anliegen erläutert hatte, wurden wir in die dritte Etage geschickt. Dort empfing uns eine junge Beamtin, die unser Anliegen aufnahm. Sie ließ sich von mir den Sachverhalt genau erklären, fragte immer wieder nach und nach etwa einer Stunde beendete sie unser Gespräch und wollte das Protokoll noch ausdrucken lassen. Sie verließ für einen kurzen Moment den Raum und ich konnte einen Moment etwas verschnaufen. Marc saß die ganze Zeit neben mir ohne ein Wort gesagt zu haben. Das fiel mir aber auch jetzt erst auf, nachdem alles vorbei war. Die Beamtin kam zurück, legte mir das Gesprächsprotokoll auf den Tisch und bat mich, es noch einmal sorgfältig durchzulesen. Nachdem ich das getan hatte, unterschrieb ich das Papier und gab es ihr zurück.

Sie sagte mir zu, dass es in diesem Fall recht schnell gehen würde, dass meine Eltern sich Stef nicht mehr nähern durften. Sie sagte mir das jedenfalls zu. Entscheiden würde das allerdings ein Richter.

Als wir das Gebäude verließen, fiel mir eine enorme Last von den Schultern und ich spürte, dass meine Hände zitterten. Marc ließ mir genug Luft und Zeit, damit ich mich ein wenig sammeln konnte.

„Was steht jetzt als Nächstes an?“

Marc lächelte mich an und antwortete: „Wie geht es dir jetzt? Fühlst du dich in der Lage, den nächsten Schritt zu machen?“

„Ja, lass uns weitermachen, bevor ich es mir noch anders überlege.“

Dabei musste ich doch ein wenig schmunzeln. Marc klopfte mir anerkennend auf die Schulter und wir fuhren als Nächstes zu meinem Hausarzt. Wir gingen zur Anmeldung, die Mitarbeiterin kannte mich bereits recht gut. Um so erstaunter war sie, als ich in Begleitung von Marc dort auftauchte. Sie fragte mich nach dem Anliegen und ich erklärte kurz, was unser Vorhaben war. Sie trug mich in den Plan ein und wir mussten noch etwas warten. Wir verließen die Praxis wieder, um ein wenig draußen miteinander zu sprechen.

„Denkst du, du bekommst das hier allein hin? Ich würde nämlich gerne zu Herrn Mayr fahren. Da könnte ich mit ihm schon die weiteren Schritte absprechen. Wenn du hier fertig bist, rufst du mich an. Dann hole ich dich hier wieder ab.“

„Ja, ist in Ordnung. Ich glaube, hier komme ich allein klar.“

Marc verabschiedete sich daher von mir und ich ging wieder in das Wartezimmer. Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde und die Dame aus der Annahme rief meinen Namen aus. Ich stand auf und wurde in das Behandlungszimmer geführt. Dort dauerte es nicht mehr allzu lang und mein Hausarzt betrat den Raum. Er begrüßte mich sehr freundlich. Wir kannten uns ja schon viele Jahre.

Er fragte mich nach dem Anlass meines Erscheinens und jetzt wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Ich holte tief Luft und begann, meine Geschichte zu erzählen. Ich redete mich immer mehr in Rage und immer mehr Erinnerungen tauchten in meinem Kopf auf. Der Arzt unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Er machte sich nur hin und wieder Notizen. Nach etwa zwanzig Minuten Monolog meinerseits schaute er mich vollkommen entsetzt an.

„Das ist ja echt eine Geschichte, die ich kaum glauben kann. Du hast mir eben von Marc Steevens erzählt und dass dein Bruder dort untergekommen ist. Also habe ich das auch richtig verstanden, dass er jetzt mit dir hier in München unterwegs ist und dich dazu überredet hat, jetzt etwas zu unternehmen?“

„Ja, das ist korrekt. Wobei den eigentlichen Ausschlag hat der Kollaps von Stefan gemacht. Ich kann einfach nicht mehr.“

Er schaute mich an und sein Gesicht war sehr besorgt. Er zögerte auch nicht lange und wir besprachen die nächsten Schritte. Er unterstützte Marcs Plan und somit bekam ich die benötigte Krankschreibung und er wollte auch gleich bei der Krankenkasse eine Therapiemaßnahme befürworten. Damit hatte ich alles erreicht, was notwendig war. Als ich aufstand und mich verabschieden wollte, gab er mir die Hand und sprach ein paar persönliche Worte.

„Mario, ich bin erschüttert und muss mich dafür entschuldigen, dass ich damals von diesen Misshandlungen nichts mitbekommen habe. Ich hoffe, ihr beide schafft einen Neuanfang. Wenn du noch etwas brauchen solltest, melde dich bitte.“

Es tat gut, das zu hören. Allerdings wäre mir damals sicher mehr geholfen gewesen, wenn er es bemerkt hätte. Egal, jetzt musste ich den nächsten Schritt machen. Ich verließ die Praxis und nahm mein Handy zur Hand. Marc war bereits auf dem Weg zum Auto, als ich ihn anrief. Wir verabredeten einen Treffpunkt.

Ich hatte einige Straßen zu laufen, um an den Treffpunkt zu gelangen. Dabei gingen mir einige sehr aufwühlende Gedanken durch den Kopf. Wie würde es Stef gerade gehen? Ich hatte ja seit seinem Zusammenbruch noch nicht mit ihm gesprochen. Das beunruhigte mich schon, aber ich verließ mich auf Marc.

Wenige Minuten später bog ich in eine Seitenstraße ein und konnte schon von weitem die Corvette erkennen. Marc stand neben dem Auto und ich konnte erkennen, dass er telefonierte. Mein Schritt beschleunigte sich ungewollt. Als er mich erkannt hatte, begann er mir zuzuwinken. Ich erwiderte den Gruß. Er beendete das Telefonat und begrüßte mich.

„Hi Mario, wie ist es gelaufen beim Arzt?“

„Eigentlich viel besser, als ich erwartet hatte. Ich habe ihm alles erzählen können und die Krankschreibung bekommen. Er wollte sich auch bei der Krankenkasse für die Kostenübernahme der Therapie stark machen.“

„Das ist klasse. Wie geht es dir jetzt?“

„Eigentlich ganz gut, jedenfalls viel besser, als heute Morgen. Was liegt heute eigentlich noch alles an? Hast du mit Herrn Mayr gesprochen?“

„Ja, er hat mich in seinem Büro empfangen und wir haben ein sehr gutes Gespräch gehabt. Er unterstützt unser Vorgehen und hat keine Einwände gegen die Therapie. Auch kann Stefan noch weiterhin in der Schweiz bleiben, wenn er möchte. Wir haben also viel Zeit gewonnen.“

Das beruhigte mich einerseits, aber andererseits wurde mir bewusst, dass die Aufarbeitung unserer Vergangenheit nicht mehr aufzuhalten sein würde. Hoffentlich würde das für uns der richtige Weg werden.

„Das ist schon mal gut, aber Marc, ich muss dir auch sagen, dass es bei mir gerade Angst und Ungewissheit auslöst. Ich weiß nicht, wo werden wir in einigen Monaten sein und wird es uns wieder näher zusammenbringen?“

Marc lächelte, er schien mich zu verstehen und das war für mich dieses Phänomen. Er hatte immer so eine Ausstrahlung, dass er schon den nächsten Schritt im Kopf hatte. Er war mir immer mindestens einen Schritt voraus.

„Ich kann das verstehen, aber das weiß niemand. Viel wird davon abhängen, wie sehr ihr beide euch der Sache annähern könnt und wollt. Ihr habt jetzt eine Chance bekommen, eine neue Zukunft zu beginnen. Also geh auch gegen die Ungewissheit an und kämpfe für deine und Stefans Zukunft.“

Er kam auf mich zu und umarmte mich. Das tat mir sehr gut. Ich wunderte mich immer wieder, wie es Marc schaffte, eine positive Ausstrahlung zu erzeugen. Egal wie schwierig die Lage war, er konnte immer wieder Kraft aufwenden, uns zu unterstützen.

„Was machen wir jetzt als nächsten Schritt?“

„Wir fahren zu dir in die Firma und sprechen mit Karl. Er muss ja auch wissen, wie es mit dir weitergeht. Schließlich arbeitest du ja dort. Er braucht deine Krankmeldung.“

Damit machte Marc eine Handbewegung, mit der er mich aufforderte, einzusteigen. Marc startete den Achtzylinder und innerhalb weniger Minuten bogen wir auf das Firmengelände ein.

Ein wenig nervös betrat ich die große Halle und wir wurden entsprechend direkt begrüßt. Frau Geiger saß am Empfang, als wir hineinkamen.

„Hallo ihr beiden, wie ist es euch ergangen?“

Marc nahm mir glücklicherweise diese Antwort ab.

„Ich denke ganz gut, ist Karl auch im Haus? Wir sollten einiges besprechen.“

Frau Geiger griff zum Telefon, sprach mit ihrem Mann einige Sätze und bat uns dann nach oben in das Büro von Herrn Geiger zu kommen. Marc bedankte sich und ich folgte ihm in die erste Etage. Ich klopfte an die Tür und wir wurden hereingebeten. Herr Geiger saß hinter seinem Schreibtisch und schaute uns erwartungsvoll an.

„Hallo ihr zwei. Setzt euch bitte. Möchtet ihr etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?“

„Ja gerne, Mario, was ist mit dir?“, antwortete Marc sehr schnell.

Bevor ich etwas antworten konnte, hatte Herr Geiger bei seiner Frau schon drei Kaffee geordert. Nun denn, ich fand es in Ordnung. Zwei Minuten später kam Frau Geiger herein und stellte ein Tablett mit vier großen Bechern Kaffee auf den Schreibtisch. Sie nahm ebenfalls auf einem Stuhl Platz.

„So, ihr zwei, wer von euch möchte denn nun erzählen, wie es weitergeht?“

Mir wurde es jetzt doch ein wenig mulmig. Ich musste meinem Chef jetzt sagen, dass ich einige Zeit nicht mehr zur Arbeit kommen würde. Marc hatte glücklicherweise gespürt, dass es mir gerade nicht so leicht fiel, zu berichten.

Marc fasste den bisherigen Verlauf in wenigen Minuten zusammen und entgegen meinen Befürchtungen, freute sich Karl für mich. Sein Interesse galt nur der Zukunftsplanung. Ich war sehr beeindruckt von dieser Haltung. Barbara fragte allerdings dann doch noch nach der Krankmeldung. Sie brauchte diese für die Buchhaltung und die Akten.

Ich legte ihr die Bescheinigung auf den Tisch, Herr Geiger schaute nur einmal kurz auf das Papier und fragte sofort nach den nächsten Schritten.

Marc nahm diese Frage zum Anlass, einige Erklärungen abzugeben, was er bei Herrn Mayr erreicht hatte. Nachdem auch das erledigt war, ging es nun um die Frage, was als Nächstes getan werden sollte. Marc machte folgenden Vorschlag:

„Also, meine Idee ist es, Mario direkt mit in die Schweiz zu nehmen. Er soll dort in der Klinik mit Stefan zusammen untergebracht werden. Als Erziehungsberechtigter. Dadurch kann er auch an den Therapiemaßnahmen sofort teilnehmen. Wir gewinnen wertvolle Zeit und Stefan hat immer seinen Bruder bei sich und sie können ihre Situation viel schneller aufarbeiten. Wie lange das dauern wird, sollen die Ärzte in der Klinik bestimmen. Sobald absehbar ist, wann Stefan entlassen werden soll und er hier in München die ambulante Therapie aufnehmen kann, werden wir uns darum kümmern. Erst dann soll Mario auch wieder hier zur Arbeit kommen.“

Als Marc das so deutlich gemacht hatte, herrschte einen Moment Schweigen im Raum. So konkret hatte wohl niemand den Plan erwartet. Allerdings hatte Karl wohl mit so etwas Ähnlichem gerechnet, denn er stimmte einfach direkt zu. Auch Frau Geiger machte keinerlei Anstalten, dagegen etwas zu sagen. Nur Marc stellte noch eine Frage an mich.

„Nun Mario, was denkst du jetzt dazu? Kommst du mit mir mit oder willst du noch länger hier bleiben?“

„Weißt du Marc, ich liebe deine rhetorischen Fragen. Ich glaube kaum, dass ich jetzt noch nein sagen sollte. Also klar, ich komme mit und zwar direkt. Immer noch besser, als hier eventuell meinen Eltern zu begegnen.“

Alle Anwesenden brachen in Gelächter aus. Mir war eigentlich nicht danach zu Mute, aber irgendwo tat es auch ganz gut, etwas Lockerheit in die Situation zu bringen. Marc war aber schon wieder einen Schritt weiter.

„Gut, Barbara, könntest du dich bitte um unseren Rückflug kümmern. Ich nehme Mario dann gleich mit zurück. Ich werde noch vorher mit Sabine telefonieren und sie über den Stand informieren. Sie soll dann schon einmal ein paar Dinge für Mario vorbereiten. Mario, du müsstest dir ein paar Sachen einpacken. Fährst du bitte schon einmal zu dir nach Hause und kümmerst dich darum.“

„Klar, kann ich machen, aber ich habe mein Auto ja nicht dabei. Das steht bei mir zu Hause.“

Jetzt schaltete sich Frau Geiger in das Thema ein.

„Mario, ich fahre dich rüber, außerdem zeigst du mir dann, wie das mit deinen Blumen ist. Ich werde mich in deiner Abwesenheit um deine Wohnung kümmern. Dein Auto stellen wir hier ab. Dann hast du den Kopf völlig frei und kannst dich um deinen Bruder und dich selbst kümmern.“

Es war wirklich wie in einem schönen Traum. Meine Chefin und mein Chef kümmerten sich mehr um mich, als es meine Eltern jemals getan hatten. Unser Meeting war hier beendet. Marc wollte noch mit Herrn Geiger ein paar Dinge besprechen und ich war nach wenigen Minuten mit Frau Geiger unterwegs zu meiner Wohnung.

Marc: Rückkehr in die Schweiz

Dieser Tag in München war ein sehr anstrengender Tag gewesen. Allerdings auch recht erfolgreich, denn ich hatte alles erreicht und in die Wege geleitet, was ich mir vorgenommen hatte. Jetzt auf dem Rückflug von München in die Heimat spürte ich Müdigkeit aufkommen. Die Anspannung fiel ein wenig von mir ab und ich genoss einen schönen, frischen, grünen Tee im Flugzeug. Mario saß zwei Reihen vor mir und schien auch recht entspannt zu sein. Zumindest las er in einer Zeitschrift. Ich hatte Sabine bereits informiert und sie wollte versuchen, für morgen einen Termin in der Klinik mit dem behandelnden Arzt zu bekommen. Solange Stefan noch nicht in der Klinik untergebracht ist, würde er bei uns bleiben. Ich hatte mit Mick und Lukas gesprochen und sie waren einverstanden, dass Mario so lange in ihrer Wohnung unterkam.

Sabine hatte mir von den Gesprächen mit Luc berichtet und das machte mir die größten Sorgen. Wie lange würde er noch diese Situation verkraften. Ich war der Meinung, wir mussten sehr schnell wieder in einen normalen Alltag zurückkehren. Das bedeutete aber auch, Luc konnte seinen Freund besuchen und sich an der Genesung beteiligen. Das würde in der Klinik sicher dazu führen, dass wir diese Beziehung offen legen mussten. Hoffentlich würde das nicht zu neuen Problemen führen.

Wir hatten noch etwa zwanzig Minuten zu fliegen und ich beschloss, mich ein wenig zu entspannen und die Augen zu schließen. Erst als die Ansage des Kapitäns kam, dass wir uns bereits im Landeanflug befänden und die Passagiere sich anzuschnallen hätten, wurde ich wieder wach. Die Landung verlief sehr ruhig und auch das Check-out war ohne Probleme. Mario und ich standen nun in der Ankunftshalle und Mario hatte seine beiden Taschen in der Hand. Ich telefonierte mit Sabine, um ihr zu sagen, dass wir gelandet sind und uns auf den Rückweg machen würden.

„So, Mario, dann wollen wir mal zum Auto gehen und uns auf die Rückfahrt begeben.“

Mario schaute mich ein wenig verwundert an.

„Hast du dein Auto etwa hier stehen lassen? Was ist, wenn jetzt damit etwas passiert ist?“

Ich musste lachen. Mario machte sich um mein Auto Gedanken.

„Ich bin mir ganz sicher, dass damit nichts passiert ist, weil ich es im bewachten Parkhaus abgestellt habe. Ich hatte keine Zeit, das anders vorzubereiten. Also los, lass uns losziehen.“

Mario und ich gingen durch die Halle und kamen an den Eingang zur Tiefgarage. Dort legte ich meinen Ausweis und die Platzkarte vor und dann durften wir auch zu meinem Wagen gehen. Mario schien erstaunt, denn er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich den Ferrari hier abstellen würde. Ich bat ihn, seine Taschen zu verstauen und nach wenigen Minuten befanden wir uns auf der Autobahn Richtung Heimat.

„So, Mario, wie geht es dir jetzt? Du hast eine Entscheidung getroffen und es gibt kein zurück mehr.“

Er holte tief Luft und nach einem Moment des Nachdenkens antwortete er:

„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht so genau, wie es mir geht. Eigentlich bin ich froh, eine Entscheidung getroffen zu haben, andererseits spüre ich eine große Unsicherheit. Was wird die Zukunft bringen? Klar ist mir schon, dass es eigentlich nur besser werden kann, aber Stef und ich können nicht hier bleiben. Ich muss zurück nach München und Stef kann auch nicht ewig hier bleiben. Ich weiß, Luc wird das sicher wollen und irgendwie tut es mir jetzt schon weh, zu wissen, dass die beiden nicht zusammenbleiben können. Das macht mir schon Angst. Aber ich habe mich entschieden, mit meinem Bruder gemeinsam die Vergangenheit aufzuarbeiten. Danach sehen wir weiter.“

Meinen Blick hatte ich auf der Straße, aber gedanklich war ich bei Marios Gedanken.

„Ich finde, der letzte Satz ist genau zutreffend. Erst einmal die Vergangenheit aufarbeiten und dann sehen wir weiter. Es macht ja alles keinen Sinn, schon Dinge zu planen, die noch gar nicht anstehen. Konzentriert euch wirklich auf euch.“

In diesem Moment klingelte mein Handy. Über die Freisprechanlage nahm ich das Gespräch an.

„Steevens“, meldete ich mich.

„Hallo Schatz, Sabine hier. Wie weit seid ihr? Und wie schaut deine Planung aus?“

„Hi Sabine, ich denke, etwa zwanzig Minuten brauchen wir noch. Wir wollen zuerst Marios Sachen nach oben bringen und er soll sich einleben. Dann schauen wir mal. Wäre toll, wenn du vielleicht etwas zu essen machen könntest. Wie geht es Luc?“

„Oben bei den Jungs haben wir schon alles vorbereitet. Mario kann sofort dort einziehen. Essen werde ich vorbereiten, möchtet ihr was warmes oder lieber Brot und Aufschnitt.“

Ich schaute zu Mario rüber, der zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte Lust auf Bratkartoffeln.

„Machst du uns ein paar Bratkartoffeln. Ich finde, die haben wir uns verdient. Oder warte, lass uns in den alten Dorfgasthof fahren. Dort gibt es die besten Bratkartoffeln der Gegend. Was macht Luc?“

Sabine musste lachen, als ich das mit dem Dorfgasthof erwähnte. Ich konnte hören, dass sie das Telefon weiterreichte und dann hörte ich Lucs Stimme.

„Hallo Papa, ich freue mich auf dich. Ist Mario auch mitgekommen oder kommt er erst später?“

„Hi Kleiner, Mario sitzt neben mir und grinst sich eins auf deine Frage. Wie geht es dir?“

„Jetzt, wo ich weiß, dass du bald wieder da bist, schon wieder besser. Aber ich mache mir Sorgen um Stef. Ich durfte nicht mehr bei ihm bleiben. Das fand ich richtig blöd.“

„Na, das glaube ich dir, aber er braucht jetzt viel Ruhe. Heute warst du auch nicht bei ihm?“

„Doch, aber nur kurz. Nach einer Stunde musste ich wieder gehen. Ich möchte bei ihm sein, weil er braucht uns doch jetzt.“

„Luc, die Ärzte wissen sehr genau, was sie tun. Wenn sie meinen, dass es für Stef jetzt noch besser ist, Ruhe zu haben, dann sollten wir das so akzeptieren. Also wir sehen uns gleich und dann besprechen wir das in Ruhe, wie es weitergehen wird.“

„Ok, Papa. Fahr vorsichtig und bis gleich.“

Ich musste schmunzeln und selbst Mario bekam ein Lächeln in sein Gesicht.

„Ist ja schon komisch, wenn Luc dir sagt, du sollst vorsichtig fahren. Einer der besten Rennfahrer der Welt und du musst dir sagen lassen, dass du vorsichtig fahren sollst.“

Wir beiden lachten jetzt laut, aber ich wusste auch, dass Luc immer in Sorge war. Der Verlust seines leiblichen Vaters beschäftigte ihn noch immer. Ich hatte es auch mittlerweile akzeptiert und ließ ihn gewähren.

Ich bog auf unser Grundstück ab und öffnete per Fernbedienung das Tor zur Tiefgarage. Nachdem ich den Ferrari abgestellt und die Tür geöffnet hatte, kam Luc auch schon auf mich zugelaufen. Er strahlte über das ganze Gesicht. Seine Freude war groß, dass ich zurück war. Für mich besonders schön, er umarmte Mario genauso herzlich zur Begrüßung. Wir gingen gemeinsam nach oben, wo uns Sabine schon mit einem heißen Tee erwartete. Ich gab ihr einen Kuss und bat Luc, Mario nach oben zu begleiten.

Ich wollte ein paar Minuten Ruhe haben und mich von Sabine genau informieren lassen, wie es Stefan ging und was der Arzt genau gesagt hatte. Nachdem ich einen kompletten Bericht erhalten hatte und wusste, dass es Stefan den Umständen entsprechend gut ging, folgten wir den beiden Jungs nach oben. Leif war noch unterwegs, würde aber gleich noch kommen.

Sabine betrat als Erste die Wohnung von Mick und Lukas. Luc stand neben Mario im Wohnzimmer und sie schauten in den Garten hinein. Ich hatte sofort das Gefühl, dass sie in einem sehr persönlichen Gespräch waren. Sabine und ich blieben ein wenig entfernt stehen und beobachteten die beiden für einen Moment. Dann drehte sich Mario um und wir besprachen den weiteren Verlauf. Mario würde am nächsten Morgen mit mir in die Klinik zu seinem Bruder fahren und dort würden wir konkret die nächsten Schritte planen. Vermutlich würde Mario noch ein paar Tage bei uns bleiben.

„Papa, warum soll Stef eigentlich so viel schlafen? Auch heute war er so müde, er meint, er würde starke Medikamente bekommen. Eigentlich ist er doch nicht krank, also warum muss dann so viele Tabletten nehmen?“

„Luc, ganz genau kann ich dir das noch nicht sagen. Ich müsste zuerst mit dem Arzt sprechen. Das werden Mario und ich morgen ja tun. Ich verspreche dir, sobald ich das getan habe, werde ich dir mehr dazu sagen können.“

Luc war sichtlich besorgt, ich stellte mich neben ihn und legte meine Hand auf seine Schulter.

„Luc, ich kann dich verstehen. Du glaubst, dass deine Anwesenheit für Stefan eine viel größere Hilfe ist, als viele Tabletten und die Ruhe. Es ist aber etwas komplizierter. Stefan ist nicht normal krank wie bei einer Grippe. Er hat psychische Probleme und da ist Ruhe wirklich sehr wichtig, damit er sich wieder auf die wichtigen Dinge konzentrieren kann. Und eines verspreche ich dir, sobald er wieder stabil ist, wirst du eine wichtige Rolle haben. Denn dann musst du für ihn da sein, als sein Freund. Bis dahin solltest du den Ärzten die Entscheidung auch vertrauensvoll überlassen.“

Er nickte, aber zufrieden war er damit überhaupt nicht. Morgen würde ich mehr erfahren und ich wollte Luc ganz sicher in die Therapie einbinden. Wie, das würde ich mit den Ärzten, Stefan und Mario besprechen.

„Papa, kann ich denn morgen nach der Schule Stef besuchen?“

„Wenn der Arzt uns morgen früh das erlaubt, dann kannst du natürlich Stefan besuchen. Warten wir bis morgen ab. Und jetzt, Mario, hast du hier noch Fragen zur Wohnung? Oder können wir erst einmal essen fahren?“

„Nein, ich habe keine weiteren Fragen, das heißt doch. Eine Frage habe ich noch. Wie ist das mit den Kosten? Ich verursache doch für euch Kosten, ich möchte mich daran beteiligen.“

Typisch Mario, dachte ich so für mich.

„Darüber sprechen wir später. Heute ist das sicher der falsche Zeitpunkt. Vielleicht bleibst du ja hier nur ein paar Tage. Jetzt lasst uns gemeinsam den Abend mit netten und schönen Dingen verbringen. Ich habe ganz ehrlich keine Lust mehr, mich noch mit neuen Problemen zu beschäftigen. Der Tag war sehr anstrengend.“

Sabine spürte, dass meine Energien zur Neige gingen. Sie zögerte auch nicht lange und nahm mich an die Hand, gab mir einen Kuss und sagte:

„Dann lass uns damit mal anfangen. Auf geht’s, wenn die Herrschaften mir bitte folgen möchten. Der Tisch ist reserviert und wartet auf uns.“

Es war wirklich erstaunlich, wie schnell und einfach es ihr immer wieder gelang, Freude zu verbreiten. Wenige Minuten später saßen wir mit Leif in ihrem Auto und fuhren zu unserem bekannten Dorfgasthaus.

Das Essen war wie immer sehr köstlich und auch die Stimmung bei Mario und mir löste sich. Die Anspannung fiel von mir ab und ich konnte wieder fröhlich mit meiner Familie zusammensitzen.

Als ich gegen Mitternacht in unserem Schlafzimmer das Licht löschte, war ich guter Dinge für den nächsten Morgen. Wir würden ab morgen ein neues Kapitel für Stefan und Mario aufschlagen. Luc war sehr angespannt, weil er befürchtete, dass sein Freund vielleicht nicht mehr lange in seiner Nähe sein würde. Das war mir bewusst und ich nahm ihn da auch sehr ernst. Mir war bewusst geworden, dass Stefan für Luc eine ganz wichtige Person geworden war.

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