zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Second serve

Teil 6

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Fynn: Ein tolles Turnier ist zu Ende

Nachdem der offizielle Teil zu Ende war, hatte Thorsten uns noch zum gemeinsamen Essen eingeladen. Was mir etwas Probleme machte. Meine Mutter und mein Bruder waren extra meinetwegen nach Halle gekommen und ich wollte die Gelegenheit nutzen, mit ihnen so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Wir hatten noch vieles zu besprechen.

Dustin und ich sollten noch einmal mit unseren Pokalen für ein Foto nach vorn kommen.

„Hoffentlich ist das hier bald vorbei. So langsam wird es peinlich.“

Mein Freund hatte den gleichen Gedanken wie ich. Es nahm Überhand mit der Presse und den Sponsoren. Wie ist das erst bei den Profis, dachte ich für mich. Dennoch gingen wir mit Maxi nach vorn und stellten uns zum Foto. Erstaunlicherweise wollte Gerry Weber mit auf das Foto. Er stellte sich hinter uns drei und nachdem die Bilder gemacht wurden, sprach er mich an:

„Fynn, warte bitte einen Moment. Ich habe vorhin deine Mutter kennengelernt und von Chris erfahren, dass dein Bruder auch hier ist. Stimmt das?“

„Ähm, ja. Herr Weber, das stimmt.“

„Freust du dich darüber? Ich hatte den Eindruck, dass deine Mutter sehr stolz auf euch beide ist.“

„Ja, es ist für mich etwas ganz Besonderes, dass sie meinetwegen hergekommen sind.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Sogar dein Bruder scheint sich sehr für euch zu freuen. Wie lange habt ihr euch jetzt nicht gesehen?“

„Seit unserem Umzug.“

„Dann habt ihr bislang auch noch nicht viel Zeit gehabt, oder?“

„Nein, nicht wirklich. Ich habe mich ja hauptsächlich auf das Turnier konzentriert.“

Herr Weber lächelte und legte mir seine Hand auf meine Schulter.

„Ich möchte, dass du beide zum Essen mitbringst. Sie sollen unsere Gäste sein. Was hältst du davon?“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Alle Spieler hatten mich immer vor ihm gewarnt und ihn als sehr bestimmend geschildert.

„Das wäre eine tolle Sache für mich. Ich würde mich sehr freuen. Hoffentlich weiß mein Bruder sich zu benehmen.“

Jetzt lachte er richtig laut und klopfte mir auf die Schulter.

„Das klappt schon. Er wird wissen, dass es sonst für dich peinlich sein könnte.“

Fast hätte ich jetzt gesagt: „Genau deshalb.“ Aber das verkniff ich mir und ging zu meiner Mutter, die mit Chris und Patrick an der Theke stand. Meinen Pokal hatte ich immer noch in der Hand. Ich wusste auch nicht so wirklich, wo ich damit hin sollte.

„Hi Fynn“, grinste mich Chris an, „ willst du deine Trophäe mit Sekt füllen oder weshalb schleppst du den mit hier her?“

„Sehr witzig. Nein, aber ich bin gerade von Herrn Weber angesprochen worden…“

Bevor ich weitersprechen konnte, nahm mir Chris den großen Pokal aus der Hand und ließ ihn tatsächlich mit Sekt füllen. Ich war sprachlos. Als er diesen der Wirtin gegeben hatte, sagte er:

„Sorry, was wollte Gerry von dir?“

„Er hat meine Mutter und Patrick zu unserem gemeinsamen Essen eingeladen. Ist das nicht klasse?“

Chris bekam ein Lächeln und erwiderte: „Ich habe nichts anderes erwartet, aber ja, es ist eine tolle Geste.“

„Aber wir haben doch gar nichts zu deinem Erfolg geleistet. Es soll doch eine Anerkennung eurer Leistung sein.“

Typisch Mama, es war ihr unangenehm. Allerdings reagierte Chris sehr gut und brauchte auch nicht lange, um sie und Patrick davon zu überzeugen, an dem Essen teilzunehmen.

Mittlerweile hatte mir Chris auch den Pokal zurückgegeben, diesmal aber gefüllt mit Sekt.

„So, damit gehst du jetzt herum und jeder der möchte, soll etwas trinken. Viel Spaß.“

Ich hatte das natürlich noch nie gemacht. Woher denn auch. Ich hatte doch noch nie so einen großen Pokal gewonnen. Geschweige denn so ein hohes Preisgeld. Deshalb hatte ich den Scheck auch gleich bei Thorsten abgegeben. Ich wollte ihn nur nicht verlieren.

Die ersten, die einen Schluck nahmen, waren Mama und auch Patrick durfte einen kleinen Schluck nehmen. Chris nahm zwar den Pokal, trank aber nichts von dem Sekt. Er prostete mir nur mit dem Pokal zu und reichte ihn dann an Thorsten weiter.

„Hm, lecker. Du kannst ruhig häufiger gewinnen. So schmeckt ein Erfolg gleich noch viel besser.“

Ich schüttelte den Kopf. Allerdings war auch das wieder ein tolles Gefühl. Alle Menschen hier freuten sich für uns und nahmen an unserem Erfolg teil. Entsprechend schnell leerte sich der Pokal. Dustin und Maxi hatte ich noch nicht gesehen. Das beunruhigte mich etwas, aber in diesem Moment betraten sie den Raum bereits frisch geduscht. Ich ging auf sie zu und hielt ihnen den Pokal hin. Maxi nahm zuerst einen großen Schluck, bevor er den Pokal an Dustin weitergab. Dustin war unsicher. Ich fand es total lustig, wie er versuchte aus dem Pokal zu trinken.

„Danke, Schatz. War das deine Idee mit dem Sekt?“

„Nee, ich hätte das niemals gemacht. Chris hat das einfach gemacht.“

Er umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: „Du bist echt klasse. Aber hoffentlich sind wir bald wieder mal nur für uns.“

Ich nickte nur stumm.

Es wurde ein fürstliches Abendessen und alle, wirklich alle, die an diesem Erfolg beteiligt waren, saßen mit an dieser langen Tafel. Selbst Gerry Weber war mit seiner Frau geblieben.

Das Essen verlief sehr ruhig. Erst als das Dessert vorbei war, kamen Gespräche auf und ich konnte endlich mit Mama ein paar Sätze in Ruhe sprechen.

„Wie hat es euch hier bislang gefallen?“, fragte ich meine Mutter.

Sie lächelte mich an und in ihrer Art, die ich schon Jahre nicht mehr erlebt hatte, antwortete sie: „Es ist sehr beeindruckend. Hier scheinen alle sehr freundlich, aber auch erfolgsorientiert zu sein. Dass sogar ein Weltklassespieler hier auftaucht, sich um den Nachwuchs kümmert ist erstaunlich. Jetzt habe ich begriffen, was du mir immer erzählt hast. Ich bin mir mittlerweile ganz sicher, dass es eine richtige und gute Entscheidung war, hierher zu gehen.“

„Wir haben es auch noch keine Sekunde bereut. Ich hätte nie gedacht, dass wir so schnell Fortschritte machen würden und uns vor allem dabei wohlfühlen.“

„Wie geht es Dustin, so ganz ohne familiäre Unterstützung? Wie kommt er mit der neuen Situation klar?“

„Naja, die meiste Zeit ist es kein Problem. Aber manchmal ist er schon sehr traurig, dass seine Eltern, insbesondere Mutter, sich so gar nicht um ihn kümmern. Er stellt sich dann häufig die Frage, ob er denn etwas falsch gemacht hatte. Da ist es dann auch für mich sehr schwer.“

Meine Mutter nickte nur wortlos. Sie schien in diesem Augenblick mit ihren Gedanken sehr weit weg zu sein. Patrick hatte die ganze Zeit neben ihr gesessen und unserem Gespräch zugehört. Diese Pause nutzte er nun, mir eine Frage zu stellen.

„Dieser Jan, ist das wirklich der Bruder von Chris und hier der Chef? Ich kenne ihn aus dem Fernsehen.“

„Ja, das ist korrekt. Er ist Headcoach und hat das Team gegründet. Er ist mit Gilles Simon auf der Profitour unterwegs.“

„Cool. Der Gilles Simon, der hier mit Chris gespielt hat? Wie krass. Das hättest du mir auch mal sagen können. Denn da hätte ich mir gern ein Autogramm geholt.“

„Wie gut, dass ich es nicht getan habe. Das wäre hier nur peinlich. Von uns würde niemand auf die Idee kommen, sich von Gilles ein Autogramm zu holen. Er gehört zum Team und trainiert auch manchmal mit uns.“

„Hast du auch schon mit ihm trainiert?“

„Ja, mehrfach. Gerade in den letzten Tagen. Was mir gerade einfällt, Tim hat mir vorhin gesagt, du warst mit ihnen auch mal auf dem Platz. Wie hat es dir gefallen?“

„Total klasse. Sie haben mit den Ball ganz vorsichtig zugespielt und viel erklärt. Ich hätte nie gedacht, dass das so schwierig ist. Es sieht so einfach aus.“

„Also hast du Spaß gehabt? Und wie bist du mit den beiden ausgekommen?“

„Es war einfach lustig mit den beiden. Sie haben mich immer wieder angefeuert nicht aufzugeben und mich sogar gelobt.“

„Das kann ich mir vorstellen, dass es lustig war.“

Dabei musste ich lachen. Die beiden Kindsköpfe mit meinem kleinen Bruder. Ein Trio Infernale. Patrick wurde nun langsam unruhig und da kam es ihm sehr gelegen, dass Carlo zu uns kam und fragte, ob er mit nach draußen kommen würde. Das ließ er sich nicht zweimal fragen und schon waren sie verschwunden. Ich wunderte mich nur, dass Mama das so erlaubte. Schließlich waren sie ja meinetwegen gekommen.

Chris kam mit Thorsten zu uns herüber und lud uns an der Theke zu einem Getränk ein. Meine Mutter überlegte einen Augenblick und dann schlug Chris ihr eine Fassbrause vor. Ich hatte bislang auch erst einmal probiert. Also bestellten wir uns jeder eine Fassbrause.

Das Gespräch ging generell über meine Entwicklung und Fortschritte. Lediglich Chris schaute sich häufiger um und fragte mich dann:

„Sag mal, wo ist eigentlich Dustin? Ich habe ihn schon einige Minuten nicht mehr gesehen.“

„Er wollte für ein paar Minuten mal allein nach draußen. Ihm wurde das hier zu viel. Er mag das nicht, wenn so viele Reden gehalten werden und es dabei um ihn geht.“

Chris nickte verständnisvoll. Thorsten musste lachen.

„Na, dann hoffe ich mal, er wird deswegen nicht weniger gut spielen. Er hat sich toll verbessert. Außerdem kann man sehen, dass es ihm besser geht.“

In diesem Moment kam Dustin wieder herein und steuerte direkt auf uns zu.

„Hi, Schatz.“, begrüßte ich ihn.

Er umarmte mich nur wortlos und ich bekam einen Kuss. Das war ein tolles Gefühl und ich spürte erst jetzt, dass ich das schon den ganzen Tag vermisst hatte. Niemand reagierte auf diese Geste und genau das machte mir klar, wie gut wir hier akzeptiert waren. Ein wunderbares Gefühl. - Mir fiel ein, dass Patrick noch gar nicht bei uns in der WG war. Mama kannte unser Appartement ja vom Umzug her, hatte es aber auch noch nicht fertig eingerichtet gesehen.

„Wollt ihr nicht mal mit uns in die WG kommen. Ihr habt doch noch gar nicht gesehen, wie das bei uns jetzt aussieht.“

Mama war sofort begeistert und schickte mich los, Patrick zu suchen. Als wir eine halbe Stunde später in unserem Auto saßen, war ich froh, dass es zu uns nach Hause ging. Der Besuch bei uns dauerte dann doch deutlich länger, denn Patrick ließ sich natürlich auch noch zeigen, wo Carlo und Tim wohnten. Mama fand es sehr gemütlich bei uns und wir besprachen noch kurz den Ablauf des kommenden Wochenendes. Sie würde uns hier abholen und dann gemeinsam mit Dustin und mir in die Klinik fahren. Damit ging der Sonntag erst sehr spät zu Ende und die Gedanken an die morgige Schule waren überhaupt nicht schön, denn wir wussten, dass es uns morgen sehr schwer fallen würde, dorthin zu fahren.

Umso schöner war es, gemeinsam mit meinem Freund einzuschlafen.

Chris: Eine spannende Woche mit einem großen Finale

Die vergangene Woche hatte ein sehr positives Ende gefunden. Das Heimturnier war ein riesiger Erfolg und auch in der Presse und den Fachmagazinen wurde darüber berichtet. Fynn, Dustin und Maxi lachten von den Bildern mit ihren Pokalen. Das war schon ein toller Anblick. Vor allem, wenn man wusste, woher Dustin und Fynn kamen.

Leider hatte dieses Turnier bei mir auch negative Auswirkungen. Das Wochenende war nicht unbedingt erholsam. Es war anstrengend. Der Montagmorgen entsprechend schwierig für mich, gut gelaunt zur Arbeit zu fahren. Ich bin jedenfalls am Montagabend früh ins Bett gegangen und heute am Dienstag ging es mir schon viel besser. Überraschenderweise hatte ich eine Email von Dustin, Maxi und Fynn erhalten. Dort nahmen sie Bezug auf das anstehende Gespräch mit Thorsten über meine weitere Arbeit im Break-Point-Team. Sie bedankten sich erneut für die hervorragende Betreuung und sie würden sich wünschen, mich offiziell als Coach zu haben. Die Art und Weise, wie sie sich äußerten, war schon sehr emotional für mich. Sie hatten immer wieder angeführt, dass sie noch nie so menschlich betreut wurden und bereits viel über Strategie und Taktik gelernt hätten.

Ich war mir nach wie vor sehr unsicher. Aus verschiedenen Gründen. Zum Einen würde es bedeuten, dass mein Bruder praktisch mein Chef sein würde. Ob das nach den vielen Jahren der schweren Differenzen gut gehen würde? Außerdem liebte ich meinen Beruf und die Arbeit mit Familien und Jugendlichen, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Allerdings war mir auch klar, beides zu machen, wie ich es bislang getan hatte, ging nicht. Es war auf Dauer zeitlich nicht zu leisten. Ich hatte ja auch den Anspruch gegen mich selbst, gute Arbeit abliefern zu wollen, sowohl in Halle, als auch in meinem Beruf. Diese Gedanken schwirrten schon seit Tagen in meinem Kopf herum.

Gestern hatte ich bereits ein Gespräch mit meinem beruflichen Vorgesetzten. Dort wollte ich abklären, ob es überhaupt eine Möglichkeit geben würde, beides unter einen Hut zu bringen. Nach einigen Überlegungen hatten wir uns auf eine Übergangszeit geeinigt. Sollte mir das Angebot vom Break-Point-Team zusagen, könnte ich für ein halbes Jahr meine Stunden auf die Hälfte reduzieren und anschließend würde man erneut zusammensitzen.

Jetzt war ich auf dem Weg nach Halle und hatte die Panigale genommen. Ich wollte einfach den Kopf frei bekommen und entspannt in das Gespräch gehen. Deshalb nahm ich auch nicht den direkten Weg, sondern fuhr einen Umweg, um noch mehr Spaß mit dem Motorrad zu haben. An einem Ortsausgang beschleunigte ich die Maschine wieder und spürte dabei die Kraft. Es war immer wieder faszinierend, wie brutal diese Maschine vorwärts drängte. In Schräglage fuhr ich durch eine enge Kurve und wollte gerade wieder beschleunigen, als ich einen jungen Mann auf mich zu laufen sah, die Arme schwenkend. Ich nahm sofort Gas weg und rollte aus, öffnete das Visier und vor mir stand ein etwa siebzehn oder achtzehnjähriger Junge.

„Nanu, was ist denn los?“, fragte ich ihn.

Er schien total außer Atem und auch sehr aufgeregt, fast panisch.

„Da vorn liegt ein Auto im Graben und da sind noch Leute drin. Ich bin mit dem Rad vorbeigekommen und…“

„Ok, schon gut. Hast du schon einen Notruf gemacht?“

Er nickte aber konnte keine genauen Angaben machen. Ich stellte die Panigale auf dem Radweg ab und lief mit dem Jungen zu dem von ihm gefundenen PKW. Tatsächlich lag etwa zwei Meter tiefer ein vollkommen zerstörter Wagen. Er war von der Straße aus nicht zu sehen.

„Wie viele Leute sind da noch drin?“, fragte ich ihn ruhig.

„Zwei.“

Er war sehr aufgeregt und ich musste jetzt handeln.

„Du bleibst hier oben, hältst das nächste Auto an und bittest um Unterstützung. Ich geh jetzt da runter. Du hast aber Polizei und Feuerwehr alarmiert?“

„Ich habe die 112 angerufen und sie wollten sich kümmern.“

„Gut.“

Ich stieg die Böschung hinab zum Fahrzeug und konnte erkennen, dass beide Personen eingeklemmt waren. Das Auto hatte sich offenbar mehrfach überschlagen und lag nun halb auf der Seite. Ich sprach die Personen an, aber sie waren bewusstlos. Ich versuchte eine Tür zu öffnen. Eine der hinteren Türen ließ sich öffnen. Gott sei Dank konnte ich fühlen, dass beide noch lebten und hier noch etwas zu retten war. Meine Erfahrung bei der Feuerwehr halfen mir jetzt doch sehr, auch wenn mir das passende Werkzeug fehlte. Zumindest konnte ich aber erste Hilfe leisten und eine stark blutende Wunde des Beifahrers, mit dem Verbandskasten aus dem verunfallten Auto verbinden. Nach einigen Minuten hörte ich mehrere Martinshörner und das beruhigte mich jetzt doch. Die Verstärkung nahte.

Innerhalb von Minuten hatten sich die Feuerwehrleute einen Überblick verschafft und der Einsatzleiter mit mir gesprochen. Sobald der Rettungsdienst mit dem Notarzt eintreffen würde, sollte ich den Wagen wieder verlassen. Also dauerte es für mich weitere Minuten in denen ich die Vitalfunktionen der Insassen überprüfte.

Etwa zehn Minuten später stand ich wieder an meiner Maschine und gab einem Polizeibeamten meinen Ausweis. Er notierte sich die Daten und nahm meine Aussage zu Protokoll. Der Einsatzleiter gab uns noch die Information, dass beide Personen zwar schwer verletzt, aber lebend befreit werden konnten. Dann durfte ich endlich weiter nach Halle fahren. Jetzt wurde es natürlich unmöglich, noch pünktlich zu sein. Deshalb rief ich Thorsten an:

„Hallo Thorsten, ich komme etwas später. Ich wurde von der Feuerwehr und Polizei aufgehalten. Erklär ich dir gleich.“

„Ups, mach langsam. Ich warte auf dich und dann erzählst du mir das. Aber du bist ok?“

„Ja, bei mir ist alles ok. Ich brauche noch etwa eine Viertelstunde bis ich da bin.“

Ich beendete das Gespräch, setzte den Helm auf und startete die Maschine. Der weitere Verlauf hatte keine weiteren Überraschungen und somit erreichte ich, die besagten fünfzehn Minuten zu spät, den Club in Halle.

„Hallo Chris“, begrüßte mich Thorsten, „schön, dass du es noch geschafft hast.“

„Ja, sorry. Ich musste aber erst bei einem Unfall erste Hilfe leisten und warten, bis die Feuerwehr und die Polizei kamen.“

Er schaute mich erschrocken an und ich berichtete ihm von dem Geschehen. Anschließend sagte er zu mir:

„Puh, dann war es ja ein glücklicher Umstand für die Autoinsassen, dass du dort vorbeikamst. Möchtest du einen Cappuccino oder lieber deine geliebte Fassbrause?“

Ich lachte und nahm doch lieber eine Fassbrause. Erstaunlicherweise gingen wir nicht in das Büro, sondern aus dem Clubhaus heraus über die Anlage. Der Trainingsbetrieb lief und ich begrüßte unsere Leute und Spieler.

„Bist du eigentlich schon einmal drüben im Stadion gewesen?“

„Ja, ich habe mir einmal die Gerry Weber open angesehen. Ich könnte auch sicher häufiger hingehen. Jan hatte mir immer Karten angeboten, aber ehrlicherweise muss ich sagen, Rasentennis finde ich langweiliger. Außerdem nervt es mich gewaltig, Leute zu sehen, die vom Tennis überhaupt keine Ahnung haben, den interessierten Leuten die Karten wegnehmen, aber eigentlich gar nicht am Platz sitzen. Sie kommen nur, um gesehen zu werden und dummes Zeug zu labern. Das geht mir immer gewaltig auf den Sack.“

Thorsten lachte.

„Ja, das kann ich sehr gut verstehen. Ich mag diese Leute auch nicht, aber sie gehören leider dazu. Außerdem haben sie ja für die Karten bezahlt.“

Ich nickte nur und fragte mich gerade, was er mit dieser Frage bezwecken wollte.

„Aber du kennst dich drüben auf dem Gelände aus?“

„Jan war mit mir einige Male unterwegs und hat es mir gezeigt, wenn sie sich hier auf die Rasensaison vorbereiten. Das Training finde ich immer sehr interessant. Das habe ich mir auch schon mehrfach bei den Open angesehen. Das ist hundertmal interessanter, als die Matches.“

„Oh, endlich jemand, der vielleicht unsere Spieler auch dafür begeistern kann, beim Training der Profis häufiger zuzuschauen. Ich bin auch der Meinung, dass man dort einiges lernen kann.“

Wir waren mittlerweile auf dem Parkplatz angekommen und Thorsten bat mich, in sein Auto einzusteigen. Er wollte mit mir auf die Stadionanlage fahren und mir dort etwas zeigen.

Fünf Minuten später stiegen wir direkt vor dem großen Stadion aus.

„So, ich wollte dir mal die ganzen Einrichtungen zeigen, die wir nutzen könnten. Hier sind Plätze mit allen Bodenbelägen, die bei wichtigen Turnieren gespielt werden. Sicher nutzen das in erster Linie unsere Profis, aber jeder Coach, der möchte, kann sie auch nutzen.“

Der Rundgang ging weiter und ich bekam die Fitnessbereiche, das Schwimmbad und auch die medizinische Abteilung zu sehen. Zum Abschluss ging es in das vier Sterne Sporthotel. Dort lud mich Thorsten zum Essen ein. Als wir das Restaurant betraten, wurden wir bereits von Christian erwartet.

„Hallo Chris, schön dass du gekommen bist. Ich hoffe, wir können mit dir eine gute Zusammenarbeit erreichen.“

Ah, das war der Grund. Christian war der Mann für die Finanzen und die vertraglichen Dinge. Wir nahmen an einem sehr schönen Tisch in einer ruhigen Ecke Platz und bekamen schnell die Karten. Ich entschied mich für eine „Fuhre Mist“. Das hörte sich interessant an.

Als die Bestellungen aufgenommen waren, begann Thorsten unser Gespräch.

„Hast du dir unser Angebot mal durch den Kopf gehen lassen?“

„Ja, und nicht nur einmal. Es ist für mich eine sehr schwierige Entscheidung. Vor allem, weil ich mir noch nicht so genau vorstellen kann, wie ihr euch das gedacht habt. Ihr habt gesagt, ich soll verantwortlicher Trainer für Maxi, Dustin und Fynn werden. Was heißt das denn konkret? Ich habe keine A-Lizenz und bin auch kein guter Spieler. Wird das reichen, um in diesem Bereich gute Arbeit zu leisten?“

Christian schaute Thorsten an und nach einem Augenblick des Schweigens kam eine knappe Antwort:

„Definitiv ja. Schau mal, du hast in den wenigen Wochen mehr bewegt, als Thomas bei Fynn im letzten Jahr. Dass er ein großes Talent ist, wissen wir auch. Aber es ist Thomas nicht gelungen, das Potenzial von ihm auch nur ansatzweise auszuloten. Erst, als du mit den Jungs auf der letzten Turnierreise unterwegs warst, ist bei ihm der Knoten geplatzt. Er hat Vertrauen gefunden und dich eingeweiht. Das hätte er bei keinem anderen unserer Trainer getan. Thomas ist ein exzellenter Coach und Stratege. Allerdings ist er kein Psychologe und hat nicht dieses Gefühl für die Situation, wie du. Du hast Stärken, die kein anderer bei uns hat.“

Ich fühlte mich geschmeichelt, aber es tat auch gut, diese Anerkennung zu bekommen. Es gab an dieser Situation nur einen entscheidenden Haken. Das war mein Bruder. Er hatte über Jahre hin keine Gelegenheit ausgelassen, sich über meine Art, mit jungen Spielern zu trainieren, lustig zu machen. Warum sollte es ausgerechnet jetzt anders sein? Ich würde niemals einem jungen Spieler etwas abverlangen, was für seine persönliche Entwicklung negativ ist, auch wenn sein Spiel dadurch besser würde. Der junge Spieler stand bei mir mit seiner Persönlichkeit im Fokus.

„Bevor du auf komische Gedanken kommst“, warf Christian ein, „Jan hat uns schon gesagt, dass du mit ihm über eine lange Zeit unterschiedliche Auffassungen hattest. Allerdings kann ich heute sagen, dass er begriffen hat, wie wertvoll deine Art ist. Es gibt Spieler, die das brauchen und erst dann ihr Potenzial abrufen können. Bei Fynn, Dustin und Maxi scheint das so zu sein. Es gibt keinen besseren Trainer für die drei, als dich. Sie haben alle drei einen Status erreicht, der es nicht mehr erforderlich macht, jeden Tag klassische Trainingseinheiten auf dem Platz zu haben. Du musst also nicht ständig mit ihnen auf dem Platz trainieren. Dafür haben wir gute Spieler und Trainer, die das übernehmen könnten. Du hast aber das Auge und die Erfahrung, auch gegen bestimmte Entwicklungen zu arbeiten, vor allem, diese zu erkennen, bevor es zu Problemen kommt. Und das Wichtigste überhaupt, sie vertrauen dir. Sie erzählen dir ihre Sorgen und du verstehst sie. Ich, nein, wir glauben, du bist die perfekte Ergänzung für unser Team. Auch im Profibereich kannst du sicher einigen Spielern weiterhelfen.“

Ich hatte sehr aufmerksam zugehört und war doch erstaunt über diese Aussagen. Es gab für mich eine Sache, die ich noch nicht verstanden hatte.

„Also, dass Dustin und Fynn eine besondere Begleitung brauchen, darüber sind wir uns sicher einig. Aber warum Maxi? Er hat eine intakte Familie und ist sehr selbstständig. Er macht nicht den Eindruck, dass er mich als Coach brauchen würde. Manchmal denke ich sogar, dass er sich von mir bevormundet fühlt.“

Thorsten lächelte und auch Christian musste grinsen. Thorsten fuhr jetzt fort:

„Wenn du Maxi schon länger kennen würdest und seine Entwicklung, bevor du in die WG gekommen bist, dann könntest du unsere Bedenken teilen. Sicher, er hat eine Familie, die ihn unterstützt, aber auch sehr viel erwartet. Oft ist er an dieser Erwartung gescheitert. Er konnte selten die Leistung zeigen, die ihm möglich ist. Seit dem Zeitpunkt, als du ihn einfach akzeptiert hast und ihm Verantwortung gegeben hast, bringt er konstant Leistung und kann auch für die anderen positive Dinge einbringen. Er ist ein guter Teamplayer geworden.“

„Hm, und was stellt ihr euch jetzt vor? Wie soll das aus eurer Sicht gehen?“

Erstaunt musste ich feststellen, dass meine Arbeit gesehen, anerkannt und auch akzeptiert worden ist. Sollte ich mit meinen Ideen und Vorstellungen von Jugendarbeit unterstützt werden, könnte das sogar gehen. Allerdings nicht als Vollzeittrainer. Meinen jetzigen Beruf wollte ich noch nicht komplett aufgeben.

Thorsten holte einen DIN A 4 Umschlag aus seiner Aktentasche und legte diesen auf den Tisch.

„Also gut“, sagte Thorsten jetzt, „ du sollst drei Mal in der Woche beim Training anwesend sein und mit ihnen strategisch arbeiten. Auch auf dem Platz natürlich. Das bedeutet, die anderen Tage trainieren sie so wie jetzt auch. Thomas soll das weiterhin machen, aber du sollst die Trainingspläne und Ziele mit ihm abstimmen und du sollst die Verantwortung haben. Im Zweifel entscheidest du, wie Thomas mit den Jungs arbeiten soll. Sämtliche Turnierbetreuungen der drei Jungs werden ab sofort von dir geplant und durchgeführt. Du kannst frei entscheiden, wie du mit ihnen arbeiten möchtest. Alles Weitere bleibt wie gehabt.“

„Was ist damit gemeint? Alles Weitere bleibt wie gehabt?“

„Naja, die Bedingungen für die Schule und das Teambuilding.“

„Ah ja, gut. Damit kann ich leben. Nur, wie ist das mit Jan? Er ist ja Teamchef. Kann er dann in meine Arbeit eingreifen und mir vorschreiben, was ich tun soll?“

„Nein“, das kam spontan von Christian.

Jetzt war ich überrascht und schaute entsprechend Christian an.

„Du bist genauso gleichberechtigt wie alle anderen. Es gibt Teambesprechungen, in denen besprochen wird, wenn Probleme auftreten. Es wird immer eine gemeinsame Lösung geben. Das hat uns bislang so erfolgreich gemacht. Bei dir sehe ich da überhaupt kein Problem. Eher im Gegenteil, wir können von dir profitieren. Deine Erfahrungen im mentalen Bereich sind enorm wichtig.“

„Ok, es gibt aber noch ein weiteres Problem zu klären. Ich werde meinen jetzigen Beruf noch nicht komplett aufgeben wollen und können. Ich habe mit meinem Arbeitgeber geklärt, dass ich für ein halbes Jahr nur eine halbe Stelle haben kann. Danach muss eine Entscheidung getroffen werden. Ich habe zwei Familien in der Betreuung, die ich nicht einfach so abgeben kann.“

„Kein Problem“, erwiderte Thorsten sofort.

„Gut, ich finde das alles sehr interessant und da ich ja bereits von den Jungs weiß, dass sie das so wollen, könnte ich mir das vorstellen. Wie ist das mit der Vergütung? Jetzt habe ich ja eine Honorarvereinbarung.“

„Ja, du bekommst ein Grundgehalt wie alle Coaches und hinzu kommen die Prämien und andere Vergünstigungen. Du bekommst einen Teamwagen und ferner werden sämtliche Aufwendungen, die du für das Team hast, erstattet. Also Spesen, Übernachtungen und Fahrtkosten. Selbstverständlich bekommst du einen Ausrüstervertrag unseres Hauptsponsors. Das heißt im Klartext, du wirst deutlich besser bezahlt werden, als bisher. Wobei ich bei dir genau weiß, dass das Geld für dich nicht ausschlaggebend ist.“

Mit großen Augen schaute ich ihn an.

„Woher weißt du das?“

„Ganz einfach, ich habe deine Abrechnungen gesehen und weiß, wie viel du von deiner Zeit nicht aufgeschrieben hast. Deshalb sollst du jetzt auch einen regulären Vertrag bekommen. Wer hart arbeitet, soll entsprechend entlohnt werden.“

Das kam so bestimmend rüber, dass ich nicht widersprechen wollte. Er nahm den Umschlag und gab ihn mir.

„Da ist der Vertrag drin, mit allen Details. Sollten Fragen sein, kannst du uns immer anrufen. Wie schaut es aus? Kannst du dir das vorstellen?“

Ich musste nicht mehr lange überlegen und willigte ein. Damit war ich nun offiziell ein vollwertiges Mitglied des Break-Point-Teams.

Nebenbei gesagt, hatten wir noch ein exzellentes Essen genossen und ich verabschiedete mich bis zum Donnerstag zum ersten regulären Training auf dem Platz. Thorsten wollte sich bis dahin darum kümmern, dass ich die komplette Ausstattung erhalte. Inklusive des Teamfahrzeuges. Dadurch sparte ich auch sowohl die Kosten für Benzin als auch laufende Kosten für meinen PKW. Da ich den BMW Touring auch privat nutzen durfte wurde damit mein PKW überflüssig.

Dustin: Stress mit dem Jugendamt wegen der Eltern

Das Turnier war ein großer Erfolg und entsprechend herrschte die ersten Tage der neuen Woche eine gute Stimmung. Leider war der Besuch von Fynns Mutter für mich nicht immer so einfach. Er machte mir bewusst, dass ich allein war. Mein Freund konnte mir halt nicht alles ersetzen. Der Erfolg half ein wenig über die traurigen Tage hinweg. Am kommenden Wochenende wollte ich mit Fynn und seiner Mutter zu seinem Vater in die Klinik fahren. Das machte mich nervös, denn ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde.

Mir war aber auch klar, dass es für meinen Freund noch viel stressiger sein musste. Am heutigen Donnerstag hatten wir wieder unser erstes richtiges Training auf dem Platz nach dem Turnier. Montag und Dienstag waren komplett trainingsfrei und wir konnten diese Zeit für uns nutzen. Endlich mal Zeit nur für uns. Gestern war nur am Nachmittag Konditions- und Fitnesstraining. Heute ging es wieder normal weiter.

In der Schule lief es für mich ganz gut. Meine Noten waren in Ordnung. Fynn war natürlich besser als ich. Er hatte aber noch nicht einmal ein kritisches Wort darüber verloren. Im Gegenteil, er half mir immer, wo er konnte. Insbesondere bei den Sprachen hatte ich meine Probleme. Ich hatte noch große Lücken bei Vokabeln.

Ebenfalls sehr positiv hatte sich unsere Position in unseren Klassen verbessert. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, dass wir recht gut im Tennis waren. Dass wir schwul sind, wussten mittlerweile alle in meiner Klasse. Bei Fynn war es ähnlich. Es gab nur ein paar wenige Deppen, die damit Probleme hatten. Erstaunlicherweise gab es seit diesen Tagen sogar einige Jungs in der Klasse, die sich ernsthaft bemühten, mit mir eine Freundschaft aufzubauen.

Bis zum nächsten Turnier hatten wir jetzt zwei Wochen Zeit. In dieser Zeit wollten wir unser Spiel weiterentwickeln. Ich hatte Thomas gebeten, mit mir an meinen Volleys zu arbeiten. Ich war zu defensiv auf dem Platz. Und meinen Aufschlag wollte ich ebenso noch verbessern. Mir war der nicht schnell genug.

Fynn wollte seine Grundschläge verbessern. Wobei verbessern relativ war. Es ging mehr um die Grundgeschwindigkeit. Er wollte mehr Druck aufbauen können. Das würde mir sicher sehr schwer fallen, weil mir die Athletik dafür noch fehlte. Deshalb hatte ich nicht ganz verstanden, warum Thomas nach dem Turnier nicht auf meinen Wunsch eingegangen war, dort mehr zu investieren. Er hat mir gesagt, ich solle doch bitte noch eine Woche warten. Warum ich noch warten sollte, hatte er allerdings nicht gesagt.

„Dustin, kannst du bitte mal hoch kommen? Ich habe ein Problem.“

Das war Carlos Stimme, die durch das Treppenhaus tönte. Fynn war noch nicht aus der Schule zurück und ich war dabei, unser Mittagessen mit vorzubereiten. Einer von uns half immer beim Kochen. Wer als erster aus der Schule kam, durfte helfen. Das verteilte sich gut, da manchmal Maxi früher Schluss hatte und manchmal einer von uns beiden.

„Sag Carlo doch bitte, er soll herunterkommen. Wir müssen das Essen fertig bekommen.“

Martinas Einwand war berechtigt. Auch sollte er sich langsam abgewöhnen, dass wir zu ihm kommen sollten. Ich öffnete die Küchentür und rief nach oben:

„Kann grad nicht. Komm doch in die Küche. Wir sind am Essen vorbereiten.“

Einige Augenblicke später stand Carlo mit einem Heft in der Hand in der Tür.

„Ich habe eine Aufgabe in Mathe, die ich nicht hinbekomme. Ich kriege immer ein falsches Ergebnis heraus.“

Ich legte mein Küchenmesser an die Seite, wischte mir dir Hände ab und nahm sein Heft. Ich schaute mir an, was sie gerade für ein Thema hatten. Gleichungen. Das konnte ich ganz gut. Ich sah mir seine unterschiedlichen Rechnungen an und konnte schon erkennen, was für ein Problem er hatte.

„Du kennst aber die Regeln der Vorzeichen?“

„Klar, minus mal minus, plus mal minus. Das meinst du doch, oder?“

„Richtig, wenn du sie kennst, warum wendest du sie dann nicht an?“

„Aber da steht doch kein mal zwischen den minus Zeichen.“

Na klasse, er hatte das noch gar nicht verstanden. Hm, wie sollte ich ihm das hier in zwei Minuten erklären?

„Das ist jetzt schwierig zu erklären. Wenn ich hier fertig bin, komme ich zu dir hoch. Dann erkläre ich dir das in Ruhe, ok?“

„Eigentlich ja, aber ich habe gleich Training. Das wird knapp mit der Zeit. Wie lange brauchst du hier noch?“

Martina drehte sich vom Herd zu uns um.

„Hilf doch Dustin hier und er kann dir gleich helfen. Dann seid ihr schneller fertig.“

Carlo legte sofort sein Heft an die Seite und half uns. So waren wir zügig fertig und Martina entließ mich aus der Küche, um Carlo bei Mathe zu helfen.

„Falls Fynn mich sucht, ich bin dann bei Carlo.“

Martina lächelte, nickte und antwortete: „Klar, ich werde dafür sorgen, dass er sich um dich keine Sorgen machen muss.“

Das führte wiederum bei Carlo zu einem Lacher. Mir war das etwas unangenehm, aber ich wusste auch, dass sie es nicht so meinten. Es gelang mir dann durch geduldiges Erklären, sein Problem zu lösen. Anschließend war Carlo richtig erleichtert.

„Danke Dustin, wenn mein Lehrer mir das so erklärt hätte, könnte ich das auch verstehen.“

„Kein Problem. Das kenne ich auch. So hat mir Chris auch schon einiges erklärt.“

„Da fällt mir ein, weißt du schon das Neueste von Chris?“

Ich war jetzt neugierig. Wieso wusste Carlo mehr als wir?

„Äh, nein. Aber woher weißt du mehr als wir?“

„Ist doch einfach, ihr hattet ja zwei Tage frei. Thomas hat uns gestern erzählt, dass ihr ab sofort einen neuen Trainer bekommt und rate mal, wer das ist.“

„Echt? Hat sich Thorsten mit Chris unterhalten?“

„Keine Ahnung, aber Chris ist nun für euch zuständig und nicht mehr Thomas.“

Wow, das ging jetzt aber flott. Das würde sicher auch bei Fynn Freude auslösen. Mit Thomas hatten wir beide hin und wieder unsere Schwierigkeiten. Er war sicher ein guter Trainer, aber er war uns längst nicht so sympathisch wie Chris. Hoffentlich hatte Carlo das nicht falsch verstanden.

„So, sorry Dustin, aber Tim kommt gleich und holt mich zum Training ab. Wir müssen pünktlich los, sonst müssen wir wieder extra Runden laufen.“

„Kein Problem, wir sehen uns bestimmt nachher auf der Anlage. Wir haben auch noch Training.“

„Danke nochmal für deine Hilfe.“

Ich gab ihm die Hand und ging wieder nach unten. In unserem Appartement saß Fynn bereits auf der Couch und hatte seinen Laptop vor sich stehen. Er las irgendetwas sehr konzentriert. Als er mich bemerkte, stand er sofort auf und begrüßte mich mit einer Umarmung und einem Kuss.

„Hallo Schatz, hast du heute die Aufgabe gehabt, oben zu helfen?“, fragte er mich mit einem Grinsen.

„Ja, du kennst das ja auch. Aber ist doch kein Problem. Ich finde es gut, wenn sie uns fragen. Besser so, als wenn sie in der Schule Probleme bekommen.“

„Auf jeden Fall. Ich helfe auch gern. Uns wird ja ebenso geholfen. Also passt das schon. Hast du schon gegessen?“

„Nein, wir wollen zusammen essen. Maxi müsste auch gleich aus der Schule kommen meinte Martina vorhin.“

„Das ist schön. Ich habe dich in der Schule vermisst. Es ist komisch, kaum bist du nach Hause, denke ich oft an dich.“

Ich musste schmunzeln, denn mir ging es da nicht anders. Deshalb umarmte ich meinen Freund und gab ihm einen liebevollen Kuss. Es war wunderschön ihn zu spüren und festzuhalten. Dabei hatten wir aber nicht bemerkt, dass Maxi schon zu uns gekommen war. Er wollte uns nur zum Essen holen.

„Äh, ich störe ungern, aber das Essen ist fertig.“

Wir trennten uns schnell und Fynn hatte sogar eine rote Gesichtsfarbe bekommen. Ich fand das überhaupt nicht mehr peinlich.

„Kein Problem. Wir kommen sofort.“

Maxi drehte sich um und ging schon vor. Fynn klappte den Laptop zu und dann gingen wir auch in die Küche zum Essen. Martina hatte wieder ein tolles Essen gemacht. Für mich war das immer mit einem Glücksgefühl verbunden, hier so gut aufgenommen worden zu sein. Manchmal vergaß ich sogar, dass ich eigentlich hierher geflüchtet war. An meinem Platz lag heute ein Brief, den Martina für mich bereitgelegt hatte. Sie erklärte:

„Dustin, da ist ein Brief für dich heute angekommen. Er ist vom Jugendamt. Du solltest ihn bitte vor dem Training lesen. Vielleicht ist das wichtig.“

Ich nahm den Brief und öffnete ihn sofort. Während ich las, stellten die anderen die leckeren Sachen auf den Tisch. Was ich dort zu lesen bekam, war leider nicht so erfreulich. Meine Eltern hatten beim Jugendamt Beschwerde eingelegt und ich sollte jetzt erneut zu einer Aussage erscheinen. Sie wollten unbedingt das Sorgerecht zurück. Obwohl ich das nicht wollte, begannen meine Hände zu zittern. Fynn hatte es bemerkt und nahm mir den Brief aus der Hand, legte ihn an die Seite und sagte:

„Hey, jetzt wird gegessen. Egal, was da drin steht. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden.“

Und erneut gab er mir einen Kuss. Vor den anderen am Tisch. Das war schon klasse, denn ich war augenblicklich von den negativen Gedanken abgelenkt.

Wir saßen noch einen Augenblick gemeinsam am Tisch und sprachen noch über die kommenden Tage. Da fiel Maxi etwas ein:

„Habt ihr eigentlich am kommenden Wochenende, also nicht jetzt, sondern das folgende, etwas vor?“

Ich schaute meinen Freund an und wir hatten beide keine besonderen Termine im Kopf. Also schüttelten wir beide den Kopf und verneinten.

„Das trifft sich gut. Ich möchte euch dann nämlich zu mir nach Hause einladen. Meine Eltern feiern Silberhochzeit und ich habe kaum Gleichaltrige in der Familie. Da hat mein Vater vorgeschlagen, dass ich euch doch einladen könnte. Habt ihr Lust?“

„Äh, wir kennen doch eure Familie gar nicht. Ob das so gut ist, ich weiß nicht.“

Fynn ging es genau wie mir. Ich war natürlich schon erfreut, dass Maxi uns einlud, aber bei einer Familienfeier?

„Doch, das wird bestimmt eine Gaudi. Meine Eltern kennt ihr ja schon, und mein Vater sagte noch, dass ihr wirklich gut zu mir passt und das bestimmt lustig werden würde.“

„Und wie sollen wir dorthin kommen?“

„Kein Problem, Dustin. Mein Vater holt mich an dem Freitag hier ab, dann nehmen wir euch mit und bringen euch auch am Sonntagabend wieder zurück.“

Fynn schaute zu mir und wieder hatten wir wohl den gleichen Gedanken.

„Und wo sollen wir schlafen? Habt ihr denn genug Platz?“

„Natürlich bei mir. Ihr seid ja meine Gäste. Also was meint ihr?“

Maxi war für uns ein echter Freund geworden und es fiel mir schwer, diese Einladung abzulehnen. Also sagten wir zu und Maxi schien sich unglaublich zu freuen. Leider war es für ihn jetzt Zeit, zum Training zu fahren.

Wir hatten noch eine Stunde Zeit und nutzen diese, um unsere Schulsachen zu erledigen. Leider kam mir dabei immer wieder der Gedanke an den Brief vom Jugendamt in den Sinn. Fynn hatte es natürlich bemerkt und irgendwie war er schon einen Schritt weiter.

„Du musst dir nicht so viele Gedanken machen. Du kannst das doch mit Herrn Hellweg und auch mit Chris besprechen. Lass dich doch beraten. Du glaubst doch nicht, dass Chris dich da allein hingehen lassen wird.“

Ich muss sehr verwundert ausgesehen haben, denn er kam zu mir, legte mir seine Hände um die Hüfte und seinen Kopf auf meine Schulter.

„Hab keine Angst, du wirst nicht allein gelassen. Sprich mit Chris. Er kennt sich doch viel besser damit aus. Soll ich ihn anrufen oder machst du das heute Abend?“

Ich wusste, dass ich jetzt verloren hatte. Mein Freund würde nicht locker lassen und das sicher auch tatsächlich machen. Also wäre es sicher besser, ich würde Chris selbst anrufen.

„Ok, ok, du hast ja recht. Ich rufe ihn nach unserem Training an. Training ist ein gutes Stichwort, wir sollten uns langsam mal auf den Weg machen. Thomas wird immer gleich fies, wenn einer zu spät kommt.“

Zustimmend nahm er sich seine Tasche und füllte sie mit den nötigen Sachen. Ich tat es Fynn gleich und somit waren wir wenige Minuten später unterwegs. An der Anlage angekommen, begrüßten wir die anderen Jungs. Wir wurden immer häufiger von den anderen sehr freundlich aufgenommen. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, wir seien die Neuen und auch die Spieler, mit denen wir nicht so oft zu tun hatten, akzeptierten uns. Niemand machte mehr ein komisches Gesicht, wenn wir uns mal einen Kuss gaben. Selbst die ganz jungen Spieler sahen uns nur als nette Vereinskollegen.

Heute gab es allerdings eine Besonderheit. Ich hatte gesehen, dass Thomas auf einem anderen Platz war. Maxi stand mit jemand anderem auf dem Platz zusammen. Da uns bisher niemand etwas gegenteiliges gesagt hatte, gingen wir zu Maxi an den Platz. Dort erkannten wir auch die andere Person und dies löste bei uns große Freude aus:

„Chris, was machst du denn hier? Seit wann machst du hier Training?“, fragte Fynn überrascht.

Chris begann zu grinsen und da wusste ich, es würde für uns eine Veränderung anstehen, die wir uns so sehr gewünscht hatten.

„Ich mache heute mein erstes Training hier. Und ihr seid diejenigen, die es aushalten müssen.“

Er klatschte uns zur Begrüßung ab und auch Maxi wusste schon Bescheid. So wie er aussah, hatte ihn Chris ordentlich gescheucht.

„Macht euch warm und dann möchte ich euch hier in zehn Minuten am Platz sehen. Maxi geht dann Aufschläge machen und zum Schluss machen wir noch zwei Stunden Matchtraining.“

Hoppla, das waren klare Ansagen, allerdings in keinster Weise aggressiv oder anders als wir es von Chris gewohnt waren. Fynn wollte es allerdings jetzt wissen.

„Sag mal, bist du jetzt unser Trainer? Also offiziell?“

„Ja, ich denk schon. Ihr habt es ja so gewollt, also müsst ihr jetzt damit klar kommen. Ihr hättet euch vorher überlegen müssen, worum ihr bittet. Jetzt habt ihr es bekommen.“

„Cool, das ist geil. Maxi, hast du das schon vorher gewusst?“

„Nein, nein. Ich war genauso überrascht, wie ihr jetzt. Aber ich finde es klasse. Chris wird das schon machen.“

„Aber nur, wenn ihr auch mitzieht. Ich kann euch zu nichts zwingen. Also lasst uns das Beste daraus machen. Los, quatschen können wir nachher noch.“

„Worauf du dich verlassen kannst. Das musst du uns noch erklären, wie das jetzt so schnell gekommen ist.“

Chris schubste meinen Freund und lachte. Ich nahm Fynn jetzt besser mit zum Warmmachen, sonst würden wir unsere erste Strafeinheit gleich beim ersten Training bekommen. Wir nahmen noch schnell unsere Sprungseile aus der Tasche und liefen los.

Nach zwei Runden um die Anlage, nahmen wir unsere Seile und begannen mit dem Seilspringen. Nach fünf weiteren Minuten lief bereits der Schweiß.

„So, dann lass uns mal schauen, was Chris so kann.“

Fynn schaute mich dabei todernst an. Ich war irritiert, was wollte er damit sagen?

„Man, Dustin. Keine Angst, ich freu mich genauso wie du, dass Chris jetzt offiziell für uns verantwortlich ist. Ich bin dennoch gespannt, was er anders machen wird.“

Wir gingen zurück an den Platz, wo Maxi sich gerade den Balleimer genommen hatte, um auf dem Nebenplatz Aufschläge zu trainieren.

„So, einmal im T-Feld beginnen und dann langsam nach hinten an die Grundlinie. Rhythmus finden und Tempo erst steigern, wenn ihr euch gut fühlt. Ihr bekommt nur einen Ball. Also wenn ihr nicht ständig hinterherlaufen wollte, konzentriert euch.“

Holla, das ging ja ganz anders los, als sonst bei Thomas. Ich versuchte mich auf die neue Situation einzulassen, dennoch machte ich viele leichte Fehler. Jedes Mal, wenn ich besonders genau spielen wollte, wurde es noch schlechter. Entsprechend oft musste ich den Ball aus dem Netz holen.

Chris blieb die ganze Zeit am Netz stehen und beobachtete uns schweigend. Erst nach einigen Minuten stellte er sich hinter Fynn und redete mit ihm so leise, dass ich es nicht hören konnte. Es schien so, als ob Chris meinem Freund Anweisungen gab, wie er die Bälle zu spielen hatte. Das verunsicherte mich immer mehr. So besch… hatte ich mich schon lange nicht mehr auf dem Platz gefühlt.

„Stopp, wir treffen uns vorne am Netz.“

Na toll, das fing ja gut an mit Chris. Jetzt hatten wir endlich unseren Wunschtrainer und ich traf keinen Ball. Chris blieb am Netz stehen, Fynn holte sich seine Wasserflasche und kam dann ans Netz. Chris wartete noch einen Moment und holte dann tief Luft.

„Sag mal, Dustin, was treibst du hier? Die Aufgabe war, den Ball einfach locker hin und her zu spielen. Das können die zehnjährigen besser als du heute. Was ist los?“

Mir wurde richtig heiß und ich konnte ihn verstehen. Es war unterirdisch schlecht, was ich hier bislang gezeigt hatte.

„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren und je mehr ich versuche, den Ball so zu spielen, wie ich das soll, desto schlechter klappt das.“

Chris kniff kurz die Augen zusammen, überlegte und begann zu lachen. Einfach so. Was sollte das denn? Lachte er mich aus?

„Sorry, Dustin. Ich wollte dich nicht auslachen, aber mir ist gerade eine Idee gekommen. Du hörst jetzt sofort auf, etwas Besonderes spielen zu wollen. Du spielst einfach den Ball zu Fynn. Mehr nicht. Ohne zu denken, einfach spielen.“

Er hatte es gesagt und verließ wortlos den Platz. Jetzt schaute mich Fynn grinsend an und forderte mich auf.

„Los, jetzt spielen wir einfach Tennis. Chris kommt sicher gleich zurück. Dann zeigen wir ihm, dass du nichts verlernt hast.“

Augenzwinkernd ging er an die Grundlinie und ich nahm mir meinen Schläger und wir fingen an, uns die Bälle locker zuzuspielen. Innerhalb kürzester Zeit spielte ich wieder genauso präzise wie Fynn und wir hatten schnell unseren Rhythmus gefunden. Wir konnten das Tempo steigern und es begann, wieder richtig Spaß zu machen. Von Chris war nichts zu sehen. Plötzlich fegte ein schriller Pfiff über den Platz und wir zuckten beide zusammen. Chris stand hinter einem Baum und lachte sich halb tot. Er kam wieder auf den Platz und bat uns vorne zusammenzukommen. Ich hatte so ein Gefühl, dass er uns die ganze Zeit beobachtet hatte.

„So, das sah doch gleich viel besser aus. So kenne ich euch. Dustin, mach dir nicht so viel Druck. Du musst locker bleiben. Du solltest langsam wissen, was du kannst. Mach es einfach und denk nicht so viel.“

Es war erstaunlich, mit welch einfachen Dingen Chris mir eine Hilfestellung gegeben hatte. Er hatte mein Problem erkannt und einfach die Situation verändert. Das war für mich allerdings nicht befriedigend.

„Das mag ja stimmen und du hast mir geholfen, indem du weggegangen bist und ich wieder nur spielen konnte. In einem Match kann ich aber die Bedingungen nicht ändern, sondern muss mein Verhalten ändern. Das ist viel schwieriger.“

Wieder lächelte Chris. Thomas wäre jetzt schon wieder ungeduldig geworden.

„Richtig erkannt. Das ist viel schwieriger. Allerdings kannst du das nur lernen, wenn dir bewusst ist, dass es ein Kopfproblem ist und nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun hat. Du musst dir Möglichkeiten erarbeiten, dich in solchen Situationen anders verhalten zu können. Daran werden wir arbeiten.“

Fynn schaute überrascht und wir hatten beide den gleichen Gedanken. Er sprach ihn jedoch aus.

„So habe ich das noch nie gesehen. Es hat uns auch noch nie jemand so erklärt. Du meinst also, wenn es uns gelingt, die Gedanken positiv zu bündeln und auf jede Situation anzupassen, dann werden wir weniger oft in Panik verfallen?“

„Du hast es erfasst. Je stabiler und selbstbewusster ihr auf dem Platz agieren könnt, ohne Einflüsse von außen, desto stärker wird euer Spiel. Ihr könnt mittlerweile jeden Ball spielen. Jetzt müsst ihr nur noch erlernen, wann ihr welchen Ball spielt. Und ganz einfach gesagt, hört auf, euch unter Druck zu setzen und glaubt an eure Fähigkeiten. Verlasst euch darauf, dass wir euch keine Aufgaben stellen, die ihr nicht bewältigen könnt.“

Das wirkte bei mir nach. Ich hatte begriffen, dass ich mehr gegen mich kämpfte, als gegen irgendetwas anderes.

„Das ist aber nicht leicht, wenn du in einem harten Match bist und du nicht daran denken darfst, dass du verlieren könntest.“

„Einfach kann jeder und deshalb gibt es ja auch nicht so viele richtig gute Spieler. Ihr müsst wissen, in eurer Spielstärke kann jeder Tennisspielen. Der Sieg kommt über den Kopf und an dieser Stelle zitiere ich Jan immer gern. Tennisspielen ist wie Schachspielen, es wird im Kopf gewonnen.“

Damit beendete er unsere Zusammenkunft und gab eine neue Anweisung aus. So ging das noch etwa eine Stunde. Es machte unheimlich Spaß, mit Chris zu arbeiten. Immer wieder gab es etwas zu lachen und er sparte auch nicht mit Lob. Das war etwas völlig Neues für uns. Thomas lobte so gut wie nie beim Training. Das hieß aber nicht, dass uns Chris nicht forderte. Ich war jedenfalls nach dieser ersten Stunde schon ganz schön geschafft. Fynn war auch komplett durchgeschwitzt.

„Kurze Pause“, rief Chris über den Platz.

Wir hatten überhaupt nicht bemerkt, dass Maxi schon bei uns am Platz stand. Chris hatte sich bereits mit ihm unterhalten und erklärt, was jetzt anstand. Fynn und ich setzten uns auf die Bank, holten unsere Getränkeflaschen heraus und lehnten uns zurück. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und driftete mit den Gedanken weg. Leider bemerkte mein Freund das natürlich sofort.

„Hey, wo bist du denn gerade? Sag jetzt nicht bei dem Brief von heute Mittag?“

Ich zuckte zusammen. Wie ein ertappter Sünder nickte ich wortlos. Chris hatte Fynns Frage natürlich mitbekommen und schaute zu uns herüber. Fynn legte seinen Arm um mich und flüsterte mir ins Ohr:

„Du bist dumm. Lass es doch einfach. Damit musst du dich nicht allein beschäftigen.“

Chris kam und stellte sich vor uns.

„Was für einen Brief denn? Von deinen Eltern? Oder um was geht es?“

Ich schüttelte den Kopf und wusste, jetzt wollte Chris eine Antwort und Fynn hatte gewonnen. Sehr geschickt hatte er das eingefädelt.

„Nein, ein Brief vom Jugendamt. Meine Eltern wollen das Sorgerecht zurück und ich soll dort aussagen.“

Chris blieb äußerlich sehr gelassen, aber an seiner Stimme konnte ich spüren, dass er sehr ärgerlich war.

„Jugendamt? Was wollen die denn von dir? Herr Hellweg ist doch für dich zuständig. Hat er nicht mit dir gesprochen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, niemand hat sich bei mir gemeldet. Der Brief kam heute an und ehrlich gesagt beunruhigt mich das.“

„Kann ich verstehen. Allerdings hatten wir doch eine Vereinbarung oder nicht? Du solltest mich informieren, falls es Neuigkeiten gibt. Ich möchte den Brief gerne lesen. Kannst du den bitte morgen zum Training mitbringen?“

„Ich bin morgen nicht beim Training. Wir fahren doch in die Klinik zu Fynns Vater. Wir sind das ganze Wochenende dort.“

Chris verdrehte die Augen und reagierte jetzt wieder viel entspannter.

„Oh, man. Ich werde wohl alt. Natürlich. Gut, dann lese ich den am Montag. Ich werde euch Montagabend in der WG besuchen. Nach dem Training. Dann können wir in Ruhe über alles sprechen.“

Es war einfach klasse. Chris ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Jedenfalls äußerlich nicht. Jetzt brachte er uns ganz schnell wieder zum Tennis. Er erklärte uns die nächste Aufgabe und entsprechend anstrengend wurde das Ganze noch.

Neunzig Minuten später stand ich mit Maxi und Fynn unter der Dusche. Das erste echte Training mit Chris war vorüber und ich war sehr zufrieden. Das heiße Wasser tat mir sehr gut. Maxi fragte unter der Dusche:

„Und wie hat es euch gefallen? Ich fand es um Welten besser, als bei Thomas. Einfach klasse, wie Chris einem Dinge erklären kann.“

„Das stimmt allerdings. Ich habe heute eine Menge über die Psyche gelernt. Warum hat uns das vorher noch nie jemand so ausführlich erklärt? So macht das ganze richtig Spaß.“, antwortete Fynn.

Ich verließ den heißen Wasserstrahl der Dusche und nahm mir mein Handtuch. Dem war nichts hinzuzufügen und ich freute mich auf einen ruhigen Abend mit meinem Freund. Leider hatte ich dabei etwas Wesentliches übersehen. Maxi gab den entscheidenden Hinweis.

„Ich freu mich jetzt auf die Physio und eine tolle Massage. Ihr auch?“

Wir schauten uns ziemlich verblüfft an.

„Warum? Haben wir etwas übersehen? Wir haben keine festen Termine bei der Physio.“

„Doch, habt ihr. Seit dem neuen Trainingsplan. Ihr habt die gleichen Termine, wie ich. Wir dürfen gleich noch zur Massage.“

Ok, das war uns neu. Nachdem ich mich abgetrocknet und angezogen hatte, nahm ich die Unterlagen aus der Tasche, die uns Thorsten gestern gegeben hatte. Als ich alles etwas genauer gelesen hatte, musste ich Maxi Recht geben. Wer lesen kann, ist deutlich im Vorteil.

Fynn: Das Wochenende rückt näher

Dass wir unseren Trainingsplan nicht richtig gelesen hatten, ärgerte mich gewaltig. Da bekamen wir die optimale Förderung und wir hätten das fast verpennt. Die Massage tat mir gut und es freute uns, dass wir in Zukunft regelmäßig damit unterstützt wurden.

Chris hatte uns nach der Einheit auf dem Platz noch erklärt, wie es dazu gekommen war, dass er jetzt tatsächlich unser verantwortlicher Coach war. Maxi begleitete uns auf dem Weg nach Hause.

Dustin hatte bereits die ganze Fahrt über geschwiegen. Ich konnte spüren, dass ihm dieser Brief doch mehr zu schaffen machte. Auch Chris konnte ihm die Angst nicht vollständig nehmen. Als wir bei uns im Wohnzimmer saßen und einen Teller Spaghetti aßen, sprach ich ihn darauf an.

„Warum bist du so still? Chris hat dir doch klar gesagt, dass du dir keine Sorgen machen musst. Er wird sich das am Montag ansehen und dann mit dir besprechen.“

„Ich weiß. Trotzdem habe ich Angst davor. Ich will nie wieder in die Fänge meines Vaters zurück. Allein diese Aktion zeigt doch, dass er immer noch nichts verstanden hat.“

Ich legte meine Hand auf seinen Oberschenkel und streichelte ihn. Sein Kopf drehte sich zu mir und dann fiel er mir um den Hals. Jetzt löste sich seine Anspannung und wir hatten endlich wieder Zeit für uns und unsere Gefühle füreinander.

Als wir uns wieder beruhigt und angezogen hatten, ließen wir den Abend mit ein wenig Fernsehgucken ausklingen. Im Bett wagte Dustin einen vorsichtigen Versuch, mich auf das Wochenende anzusprechen.

„Bist du eigentlich gar nicht aufgeregt? Du wirst doch auf deinen Vater treffen, der dir jahrelang wehgetan hat.“

Diese Frage hatte ich schon viel früher erwartet.

„Ganz ehrlich, ich bin schon aufgeregt. Aber ich bin nicht mehr allein. Ich habe Freunde, die zu mir halten und mich unterstützen. Das gibt mir die Kraft, mein Leben zu leben wie ich es will. Und außerdem gehe ich nicht allein. Du bist an meiner Seite und was für mich ganz wichtig ist, er hat darum gebeten, dass ich ihn besuche. Das ist für mich ein ganz großer Unterschied.“

„Glaubst du, dein Vater wird sich ändern und ihr werdet wieder zusammenkommen? Was ist dann mit mir? Ich kann ja nicht einfach bei euch einziehen.“

Jetzt musste ich doch lachen. Hatte mein Freund ernsthaft geglaubt, ich würde sofort wieder nach Hause gehen?

„So ein Unsinn. Ich werde garantiert nicht wieder zu Hause einziehen. Jetzt haben wir hier die Möglichkeit unseren Traum zu leben. Außerdem werde ich nicht mehr allein irgendwohin gehen. Du bist an meiner Seite. Wir sind nur noch im Doppelpack zu haben.“

Dann gab ich meinem Freund einen Kuss und er kuschelte sich eng an mich. Wir redeten noch ein wenig über das Wochenende und was ich mir vorgenommen hatte. Allerdings war unsere Müdigkeit bald so groß, dass wir einfach einschliefen.

Die Schule verlief recht ruhig für mich. Dustin musste eine Arbeit schreiben und wir hatten vereinbart, dass ich auf ihn warte. Ich hatte eine Stunde weniger als er und hatte die Stunde genutzt, meine Aufgaben schon zu machen. Somit hatte ich das gesamte Wochenende für meine Familie.

Treffpunkt war die große Linde auf dem Schulhof. Dort saß ich jetzt und hatte mein Tablet auf dem Schoß liegen. Ich surfte ein wenig im Internet und sah mir unsere nächsten Turniere an. Es gab dafür ein Internetportal wo alle Veranstalter ihre Turniere einstellen konnten und die Teilnehmer ihre Meldungen online abgaben.

„Hi Fynn, hast du wieder nichts anderes als Tennis im Kopf?“

Ich zuckte zusammen. Da hatte sich jemand neben mich gesetzt und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Den Kopf zur Seite drehend, schaute ich in ein grinsendes Gesicht. Tim hatte sich zu mir gesetzt.

„Ach, hi Tim. Ja, ich warte auf Dustin. Da habe ich schnell unsere nächsten Turniere angeschaut. Spielst du dieses Wochenende? Oder hast du frei?“

„Ich spiele mit unserer U15 in der Westfalenliga. Wir müssen morgen nach Dortmund. Und ihr?“

Stimmt, ich hatte die Mannschaftsspiele völlig vergessen. Da wurden wir auch gebraucht. Ich hatte nicht einmal die Termine dafür im Kopf.

„Wir spielen dieses Wochenende gar nicht. Ich fahre mit Dustin und meiner Mutter zu meinem Vater. Er ist ja in der Klinik.“

„Oh, ich wusste gar nicht, dass dein Vater krank ist. Etwas Ernstes?“

Ich hatte es geahnt. Was sollte ich antworten? Tim würde sich eh nicht mit einer Lüge zufrieden geben. Er war einfach zu neugierig.

„Er macht eine Entziehungskur. Er hat Alkoholprobleme. An diesem Wochenende findet das Familientreffen dort statt.“

Allerdings hatte ich jetzt damit gerechnet, dass er vielleicht eher auf Mitleid gehen würde, aber stattdessen kam von ihm:

„Wow, Respekt. Und du fährst da echt hin? Dein Vater war doch derjenige, weshalb du zu uns gekommen bist. Ich weiß nicht, ob ich das so einfach könnte.“

„Es ist auch nicht so einfach. Ich habe lange überlegt, aber er hat mir einen Brief geschrieben. Ich möchte ihm eine letzte Chance geben. Auch wegen Patrick.“

Tim nickte und er schien gut informiert zu sein über Alkoholismus.

„Gehst du dann wieder zurück, sollte er das schaffen? Ich fänd es schade, wenn du uns wieder verlassen würdest.“

„Auf keinen Fall. Ich bleibe ganz sicher bis zum Abitur hier. Keine Bange, außerdem würde ich dann auch mit Dustin Ärger bekommen. Wir fühlen uns hier wohl und jetzt haben wir auch einen eigenen Coach bekommen. Das wäre bescheuert, jetzt wieder zu gehen.“

„Ihr habt einen eigenen Coach? Wer ist denn ihr? Und wer macht das?“

„Maxi, Dustin und ich werden ab sofort von Chris betreut und trainiert. Hast du das noch nicht mitbekommen?“

Tim schüttelte den Kopf, freute sich aber für uns. Ich konnte erkennen, dass Dustin gerade aus dem Eingang auf den Schulhof kam. Tim hatte ihn auch gesehen und wollte sofort gehen.

„Hey, du musst nicht flüchten. Dustin beißt nicht.“

Er begann zu lachen und antwortete: „Ich weiß, aber ich will euch nicht stören, wenn er dich begrüßt. Nicht, dass er mich versehentlich auch küsst.“

„Wäre das so schlimm?“

Tim wurde rot, als Dustin das sagte, der mittlerweile bei uns angekommen war.

„Schatz du bist gemein. Bring Tim nicht so in Verlegenheit. Gib mir lieber den Kuss.“

„Ok, du hast mich überzeugt. Sorry Tim, du musst mit dem Kuss noch warten. Ich nehm lieber Fynn.“

Dann umarmte er mich und küsste mich kurz zur Begrüßung. Tim lachte und verabschiedete sich von uns, allerdings nicht ohne uns viel Erfolg zu wünschen. Das fand ich toll. Natürlich bekam er das von uns auch für das Mannschaftsspiel. Wir vereinbarten, dass er uns schreiben würde, wie es gelaufen ist.

„Los, komm. Mama kommt in einer Stunde. Wir müssen noch was essen und ich will mich noch umziehen.“

Dustin nickte und wir machten uns mit den Rädern auf den Weg nach Hause. Martina hatte unser Essen vorbereitet und wir mussten es nur noch warm machen. Sie war mit Alex einkaufen und hatte uns noch eine Nachricht auf den Tisch gelegt.

Ich beeilte mich mit dem Umziehen, während Dustin das Essen aufwärmte. Als ich am Tisch Platz nahm und mit dem Essen beginnen wollte, merkte ich zum ersten Mal meinen Magen. Ich wurde unruhig und nervös. Obwohl ich Hunger hatte, war der Appetit schlagartig verschwunden. Nur mühsam konnte ich ein paar Löffel essen. Dustin schaute mir einige Augenblicke zu und doch er hielt es nicht lange aus.

„Du bist nervös, oder?“

Ich nickte stumm. Mir war das unangenehm. Ich hatte so lange Zeit, mich auf diesen Tag vorzubereiten und dennoch kam jetzt die Anspannung und es fühlte sich gar nicht mehr so gut an.

Dustin legte sein Besteck an die Seite und setzte sich neben mich. Er legte seinen Arm um mich und drückte mich ganz vorsichtig.

„Hey, das wird schon. Ich bin bei dir und ich glaube, deine Mutter hätte uns nicht bestärkt, wenn sie Zweifel hätte. Dein Vater wird dir schon nichts tun. Jedenfalls ganz sicher nicht in der Klinik. Los, du musst noch ein bisschen was essen.“

Ich schaute ihm in die Augen und da war es wieder. Dieses Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Dustin hatte einfach gewonnen. Nur durch seine Nähe.

„Ja, du hast sicher wieder einmal recht. Ich bemühe mich ruhig zu bleiben. Hoffentlich wird sich Patrick gleich benehmen.“

„Hey, das ist nicht unsere Baustelle. Dafür sorgt deine Mutter. Außerdem glaube ich, dass Patrick genauso Hoffnung hat, dass ihr wieder zusammenfindet wie wir. Er wird sich schon benehmen. Vielleicht wäre es ja auch ganz gut, wenn er deinem Vater auch mal die Meinung ganz direkt an den Kopf wirft.“

Ich musste lachen, so wie Dustin das rübergebracht hatte, war es sehr komisch.

„Ok, ok, ich gebe mich geschlagen. Dann will ich jetzt mal meinen Teller leer essen, damit das kein Unglück bringt.“

„Braver Junge, bekommst auch eine Belohnung, wenn der Teller leer ist.“

Wieder dieses schelmische Grinsen. Dustin wurde in den letzten Wochen immer selbstbewusster und offener. Das gefiel mir immer besser. Manchmal lockte er mich sogar aus der Deckung. Als ich dann endlich mit dem Essen fertig war und die Teller in die Spülmaschine geräumt hatte, zog er mich in unser Appartement. Dort nutzte er die noch verbleibende Zeit, mich mit allen erdenklichen Liebkosungen zu verwöhnen. Wie gut, dass das niemand sonst mitbekommen hatte. Am hellichten Tage. Das war schon fast unanständig.

Leider war die Zeit dann doch sehr schnell gekommen, dass wir an die Straße mussten. Mama war sehr pünktlich und wir stiegen sofort ein. Die Begrüßung fand im Auto statt, denn wir waren etwas knapp mit der Zeit, weil auch Patrick noch lange Schule hatte.

„Hallo Mama, hi Patrick. Wie war die Woche bei euch?“

„Hallo ihr zwei. Bei uns war es etwas hektisch. Und ihr habt euren Erfolg gut verkraftet?“

Dustin grinste breit. Hoffentlich würde er jetzt nichts Falsches sagen.

„Ja, Frau Grehl. Wir haben gut gefeiert und es hat sich sogar noch etwas verändert. Wir haben jetzt ganz offiziell Chris als Trainer bekommen. Maxi, Fynn und ich trainieren jetzt gemeinsam bei Chris.“

„Ich nehme an, dass das euer Wunsch war. Chris kümmert sich auch wirklich viel um euch. Ich glaube nicht, dass alle Trainer so sind, wie er.“

„Ja, Mama. Da liegst du absolut richtig. Ich habe noch keinen anderen Trainer erlebt, der sich so für seine Spieler einsetzt. Ich sehe ihn eigentlich auch nicht nur als Trainer. Chris ist für mich, nein, für uns eigentlich ein Freund geworden.“

Patrick drehte sich nun nach hinten zu uns um. Er saß vorn, weil wir hinten zusammen sitzen konnten.

„Diesmal stimme ich euch zu. Chris ist wirklich sehr nett. Auch in Halle hat er mir viel erklärt und dass er mir erlaubt hatte, auch mal Tennis zu versuchen, war klasse.“

Nanu, dachte ich. Mein kleiner Bruder ganz freundlich heute. Das könnte meinetwegen so bleiben.

„Also hat dir das gefallen, mal auszuprobieren wie das geht?“, fragte Dustin nach.

Patrick nickte und antwortete: „Auf jeden Fall. Ich weiß jetzt auch, wie schwierig das ist. Aber ich würde gern noch einmal mit Tim und Carlo auf den Platz. Die beiden sind cool.“

Ich wusste jetzt, dass würde ich mit Chris besprechen und versuchen. Wenn ich meinem Bruder damit eine echte Freude machen konnte, sollte ich das machen. Dustin hatte meine Gedanken verstanden und reagierte gut.

„Ja, die beiden sind wirklich cool. Wir mögen sie auch gern. Wenn du magst, kannst du uns ja mal besuchen kommen. Vielleicht gibt es ja eine Chance, noch einmal auf den Platz zu gehen.“

„Ich glaube, da hätte mein Bruder was dagegen. Bislang haben wir uns ja mehr gestritten als verstanden.“

Er hatte das wirklich ernst gemeint. Ich hatte gerade Schwierigkeiten, meinen Bruder zu erkennen. Solche Aussagen kannte ich bislang nicht von ihm.

„Vielleicht ist es ja jetzt an der Zeit, daran etwas zu ändern. Würde doch ganz gut in die Sache passen.“

Ich drückte meinem Freund die Hand als Zustimmung. Ich konnte dazu nicht mehr viel sagen. Es war ein neues Gefühl, das ich für meinen Bruder empfand.

Glücklicherweise war die Fahrt jetzt zu Ende und ich hatte damit keine Gelegenheit mehr, darauf antworten zu müssen. Mama wusste hier schon sehr gut Bescheid und wir folgten ihr einfach zum Empfang. Dort mussten sich alle Besucher erst einmal anmelden.

Wir wurden von einem freundlichen jungen Mann begrüßt und er erklärte uns, dass wir gleich von einem Mitarbeiter zu unseren Gästequartieren gebracht würden. Danach fand für alle teilnehmenden Angehörigen eine gemeinsame Begrüßung statt. Patrick war erstaunlich still. Dustin und ich schauten uns in der Eingangshalle um. An den Wänden hingen selbstgemalte Bilder und Fotos. Wir vermuteten, dass sie sowohl von Patienten, als auch Kindern gemacht waren.

Unsere Unterkunft war einfach gehalten, aber sehr sauber und hell. Wir waren ja auch nicht zu einem Erholungsurlaub hier. Es gab eine kleine Teeküche mit einem Kühlschrank und ein kleiner Zweiplattenherd. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam mit den Patienten eingenommen. So sollten die Angehörigen auch ein wenig vom Therapiealltag erfahren.

Wir hatten unsere Taschen verstaut und Patrick und ich schauten in den Garten. Mama wollte sich noch schnell etwas anderes anziehen.

„Meinst du, Papa wird sich ändern und den Alkohol in Zukunft sein lassen?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe viel über Alkoholismus gelesen und da wird immer gesagt, es hängt ganz allein vom Willen der Kranken ab. Wenn jemand es wirklich will, wird er es schaffen können. Dann werden die Veränderungen sich positiv auswirken. Aber es müssen auch alle an den Veränderungen mitmachen. Es wird also nicht reichen, dass Papa sich nur allein ändert.“

„Aber er hat doch Schuld, er hat uns verprügelt und schlecht behandelt. Warum müssen wir uns dann ändern?“

Etwas genervt, überlegte ich, wie könnte ich ihm das am besten erklären. Da fiel mir ein, dass es ja gleich eine Begrüßungsveranstaltung geben würde.

„Vielleicht stellst du diese Fragen gleich, falls sie noch nicht beantwortet worden sind. Ich bin kein Therapeut. Ich weiß es auch nicht so wirklich.“

Damit gab sich mein kleiner Bruder erst einmal zufrieden. Mama schien auch sehr angespannt zu sein. Sie hatte sich umgezogen und ich konnte an ihrem Gesicht den Stress erkennen. Sie wusste scheinbar auch nicht, was uns erwarten würde.

Auf dem Weg in die Aula trafen wir auf viele andere Familien. Auch mit kleinen Kindern und mit älteren wie uns. Ich war sehr erstaunt, wie viele Familien es gab, denen es so ging wie uns. In der Aula standen Tische mit Stühlen. Ich hatte eher einen großen Raum erwartet wie bei uns an der Schule. Mit einer kleinen Bühne. Egal, wir schauten uns um und Patrick hatte als erster erkannt, dass auf den Tischen Karten standen.

„Mama, da stehen Namen auf den Karten. Vielleicht hat jede Familie einen eigenen Tisch.“

Sie lächelte und schickte Patrick los, um nach unserem Namen zu suchen. Es dauerte nicht lange, da stand er an einem großen runden Tisch mit zehn Stühlen.

„Kommt, wir gehen mal zu Patrick und setzen uns. Dann warten wir mal ab, was passiert.“

Ich wollte nicht so blöd im Raum herumstehen und mein Freund folgte mir auf dem Fuße. Mama schaute sich noch etwas um und kam dann auch zu uns an den Tisch. Wir hatten noch einen weiteren Namen auf unserer Karte und da erklärten sich auch die noch leeren Stühle. Es dauerte auch nicht lange und ein Mann mit zwei Jungs trat an unseren Tisch. Es folgte noch eine ältere Dame, bei der ich annahm, dass sie die Oma der Jungs sein könnte. Sie begrüßten uns freundlich und nahmen bei uns Platz. Was mich allerdings jetzt stutzen ließ, es waren immer noch zwei Stühle leer. Der Saal füllte sich schnell und schon nach wenigen Minuten wurden leise Gespräche geführt. Plötzlich ging eine Seitentür auf und drei Personen betraten den Raum. Zwei Männer und eine Frau.

„Ein herzliches Willkommen an Sie, liebe Angehörige. Ich darf mich kurz vorstellen.“

Einer der Männer hatte das gesagt und schlagartig wurde es still in dem großen Raum.

„Mein Name ist Siegfried Meiler und ich bin hier der Leiter der Klinik. An meiner Seite stehen Dr. Carolin Schönknecht und Thomas Büxten. Dr. Schönknecht ist die medizinische Leiterin und Thomas Büxten der therapeutische Leiter. Wir möchten Sie kurz über den weiteren Verlauf des Angehörigen Wochenendes informieren.“

Für Klinikleiter waren sie relativ jung. Vielleicht um die vierzig oder sogar jünger. Außerdem waren sie leger gekleidet, was in meinen Augen auch selten der Fall war. Ich hatte mir diese Leute immer anders vorgestellt. Herr Meiler fuhr jetzt mit seiner Begrüßung fort.

„Zuerst einmal möchte ich aus bestimmten Gründen die Familien in verschiedene Gruppen aufteilen. Das wird gleich Thomas bekanntgeben. Anschließend werden in diesen Gruppen Führungen stattfinden. Sie sollen die Klinik kennenlernen und wir werden ihnen alles zeigen. Nach der Führung finden kurze Einführungsgespräche statt. Gegen 19 Uhr werden sie sich hier wieder einfinden und gemeinsam das Abendessen einnehmen. Ich möchte jetzt das Wort an Thomas geben, der ihnen erklären wird, wann Sie ihre Angehörigen treffen werden.“

Es schien so zu sein, dass wir noch gar nicht auf meinen Vater treffen würden. Erst nach einem Gespräch würde das der Fall sein. Das gefiel mir gut. Vielleicht konnte ich so noch etwas über diese Therapie erfahren.

„Auch von mir ein herzliches Willkommen. Ich möchte kurz erläutern, warum Sie noch nicht sofort ihre Angehörigen treffen werden. Bei einigen Familien hat es schwere Zwischenfälle gegeben, bei denen auch Gewalt eine Rolle gespielt hat. Deshalb möchten wir zuerst alle einmal kennenlernen und auch von Ihnen wissen, was aus Ihrer Sicht für Probleme anstehen. Niemand soll sich hier unsicher oder in Gefahr fühlen. Wir möchten als Ziel ausgeben, dass alle wieder aufeinander zugehen können und an einer besseren Zukunft arbeiten. Denn eines muss ich hier sagen, der Patient allein wird nicht in der Lage sein, Ihre Situation in der Familie zu verändern. Das geht nur mit Ihnen gemeinsam. Wir freuen uns, dass auch sehr viele Kinder mitgekommen sind. Für euch bieten wir heute Abend eine besondere Gesprächsrunde an. Dort könnt ihr ohne Eltern mit den anderen Jugendlichen sprechen. Das wird begleitet von Werner Lahmeyer, er ist Kinder- und Jugendpsychologe und steht euch zur Verfügung für Fragen oder Probleme.“

Anschließend gab er die Aufteilung der Familien bekannt und bat darum, dass sich die jeweiligen Gruppen jeweils einem von ihnen anschlossen. Wir wurden zu Herrn Büxten eingeteilt und somit machten wir uns gemeinsam auf zum Treffpunkt. Patrick schien sehr beeindruckt zu sein, über diese genaue Vorbereitung.

„Ich finde das toll, dass wir nicht einfach auf Papa treffen und so tun müssen, dass alles in Ordnung ist.“

„Es ist ja auch nicht alles in Ordnung. In den anderen Familien hat es auch Probleme gegeben. Hier soll niemand das Gefühl haben, es ist alles wieder gut, nur weil euer Papa nicht mehr trinken will.“

Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, Mama hatte sich gut vorbereitet und dann erzählte sie uns, dass sie bereits seit Wochen in eine Selbsthilfegruppe gehen würde. Dort hätte sie viel über die Krankheit gelernt und auch Dustin schien, genau wie ich, sehr beeindruckt. Wir waren in unserer Gruppe drei Familien. In den anderen beiden Familien waren die Kinder alle in Patricks Alter oder sogar noch jünger. Auf dem Weg durch die Klinik sprach Thomas, wir sollten ihn mit Vornamen ansprechen, Dustin an.

„Du bist mit der Familie Grehl hier, aber auf der Anmeldung konnte ich sehen, dass du eigentlich nicht zur Familie gehörst. Wie bist du in die Familie integriert?“

Dustin schaute sich unsicher zu mir um und ich beschloss, ihm zur Seite zu stehen und ging zu ihm. Sichtlich erleichtert über meine Reaktion, antwortete er nun.

„Ja, das ist richtig. Ich bin der Freund von Fynn. Da ich selbst große Probleme in meiner Familie habe, bin ich dort aufgenommen worden. Deshalb hat mich Fynn gebeten, ihn zu begleiten.“

Thomas schaute ganz genau in unsere Gesichter, sagte aber nichts dazu.

„Was für Probleme waren das denn, dass du deine Familie verlassen hast?“

Dustin war das sehr unangenehm, so direkt auf diese Situation angesprochen zu werden. Ich wollte ihm helfen und mischte mich ein.

„Entschuldigung, aber mein Freund ist meinetwegen hier und nicht wegen seiner Geschichte. Vielleicht möchte er….“

Weiter kam ich nicht, weil ich von Thomas schroff unterbrochen wurde.

„Du bist gerade nicht gefragt. Dein Freund kann selbst für sich sprechen. Wenn ich deine Meinung möchte, frage ich dich direkt.“

Wow, was geht denn hier ab? Jetzt wurde Dustin aggressiv und genau das wollte ich vermeiden. Dustin ging sofort in den Angriffsmodus und griff Thomas verbal an. Thomas ging keinen Zentimeter zurück, sondern ließ Dustin sich austoben und erst dann drehte er sich zu mir um.

„Jetzt habe ich von Dustin die Antwort erhalten und nun kannst du etwas dazu sagen.“

Das unangenehme an dieser Lage war für mich, dass ja die anderen Familien dabei waren. Sie hatten Dustins Ausbruch mitbekommen. Ich war verunsichert, wie ich mich verhalten sollte.

„Ich finde es gerade sehr unangenehm. Dustin reagiert sonst nicht so. Aber Sie sind sehr ablehnend ihm gegenüber gewesen. Er ist meinetwegen mitgekommen, um mir zu helfen. Ich finde, er muss hier niemandem Rechenschaft geben. Er ist nur mein Freund. Er hat doch mit der Krankheit meines Vater gar nichts zu tun.“

Thomas blieb ganz ruhig und sein Gesicht war sehr konzentriert. Mama blieb die ganze Zeit im Hintergrund, aber Patrick war schon auf dem Sprung mir beizustehen. Mama hielt ihn aber zurück.

„Dustin ist nicht nur dein Freund. Er hat für dich eine besondere Funktion, sonst würdest du nicht sofort an seine Seite springen. Du brauchst Dustin hier nicht verteidigen. Niemand wird euch hier angreifen. Ihr seid nur beide sehr empfindlich geworden. Vielleicht auch misstrauisch. Ich habe nichts gegen Dustin. Ich möchte nur, dass ihr mit offenen Karten spielt und euch nicht versteckt. Es war ein kleiner Test und ich bin mir ganz sicher, Dustin und du, ihr habt eine besondere Beziehung zueinander.“

Dabei entspannte sich sein Gesicht und wir redeten jetzt wieder über den weiteren Verlauf und mit keinem Wort wurde diese Auseinandersetzung mehr erwähnt. Dustin ging die ganze Zeit wortlos neben mir her und als wir mit der Führung durch die Klinik fertig waren, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Seine Unruhe war spürbar. Ich legte ihm nahe, Thomas noch einmal anzusprechen. Er wollte aber nicht. Ich wollte aber Klärung.

„Thomas, ich möchte noch etwas geklärt haben. Dustin ist immer noch sehr aufgewühlt über deinen Angriff vorhin. Warum macht ihr das so? Was hat er verbrochen?“

Thomas stutzte und dann sagte er etwas für mich sehr erstaunliches.

„Fynn, warum musst du für ihn sprechen. Er ist kein kleines Kind mehr.“

Danach wandte er sich Dustin zu und sprach ihn direkt an.

„Du musst lernen, für deine Belange selbst zu sprechen. Niemand wird dir hier ausweichen oder dir übel nehmen, wenn du etwas fragen möchtest oder vielleicht etwas erzählen willst. Fynns Mutter hat mich aber vorab informiert, dass Fynn immer für dich den Beschützer spielt. Vielleicht kommst du aus deinem Versteck und erzählst mir einfach mal, warum du wirklich mitgekommen bist? Ich möchte nur, dass ihr gleich mitbekommt, hier wird jede Lüge sofort bestraft. Wir spüren, wenn die Patienten uns etwas erzählen, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Komischerweise kommt Dustin gar nicht in den Erzählungen deines Vaters vor. Ich möchte einfach wissen, was die Wahrheit ist.“

Diese Offenheit gefiel mir sehr gut. Er hatte uns gezeigt, wie hier die Regeln waren. Also konnten wir jetzt entscheiden, ob wir mitspielen wollten oder nicht. Ich entschied mich mitzuspielen und gleich in die Offensive zu gehen.

„Wenn du die Wahrheit wirklich wissen möchtest, können wir uns vielleicht mal zu dritt unterhalten. Nur Dustin, du und ich?“

„Siehst du, so gefällt mir das viel besser. Ihr sollt lernen, klar zu formulieren, was ihr möchtet. Also in einer Viertelstunde in meinem Besprechungszimmer. Da können wir ungestört reden.“

Er sagte uns noch, wo das Zimmer lag und dann war die Führung auch beendet. Dustin war immer noch aufgewühlt und gar nicht begeistert von meinem Vorpreschen. Ich machte ihm aber klar, dass ich keine Versteckspiele mehr wollte. Nachdem wir uns ausgesprochen hatten, verstand er meine Intention und willigte ein. Wir wollten in dem Gespräch unsere Position klar und deutlich vertreten. Mir war bewusst geworden, dass unsere Beziehung ein zentraler Punkt war, ob ich mit meinem Vater wieder näher zusammen sein wollte oder nicht. Wenn wir dabei Unterstützung von der Klinik wollten, mussten wir offen sagen, was los ist. Das hatte auch Dustin dann verstanden.

Dustin hatte zwar gesagt, dass er meine Gedanken verstanden habe, allerdings wurde er immer nervöser und verkrampfter, je näher wir diesem Gespräch kamen. Und wir hatten ja immer noch nicht meinen Vater gesehen. Allerdings hatte Mama uns gesagt, dass das von der Klinik bewusst so gesteuert würde. Die Situation bei uns war halt nicht ganz so einfach. Da wollten sie ganz sicher sein, dass es keine heftige Auseinandersetzung geben würde.

Wir standen vor dem Raum, wo wir uns mit Thomas treffen wollten. Dustin ließ sich von mir nicht mehr beruhigen und ich versuchte es auch gar nicht mehr. Einen nervösen Tiger zu beruhigen war nicht meine Stärke. Thomas kam pünktlich und erstaunlicherweise hatte sich seine Stimmung total verändert. Er lächelte und lotste uns locker in die Sitzgruppe. Sogar kalte Getränke standen bereit und ein paar Gummibären.

„So ihr zwei, bevor Dustin mich gleich umbringt, ich bin nicht euer Feind. Oder vielleicht sollte ich sagen, ich bin nicht der Freund eures Vaters. Ich möchte nur, dass alles ausgesprochen wird, was zwischen euch steht. Fynn, du hast dieses Gespräch gefordert, also fang doch einfach mal an was dich bewegt. Weshalb wolltest du dieses Gespräch.“

Dustin schaute mich ängstlich an. Ich fühlte mich gut und sicher. Ich wusste sehr genau, was ich hier wollte. Entsprechend sicher erzählte ich Thomas von den letzten Jahren und wie ich Dustin kennengelernt hatte. Das er mein Partner ist und dass genau das mein größtes Problem mit meinem Vater ist. Dass er nicht akzeptieren kann, dass ich schwul bin und Dustin mein Freund ist. Ich kam immer mehr in einen Redefluss und Thomas unterbrach mich nicht einmal. Er machte sich nur hin und wieder Notizen. Nach einer halben Stunde war ich fertig. Ich hatte mich nur auf mich konzentriert und bemerkte erst jetzt, dass Dustin bereits ganz eng an mich heran gerutscht war. Als ich fertig war, musste ich meinem Gefühl nachgeben und gab ihm einen Kuss.

Thomas saß uns stumm, aber lächelnd gegenüber. Ich wusste noch nicht, was ich davon halten sollte. Erst als er tief Luft holte und uns antwortete, wurde ich ruhiger.

„Also, erst einmal vielen Dank für diese Schilderung. Ich glaube, du hast das schon lange in dir herumgetragen. Es war heute endlich an der Zeit, das raus zu lassen. Um die Angst von euch zu nehmen, wir stehen auf eurer Seite und dein Vater wird begreifen müssen, wenn er dich als Sohn zurück erobern möchte, muss er dich so akzeptieren wie du bist. Das finde ich ganz klasse. Du hast mit Dustin einen tollen Freund, der dich bedingungslos verteidigt, auch wenn es gar nicht nötig ist…..“

Jetzt musste ich lachen und Dustin wurde rot. Ich nahm meinen Freund in den Arm und hielt ihn fest. Wir hatten die Karten auf den Tisch gelegt und es stellte sich als richtig heraus.

„Ihr beide seid das stärkste Team, was seit langer Zeit hier aufgelaufen ist. Macht euren Standpunkt genauso klar. Dann wird sich euer Vater ganz warm anziehen müssen. Und erst wenn es für euch schwierig werden sollte, bin ich da und unterstütze euch. Allerdings glaube ich, wird das nicht notwendig sein.“

Wir redeten jetzt noch über unsere Hobbys, wie ich zu meinem Bruder stehe und so war schnell eine Stunde vorüber. Als ich über die Gewaltszenen zu Hause berichtete und was Dustin erlebt hatte, wurde Thomas sehr nachdenklich. Zum Ende sagte er zu uns:

„Ihr werdet genug Gelegenheit bekommen, mit deinem Vater auch das zu klären. Ich möchte euch sagen, dass er sehr gespannt auf euch ist. Er hat hier immer wieder davon gesprochen, dass er seine Kinder zurückgewinnen möchte. Jetzt sind Taten gefragt. Ich bin guter Dinge, dass ihr wisst was ihr wollt.“

Erst jetzt fragten wir uns, was eigentlich Mama und Patrick in der Zeit gemacht hatten. Wir waren etwas ratlos und Thomas erklärte uns, dass sie bereits im Wohnbereich mit meinem Vater zusammengekommen waren. Er begleitete uns jetzt dorthin. Es stand nun also die erste Begegnung mit meinem Vater tatsächlich kurz bevor und ich fühlte die steigende Nervosität. Auch Dustin war nicht mehr gelassen.

„Bevor wir jetzt in den Wohnbereich gehen und mit eurem Vater zusammen kommen, möchte ich euch noch sagen, nehmt euch genug Zeit. Der Prozess wieder zusammen zu finden, dauert Jahre. Also seid geduldig und um es klar zu sagen, die Verantwortung liegt bei eurem Vater, nicht bei euch. Allerdings müsst ihr ihm schon eine faire Chance geben, sonst hat es keinen Sinn.“

Ich wusste, was er damit meinte.

„Ja, ich weiß schon, dass sich alle verändern müssen. Es ist aber schwer, die Erinnerungen zu vergessen und die Schmerzen. Allerdings werden wir es versuchen.“

Thomas legte seine Hand auf Dustins Schulter, der sichtlich aufgewühlt schien.

„Ihr sollt gar nichts vergessen. Diese Erinnerungen werden bleiben, aber ihr könnt sie aufarbeiten und ihr habt die Möglichkeit, wenn euer Vater hart genug für euch kämpft, ihm zu vergeben und neu zu beginnen. Das liegt allein in seiner Hand. Es ist nicht eure Verantwortung, dass er getrunken hat und abhängig geworden ist. Das habe ich eurer Mutter auch schon häufiger sagen müssen. Es ist ein typischer Verlauf einer Co-Abhängigkeit.“

Diesen Begriff hatte ich auch schon einmal gelesen, aber schon damals nicht verstanden. Dustin schien es genauso zu gehen, wie ich an seinem Gesicht ablesen konnte.

„Was ist eigentlich eine Co-Abhängigkeit? Ich habe diesen Begriff schon einmal gelesen.“ Ich wollte das gerne wissen.

Thomas lächelte und gab eine überraschende Antwort: „Eine gute Frage und ich werde sie auch beantworten, aber jetzt solltet ihr erst einmal zu eurer Familie gehen. Ich bin übrigens sehr erfreut, dass ihr gut vorbereitet seid. Viele der Kinder haben nicht einmal einen Bruchteil an Wissen über Alkoholismus, wie ihr beiden. Das ist eine gute Basis. Wir werden noch Zeit haben, über das Thema zu sprechen. Ok?“

„Ja, danke. Ich bin allerdings jetzt sehr angespannt. Hoffentlich kommt es nicht zu einem Desaster.“

Wieder lächelte Thomas. Er schien sehr überzeugt zu sein, dass es ein Erfolg werden würde. Ich hatte meine Zweifel.

Mittlerweile waren wir in einem ganz anderen Bereich angekommen. Es war ein komplett anderes Gebäude und hatte überhaupt nicht den Charakter einer Klinik. Es sah eher nach einer Feriensiedlung aus. Kleine Bungalows nebeneinander. Thomas führte uns zu der Nummer drei und öffnete die Eingangstür. Eine angenehme Atmosphäre empfing uns. Helle Farben an den Wänden, und ein Duft von frischem Kaffee kam uns entgegen. Einige der anderen Besucherfamilien liefen bereits im Garten umher oder saßen auf der Terrasse. Wir dagegen gingen zu einer verschlossenen Tür an der Thomas kurz anklopfte, bevor er sie öffnete.

„Na endlich, wo seid ihr so lange gewesen?“, kam uns von Patrick entgegen.

Wir betraten den Raum und Thomas erklärte meinem Bruder sehr direkt, was wir noch zu besprechen hatten. Sofort begriff er, dass es für uns keineswegs ein normaler Besuch war. Papa saß noch auf der Couch und ich erschrak. Er hatte sich äußerlich total verändert. Allerdings zu seinem Vorteil. Wortlos stand Papa auf und wir standen uns nun Auge in Auge gegenüber. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde. Selbst Mama blickte angespannt zu uns. Dustin wollte zurückweichen, aber ich hielt ihn fest. Papa sollte sofort spüren, wir wären nur gemeinsam zu haben.

„Hallo Fynn. Schön, dass du mitgekommen bist.“

Mein Vater vermied es, mich zu umarmen. Er war sehr unsicher. Total anders, als ich es in Erinnerung hatte. Aber er gab mir die Hand. Eine komische Begrüßung.

„Hallo Papa. Ja, ich habe es mir auch lange überlegt. Darf ich dir Dustin vorstellen?“

Dabei zog ich Dustin ein wenig nach vorn. Ich konnte seine Angst und Unsicherheit fühlen. Papa streckte im sofort seine Hand entgegen und Dustin ergriff sie vorsichtig.

„Hallo Dustin. Auch bei dir freue ich mich, dich kennenzulernen. Meine Frau hat mir schon viel erzählt und dass du mit Fynn zusammen in der WG wohnst.“

Papa bat uns, sich zu ihm zu setzen und auch Thomas blieb noch bei uns. Er setzte sich zwar zu uns, aber er hielt sich im Hintergrund. Er beobachtete nur, was passierte.

Dieses erste Zusammentreffen war für mich unglaublich anstrengend. Ich musste doch jedes Wort überlegen. Mein Selbstbewusstsein war längst nicht mehr so groß, wie zu Beginn. Allerdings war Papa auch sehr vorsichtig. Er ließ uns immer genug Raum, auch jederzeit einen Schritt zurück zu machen. Das war allerdings bislang nicht nötig gewesen. Auch wenn es manchmal sehr schwierig und anstrengend war. Dieses erste Zusammentreffen verlief ruhig und erstaunlich zurückhaltend von meinem Vater. So hatte ich ihn definitiv nicht in Erinnerung. Allerdings war ich sehr misstrauisch, ob das so bleiben würde. Erst nach etwa einer Stunde, in der er von seinem Alltag in der Klinik berichtete und uns auch erklärte, dass er erst viel zu spät begriffen hatte, dass sein Job ihn aufgefressen hatte, wurde die Atmosphäre etwas entspannter. Er ignorierte Dustin auch in keinster Weise. Allerdings ließen wir das Thema Beziehung und schwul noch außen vor. Es stand nun das gemeinsame Abendessen an. Allerdings kam noch etwas Überraschendes.

„Möchtet ihr mit mir gemeinsam zum Essen oder wollt ihr lieber schon fahren?“

Patrick war der erste, der entrüstet reagierte:

„Natürlich kommen wir mit zum Essen, Papa. Ich freue mich, dass es dir wieder besser geht.“

Mama zuckte zusammen und ich wollte schon etwas sagen, aber Papa war schneller.

„Patrick, du warst jetzt eigentlich nicht gefragt. Fynn soll selbst entscheiden, ob er schon bereit ist, mit mir zum Essen zu gehen.“

Dustin schubste mich an und ich schaute schnell zu ihm. Seine Augen gaben die Antwort.

„Danke, dass du uns fragst, Papa. Aber wir haben uns entschieden. Wir kommen mit und wenn ich das mal so sagen darf, ich hoffe sehr, dass das heute nicht nur ein Strohfeuer ist.“

Er nickte stumm und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, mein Vater würde so etwas wie Emotionen zeigen. Er kämpfte mit sich und seinen Gedanken. An dieser Stelle war Thomas zur Stelle und führte uns gemeinsam aus dem Wohnbereich.

„Kommt, dann lasst uns hinübergehen. Eine kleine Entspannung kann euch jetzt gut tun.“

Die hatten wir allerdings nötig. Wir gingen über einen kleinen Weg in Richtung Hauptgebäude und bevor wir in das Haus hineingingen, wollte ich noch einen Moment mit Dustin allein sprechen.

„Geht schon vor. Ich möchte einen Moment mit Dustin allein sprechen. Wir brauchen einen Augenblick Pause.“

Patrick gefiel das nicht. Er schaute ängstlich zu Mama, die uns aber lächelnd zunickte. Auch Thomas hatte uns verstanden und bat uns nur, nicht zu lange zu brauchen, weil das Essen pünktlich begann.

Wir standen auf einer kleinen Fläche, die gepflastert war.

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte ich meinen Freund.

„Ich weiß es nicht. Einerseits ist es besser gelaufen, als ich erwartet hatte, andererseits traue ich der Sache nicht. Außerdem hast du ja noch gar nicht erwähnt, dass wir zusammen sind.“

„Ja, geht mir genauso. Ich weiß auch noch nicht, ob das alles ernst gemeint ist oder nur ein Strohfeuer ist. Vielleicht müssen wir einfach abwarten und nicht so große Ziele anstreben. Gerade beim ersten Treffen. Vielleicht gibt es ja doch noch die Gelegenheit, es ihm zu sagen. Bislang bin ich aber positiv überrascht. So zurückhaltend und respektvoll ist er in den letzten Jahren nie mit mir umgegangen.“

„Gut, dann lass uns zum Essen gehen. Dein Bruder scheint ja sehr schnell vergessen zu können.“

„Nein, er hat ja auch nicht so viel aushalten müssen. Er war immer der Liebling. Ich nehme es ihm aber auch nicht übel. Er war noch zu jung, um zu begreifen, dass Papa ihn ausgenutzt hat. Das wird noch kommen. Also los, auf zum Essen.“

Wir gaben uns noch ein zärtliches Küsschen und marschierten nebeneinander erneut in die Aula, die auch als Speiseraum genutzt wurde. Jetzt wurde uns auch klar, wozu die leeren Stühle an unserem Tisch waren. Für meinen Vater und die Mutter der anderen Kinder an unserem Tisch. Da die anderen Kinder deutlich jünger waren, herrschte eine gewisse Unruhe am Tisch.

Früher wäre das für unseren Vater undenkbar gewesen. Hier blieb er sich freundlich und gelassen. Erstaunlich. Wir nahmen das Essen gemeinsam zu Ende ein und als die Kinder der anderen Familie den Tisch verlassen hatten und nach draußen gelaufen waren, konnten wir uns in Ruhe etwas unterhalten.

Die Themen der Unterhaltung betrafen vorwiegend den Klinikalltag. Papa wollte noch weitere zwei Monate hier bleiben. Auch das war eine Überraschung. Für mich eine beruhigende Nachricht. So hatten wir noch mehr Zeit, uns auf die Rückkehr vorzubereiten. Plötzlich stand ein junger Mann an unserem Tisch und wandte sich an Papa.

„Hallo Herr Grehl, wie sieht das mit Ihren Söhnen aus? Kommen die vielleicht mit zum Klettern?“

Papa schaute den Mitarbeiter an und dann fragte er uns:

„Habt ihr denn überhaupt Lust, mal mit an die Kletterwand zu kommen? Eigentlich gibt es Freitagabend immer das Angebot, an der Kletterwand zu klettern. Das geht nur mit ausgebildeten Sicherungsleuten. Der Tobi kommt extra aus dem Ort und bietet das an.“

Dustin und ich schauten uns an. Wir hatten gar keine sportlichen Sachen dabei. Allerdings fand ich das schon sehr spannend, vor allem Papa beim Sport? Auch das war neu für uns.

„Also Lust hätte ich schon, nur haben wir keine Sportsachen dabei. Vielleicht…“

Patrick war viel euphorischer und quatschte dazwischen.

„Ist doch egal. Ich komme auf jeden Fall mit. Das ist cool, das wollte ich schon immer mal ausprobieren.“

Tobi lächelte und erklärte uns, das würde schon so gehen. Es wäre sicherlich vorteilhafter in Sportsachen, aber zum ausprobieren würde es schon gehen.

„Was möchtest du, Dustin? Kommst du mit?“

„Ok, ich schau mir das erst einmal an. Mit Höhe habe ich so meine Probleme. Aber mitkommen tue ich.“

Dieses Lachen dabei war wieder klasse. Es dauerte auch nicht lange und wir waren gemeinsam unterwegs zum Klettern. Patrick war natürlich gleich bei Papa und Dustin und ich bekamen das Klettergeschirr angelegt. Es gab verschiedene Wege in der Wand. Die waren farblich gekennzeichnet. Tobi erklärte uns genau, was wir zu tun hatten. Währenddessen war Patrick mit Papa schon in die Wand geklettert. Das hieß, Papa stand unten und sicherte Patrick, während der schon in die Wand kletterte. Bei uns dauerte es ein wenig länger, aber es war ein interessantes Erlebnis. Konzentration und Kraft waren gefordert. Neben der Koordination. Vielleicht sollten wir das mal in Halle vorschlagen. Jedenfalls war es sehr interessant und vor allem war es ein neuer Aspekt, den wir von meinem Papa nicht kannten.

Nach eine halben Stunde waren Dustin und ich jeweils einmal einen einfachen Weg hinaufgeklettert. Anschließend standen wir noch bei Papa und Patrick, der gar nicht genug bekam. Papa schaute sehr aufmerksam zu Patrick in die Wand, als er Dustin fragte:

„Möchtest du mal sichern? Ist nicht so schwer, der Kleine ist ja noch ein Leichtgewicht. Immer das Seil auf Zug halten. Sollte er abrutschen, kann er nicht weit durchsacken.“

Dustin schaute fragend zu mir. Das war eine gute Möglichkeit, dass wir uns Papa nähern konnten. Ich nickte und Dustin übernahm das Seil, allerdings immer unter den wachsamen Augen von Papa und Tobi, der mittlerweile auch wieder zu uns gekommen war.

„Ist schon in Ordnung Herr Grehl. Ich passe auf Dustin auf. Sie können auch mit Fynn einmal an die frische Luft gehen.“

„Kommst du mit?“, fragte er mich.

Erst habe ich einen kleinen Augenblick gezögert, aber dann bin ich mitgegangen. Wir sind nur nach vorn vor den Eingang der Turnhalle. Dort standen wir nun allein in der lauen Abendluft. Es dämmerte bereits.

„Nun, mein Sohn, wie geht es dir? Mama hat mir viel von dir erzählt und dass du sehr gute Erfolge in Halle hattest. Auch, dass du dich in der WG wohl fühlst. Mama hat mir gesagt, dass du lange gezweifelt hast, ob du heute mitkommen willst. Warum?“

Was sollte ich jetzt antworten? Ich entschied mich die Wahrheit zu sagen und das war leider doch eine nicht ganz so gute Entscheidung. In meinen Erzählungen wurde ich von meinen Gefühlen überrollt. Ich steigerte mich immer mehr in die Sache hinein. Warf Papa vor, dass er mich jahrelang mies behandelt und nicht akzeptiert hatte, dass ich einen anderen Weg für mich gefunden hatte. Es war einfach zu viel auf einmal. Ich brach in Tränen aus und entgegen meiner Befürchtungen, blieb Papa ganz ruhig und nahm mich einfach in den Arm. Er sagte nichts, aber er hielt mich einfach fest. Es war ein völlig neues Gefühl für mich. So war er seit Jahren nicht mehr mit mir umgegangen. Er ließ mir die Zeit, mich zu beruhigen und was er dann sagte, werde ich nicht vergessen.

„Fynn, ich weiß mittlerweile, dass ich durch den Alkohol und meine Arbeit viel kaputt gemacht habe. Aber ich möchte versuchen, wieder ein guter Vater für euch zu werden. Ich kann das nicht ungeschehen machen und ich weiß, dass du noch viel Wut in dir haben musst. Ich würde gern mit dir daran arbeiten.“

Das hatte ich nicht erwartet. An so eine Aussage konnte ich mich von meinem Vater mir gegenüber nicht erinnern. Ich war unsicher. Was hatte das zu bedeuten?

„Ich weiß nicht, es hat so weh getan. Ich kann nicht einfach so tun, als ob nichts geschehen ist. Gib mir etwas Zeit. Da ist vor allem noch eine Sache, die du akzeptieren musst. Dustin ist momentan für mich der wichtigste Mensch, den ich habe und er wird ein Teil dieser Aufarbeitung werden. Das musst du akzeptieren. Wenn du das tust, kann es möglich sein, dass wir uns beteiligen an diesem langen Weg.“

Papa schaute mir in die Augen. Er hatte verstanden, dass ich ohne Dustin nicht bereit war, weiter mit ihm über diese Sache zu sprechen. Er ließ es so stehen und bat mich, wieder hinein zu gehen. Auf dem Weg in die Halle, kam noch ein Satz, der mich etwas beruhigte.

„Ist in Ordnung, ich habe es mir schon gedacht, dass Dustin dir sehr viel bedeutet. Lass uns morgen weiter sprechen. Wir haben das ganze Wochenende noch Zeit.“

Er ließ mich danach den Abend komplett in Ruhe mit diesem Thema. Wir machten noch gemeinsam einen großen Spaziergang und gegen 22 Uhr war für die Patienten Nachtruhe angesagt. Das gab mir endlich die Gelegenheit, allein mit Dustin zu sprechen. Das Erlebte musste ich mit ihm aufbereiten. Wir meldeten uns bei Mama ab, die erst gar nicht versuchte, uns zum Bleiben zu überreden. Sie gab uns den Schlüssel für unser kleines Appartement und schon waren Dustin und ich an der frischen Luft.

In der lauen Abendluft liefen wir über das Klinikgelände und kamen auf die Straße. Wir überquerten diese, um in einen kleinen Park zu kommen. Dort war ein See mit einer Holzbrücke. Auf dieser Brücke standen wir und schauten auf das Wasser.

„Wie fühlst du dich?“, fragte mich Dustin.

„Müde, es war sehr anstrengend heute. Ich habe nicht gedacht, dass es mich so belasten würde. Wie gut, dass du mitgekommen bist. Allein würde ich das nicht schaffen.“

Mein Freund blieb ruhig neben mir auf der Brücke stehen und legte seinen Arm um mich. Wir schwiegen für einen langen Augenblick.

„Willst du ihm jetzt immer noch sagen, dass wir ein Paar sind? Willst du schon morgen damit herauskommen? Vielleicht ist es besser, damit noch zu warten?“

„Auf keinen Fall warten. Ich werde nicht Kraft und Energie investieren, um dann vielleicht alles zu verwerfen. Nein, morgen werden wir das Thema angehen. Dann erst wird sich zeigen, ob er wirklich bereit ist, sich zu ändern.“

Sofort spürte ich wieder diese Anspannung. Jeder Muskel verkrampfte sich bei diesem Gedanken. Ich konnte es nicht kontrollieren. Wieder tauchten die Bilder vor meinen Augen auf. Wie mein Vater zu Hause herumtobte und mich misshandelte. Dustin spürte meine innere Unruhe.

„Komm, beruhige dich. Ich verstehe dich. Nur, heute war es doch ganz ok. Er hat keine Forderung an dich gestellt. Er hat dich immer gefragt, ob es für dich in Ordnung ist. Ich glaube, er kämpft um deine Akzeptanz. Vielleicht sprechen wir morgen mit Thomas, bevor wir wieder auf deinen Vater treffen?“

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war hin und hergerissen. Einerseits wünschte ich mir, dass mein Vater mich endlich so akzeptieren würde, wie ich bin und andererseits war ich immer noch sehr wütend auf ihn.

Dustin blieb ganz eng an mich gelehnt stehen und wir schauten wieder wortlos auf den dunklen See. Plötzlich sagte Dustin:

„Deine Mutter hat sich gut vorbereitet. Findest du nicht? Sie hat uns die Zeit gegeben und den Raum. Sie hat nicht einmal versucht, dich zu beeinflussen. Vielleicht sprechen wir auch mit ihr noch einmal. Ich würde gern ihre Meinung hören.“

Ich blickte meinem Freund in die Augen und spürte diese Wärme, die von ihm ausging. Wie machte er das nur? Seine Lage zu Hause war doch noch viel schlimmer und jetzt versuchte er, mir den Halt zu geben, den er zu Hause selbst nie bekommen hatte. Ich umarmte ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Seine Nähe und seine Liebe ließ mich wieder Kraft und Mut finden.

„Ja, das ist ein guter Vorschlag. Vielleicht reden wir morgen mit Mama. Sie scheint ja schon weiter zu sein. Ich wusste noch nicht, dass sie in eine Selbsthilfegruppe geht. Vielleicht können wir das auch mal machen. Ich würde gern mal mit anderen Leuten reden, die das erlebt haben und was sie in dieser Situation gemacht haben.“

„Keine schlechte Idee. Ich würde auf jeden Fall mitkommen. Lass uns deine Mama fragen, ob sie uns mitnehmen würde. Und jetzt lass uns wieder zurückgehen. Ich werde müde. Morgen wird bestimmt nicht weniger anstrengend.“

Ich nickte und wir gingen langsam zurück in unser Appartement. Als wir dort eintrafen, war schon alles dunkel und still. Entsprechend leise gingen wir in unser Zimmer und legten uns schlafen. Obwohl ich immer noch viele Gedanken im Kopf hatte, schliefen wir bald ein. Ich war einfach kaputt.

Dustin: Wie soll ich mich verhalten?

Ich war mit vielen Gedanken abends eingeschlafen und leider mit den gleichen Gedanken wieder aufgewacht. Fynn lag noch schlafend im Bett, als ich im Bad bereits meine Zähne putzte. Heute standen die ersten Therapiegespräche an. Sollte ich wirklich mitgehen? Oder sollte ich Fynns Vater mit seiner Familie allein lassen? Ich beschloss, das mit Fynn und seiner Mutter zu besprechen. Patrick war wieder wie aufgedreht. Schon am frühen Samstagmorgen. Erstaunlich, wie er das konnte.

Leider beging er den Fehler, seinen Bruder wecken zu wollen. Der hatte nämlich damit gerechnet, dass ich ihn wecken würde. Im Halbschlaf gab er jetzt nämlich seinem Bruder einen Kuss und nicht mir. Das hatte zur Folge, dass sich Patrick wehrte und Fynn dadurch schlagartig wach wurde. Ich konnte das Geschehen im Bad hören. Das Gesicht hätte ich gern von beiden gesehen.

Ich betrat den Raum und musste lachen. Patrick sprang aus dem Bett und beschwerte sich lautstark.

„Den kannst du abknutschen“, dabei auf mich zeigend.

Anschließend wollte er fluchtartig und fluchend unser Schlafzimmer verlassen. Ich hielt ihn allerdings zurück.

„Moment mal. Wer ist denn hier hergekommen und hat sich Fynn genähert, als er noch schlief. Beschwer dich nicht. Du hast es doch so gewollt.“

In diesem Moment betrat Fynns Mutter unser Zimmer. Sie war durch die laute Stimme Patricks aufgeschreckt. Das hatte den Vorteil, dass sie jetzt Patrick im Weg stand. Fynn und ich mussten lachen, weil Patrick ausweichen wollte und dabei mit der Tür zusammenstieß. Als sich alles ein wenig beruhigt hatte, erklärten wir Fynns Mutter die Sachlage. Sie musste ebenfalls lachen und Patrick bekam von ihr noch einen Rüffel obendrauf.

„Wenn du meinst, deinen Bruder ungefragt wecken zu müssen, hast du es nicht besser verdient. Du hast hier nur nach Aufforderung einzutreten. Du willst ja auch nie, dass ich ohne anzuklopfen dein Zimmer betrete. Also zisch ab und geh duschen.“

Wir drei grinsten uns an und ich staunte über die Schlagfertigkeit von Fynns Mutter.

„Danke Mama. Der kann echt nerven.“

Fynn war mittlerweile richtig wach und ging anschließend ins Bad. Ich hatte nun Gelegenheit seine Mutter richtig zu begrüßen.

„Guten Morgen, Frau Grehl. Danke, dass sie uns geholfen haben. Patrick ist etwas nervig.“

„Ja, da hast du allerdings recht. Er ist wirklich nervig. Muss wohl das Alter sein. Wie war eure Nacht?“

„Ganz ok, allerdings war Fynn gestern sehr aufgewühlt und ich muss zugeben, es ist doch nicht so einfach, das zu machen, was wir uns vorgenommen hatten.“

Sie lächelte und setzte sich zu mir an den Tisch.

„Das glaube ich euch sofort. Ich habe mich schon gewundert, wie stabil Fynn gestern war. Du gibst ihm viel Sicherheit. Ich wurde bereits von den Angehörigen der Selbsthilfegruppe vor diesem Moment gewarnt. Das ist nicht so einfach, wie ihr euch das vorgestellt habt. Allerdings hat sich Fynns Vater recht gut geschlagen. Das wäre früher ganz anders abgelaufen.“

„Ja, Fynn hat mir davon erzählt. Darf ich Sie etwas fragen?“

Sie nickte mir freundlich zu. In diesem Moment betrat Fynn den Raum aus dem Bad heraus.

„Fynn und ich haben darüber nachgedacht, ob Sie uns einmal mit in diese Selbsthilfegruppe nehmen würden. Wir wissen noch nicht sehr viel über den Umgang mit so einer Situation.“

Sie schaute dabei ihren Sohn an und lächelte weiter. Fynn blieb hingegen im Raum stehen und wartete auf die Antwort.

„Wenn ihr das möchtet, nehme ich euch gern mit. Die anderen Gruppenangehörigen hatten mich schon mehrfach gefragt, ob ihr mitkommen würdet. Ich wollte euch das aber überlassen, ob ihr das möchtet oder nicht.“

„Danke Mama, ich glaube, wir müssen uns doch mehr damit befassen. Vielleicht haben wir uns das zu einfach gemacht.“

„Nein, Fynn. Bestimmt habt ihr das nicht getan. Ihr seid nur genauso überfordert wie ich. Erst, seit ich dort hingehe, begreife ich, was überhaupt bei der Sucht passiert. Ich freue mich, wenn ihr mitkommen wollt.“

Fynn setzte sich zu mir auf die Couch.

„Wie sollen wir uns verhalten? Sollen wir wirklich heute damit rauskommen, dass wir ein Paar sind? Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher.“

„Ich kann dir das nicht beantworten. Ich weiß nur, dass es richtig ist, es zu tun. Den Zeitpunkt müsst ihr selbst bestimmen. Vielleicht sprecht ihr gleich nach dem Frühstück mal mit dem Therapeuten. Es werden ja Gespräche für die Angehörigen angeboten. Wenn ihr möchtet, geht hin und sprecht mit ihm.“

Fynn schaute mich fragend an und mir war klar, er würde nur mit mir gemeinsam dorthin gehen.

„Keine Sorge“, sagte ich, „ich begleite dich natürlich, wenn du möchtest.“

Fynn begann zu lächeln und ein leises „Danke“ folgte mit einem Kuss.

Seine Mama bat uns jetzt aber mit zum Frühstück zu kommen. Patrick würde bestimmt sonst nur Unsinn machen. Also brachen wir gemeinsam auf, um in den Speiseraum zu gehen.

Patrick war natürlich schon da und saß an unserem Tisch. Fynns Vater hatte ich noch nicht gesehen. Das wunderte mich jetzt, weil er uns gesagt hatte, dass hier auf Pünktlichkeit geachtet würde. Wir setzten uns zu der anderen Familie an den Tisch und jetzt verstand ich, warum Fynns Vater noch nicht bei uns saß. Er hatte noch Dienst in der Küche. Fynn schien sich auch sehr darüber zu wundern, denn er hatte seinen Vater noch nicht oft bei Hausarbeiten erlebt.

„Krass, dass Papa hier sogar in der Küche hilft. Mama, hat er das bei uns jemals getan?“

Seine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf und Patrick schlug gleich in die Kerbe: „Dann kann er das ja in Zukunft auch für mich machen. Ich habe…“

„Sei still, diesen Schwachsinn will ich hier nicht hören.“Ups, jetzt hatte Fynns Mama aber klar die Hosen an. Patrick war sofort ruhig und Fynn und ich mussten lachen, weil sein Gesichtsausdruck sehr komisch war. Endlich setzte sich auch Fynns Vater nach der Begrüßung zu uns an den Tisch. Je mehr ich von dem Vater mitbekam, desto größer wurden meine Zweifel. Wie konnte ein Mensch so unterschiedlich sein? Hier hatte ich ihn noch nicht einmal aggressiv oder schlecht gelaunt erlebt. War das jetzt alles gespielt, um einen guten Eindruck zu hinterlassen oder was hatte das zu bedeuten? Ich war total verunsichert.

„Papa, wie sieht das Programm heute aus? Dustin und ich haben einige Fragen an Thomas und würden gern an der Sprechstunde für Angehörige teilnehmen.“

Fynn schaute seinem Vater dabei direkt in die Augen. So locker, wie er es gesagt hatte, fühlte sich Fynn überhaupt nicht. Er war angespannt. Ich konnte es an der Faust unter dem Tisch erkennen. Sein Vater überlegte einen kleinen Augenblick.

„Also, eigentlich gibt es heute nur zwei feste Termine. Einmal am Nachmittag das Familiengespräch mit Therapeut und Arzt und zum Anderen die Angehörigen-Sprechstunde gleich nach dem Frühstück. Dazwischen können wir uns die Zeit frei wählen.“

Das war Patricks Signal, er hatte sich anscheinend schon festgelegt.

„Können wir auch mal hier raus? Ich will nicht ständig hier bleiben. Das ist ja wie ein Gefängnis. Nichts darf man hier einfach so machen. Immer muss man fragen, ob man irgendwo hingehen darf.“

Zu meinem Erstaunen antwortete Fynns Vater recht gelassen und freundlich:

„Ja, wir haben auch die Erlaubnis, heute gemeinsam irgendwohin zu fahren. Allerdings nur, wenn Dustin und Fynn das auch wollen. Ich richte mich da nach euch.“

Oha, ob Fynn das wirklich schon wollte? Allein, ohne Unterstützung mit seinem Vater unterwegs zu sein. Ich hatte die Hoffnung, er würde das gleich mit dem Thomas besprechen. Plötzlich erschien in der Mitte des Speisesaales ein Mitarbeiter und bat um Aufmerksamkeit. Er wünschte uns einen guten Morgen und verlas dann die Raumbelegung und die Zeiten für die Angehörigen-Sprechstunde. Es gab zwei Angebote. Eins für die Kinder und eins für die Partner. Fynns Mutter machte uns dazu einen Vorschlag:

„Was meint ihr beiden, ihr geht zur Kindersprechstunde allein und ich mit Patrick zur Partnersprechstunde. Ist das ok für euch?“

Damit waren wir sehr einverstanden und auch Fynns Vater fand das sinnvoll. Ich hatte immer mehr Zweifel, ob das ein und dieselbe Person war, die hier mit uns am Tisch saß und die, die ich aus Fynns Erzählungen kannte. Es passte für mich nicht zusammen. Das für mich verwirrende war vor allen Dingen, dass ich nicht so richtig wusste, wie ich mich verhalten sollte. Meine Ablehnung und Wut verschwand mit jeder weiteren Begegnung. Ich wurde immer unsicherer.

Nach dem Frühstück hatten wir nicht viel Zeit, um zu unserem Gesprächstermin zu kommen. Fynn hatte seinen Vater gebeten, uns zu erklären wo dieser Raum war. Dort standen wir vor der Tür und warteten auf Thomas.

„Sag mal, wie geht dir das? Mich verwirrt das Verhalten von deinem Vater immer mehr. Es ist so total anders zu dem, was du erzählt und erlebt hast. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“

„Ja, ich kann dich verstehen. Allerdings traue ich ihm auch noch nicht über den Weg. Du hast ihn ja nicht erlebt. Ich nehme es dir nicht übel, aber ich kann das nicht vergessen.“

Oh weh, hoffentlich würde er das nicht als Vertrauensbruch werten, denn ich wollte nicht damit sagen, dass ich seinen Erzählungen nicht mehr glauben würde.

„Ich bin mir sicher, dass du das erlebt hast, was du mir erzählt hast, aber ich kann nicht begreifen, wie man sich dann hier so ganz anders verhalten kann. Wenn meine Eltern sich so verhalten würden, bekäme ich Zweifel an ihrem Geisteszustand.“

Jetzt blitzen bei Fynn die Augen auf und er fing an zu lachen.

„Diese Zweifel habe ich schon lange, Schatz. Wer sich so ätzend dir gegenüber verhält, kann nicht normal sein.“

Obwohl es ein trauriger Punkt in meinem Leben war, Fynn lag so richtig und ich fand es toll, mit welcher Lockerheit er das herausbrachte. Wir umarmten uns lachend und in diesem Moment kam Thomas um die Ecke.

„Guten Morgen ihr zwei. Scheint ja gute Stimmung bei euch zu sein.“

Er gab jedem von uns die Hand und schloss den Raum auf.

„Wie war die Nacht für euch? Habt ihr mit der Familie etwas Zeit verbracht?“

Wir betraten den Raum und er bat uns in der Sitzecke Platz zu nehmen. Fynn berichtete von den gemeinsamen Erlebnissen gestern und schon waren wir in das Gespräch eingetaucht, ohne es bemerkt zu haben.

„Ich habe auch eine Frage, wie ist das zu erklären, dass sich Fynns Vater so verändert hat? In so kurzer Zeit. Fynn hat mir die schlimmsten Dinge erzählt und wir haben beide richtigen Schiss, vor diesem Zusammentreffen. Allerdings ist sein Vater bislang immer sehr freundlich zu uns gewesen.“

Thomas wiegte seinen Kopf hin und her.

„Ja, ich verstehe, was du meinst. Das geht ganz vielen Angehörigen so. Hier, ohne Drogen, ohne Alkohol sind die Patienten wieder Menschen. Sie kehren zu ihren wahren Charakteren zurück. Sie lernen, dass sie nur ohne Alkohol ihr Leben normal leben können. Für euch als Kinder, ist das schwer zu verstehen. Vielleicht sogar Angst machend.“

„Es ist total verwirrend für mich. Ich habe immer noch eine unbändige Wut auf meinen Vater. Dennoch ist er hier bislang so wie früher. Ich verstehe es nicht. Er tut so, als ob nichts geschehen ist.“

Meinem Freund war die Anspannung anzusehen. Er war aufgewühlt und verunsichert.

„Ja, das glaube ich dir. Nur, es ist an dir, ihm zu sagen, was du unter ihm erleiden musstest. Wir können nur begleiten. Du musst ihn damit konfrontieren. Er ist genauso unsicher, wie ihr. Glaubt mir, es ist für die Patienten genauso schwer, die Vergangenheit zu bearbeiten, wie für euch. Die jüngeren Kinder haben es noch schwerer, weil sie das bei weitem noch nicht in Worte fassen können, so wie ihr. Diese Kinder werden auch anders von uns begleitet.“

„Heißt das, wir sollen einfach so tun, also ob wir wieder Freunde sind?“, wollte ich wissen.

„Nein, auf keinen Fall. Sagt ihm das, was euch bewegt und wo er euch verletzt hat. Aber eine Frage zwischendurch, du bist doch Fynns Freund und kennst den Vater gar nicht von der Zeit. Oder ist das falsch?“

Fynn interpretierte das wohl als Angriff auf mich und ging sofort auf Verteidigung, er wollte Thomas direkt anfauchen.

„Bleib ruhig, er weiß es doch nicht besser. Wir sollten ihn vielleicht mal aufklären“, blockte ich Fynn ab.

Thomas schaute mich neugierig an. Ich war mir sicher, dass er es längst begriffen hatte.

„Also gut“, gab sich Fynn geschlagen, „Weißt du es gibt da noch ein großes Problem für mich und Dustin.“

Jetzt nahm er meine Hand und Thomas fing an zu grinsen, sagte aber nichts. Er ließ Fynn zappeln.

„Dustin ist mein Freund, im Sinne von Partner. Wir sind schwul.“

„Ich habe es mir gedacht. Und jetzt habt ihr Angst vor der Reaktion von deinem Vater. Ich vermute, er weiß noch von nichts.“

Fynn drückte meine Hand immer fester. Ich zog ihn ganz nah zu mir, um ihm zu zeigen, dass ich ihm zur Seite stehe.

„Nein, er weiß nicht einmal, dass ich schwul bin. So wie er mich behandelt hat, habe ich mich nicht getraut, es ihm zu sagen. Meine Mutter und mein Bruder wissen Bescheid. Sie haben kein Problem damit. Und ich will meinem Vater nur eine neue Chance geben, wenn er mich so akzeptiert, wie ich bin. Wir hatten uns ganz fest vorgenommen, es ihm ganz klar vor den Kopf zu sagen, aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob das richtig ist.“

Seine Stimme wurde immer schwächer. Er musste hart mit sich und seinen Gefühlen kämpfen. Thomas ließ ihn in Ruhe erzählen, unterbrach Fynn nicht. Erst, als ich meinem Freund eine kleine Träne aus dem Gesicht wischen musste, reagierte er.

„Es ist sicher wichtig und richtig, dass du ihm das sagst, er muss dich so akzeptieren. Jetzt ist allerdings die Frage, wie sagt ihr es ihm und wann. Kein Zweifel, es macht nur Sinn für euch, dass ihr euch auf diese Aufarbeitung einlasst, wenn er euch akzeptiert. Sonst ist es besser für euch, sich von ihm zu verabschieden. Ihr seid in der WG gut aufgenommen, werdet betreut und könnt euer Leben neu aufbauen. Also habt ihr die Sicherheit im Hintergrund. Was möchtet ihr denn wirklich? Seid ihr hergekommen, damit Fynn seinem Vater die Pistole auf die Brust setzt und sagen kann, was für ein Arschloch er ist oder seid ihr gekommen, damit es eine Chance auf einen Neuanfang gibt?“

„Das ist genau mein Problem gerade. Ich weiß es nicht. Kann es denn überhaupt eine Zukunft geben nach den ganzen Misshandlungen und Demütigungen, die ich ertragen musste?“

Fynns Stimme wurde sehr hart. Thomas ließ ihn gewähren und Fynn begann sich seinen ganzen Frust und die jahrelangen Ängste herauszulassen. Immer wieder kamen neue Details ans Tageslicht. Ich war geschockt. Konnte das derselbe Mann sein, den ich hier kennengelernt hatte? Als Fynn vollkommen erschöpft in meinen Arm sank, stand Thomas auf und ging zum Telefon. Ich bekam nicht mit, was er dort besprach, musste ich mich doch um Fynn kümmern. Thomas versuchte nicht, uns zu etwas zu drängen, sondern er ließ uns einfach in Ruhe, aber er blieb bei uns. Erst nach Minuten beruhigte sich Fynn ganz langsam wieder.

Thomas schlug uns vor: „Macht euch ein bisschen frisch und dann gehen wir an die frische Luft. Ihr braucht eine Pause.“

Das stimmte allerdings. Viel länger hätte ich Fynns Schilderungen von den Erlebnissen, nicht ertragen. Ich nahm Fynn mit in einen Waschraum. Dort machten wir uns etwas frisch.

„Danke, dass du mich nicht allein lässt. Aber ich musste das loswerden. Sorry.“

Ich dachte, ich hatte mich verhört.

„Wofür entschuldigst du dich? Du spinnst doch wohl. Ich bin heilfroh, dass du endlich anfängst davon zu sprechen. Ich werde dich immer unterstützen, das weißt du hoffentlich.“

Er nickte nur und ich legte meine Arme um ihn und küsste ihn dort im Bad. Anschließend gingen wir zurück zu Thomas nach draußen. Als er uns sah, kam er uns entgegen.

„Geht es wieder etwas besser? Wie fühlst du dich?“

Fynn zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, besser. Allerdings hilft mir das ja nicht, wenn ich es dir hier gesagt habe. Ich muss das alles meinem Vater sagen. Davor habe ich Angst. Ich kann es nicht, obwohl wir uns das so fest vorgenommen haben.“

Er wirkte niedergeschlagen. Thomas gab uns den entscheidenden Hinweis.

„Hey, mal ganz langsam. Das, was du hier erzählt hast, schaffen die meisten Kinder nach Jahren nicht. Also beruhige dich. Du hast den wichtigsten Schritt schon getan. Du willst die Vergangenheit nicht verdrängen, sondern besiegen. Lass es uns gemeinsam angehen und einen Plan machen, wie das gehen kann.“

„Heißt das“, fragte Fynn zaghaft, „wir müssen das nicht alles an diesem Wochenende tun?“

Thomas fing an zu lachen und gleichzeitig nahm er Fynn am Arm und wir gingen wieder in das Besprechungszimmer.

„Nein, ganz sicher nicht. Das geht nicht. Dieser Prozess dauert Monate oder Jahre. Einen Schritt nach dem anderen. Dein Vater hat doch erst jetzt angefangen zu akzeptieren, dass er derjenige ist, der zuerst sein Verhalten verändern muss. Da sind deine Gefühle und Ängste für ihn noch gar nicht greifbar. Er weiß sicherlich, dass er dir und deinem Bruder sehr wehgetan hat, aber er kennt deine Ängste nicht.“

Ich hörte sehr aufmerksam zu und Fynn wurde deutlich ruhiger.

„Wenn es uns gelingt, ihm in einer guten und vernünftigen Situation zu vermitteln, dass ihr euer Glück gefunden habt und ihr ihm anbieten wollt, ein Teil des Glückes zu werden, haben wir viel erreicht. Die anderen Baustellen müssen wir Schritt für Schritt abarbeiten. Warum dauert so eine Therapie wohl Monate?“

„Heißt das, wir sollen Fynns Vater tatsächlich direkt sagen, dass wir ein Paar sind?“

„Absolut, nur wenn er das akzeptiert und euch in die Familie wieder aufnimmt, macht es für euch Sinn, mit ihm zu arbeiten. Sollte er das ablehnen, macht es keinen Sinn. Dann müssen wir für euch eine andere Hilfe organisieren. Dann würde ich euch eine Therapie empfehlen, in der ihr die schlimmen Dinge, von denen Fynn berichtet hat, aufarbeitet. Nur für euch. Ohne euren Vater. Aber ich habe das Gefühl, dass es nicht notwendig sein wird.“

„Warum bist du dir da so sicher?“, wollte Fynn wissen.

„Ich arbeite jetzt erst seit zwei Monaten mit deinem Vater und dennoch bin ich mir sicher, er ist kein schlechter Mensch. Er ist krank und der Alkohol hatte sein Wesen verändert. Du hast doch selbst berichtet, dass es früher noch schön bei euch war. Das soll die schlimmen Taten nicht im Geringsten klein machen, aber ich sehe es als Möglichkeit, dass ihr erneut zusammen kommt.“

„Was sollen wir jetzt tun? Wie soll es weiter gehen?“, fragte ich direkt.

„Ich schlage vor, dass wir beim Familiengespräch genau das machen werden. Ihr sagt ihm klar und deutlich, was eure Bedingungen sind. Letztlich hat er die Regeln verletzt und euch damit wehgetan und sogar gezwungen, die Familie zu verlassen. Ich werde euch unterstützen, sollte es zu Problemen kommen. Deine Mutter scheint sich ja auf eure Seite geschlagen zu haben. Sie wird unsere Verbündete sein.“

„Und was ist, wenn Mama sich auf Papas Seite schlägt, nur damit er zurück nach Hause kommt?“

Fynn war dieser Plan nicht geheuer. Er hatte Angst, dass das schief gehen könnte und Patrick das Opfer würde. Thomas musste ihn immer wieder beruhigen und erst, nachdem Thomas uns versprochen hatte, dass Fynns Vater uns nichts antun konnte, willigten wir ein. Beim nachmittäglichen Familiengespräch sollten wir seinen Vater mit den Tatsachen konfrontieren. Ich war sehr gespannt, ob das zum erwünschten Ziel führen würde.

Fynn: Richtig oder falsch

Dieses erste richtige Therapiegespräch war für mich ganz wichtig. Selbst Thomas als Therapeut hatte klar gesagt, dass unsere Situation nicht mit einem Wochenende zu klären sei. Dieses Bild hatte mir die größten Sorgen bereitet. An diesem Wochenende alle Entscheidungen treffen zu müssen und es nur ein „Ja oder Nein“ gäbe. Das war also nicht so und ich begann mich neu zu orientieren. Klar war für uns die Bedingung, weitere Gespräche mit meinem Vater nur dann zu führen, wenn er akzeptiert, dass ich mit Dustin zusammen war. Diese Situation sollte heute Nachmittag geklärt werden.

Dustin und ich brauchten nach diesem ersten Gespräch eine Pause. Thomas hatte uns vorgeschlagen, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Als ich das mit Mama besprechen wollte, hatte sie den Wunsch, uns zu begleiten. Patrick ließ sie in dieser Zeit bei den anderen jüngeren Kindern, die betreut wurden.

Die Lage der Klinik ermöglichte diese Spaziergänge sehr gut. Es war viel Wald in der Nähe und so hatten wir mit dem Auto die Klinik verlassen. Erst zum Mittagessen sollten wir zurück sein, damit wir mit Papa und Patrick gemeinsam essen gehen könnten. Heute war also kein regulärer Klinikalltag.

„Mama, warum muss das alles so schwer sein? Ich fühle mich wie ein Verbrecher. Ich muss meine Zeit und Energie aufbringen, weil Papa gesoffen hat. Manchmal hasse ich ihn dafür. Aber manchmal wünsche ich mir, dass es wieder so wie früher sein könnte.“

Mein Freund ging neben mir und meine Mutter auf der anderen Seite von mir. Leider hatte ich mich nicht so im Griff, wie ich mir das gewünscht hatte und meine Stimme wurde bei dem letzten Satz sehr brüchig. Mama hatte ein gutes Gespür dafür.

„Ja, mein Sohn. Da sagst du etwas sehr Wichtiges. Wenn dieser Wunsch nicht mehr da wäre, dann brauchten wir das hier nicht zu machen. Und sei dir in einer Sache ganz sicher. Mir fällt das genauso schwer wie dir und Dustin.“

„Frau Grehl“, meldete sich jetzt Dustin zu Wort, „wie geht eigentlich Patrick mit dieser Situation um? Manchmal habe ich das Gefühl, für ihn ist sein Vater in der Klinik und kommt gesund nach Hause. Er glaubt doch nicht ernsthaft, dass das so einfach läuft, oder?“

Mama schaut ihm in die Augen und ihre Reaktion fand ich ganz große Klasse.

„Dustin, du bist ein guter Beobachter. Er begreift das nur ansatzweise. Ich hoffe, er bekommt hier eine Unterstützung, die ihm diese Situation richtig erklären kann. Er ist halt erst knapp dreizehn und er liebt seinen Vater über alles. Er hat ja auch nicht diese Demütigungen und Angriffe aushalten müssen so wie Fynn.“

Dieser Satz schwebte eine ganze Zeit über uns, ohne dass wir etwas dazu sagten. Mama war diejenige, die das Schweigen durchbrach.

„Dustin, ich möchte dir das „Du“ anbieten. Ich finde, du gehörst für mich zur Familie und ich möchte das hiermit auch klar zum Ausdruck bringen. Mein Mann wird sich darauf einstellen müssen, entweder er akzeptiert Fynn so, wie er ist oder unsere Familie wird ohne ihn weiterleben. Genau das werde ich ihm auch heute Nachmittag sagen, sollte es nötig werden. Also ich heiße Christine.“

Dustin blieb stehen und schaute zuerst zu mir und dann wieder meine Mama an. Ich war genauso überrascht, wie mein Freund. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mama umarmte erst meinen Freund, dann mich und das, was nun folgte, berührte mich sehr.

„Jungs, wir werden zusammenhalten. Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn durch das Verhalten meines Mannes und mein nicht Eingreifen weiter leidet. Lasst uns gemeinsam nach vorn schauen. In den Gesprächen in der Selbsthilfegruppe habe ich erst begriffen, dass ich genauso schuldig bin, wie mein Mann. Ich hätte viel früher reagieren müssen. Da jetzt aber ein guter Zeitpunkt ist, das nachzuholen, werde ich diese Chance nutzen. Seid ihr dabei?“

„Mama“, fragte ich total überrascht, „ist das wirklich dein Ernst?“

Fast schon lachend antwortete sie:„Ja, meinst du etwa, ich scherze damit. Ihr seid meine Kinder und ich als Mutter werde mich nicht länger unterbuttern lassen. Ich kämpfe für die Familie, aber nicht um jeden Preis.“

Dann umarmte sie uns beide ganz fest und ich hatte für mich den Entschluss gefasst, heute wird mein Vater entscheiden müssen, ob es einen Neuanfang geben kann oder nicht.

Dieser Spaziergang hatte bei Dustin und mir eine enorme Wirkung. Deutlich beruhigt, weil Mama sich klar hinter uns gestellt hatte, fuhren wir zurück in die Klinik und holten Papa und Patrick zum Essen ab. Die Fahrt zum Restaurant wurde mit oberflächlichen Themen überbrückt. Patrick war derjenige, der die meiste Zeit redete. Es war wirklich spürbar, dass für ihn bereits klar war, dass Papa wieder gesund nach Hause kommen würde. Gut, er war erst dreizehn, aber das musste er noch lernen. Diese Krankheit war weit tückischer, als er glaubte.

Papa lotste uns in ein sehr schönes Gasthaus. Es war ein Kroate und ich freute mich sehr, denn ich mochte das kroatische Essen sehr. Ob er das bewusst gewählt hatte? Wieder gingen mir diese Gedanken durch den Kopf. Ich unterstellte meinem Vater wieder diese Berechnung, dass er uns damit bestechen wollte. Dadurch konnte ich erst nach einigen Minuten das Essen genießen. Ich musste mich zwingen, nicht weiter darüber nachzudenken.

Als der Hauptgang durch war und wir auf das Eis warteten, hielt ich das Getue nicht mehr aus.

„Wie wird das eigentlich gleich ablaufen? Wird das gemeinsame Gespräch auch so oberflächlich ablaufen wie das hier gerade?“

Sofort erstarben alle Gespräche am Tisch und Dustin hielt die Luft an. Ich wollte dieses Spiel endlich beenden. Ich hatte keine Lust mehr, ständig bei jedem Wort, welches Papa sagte, darüber nachdenken zu müssen, was er möglicherweise damit bezwecken wollte.

Mein Blick muss böse ausgesehen haben, denn im Gegensatz zu vorhin, fing mein Vater nicht an, wieder belangloses Zeug zu reden. Er schien nervös zu werden, denn auf seiner Stirn bildete sich ein Tropfen Schweiß. Ich ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen, er sollte spüren, dass ich auf Geplänkel keine Lust mehr hatte.

Allerdings regte er sich auch nicht auf. Damit hatte ich nämlich gerechnet. Im Gegenteil, nachdem er den ersten Schreck verdaut hatte, gab er uns eine sehr ruhige Antwort.

„Nein, ganz sicher nicht. Ich weiß, dass du wütend auf mich bist. Das Gespräch wird von Herrn Büxten und Herrn Lahmeyer geleitet. Aber ich wollte uns ein wenig Zeit geben, sich wieder aufeinander zubewegen zu können.“

„Papa, für mich tust du so, als ob alles schon so gut wie ausgestanden ist. Dem ist aus meiner Sicht nicht so. Ich habe noch gar nicht angefangen, das mit dir aufzurollen. Immer wieder gehen mir Gedanken durch den Kopf, mit welcher Absicht du gerade dieses oder jenes tust. Ich fühle mich nicht ernst genommen.“

Stille, absolute Stille am Tisch. Selbst Mama schaute mich zweifelnd an. Patrick hingegen wollte sich auf Papas Seite stellen.

„Spinnst du? Wir sitzen doch hier zusammen und reden wieder miteinander. Du hast doch selbst immer gesagt, dass du genau das vermisst. Das Papa nicht mehr mit dir redet.“

Ich merkte, ich hatte mich taktisch nicht klug verhalten. Meine Ungeduld war zu groß. Vielleicht auch meine Wut. Ich wusste es nicht so genau. Dustin schien mich auch nicht verstanden zu haben, denn ihm war es sichtlich unangenehm. Papa blieb weiterhin ruhig. Das erstaunte mich total. Früher wäre er hier total ausgerastet.

„Patrick, lass gut sein. Fynn ist ja im Recht. Es muss ihm so vorkommen als ob ich darüber hinwegreden möchte. Das stimmt aber nicht. Euch wird nachher genug Gelegenheit gegeben, mit mir die großen Probleme zu besprechen. Kannst du so lange noch warten, oder sollen wir hier schon anfangen? Ich weiß nur nicht, ob es sinnvoll ist. Herr Büxten war der Meinung, bis zum Nachmittag zu warten.“

„Es war Thomas Idee mit dem Essen?“, fragte ich ungläubig.

Papa begann zu nicken und antwortete: „Wenn du es so nimmst, ja. Er war der Meinung, ich sollte mit dir nicht ohne Begleitung reden. Das habe ich befolgen wollen.“

Ok, das hatte ich absolut nicht erwartet. Jetzt war es wohl an mir, mich zu entschuldigen. Das fiel mir sehr schwer, denn auch früher hatte ich das immer getan. Allerdings nur, um meine Ruhe zu haben. Ich wollte das so nicht mehr tun. Vielleicht wäre es jetzt aber auch für mich an der Zeit, etwas für uns beizutragen.

„Gut, das habe ich nicht gewusst. Ich entschuldige mich für meine Ungeduld. Vielleicht hast du recht, Papa. Es ist vermutlich besser, wenn wir mit Hilfe von Thomas unser Gespräch führen. Zumindest heute.“

Wieder geschah etwas Ungewöhnliches. Mein Vater lächelte mich an und das sah sogar ernst gemeint aus. Kein hämisches Grinsen wie früher.

„Das ist vernünftig. Ich freue mich, dass du das einsiehst. Ich bin auch noch nicht so weit, dass es mir leicht fällt, mit dir zu reden.“

Mama schien sehr erleichtert, denn früher wäre das in einem Desaster geendet.

„Meine Männer haben schon etwas gelernt. Das ist doch mal gut. Kein neuer Krieg, sondern es kommt Vernunft ins Spiel.“

Mittlerweile stand das Eis doch schon eine Zeit lang auf dem Tisch und war bereits angeschmolzen. Ich mochte es ja so am liebsten. Also machte ich mich daran, das Eis zu vernichten. Dustin nahm das als Zeichen, sich auch wieder dem Essen zuzuwenden.

Wir beruhigten uns alle wieder und mein Vater hatte sogar Spielkarten dabei. Als ich vielleicht zehn war, hatten wir immer diese Spielkarten mit, wenn wir in einem Restaurant warten mussten. Wir haben früher immer Maumau gespielt. Heute fragte Papa uns:

„Kennt ihr eigentlich das Kartenspiel Doppelkopf?“

Patrick und ich schauten uns fragend an und schüttelten beide den Kopf.

„Nein, das kenne ich nicht. Ist das schwierig?“, fragte Patrick.

Wir hatten noch eine Stunde bis wir zurück sein mussten. Also begann Papa uns das Doppelkopfspiel zu erklären. Das Besondere an diesem Spiel ist, es muss zu viert gespielt werden. Also musste Mama auch mitspielen. Das führte zu einigen heiteren Momenten, denn Mama kannte das bereits. Sie half uns dabei, gegen Papa zu gewinnen. Das Problem dabei, es spielten immer zwei gegen zwei. So war auch immer einer von uns, der Gegner. Besonders gut war es, wenn ich mit Patrick gegen Mama und Papa spielte. Es verging die Zeit, wie im Fluge und das Schönste war, ich hatte sogar Spaß mit Papa zu spielen. Selbst Dustin konnte hin und wieder lachen, wenn ich einen dummen Anfängerfehler gemacht hatte.

Dustin: Ein Gespräch wird richtungsweisend sein

Der bisherige Verlauf war aufregend und wechselhaft. Ich hatte oft meine Zweifel, ob das richtig war, was hier geschah. Allerdings wurde es mit dem kommenden Gespräch mit allen Personen und Therapeuten, richtig spannend. Fynn hatte mir erneut bestätigt, dass er nur mit seinem Vater gemeinsam weiterarbeiten würde, falls er bedingungslos akzeptiert, dass Fynn schwul ist und ich halt sein Freund und Partner. Für Fynn war das die Grundvoraussetzung weiterer Gespräche.

Obwohl ich manche Momente recht merkwürdig empfunden hatte, war die Stimmung für die Situation durchaus erträglich. Fynns Vater hatte sich bemüht, keine große Show zu bieten und war sehr kleinlaut. Die Frage, die sich mir immer wieder stellte, war es ehrlich oder gespielt? Für meinen Freund musste das noch viel extremer sein. Jedenfalls standen wir nun in unserem Gesprächsraum mit Thomas, Herrn Lahmeyer und eigentlich sollte auch Frau Schönknecht bei dieser Runde dabei sein. Sie fehlte noch und entsprechend verwundert schaute ich, als Thomas uns bat Platz zu nehmen. Fynn und ich hatten mit Christine noch besprochen, dass wir klare Position zeigen würden. Also nahm Fynn neben mir Platz und nach einem kurzen Augenblick begann Thomas das Gespräch.

„So, herzlich willkommen zum ersten Familiengespräch. Eine kurze Erklärung zum Ablauf. Frau Dr. Schönknecht wird erst etwas später zu uns stoßen. Sie befindet sich noch in einem anderen Gespräch.“

Damit war das auch geklärt und Thomas fuhr jetzt fort.

„Herr Grehl, Ihre Familie ist auf ihren Wunsch hergekommen, um mit Ihnen an ihrer Zukunft zu arbeiten. Ich hoffe, es ist Ihnen bewusst, dass es insbesondere für Ihre Kinder eine ganz besondere Belastung ist. Es liegt in Ihren Händen, was aus dieser Möglichkeit nun passiert und sich entwickeln wird. Ich möchte noch einige Regeln erklären. Grundregel ist der Respekt der anderen Person gegenüber. Jeder darf ausreden und jeder muss sich an die allgemeinen Umgangsformen halten. Dass Gewalt oder die Androhung von Gewalt hier verboten ist, dürfte für alle selbstverständlich sein. Aufgrund der besonderen Umstände möchte ich dem Wunsch von Fynn nachkommen und ihm zuerst das Wort erteilen. Er wird Ihnen sicher auch erklären, warum das so ist. Fynn, du hast das Wort.“

Damit nickte er aber nicht nur Fynn zu, sondern er gab auch mir ein aufmunterndes Augenzeichen. Er wusste, dass ich Fynn unterstützen würde und auch konnte. Fynn beugte sich in seinem Stuhl nach vorn und holte tief Luft.

„Also gut. Ja, es ist richtig. Ich habe für mich etwas zu klären. Und zwar mit dir, Papa. Es gibt da eine Sache, die es zur Grundvoraussetzung macht, dass ich mir vorstellen kann, mit dir wieder zusammen zu reden und zu leben.“

So bestimmt, wie Fynn begann, hatte ich das nicht erwartet. Er ging direkt auf frontalen Kurs. Hoffentlich würde das kein Desaster. Alle Augen lagen auf Fynn, als er den entscheidenden Satz sagen wollte. Sein Vater kniff die Augen leicht zusammen. Er schien keine wirkliche Ahnung zu haben, was ihn nun erwarten würde.

„Nur wenn du meine etwas andere Art des Lebens akzeptierst und nicht ständig versuchst, mir deine Vorstellungen aufzuzwingen, werden weitere Gespräche stattfinden können. Ich bin mittlerweile fast siebzehn und weiß jetzt auch, was mit mir los ist. Für mich ist ein möglicher Neuanfang nur unter einer Bedingung denkbar. Du musst akzeptieren, dass ich auch in Zukunft weiterhin mit meinem Freund Dustin in Halle in der WG zusammen leben will. Nur dann bin ich bereit, mit Mama und Patrick zu kämpfen. Sonst ist das hier und jetzt für mich zu Ende.“

Es war raus, ohne dass er das Wort „schwul“ gesagt hatte. Ich war sehr überrascht über diese Wortwahl. Hatte er sich das selbst überlegt? Jetzt lagen alle Augen auf seinem Vater. Dieser saß noch recht regungslos auf seinem Stuhl, aber nicht mehr lange. Er schloss für einen Moment die Augen und als ob es endlich bei ihm angekommen war, antwortete er:

„Ich bin wohl sehr blind gewesen. Dustin ist nicht nur dein bester Freund, er ist dein Freund und Partner. Da hätte ich auch früher drauf kommen können.“

Er machte eine Pause und Fynn und ich waren total angespannt. Was für eine Reaktion würde jetzt kommen. Diese Stille war grausam.

„Ähm ja, nachdem, was ich mittlerweile hier über mich gelernt habe, kann ich mir gut vorstellen, dass du oft Angst gehabt haben musst. Darum bist du vermutlich auch geflüchtet. Ich muss durch die Sauferei und meine Arbeit wirklich den Überblick verloren haben. Habe ich das also richtig verstanden? Du bist schwul und lebst mit Dustin zusammen?“

Dieser letzte Satz hatte eine für mich nicht zu deutende Betonung. Wie hatte er das gemeint? Würde Fynn jetzt antworten? Ja, er tat es.

„Vollkommen richtig. Ich bin schwul und Dustin ist mein Freund. Wir lieben uns. Das wirst du ohne Bedingungen akzeptieren müssen oder unsere Zusammenkunft ist hier für Dustin und mich beendet. Es macht für uns keinen Sinn, mit dir über die Vergangenheit und die Zukunft zu reden, wenn du mich nicht so akzeptierst, wie ich bin.“

Stille. Selbst Patrick hatte es jetzt endgültig begriffen, dass sein Bruder hier Ernst machte.

Sein Vater schloss für einen Moment seine Augen und musste tief durchatmen. Dann begann sich sein Gesicht zu einem Lächeln zu verändern. Sah ich das richtig? Zu einem Lächeln.

„Ich habe dich verstanden, Fynn. Ich kann mein Verhalten in der Vergangenheit nicht zurücknehmen. Ich kann nur nach vorn schauen. Ich kann dir hier keine Versprechungen machen, die ich vielleicht nicht halten kann. Diesen Fehler habe ich lange genug gemacht. Ich weiß mittlerweile auch, dass ich meine Krankheit nicht heilen kann. Also weiß ich nicht, ob ich es schaffen werde, ohne Alkohol ein gutes Leben zu führen, aber eines weiß ich ganz sicher. Ich möchte alles versuchen. Ich verstehe zwar noch nicht, warum ich es nicht bemerkt hatte, aber vielleicht können wir das auch irgendwann besprechen. Für mich sollst du wieder genauso der geliebte Sohn werden, der du mal warst. Es ist mir egal, ob du mit einem Jungen oder Mädchen glücklich wirst. Wobei ich zu dir, Dustin, sagen möchte, ich finde dich sehr nett. Ich möchte euch aber um etwas Zeit bitten, mich damit zurechtzufinden. Es ist eine unbekannte Situation für mich.“

Fynn lehnte sich für einen Moment in seinen Stuhl zurück und schloss seine Augen. Ich konnte nicht anders, als seine Hand zu drücken. Niemand im Raum sagte ein Wort. Es war völlige Stille. Er öffnete die Augen, die sehr feucht waren. Hoffentlich würde er das überstehen.

„Warum, Papa? Warum hast du mich jahrelang so gequält? Ich habe dir nichts getan. Ich habe so oft versucht, mit dir zu reden, aber…“

Weiter kam er nicht mehr. Seine Stimme und seine Fassung waren verloren. Die Tränen liefen aus seinem Gesicht, wie ein Wasserfall. Ich hielt ihn ganz fest und Thomas sagte leise.„Dustin, nimm deinen Freund für einen Moment mit nach draußen. Ihr müsst euch erst einmal beruhigen.“

Ich zog Fynn vom Stuhl und ging mit ihm, eng umschlungen, aus dem Raum. Draußen wurde sein Weinkrampf erst noch viel schlimmer, aber er beruhigte sich in meinen Armen auch wieder.

Die Spannung war für ihn nicht mehr auszuhalten gewesen. Hier wurde mir bewusst, dass auch Fynn ganz viel Leid erlebt haben musste. Ich konnte seine Wut so gut verstehen. Hatte ich doch ähnliches erlebt. Wenigstens konnte sein Vater begreifen, dass er die Ursache für die Probleme war. Hoffentlich würden sich beide wieder annähern können. Nachdem die Tränen versiegt waren, schauten wir uns in die Augen.

„Danke, dass du bei mir bist. Allein hätte ich das nie geschafft.“

Er lächelte mich an. Was für ein Anblick.

„Doch, hättest du. Aber vielleicht hätte es noch länger gedauert. Wir kämpfen gemeinsam und das macht uns stark. Genau wie auf dem Platz. Wir sind ein starkes Team.“

Er nickte nur und wir blieben noch für einen Augenblick wortlos dort stehen. Er sollte bestimmen, wenn er sich stark genug fühlte, wieder hineinzugehen.

„Ich möchte wieder hinein gehen. Papa soll nicht das Gefühl haben, wir seien schwach und unsicher. Er soll merken, dass ich das ernst meine.“

„Ganz ruhig, Schatz. Hast du nicht bemerkt, dass Thomas sofort für uns Partei ergriffen hat. Wir stehen nicht allein da und du musst dich beruhigen, sonst machen wir es deinem Vater zu einfach. Er soll spüren, dass wir ernst machen und nicht nachgeben.“

Er holte tief Luft und im ersten Moment dachte ich, er würde sich darüber gleich wieder aufregen. Er blies die Luft aus der Nase heraus und schloss seine Augen. Dann gab er mir einen Kuss.

„Schon gut, du liegst vermutlich richtig. Aber ich möchte jetzt wieder hineingehen und das fortführen. Wir sind noch nicht fertig.“

„Gut, dann komm. Auf geht es.“

Wir gingen die wenigen Meter zurück und vor der Tür konnten wir angeregte Stimmen vernehmen. Es wurde lebhaft diskutiert. Ich konnte sogar Patricks Stimme heraushören. Ich drückte die Türklinke und öffnete die Tür. In diesem Augenblick erstarb die Unterhaltung und alle Augen waren auf uns gerichtet. Thomas lächelte Fynn an und Christine schien auch erleichtert zu sein. Sie stand auf und ging auf ihren Sohn zu.

„Geht es wieder? Thomas hat sonst angeboten, später weiterzumachen. Es ist alles ok, du bestimmst hier das Tempo.“

„Danke, Mama. Es geht schon, Dustin passt ja auf mich auf.“

Damit war sie zufrieden und sie schaute mich dabei an. Ihre Augen leuchteten. Das war ein ganz tolles Gefühl zu wissen, dass sie hinter uns steht. Nachdem wir uns wieder in den Stuhlkreis gesetzt hatten, begann Thomas erneut mit dem Gespräch.

„Schön, dass ihr wieder zurück seid. Wir haben nicht groß weiter gesprochen. Es gab nur ein paar Fragen. Seid ihr bereit, dass wir fortfahren?“

„Ja, wir wollen weiter machen.“, sagte Fynn sehr bestimmt.

„Gut, ich schlage vor, dass dein Vater dazu Stellung nimmt und wir dann gemeinsam schauen, ob das hier weitergeht, mit oder ohne euch.“

Er sagte das emotionslos. Ich erschrak ein wenig, denn ich hatte gedacht, er würde auf unserer Seite stehen. Erst später konnte ich dieses Verhalten begreifen.

Fynns Vater saß sehr angespannt auf seinem Stuhl. Von der selbstherrlichen Arroganz war gar nichts, aber auch überhaupt nichts mehr übriggeblieben. Ich war sehr gespannt, was er uns erwidern würde.

„Ja, nun ist es also an mir, darüber zu entscheiden, wie wir fortfahren. Ich will gar nicht anfangen, mich zu beschweren. Denn es ist euer gutes Recht, diese Forderung zu stellen. Ich habe nur eine Sache, die ich dazu sagen möchte. Es war mir nie aufgefallen, dass du schwul sein könntest. Allerdings weiß ich heute auch, dass das nicht viel zu sagen hat. Ich war in den letzten vier oder fünf Jahren kaum noch in der Lage überhaupt etwas aus der Familie mitzubekommen.“

Dabei suchte er den Blick seiner Söhne. Fynn blieb regungslos, während Patrick deutlich unruhiger wurde.

„Deine oder besser eure Bedingung ist klar formuliert und ich möchte hier ebenso klar und deutlich sagen, dass es für mich sehr wichtig ist, dass ihr mit mir redet. Wir können nur gemeinsam unsere Probleme lösen. Ich bin zwar überrascht, aber es ist für mich kein Problem, dass du mit Dustin zusammen bist. Dustin scheint ein toller Junge zu sein nach allem, was mir auch eure Mama von ihm erzählt hat. Ihr müsst keine Angst haben, dass ich euch deswegen weniger liebe als Patrick.“

„Liebst du mich überhaupt? Hast du mich überhaupt geliebt?“

Diese Reaktion von Fynn hatte ich nicht erwartet. Sie war voller Misstrauen und Wut. Hoffentlich führte das nicht zu einer Eskalation. Thomas blieb ruhig und auch Herr Lahmeyer machte nur ein paar Notizen und beobachtete in erster Linie nur.

Ich entschloss mich, seine Hand zu nehmen und auf diese Weise zu versuchen, dass er sich nicht so aufregte.

„Auch wenn es nicht so aussah, ja, ich liebe dich immer noch und habe es auch immer getan. Ich konnte es nur nicht mehr zeigen. Fynn, es ist meine Schuld, dass ich getrunken habe. Es ist nicht deine Verantwortung, dass du so gelitten hast. Ich kann es aber nicht rückgängig machen. Es ist aber jetzt ganz allein deine Entscheidung, ob wir eine Chance bekommen, neu anzufangen oder nicht. Darauf habe ich jetzt keinen Einfluss mehr.“

Ich wurde wütend, denn für mich hörte sich das nach Abwälzen der Verantwortung an. In dieser Phase schaltete sich Herr Lahmeyer ein.

„Ich möchte Patrick jetzt einmal bitten, seine Sichtweise und seine Wünsche zu äußern. Er hat mir in den vorangegangen Situationen einige Wünsche mitgeteilt.“

Patrick explodiert förmlich. Ich erschrak über diese Energie.

„Ich finde es total beschissen, dass Fynn hier Bedingungen macht und Papa erpresst. Wie soll Papa denn das so schnell ändern? Endlich hat Papa seine Fehler eingesehen und ändert sich. Ich will, dass wir wieder eine Familie werden. Ohne Streit und Hass.“

Fynn wäre seinem Bruder jetzt am liebsten an den Hals gegangen. Damit hatten wir nicht gerechnet, dass er sich so auf die Seite seines Vaters stellen würde. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Glücklicherweise reagierte Thomas schnell genug und auch Fynns Vater blieb ruhig.

„Patrick, das ist Unsinn. Fynn hat niemanden erpresst. Er hat nur gesagt, dass euer Papa akzeptieren muss, dass Fynn mit seinem Freund in Halle leben will und schwul ist. Mehr nicht. Dass du wieder eine Familie möchtest, kann ich verstehen, aber nicht für jeden Preis. Genau das, und nichts anderes hat Fynn gesagt. Und es ist richtig, dass er das so sagt.“

„Er hat recht.“, meldete sich Fynns Vater. „Aus seiner Sicht macht das Sinn. Wenn ich nicht akzeptieren würde, dass er schwul ist, macht es für ihn doch wirklich keinen Sinn, hier weiter zu machen. Patrick, er hat mich auch überhaupt nicht erpresst. Wie kommst du darauf? Ich habe einfach nur eine Bedingung erfüllen sollen, damit er hier weiter bei uns bleibt. Eine Bedingung, die mir nicht schwer fallen wird, zu erfüllen. Sie ist nämlich sinnvoll und richtig.“

Wow, mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Auch Fynn schien sehr überrascht gewesen zu sein, denn:

„Papa, das ich das noch einmal erleben kann. Du stimmst mir, deinem Sohn, zu?“

Auch wenn es sich lustig angehört hatte, das war bitterer Ernst für Fynn.

„Ja, ich weiß. Du musst mich für ein richtiges Arschloch halten. Gut, ich bin auch selbst schuld daran. Und noch einmal, ja, ich gebe dir recht. Hoffentlich nicht zum letzten Mal.“

Ganz langsam lockerte sich bei allen Beteiligten die Anspannung. Für heute schien das Schlimmste überstanden zu sein, denn es wurde deutlich, dass Fynns Vater uns akzeptieren und ich für Fynn weiterhin Teil seines Lebens sein würde. Das hatte sein Vater begriffen. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass er es schade finden würde, wenn Fynn nicht zu Hause lebte. Mal schauen, was sich da noch entwickeln würde.

„Es gefällt mir, dass wir als Therapeuten heute so wenig anleiten müssen. Die Jungs schmeißen hier den Laden. Das kommt gut rüber. Macht weiter so. Redet direkt miteinander und nicht übereinander.“

Genau das taten wir auch weiterhin. Fynns Vater berichtete noch viel aus dem Klinikalltag und wie viele Stunden er schon mit den Therapeuten gearbeitet hatte. Dadurch konnte ich mir auch diese positiven Reaktionen erklären. Fynns Angst vor seinem Vater schien so lange unbegründet zu sein, wie er ohne Alkohol war.

Leider raste die Zeit nur so voran und es war überhaupt nicht aufgefallen, dass die Ärztin gar nicht mehr zu uns gekommen war. Die ersten neunzig Minuten Gespräch waren vorüber und es sollte morgen noch ein weiteres Gespräch mit allen geben. Bevor wir uns heute trennten, wollte ich aber unbedingt noch etwas wissen.

„Auch wenn es vielleicht eine blöde Frage ist, aber warum können Menschen so unterschiedlich sein, nur durch den Alkohol? Was verändert sich in einem Menschen durch den Alkohol?“

„Puh, das ist eine sehr gute, aber auch sehr schwierige Frage. Wäre es möglich, diese Frage bis morgen zurückzustellen? Wenn wir das jetzt noch beginnen zu klären, sitzen wir noch einige Zeit hier. Morgen werden wir das auch nicht endgültig klären, aber du wirst dann vielleicht besser verstehen, warum so eine Therapie eigentlich nie zu Ende sein darf. Ich habe sie notiert und du kannst sicher sein, dass wir das morgen zuerst klären. Ist das in Ordnung? Außerdem könntest du auch mit Fynns Vater darüber sprechen. Er kann dir bestimmt etwas dazu berichten.“

„Ja, ist in Ordnung. Ich hoffe, wir bekommen die Kurve und es geht wieder in die richtige Richtung.“

„Auch wenn es für dich vielleicht schwierig sein könnte, aber du kannst mich auch etwas fragen, wenn wir hier nicht sitzen.“

Diese Reaktion von Fynns Vater löste bei mir Unsicherheiten aus. Wie sollte ich mich verhalten. Einerseits zeigte er hier ein nettes und offenes Verhalten, aber aus Fynns Erzählungen kannte ich auch die andere Seite. Wie wäre es für Fynn, wenn ich mit seinem Vater direkt das Gespräch suchen würde? Das war alles sehr kompliziert. Dennoch nahm Thomas das als Anlass für die weitere Terminplanung.

„Alle gemeinsam sehen wir uns morgen Vormittag um halb elf wieder. Heute Abend vor dem Abendessen stehen euch noch Frau Dr. Schönknecht für medizinische Fragen zur Verfügung und Herr Lahmeyer für die Kindersprechstunde. Mit euch beiden, möchte ich nach dem Abendbrot noch einmal sprechen. Ist das ok?“

Fynn und ich schauten uns an und die Erschöpfung war Fynn ins Gesicht geschrieben. Er nickte aber.

„Ja, können wir machen. Momentan fühle ich mich aber müde und erschöpft. Ich brauche etwas Pause.“

Thomas musste lachen.

„Ja, was hast du denn gedacht? Dass du das alles mit links abschüttelst? Das wird noch einige Zeit sehr anstrengend bleiben. Je offener ihr aber miteinander redet, desto schneller werden Veränderungen möglich werden. Also macht den nächsten Schritt, aber Dustin, du passt auf deinen Freund auf. Nicht, dass er sich zu viel vornimmt.“

Mit dieser etwas flapsigen Aufforderung lösten wir unseren Gesprächskreis auf. Wir hatten den Nachmittag frei und eigentlich würde ich es begrüßen, mit Fynn ein wenig Zeit allein verbringen zu können. Ob das jetzt allerdings klug und richtig war, wusste ich nicht. Zuerst wollte ich etwas frische Luft atmen und ging nach draußen. Erstaunlicherweise blieb ich allein. Fynn kam nicht hinterher. Erst nach einigen Minuten kamen sie alle nach draußen und gesellten sich zu mir. Fynn schien verwundert.

„Hier bist du. Wir haben dich schon vermisst. Mein Vater möchte dich etwas fragen.“

„Ah ok. Sorry, aber ich musste an die frische Luft. Das war doch anstrengender als ich dachte. Aber was möchten Sie wissen?“, fragte ich dann seinen Vater.

„Ich möchte dich fragen, ob du Lust hast, mit uns einen Ausflug zu machen. Wir haben den Nachmittag frei und ich möchte euch etwas Schönes zeigen. Meine Frau hatte mir erzählt, dass ihr euch auch sehr für die Natur interessiert, stimmt das?“

„Ja, das stimmt schon. Ich gehe gern in den Wald und schaue mir die Natur an. Wenn wir denn mal Zeit haben. Oft sind wir im Wald nur zum Laufen.“

„Ich habe es bereits gehört, wie intensiv ihr trainiert. Also, wie sieht es aus? Kommst du gleich mit?“

„Fynn? Was ist mit dir? Ohne dich fahre ich nicht mit.“

„Das weiß ich, aber genau deshalb fahre ich mit, weil du mitkommen sollst.“

Nanu? Fynn hatte seinen Humor zurück? Also das war ja ganz was Tolles. Jetzt war meine Neugier geweckt.

„Tja, dann kann ich jetzt schlecht nein sagen. Nein, Spaß. Ich komme gern mit. Wo soll es denn hingehen?“

„Das bleibt noch eine Überraschung, aber so viel kann ich sagen, Patrick hat sich das gewünscht. Ich möchte, dass er auch zu seinem Recht kommt.“

Fynn: Es war hart

Der erste Schlagabtausch war bereits einige Minuten vorüber. Dennoch war ich noch voller Anspannung und Adrenalin. Ich fühlte erst jetzt langsam, wie sehr mich dieses Gespräch belastet hatte.

Ich ärgerte mich über meinen Ausbruch, als ich ihm von meinem Martyrium erzählen wollte. Aber es ging einfach nicht. Ich bekam es nicht hin, das zu sagen, was ich mir vorgenommen hatte. Das machte mir Angst. Wie sollte ich das loswerden, wenn das hier schon nicht gehen würde. Außerdem war ich unzufrieden. Mein Bruder war mir in den Rücken gefallen. Er hatte nur die heile Welt der Familie im Kopf.

Wie gut, dass Mama mich vorgewarnt hatte. Sie war überhaupt zu einer wirklich großen Unterstützung geworden, denn sie ließ sich nicht mehr von meinem Vater um den Finger wickeln. Jetzt wollte mein Vater mit uns einen Ausflug machen. Allerdings hatte er mir und Dustin die Teilnahme absolut freigestellt. Er hatte keinen Druck ausgeübt und das gefiel mir.

Dustin und ich standen etwas abseits der anderen und er hatte sofort gespürt, dass ich sehr erschöpft war.

„Schatz, wir sollten uns eine Pause gönnen. Allein, ohne die anderen. Soll ich das mit deinem Vater besprechen oder willst du selbst darum bitten, dass wir wenigstens ein paar Minuten mehr Zeit haben, uns zu sammeln?“

Das war eine gute Idee, aber auch eine schwierige Entscheidung. Eigentlich sollte ich das selbst machen, denn ich war derjenige, der diese Pause brauchte. Aber ich fühlte mich noch überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, meinem Vater klar zu sagen, was ich möchte und was nicht. Dustin bemerkte mein Zögern und reagierte schnell.

„Komm, lass uns gemeinsam gehen. Das wird sicher das Beste sein.“

Dann streichelte er mir durch mein Haar und gab mir einen flüchtigen Kuss. Dieses Gefühl war großartig. Wieder ließ mein Freund mich spüren, dass er mir den Rücken frei hielt.

„Ja, lass uns gemeinsam gehen. Das gefällt mir. Danke.“

Wir brauchten nur einige Schritte bis wir wieder bei den anderen standen.

„Na, ihr beiden. Habt ihr euch etwas gesammelt?“, fragte uns Mama.

Ich schaute zu ihr und sie hatte mich verstanden, bevor ich etwas gesagt hatte. Sie lächelte nur und nickte uns zu. Also machten wir noch ein paar Schritte weiter zu Papa, der noch mit Thomas ein paar Dinge zu klären schien. Ich wartete mit Dustin bis sie fertig waren.

„Fynn, was möchtest du?“, fragte mich mein Vater freundlich.

„Papa, könnt ihr bitte noch etwas warten. Dustin und ich möchten uns noch etwas erholen. Das Gespräch hat mich doch mehr mitgenommen, als ich gedacht hatte.“

Dabei wurde mir heiß und kalt im Körper. Das war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass ich meinem Vater gegenüber ganz vernünftig eine Bitte formuliert habe. Mein Vater schaute mich an und es war wie früher. Sein Gesicht war nicht mehr so hart wie in den letzten Jahren. Mir fiel erst jetzt auf, dass er sich auch optisch verändert hatte.

„Kein Problem. Ich habe es mir schon gedacht. Das ist wirklich vollkommen in Ordnung. Für mich war das auch nicht einfach. Also was meint ihr? Wie lange braucht ihr?“

„Danke Papa. Vielleicht fünfzehn Minuten? Wir wollen einfach mal allein ein paar Minuten zusammen sein.“

„Gut, dann in einer Viertelstunde auf dem Parkplatz? Ist das in Ordnung für euch?“

Wir nickten und machten uns auf in den angrenzenden Wald. Die klare Luft und die rauschenden Blätter lösten bei mir sofort die Verkrampfungen. Es hatte etwas Beruhigendes.

„Wie geht es dir jetzt, Fynn? Ich bin sehr stolz auf dich. Du hast endlich begonnen, aufzuräumen.“

„Nein, zufrieden bin ich nicht. Ich hätte gern viel mehr gesagt. Es ging aber einfach nicht. Wenn du mich nicht aufgefangen hättest, weiß ich nicht, ob das so ausgegangen wäre.“

„Hallo? Weshalb bin ich denn mitgekommen? Das ist doch meine Aufgabe, meinen Freund zu beschützen und zu stärken. Ich finde, du hast dich gut geschlagen. Der Anfang ist gemacht. Du bist doch schon drei Schritte weiter, als ich. Dein Vater hat sich sehr anständig verhalten und ich habe das Gefühl, es könnte in die richtige Richtung gehen. Du musst Geduld haben. Dieses Projekt lässt sich nicht in einer Trainingseinheit vollenden.“

Ich schaute Dustin völlig verdutzt an.

„Von wem hast du denn diesen Text? Das hast du dir doch nicht ausgedacht.“

Jetzt lachten wir beide und das Lachen tat so gut. Dustin kringelte sich fast.

„Das… das war ein Spruch von Chris. Er sagt doch auch immer, wenn wir bei unserer Technik etwas verändern sollen, das geht nicht in einer Stunde, sondern dauert Monate harter Arbeit.“

„Ok“, lachte ich immer noch, „das ist wahr. Du meinst also, ich muss mehr Geduld haben.“

„Richtig, Geduld und weitere Arbeit. Schau doch mal, dein Vater ist bereits zwei Monate in der Klinik und hat jeden Tag Therapiegespräche. Wir haben nur mit Chris mal gesprochen oder heute hier in der Klinik. Also können wir doch noch gar nicht so weit sein, wie dein Vater. Klar, wir haben kein Alkoholproblem, aber wir müssen uns genauso verändern wie er. Das hast du doch selbst gesagt.“

„Ok, du liegst vermutlich wieder mal richtig. Ich bin halt nicht der Geduldigste. Dann lass uns jetzt die Minuten genießen und an etwas anderes denken. Ich möchte etwas entspannen.“

Das ließ sich mein Freund nicht zweimal sagen und sorgte sich sehr erfolgreich um meine Entspannung.

Entsprechend gut gelaunt und ausgeglichen tauchten wir beide am Parkplatz wieder auf. Die anderen waren noch nicht da und somit schauten wir noch für einen Moment auf den Klinikkomplex.

„Das ist eine kleine Klinik. Ich würde gern mal wissen, wie viele Alkoholkranke es in Deutschland wohl gibt. Und wie viele davon sich behandeln lassen können.“

„Ich weiß es nicht, aber ich fürchte, es sind sehr viele. Vielleicht fragst du das Thomas mal. Oder noch besser die Ärztin. Sie müsste das sicher wissen.“

„Stimmt, Fynn. Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“

„Dafür haben wir uns doch. Wir ergänzen uns eben gut.“

Ich musste lachen und wir umarmten uns, damit wir nicht vor Lachen umfielen. Diese wenigen Momente der Fröhlichkeit taten mir so gut. Wie gern würde ich jetzt auf dem Tennisplatz stehen und mich dort austoben. Erfreulicherweise hatten unsere Freunde an uns gedacht und Maxi, Tim und Carlo hatten sich per Whatsapp gemeldet und uns von ihrem Turnierverlauf berichtet. Maxi hatten wir erklärt, was wir an diesem Wochenende machten und warum wir kein Turnier spielten. Von ihm bekam ich auch später noch eine Nachricht, in der er sich erkundigte, wie es uns gehen würde und ob es positive Nachrichten gäbe. Das gab mir ein tolles Gefühl. Er hatte an uns gedacht und machte sich Gedanken.

„Schau mal, Fynn. Da kommt der Rest der Truppe. Eigentlich müssten wir gleich meckern. Sie sind fünf Minuten zu spät.“

„Sorry, wir sind zu spät, aber Patrick brauchte einen Augenblick länger auf der Toilette.“

„Kein Problem, Mama. Wir haben uns auch erholt. Dann lasst uns aufbrechen.“

Papa durfte während des Klinikaufenthaltes kein Auto fahren und deshalb stieg Mama auf der Fahrerseite ein. Papa dirigierte sie sehr zielsicher über die Straßen. Für uns war es immer noch nicht ersichtlich, wo es eigentlich hin gehen sollte. Wir fuhren einen Berg hinauf und plötzlich standen wir auf einem großen Parkplatz mitten auf dem Berg. Nach dem Aussteigen musste ich erst einmal den Ausblick genießen. Einfach wunderbar. Patrick schien sich allerdings eher weniger für den schönen Ausblick zu interessieren, denn er drängte schon wieder. Papa ließ sich aber nicht drängen. Im Gegenteil, er kam zu uns und stellte sich neben uns.

„Das ist doch ein toller Ausblick, oder? Wir sind hier schon mehrfach mit dem Rad hochgefahren. Ich finde es immer wieder wunderschön.“

Hatte ich das richtig verstanden? Mein Vater war hier mit dem Rad hinaufgefahren? Das konnte ich kaum glauben. Sonst hatte er das Auto selbst zum Brötchen holen benutzt.

„Du bist mit dem Rad hier herauf gefahren? Wow, Respekt. Das hätte ich dir nicht zugetraut.“

Dustin drückte meine Hand. Er wollte mir wohl damit ein Zeichen geben. Ich hingegen wollte gar nicht provozieren oder ähnliches. Meine Bewunderung war ehrlich gemeint. Glücklicherweise hatte Papa das auch so empfunden.

„Ja, wir müssen hier auch Sport machen. Natürlich nicht so wie ihr. Aber für die meisten ist es völlig neu, sich wieder sportlich bewegen zu müssen. Mittlerweile macht es mir sogar Spaß, mit dem Rad unterwegs zu sein. Vielleicht kaufe ich mir ein neues gutes Rad und fahre dann damit auch zur Arbeit. Zumindest im Sommer.“

Das überraschte mich total. Sollte er das wahrmachen, würde ich das sehr unterstützen. Allerdings hatte er früher oft derartige Ankündigungen gemacht und nie verwirklicht. Entsprechend zurückhaltend reagierte ich. Papa bemerkte das, ging aber nicht weiter darauf ein. Aus dem Hintergrund konnten wir schon wieder Patrick drängeln hören. Irgendwie eine Nervensäge.

„Kommt, sonst gibt Patrick keine Ruhe. Er freut sich schon die ganze Zeit darauf.“

Wir mussten doch etwas lachen, denn eigentlich hatten Dustin und ich gedacht, mein Bruder wäre kein kleines Kind mehr. Tja, so konnte man sich täuschen.

Wir drehten uns um und marschierten zu Mama, die mit Patrick bereits am Ende des Parkplatzes wartete. Erst jetzt konnte ich das Schild erkennen. „Sommerrodelbahn“. Na klasse. Da hatte sich Patrick ja was wirklich Ausgefallenes ausgesucht. Dustin schien sich zu amüsieren.

„Hey, das ist ja mal lustig. Ich war noch nie auf einer Sommerrodelbahn. Das wird bestimmt heftig. Wir fahren aber im Doppelsitzer.“

„Angsthase“, sagte ich im Spaß und Dustin kniff mir zum Dank in die Seite. Wir kabbelten ein wenig herum, bis Papa uns bat, doch endlich mitzukommen. Es war recht viel los und so erklärte sich auch der große Parkplatz.

Papa hatte schon eine Familienkarte gelöst und uns wurde noch erklärt, dass es Einzelsitzer und Doppelsitzer gab. Wir waren zu fünft und damit musste einer ja allein fahren. Das war natürlich Patrick, dem es nicht schnell genug gehen konnte. So fuhr Mama mit Papa und ich mit Dustin. Später tauschten wir auch. Und so kam es sogar dazu, dass ich eine Fahrt mit meinem Vater gemacht habe.

Der Nachmittag war wirklich gelungen. Da hatte sich mein Vater etwas Lustiges ausgedacht. Vor allem hatten wir während dieser Zeit, nicht einmal über Probleme geredet. Nur über den Moment und dass es Spaß machen würde. Die Erinnerungen an schöne Zeiten kamen hoch. Vielleicht würde es doch noch eine Möglichkeit geben, dass wir wieder eine Familie würden.

Selbst auf dem Rückweg war die Stimmung immer noch ausgelassen. Als wir auf dem Klinikparkplatz aus dem Auto stiegen, wurde mir bewusst, dass ich den ganzen Nachmittag mit meinem Vater unterwegs war und nicht einmal Angst hatte, dass er etwas aus Kalkül heraus tun würde. Das beunruhigte mich jetzt total.

Papa ging mit Mama und Patrick schon in Richtung Klinikeingang. Ich musste einen Moment verschnaufen und Dustin ging es anscheinend genauso.

„Geht ruhig schon vor, wir kommen gleich nach.“

Mein Vater drehte sich mit einem Lächeln um und erwiderte: „Alles klar, aber macht nicht so lange. Und denkt dran, in einer halben Stunde ist die medizinische Sprechstunde. Da wolltet ihr doch hin.“

Ich gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich das verstanden hatte und wir auch immer noch dorthin gehen wollten.

„Wie hast du diesen Nachmittag gefunden? Ich bin irgendwie positiv überrascht, aber jetzt auch wieder so skeptisch. Warum geht das jetzt mit einem Mal? Seit Jahren habe ich mit meiner Familie nicht mehr so viel Freude gehabt.“

Dustin schaute mich fröhlich an. Er umarmte mich bei seiner Antwort.

„Ich fand es auch total schön. Warum das schon Jahre nicht mehr so war, kann ich dir nicht sagen. Du denkst, dass dein Vater das nur macht, um euch zu beeinflussen?“

„Nein, oder ich weiß es nicht. Vorhin habe ich noch bei jeder Aussage und Tat überlegt, wie er damit versuchen könnte, einen Vorteil daraus zu ziehen. Mittlerweile fange ich an zu zweifeln. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Jedenfalls ist das nicht mehr mein Vater, so wie ich ihn die letzten Jahre erlebt habe.“

Dustin und ich gingen einige Schritte nebeneinander und er hielt meine Hand.

„Ich kann es mir gut vorstellen, was du gerade denkst und fühlst. Vielleicht ist das ein Teil der Krankheit? Wir sollten die Ärztin gleich fragen. Heute Abend können wir auch mit Thomas noch einmal sprechen. Ich merke nur gerade, dass das alles unheimlich viel Information auf einmal ist. Ich weiß gar nicht, ob ich das alles richtig verarbeiten kann.“

„Ja, das ist richtig. Geht mir genauso. Wie gut, dass ich nicht allein bin. Zusammen bekommen wir das hin. Ich möchte dich gern etwas fragen. Du musst aber eine ehrliche Antwort geben.“

„Mach ich doch immer.“

Dustin grinste mich dabei an. Mein Blick verfinsterte sich und Dustin reagierte schnell.

„Hey, das war Spaß. Also klar, frag und ich werde ehrlich antworten. Aber ich glaube, ich kenne deine Frage schon.“

„So?“

„Du möchtest wissen, ob ich deinem Vater traue und ob er das ehrlich meint.“

Dustin kannte mich bereits sehr gut. Mir war es etwas unangenehm, denn mein Misstrauen war immer noch sehr groß.

„Ja, ich weiß einfach nicht, was hier passiert und was ich glauben kann. Es kann doch nicht sein, dass innerhalb so kurzer Zeit wieder alles in Butter ist.“

Mein Freund wiegte seinen Kopf hin und her und sehr leise antwortete er:

„Deine Bedenken kann ich nachvollziehen. Ich weiß es auch nicht. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass er es heute nicht ehrlich gemeint hat. Sicher kann ein Tag nicht das wieder gutmachen, was du jahrelang erleiden musstest, aber vielleicht ist es ein Anfang. Erinnerst du dich an Thomas? Er hat doch zu Anfang gesagt, dass es ein langer Weg sein wird und wir über alles sprechen sollten.“

Jetzt hatte es „Klick“ bei mir gemacht. Da hätte ich auch selber drauf kommen können.

„Mein lieber Dustin, wie gut, dass du bei mir bist. Wir müssen darüber sprechen, nur so bekommen wir Antworten.“

Dann machten wir uns auf den Weg hinein. Vor dem Abendessen stand noch die Sprechstunde mit der Ärztin an. Wir hatten uns einen Termin geben lassen und waren angemeldet. Als wir hineingebeten wurden, spürte ich wieder etwas Nervosität. Dustin blieb erstaunlich ruhig und wich mir nicht von der Seite. Frau Schönknecht wunderte sich nur darüber, dass ich mit Dustin gemeinsam auftauchte. Sie fragte mich deshalb:

„Ist das dein Wunsch, dass dein Freund dich begleitet? Ich meine, er gehört doch nicht zu deiner Familie.“

Sie hatte es also auch noch nicht mitbekommen. Mittlerweile wurde es langsam lästig, aber egal. Da mussten wir wohl durch.

„Frau Dr. Schönknecht, Dustin gehört für mich zur Familie, weil er mein Freund und Partner ist. Sie würden doch auch nicht ohne Ihren Mann so ein Wochenende verbringen wollen, oder?“

Damit hatte ich alles gesagt und sie sofort verstanden. Sie hatte Humor und nahm es sehr locker. Damit konnten wir direkt in unser Gespräch einsteigen und es lohnte sich auf jeden Fall, dass wir das gemacht hatten.

Wir erhielten viele neue Informationen über die Krankheit. Die Zahlen waren erschreckend hoch und insbesondere, dass es bereits viele abhängige Jugendliche in Deutschland gab. Sie bestätigte unsere Frage nach der Heilbarkeit. Mein Vater würde sein Leben lang ohne Alkohol leben müssen. Dann bestünde eine gute Chance, dass er wieder zufrieden am Leben teilnehmen könnte und vor allem würden die Wesensveränderungen zurückgehen. Wir bekamen von ihr einiges an Informationsmaterial und auch Kontaktadressen für uns Jugendliche.

Dieses Gespräch war jedenfalls sehr informativ und glücklicherweise nicht so anstrengend wie der bisherige Verlauf des Wochenendes. Mittlerweile war ich aber doch so weit, dass ich froh war, wenn wir den Tag geschafft hatten. Jetzt stand das Abendessen an. Das sollte wieder gemeinsam eingenommen werden. Also machten wir uns von dem Gespräch mit der Ärztin direkt auf den Weg in den Speiseraum. Der Tag war schon so gut wie herum. Heute wollte Thomas noch einmal nur mit Dustin und mir sprechen. Auf dieses Gespräch freute ich mich. Denn dort konnte ich ohne Rücksicht auf Patrick alles besprechen, was mich belastete. Auch Dustin schien sich auf diese Gelegenheit zu freuen, denn bei der Ärztin hatte er schon einige Dinge angedeutet.

Dustin: Das Gespräch mit Thomas wird sehr interessant

Wir hatten ein ruhiges und mittlerweile nicht mehr so angespanntes Abendessen hinter uns gebracht. Fynn und ich saßen mit Thomas im sogenannten Freizeitkeller. Dort konnten sich die Patienten abends treffen zum Kartenspielen, Kickern oder halt nur zum Klönen. Thomas zeigte uns diesen Bereich und forderte uns zu einem Duell beim Kicker heraus.

Nachdem wir haushoch verloren hatten, fragte uns Thomas: „Möchtet ihr vielleicht etwas zu trinken? Dann lade ich euch in unsere Saft- und Cocktailbar ein.“

„Hier gibt es eine Cocktailbar? Du machst Witze.“

Fynn war entsetzt und Thomas lachte sich halb tot.

„Doch, na klar haben wir eine Cocktailbar. Kommt mit, ich lade euch ein.“

Er legte Fynn seinen Arm um die Schulter und führte uns aus dem Zimmer über einen Flur zu einem größeren, offenen Raum. Dort standen eine Theke mit Barhockern und auch eine Sitzgruppe. Der Raum war mit einigen Personen, Patienten wie Angehörigen gefüllt und zwei Personen standen hinter der Theke.

„Hier ist unsere Cocktailbar.“

Dabei zeigte Thomas mit seinem Arm einmal in die Runde. Ich war baff. Allerdings konnte ich auf der Tafel erkennen, dass es sich um eine alkoholfreie Cocktailbar handelte. Da hätten wir natürlich auch drauf kommen können.

„Was möchtet ihr trinken? Etwas Fruchtiges oder eher etwas Herbes?“

Fynn sagte sofort: „Bitte nichts Süßes. Ich mag eher etwas Kräftiges und du Dustin?“

Ich nickte nur und damit bestellte Thomas zwei Cocktails mit Namen, die ich noch nie gehört hatte und auch schon wieder vergessen hatte bevor wir unsere Gläser bekamen.

„Hm, das ist lecker. Und der ist ohne Alkohol? Wow! Da könnten sich die Discotheken auch mal was von aneignen.“

Thomas musste über Fynns Bemerkung lachen, aber ich konnte Fynn nur bestätigen. Es war super lecker. Thomas erklärte uns dann, wie wichtig es ist, alte Gewohnheiten zu verändern. Eben, dass es nicht nur ausreiche, den Alkohol wegzulassen. Jeder Abhängige müsste gewohnte und verinnerlichte Dinge verändern. Seinen Alltag neu organisieren und bestimmte Sicherheiten einbauen. Auch, dass es für die Abhängigen ganz wichtig sei, bestimmte Regeln zu kennen und auch einzuhalten. Diese Regeln sollten mit der Familie gemeinsam aufgestellt werden. So könnten auch die Angehörigen Verantwortung übernehmen.

„Ich möchte euch ein Beispiel geben. Da wird es deutlich, wie ich das gemeint habe. Ihr beide habt kein Alkoholproblem und könnt natürlich auch Alkohol zu Hause konsumieren. Das kann euch niemand verbieten, aber es ist für euren Vater ein erhöhtes Risiko. Da kommt das Sprichwort, Gelegenheit macht Diebe, zum Tragen. Wir empfehlen den Patienten, zumindest in den eigenen vier Wänden, eine alkoholfreie Zone zu haben. Das gilt auch für Gäste. Jeder, der weiß, dass ein Alkoholkranker unter ihnen lebt und dann so nachlässig damit umgeht, hilft seinem Angehörigen oder Freund nicht.“

„Heißt das, ich sollte auch meinen Gästen keinen Alkohol mehr anbieten?“

„Genau das, Dustin. Du musst es so sehen. Jeder, der dich nur besuchen wird, weil er Alkohol zu trinken bekommt, sollte sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht selbst schon eine Auffälligkeit hat. Du besuchst doch deine Freunde nicht zum Trinken, sondern weil du sie magst. Wenn es dann offensichtlich ist, dass dort ein Alkoholkranker in der Familie lebt, sollte es dort auch keinen Alkohol geben.“

Das leuchtete mir ein. Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen, aber das gefiel mir. Sollte also vielleicht irgendwann einmal Fynns Vater bei uns zu Besuch sein, würden wir in der ersten Zeit bestimmt keinen Alkohol ausschenken. Für niemanden.

Thomas unterhielt sich noch sehr lange mit uns und den anderen Angehörigen. Es war ein sehr interessanter Abend, zu dem später auch noch Patrick und Christine hinzukamen. Auch Patrick stellte immer wieder interessante Fragen, die Thomas so verständlich wie möglich erklärte. Als Thomas um halb elf die Cocktailbar abschloss, hatte ich viel mehr gelernt, als jemals zuvor.

Auf dem Weg in unser kleines Appartement mussten wir durch den Innenhof gehen und konnten die Sterne sehen. Fynn lehnte sich an mich und zeigte nach oben.

„Schau mal, da ist der große Wagen. Ach, ist das ein toller, klarer Himmel heute.“

Ich hatte ihn verstanden.

„Komm, lass uns noch einen Moment auf der Bank Platz nehmen und ein wenig in den Himmel schauen.“

Christine musste lachen und nahm Patrick mit. Wir blieben noch etwas zurück und entspannten in der Nachtluft.

„Dustin, wie hat dir das heute Abend gefallen? Ich fand es sehr interessant und ich habe viel gelernt. Vielleicht müssen wir auch über einiges nachdenken, wenn Papa wieder nach Hause gekommen ist. Ich habe verstanden, dass jeder von uns etwas zur Genesung beitragen kann.“

„Heißt das, du willst deinem Vater eine Chance geben?“

Diese Frage war mir so herausgerutscht. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass er das vielleicht als Angriff auffassen könnte. Entsprechend still wurde es danach auf unserer Bank. Erst nach einigem Zögern kam von meinem Freund eine Antwort.

„Ich weiß es nicht. Wirklich. Ich bin hin- und hergerissen. Wenn es so bleibt wie heute und Papa wirklich ernst macht, vielleicht. Denkst du anders darüber?“

„Nein, ich bin mir auch überhaupt nicht sicher. Allerdings haben wir doch gehört, dass wir uns Zeit nehmen sollen und alles in Ruhe abwarten können. Wir haben doch keinen Druck. Weißt du, wenn dein Vater trocken bleibt und er seine Baustellen bearbeitet, auch die mit dir und mir, dann wird es eine Chance geben, dass wir zusammen kommen. Sonst ist es eh sinnlos.“

„Danke, Schatz. Ich bin sehr froh, dich als meinen Freund zu haben. Du bist sehr klar, ich sollte nicht immer gleich und sofort eine endgültige Entscheidung treffen. Morgen ist auch noch ein Tag und da werde ich einige Dinge zur Sprache bringen, die sicher nicht so schön waren. Dann werden wir sehen, wie er damit umgehen wird.“

„Sehr gut, aber eben erst Morgen. Für heute ist Feierabend. Lass uns schlafen gehen.“

Ich gab meinem Freund einen Kuss und anschließend war für uns dieser sehr anstrengende Tag auch zu Ende. Ich war zwar hundemüde, aber auch noch aufgewühlt und unruhig. Ich konnte nicht einschlafen.

„Entspann dich, Dustin. Sonst wirst du nicht schlafen können. Komm her. Ich halte dich fest.“

Ich rutschte im Bett zu meinem Freund herüber und tatsächlich schliefen wir beide dann sehr schnell ein. Am nächsten Morgen wachten wir nahezu zeitgleich auf. Vor allem fühlte ich mich gut erholt.

Wir lagen noch im Bett, als es klopfte. Ich war noch nicht ganz wach, daher reagierte Fynn.

„Herein!“

Die Tür öffnete sich langsam und Christine kam herein.

„Guten Morgen Jungs. Gut geschlafen? Ich störe ungern, aber ihr seid spät dran. Wir müssen in zwanzig Minuten beim Frühstück sein.“

Ich schloss kurz die Augen. Wir hatten noch gar kein Zeitgefühl für den Tag.

„Oh, verdammt. Ich hatte so gut geschlafen.“

Christine lachte und auch Fynn schien das zu amüsieren, denn er hatte nichts Besseres zu tun, als mich zu kitzeln.

Das hatte zur Folge, dass wir sehr schnell wach waren und aus dem Bett sprangen. Christine verließ uns wieder, nachdem wir verabredet hatten, dass wir uns am Tisch treffen würden. Patrick war schon lange wach und wollte schon nach draußen.

„Los“, forderte ich Fynn auf, „auf in den Kampf. Wir sollten zusehen, dass wir pünktlich erscheinen. Es gibt noch einiges zu tun.“

„Ja, ja, du alter Antreiber. Es ist Sonntag. Aber richtig, lass uns nicht trödeln. Wenn wir zu spät kommen, macht das bestimmt keinen so tollen Eindruck.“

Innerhalb weniger Minuten waren wir frisch geduscht und auf dem Weg zum Frühstück. Für mich überraschend wurden wir von Fynns Vater sehr freundlich begrüßt. Er umarmte sowohl mich, als auch seine Söhne. Das wäre gestern noch total unmöglich gewesen. Fynn ließ es aber auch zu, von ihm umarmt zu werden. Für mich ein gutes Zeichen, denn vielleicht würde er seinem Vater tatsächlich eine faire Chance geben.

„Wie habt ihr geschlafen?“, fragte uns Fynns Vater, noch bevor wir uns an den Tisch setzten.

„Danke Papa, ich habe sehr gut geschlafen, leider nur zu kurz.“

Er lächelte mir zu und irgendwie fühlte ich mich gerade unwohl. Obwohl niemand etwas gesagt hatte. Aber diese Blicke machten mich nervös. Das Frühstück verlief ohne Vorkommnisse und mit viel weniger Anspannung als gestern. Es wurde aber auch nicht über das kommende Gespräch gesprochen. Nur über Alltägliches und über Tennis wurden wir befragt. Fynns Vater schien doch recht gut informiert zu sein. Obwohl er in der Klinik nicht allzu viel mitbekommen konnte.

Fynn berichtete von dem letzten großen Erfolg und sein Vater nickte anerkennend. In dieser Situation konnte ich die Wut und den Hass von den letzten Wochen und Tagen nicht mehr erkennen. Hoffentlich würde Fynn seinem Vater die Chance geben. Mein Eindruck war, dass er ohne Alkohol ein netter Mensch sein würde. Allerdings hatte ich auch gelernt, dass Süchtige zu guten Schauspielern werden können.

Thomas und seine Kollegen erwarteten uns bereits im Besprechungsraum. Auf dem Weg dorthin sprachen Fynn und ich nur sehr wenig und mit den anderen gar nicht. Fynns Anspannung war deutlich gestiegen. Ich wusste auch nicht, was jetzt passieren würde. Noch vor wenigen Tagen hätte ich dafür meine Hand ins Feuer gelegt, dass es hier zum großen Kampf Vater gegen Sohn kommt. Heute war ich mir gar nicht mehr sicher, ob das überhaupt gut gewesen wäre.

„Guten Morgen zusammen. Wie ich sehe, sind noch alle anwesend und sehen auch noch recht lebendig aus.“

Thomas schien heute den Narren gefressen zu haben und ich war mir nicht sicher, ob das so angemessen war. Allerdings schien sich Fynn darauf einlassen zu wollen.

„Noch, Thomas. Wer weiß, vielleicht haben wir uns ja jetzt zusammengerottet und du wirst unser Opfer sein.“

Damit hatte Thomas absolut nicht gerechnet, allerdings ich auch nicht. Thomas schaute mich mit großen Augen an und dann fing er an zu lachen. Alle von uns lachten mit. Auch Fynns Vater.

Nachdem sich alle wieder beruhigt und Platz genommen hatten, begrüßte uns Thomas offiziell. Er bat uns um eine kurze Beschreibung, wie unser Tag gestern verlaufen sei und wie denn so unsere Stimmungslage ist. Fynns Vater sollte beginnen.

„Aus meiner Sicht hat sich das Wochenende sehr positiv entwickelt. Ich bin momentan glücklich, dass meine Familie immer noch hier ist und wir über die Vergangenheit und die Zukunft reden können. Sie hätten ja auch sagen können, nein, jetzt ist es genug und gerade Fynn hätte allen Grund dazu gehabt.“

Er schaute dabei Fynn direkt in die Augen. Fynn zeigte wenig Regung und ich war mir auch nicht sicher, was hier gleich passieren würde.

„Vielleicht“, führ Herr Grehl fort, „wird es uns in den kommenden Monaten auch gelingen, das Misstrauen und die Enttäuschungen zu verarbeiten und abzubauen. Ich habe erst hier nach drei Wochen bemerkt, wie weit ich mich von mir selbst entfernt hatte. Ich werde noch viel arbeiten müssen, um alle Fehler und Versäumnisse auszuräumen. Aber ich bin bereit, für meine Familie zu kämpfen.“

„Vielen Dank für diese einleitenden Worte. Wir haben gestern bereits eine Frage zum Abschluss noch offen gehabt. Fynn, möchtest du, dass ich diese Frage jetzt versuche zu beantworten oder hast du vorab noch etwas Dringenderes zu sagen?“

„Ja, ich möchte darauf eingehen. Papa, du hast sowohl gestern, als auch heute wieder betont, dass du an dir arbeiten musst. Warum hast du das nicht schon vor drei oder vier Jahren getan? Warum hast du mich allein gelassen und mich gedemütigt. Bei jeder Gelegenheit hast du mich niedergemacht und mich bloßgestellt. Ich wäre zu nichts zu gebrauchen und ich wäre ein Weichei und so weiter. Heute tust du so, als ob das alles nicht so schlimm war und du bemüht bist, dass ungeschehen zu machen. Das kannst du vergessen. Das wird niemals aus meinem Gedächtnis verschwinden. Niemals!“

Oh weh, Fynn begann sich in Rage zu reden. Das würde kein gutes Ende nehmen. Allerdings schien Thomas nicht die Absicht zu haben, einzugreifen. Er unterbrach ihn nicht.

„Ich finde es sicher erfreulich, dass du endlich hier gelandet bist und spürst, wie ätzend für mich das Leben war. Du hast aber überhaupt keine Ahnung von dem, was ich erleiden musste und versäumt habe. Klar, du hast für unser Auskommen gesorgt und finanziell ging es uns gut. Ich habe jahrelang Angst vor dir gehabt. Keiner wusste, mit welcher Stimmung du nach Hause kamst. Die Wochenenden waren der absolute Horror. Wenn du besoffen warst, war niemand mehr sicher vor deiner Wut. Was mich jetzt so stört und anwidert, ist dein Gerede von Einsicht und Erkenntnis. Was hast du denn bislang geleistet? Außer das du in die Klinik gegangen bist und endlich verstanden haben willst, dass du das Problem bist. Aber was hast du bislang für Veränderungen tatsächlich erreicht? Mein Vertrauen hast du noch lange nicht wieder zurück. Und ganz ehrlich, ich weiß auch noch nicht, ob es jemals zurückkehren wird.“

Fynns Stimme wurde immer bedrohlicher und ich hatte Sorge, er könnte die Kontrolle über sich verlieren. Eine unheimliche Aggression steckte in ihm, die jetzt unkontrolliert auszubrechen drohte.

„Du hast unsere Familie langsam zerstört und das nicht einmal bemerkt. Ich frage mich, gab es keine lichten Momente ohne Alkohol? Warum hast du nicht mal in nüchternen Momenten darüber nachgedacht, was du tust. Ich kann einfach nicht verstehen, dass du über Jahre ohne Selbstzweifel und ohne über die Folgen nachzudenken, so mit mir umgegangen bist. Erst seit ich ausgezogen und geflüchtet bin, habe ich begonnen, wieder zu leben. Da wurde mir bewusst, was für ein Dahinvegetieren das eigentlich war. Chris hat mir erst bewusst gemacht, was für ein Arschloch du bist und das nicht ich derjenige bin, der Schuld hat. Du musst für meine Anerkennung kämpfen. Mit ein paar warmen Worten wirst du bei mir nichts, aber auch gar nichts mehr erreichen. Fang an, etwas zu tun, nicht mit dem Mund, sondern mit Taten. Dann reden wir wieder miteinander ob es ein weiteres Annähern geben wird oder nicht.“

Für einen kleinen Moment sammelte sich Fynn, um direkt nachzulegen.

„Was glaubst du eigentlich, hast du mit deiner Terrorherrschaft ausgelöst? Wir haben in ständiger Angst gelebt und als ich dann gemerkt hatte, dass ich mich in Dustin verliebt hatte, war ich verzweifelt. Ich habe darüber nachgedacht von der Brücke zu springen. So eine Angst hatte ich. Niemand war da, der mich verstand und mir half. Bis zu dem Tag, als ich Chris näher kennengelernt habe. Du kannst Chris dankbar sein. Weißt du warum?“

Es war eine beängstigende Stille eingetreten und bei Fynns Vater machte sich Unruhe breit. Er schien unsicher zu sein, ob er bereits auf diese Frage antworten oder warten sollte. Ich war entsetzt über diese Heftigkeit von Fynns Ausführungen und Ausbrüchen. Auch Thomas schien überrascht, aber da er sehr ruhig blieb, beschloss ich, Fynn nicht zu unterbrechen. Allerdings war mir gar nicht mehr so wohl dabei.

„Chris ist es zu verdanken, dass ich überhaupt noch hier bin. Ich hätte es keine zwei Wochen mehr ausgehalten. Jeden Tag hatte ich den Wunsch, mein Leben zu beenden. Es gab nur zwei Gründe, warum ich überhaupt noch lebte…“

Oh, oh, jetzt wurde es sehr emotional und Fynn drohte zusammenzubrechen. Ich konnte es sehen, wie sein Körper zu zittern begann und er sich zu sammeln versuchte. Unter Tränen sagte er seinen letzten Satz.

„Patrick war der Grund. Er konnte sich überhaupt nicht wehren und das wollte ich nicht zulassen. Sonst wäre ich schon längst tot.“

Das war endgültig zu viel für Fynn. Ein heftiger Weinkrampf schüttelte seinen Körper und Thomas gab mir ein Zeichen. Ich hockte mich vor meinen Freund und nahm seine Hände. Er fiel fast nach vorn vom Stuhl, so heftig überkamen ihn seine Gefühle. Ich zog ihn vom Stuhl und verließ mit ihm den Raum. Ohne zu sprechen, ging ich mit ihm nach draußen. Wieder auf unsere Bank vom Vorabend.

Ich wusste nicht, wie lange wir dort schon gesessen hatten, als sich plötzlich jemand zu uns auf die Bank setzte. Ich hatte die ganze Zeit Fynn im Arm gehabt. Mittlerweile hatte er sich etwas beruhigt und weinte nicht mehr. Sprechen wollte ich aber immer noch nicht mit ihm.

Es war Christine, die sich zu uns gesetzt hatte. Die Ärztin war ebenfalls bei uns. Sie hielt sich aber etwas im Hintergrund. Christine streichelte ihrem Sohn über den Rücken. Die Ärztin kam jetzt zu uns heran und erkundigte sich nach unserem Befinden.

„Ich glaube, wir brauchen noch einen Moment. Fynn ist ziemlich durcheinander und so macht es wenig Sinn, weiter am Gespräch teilzunehmen.“

Sie nickte und erwiderte: „Kein Problem. Du bleibst bitte bei ihm und ihr kommt einfach wieder zu uns, sobald ihr euch dazu bereit fühlt.“

Dann ging sie wieder fort und Christine blieb bei uns. Fynn hob seinen Kopf aus meiner Umarmung und er holte tief Luft. Seine Mutter gab ihm ein Taschentuch und lächelte.

„Du hast mir aber einen großen Schrecken eingejagt, mein Sohn. Und ich habe jetzt erst in voller Tragweite begriffen, wie sehr du die Jahre gelitten haben musst. Dein arroganter Vater hat eben, als du bereits gegangen warst, derart noch einen auf die Mütze von Herrn Büxten bekommen. Das war ein Bild für die Götter. So klein habe ich deinen Vater noch nie erlebt.“

Fynn war immer noch nicht in der Lage, groß zu antworten. Ich konnte mir jetzt den Kommentar nicht verkneifen.

„Diese Reaktion war schon lange überfällig. Und wie gut, dass wir Chris kennengelernt haben. Sonst würde sein Vater vielleicht immer noch glauben, er hätte alles richtig gemacht. Ich bewundere Fynn für diese Aussage. Ich weiß nicht, ob ich das so gekonnt hätte.“

Wir blieben noch einige Augenblicke dort sitzen und genauso plötzlich fand Fynn seine Worte wieder.

„Ich möchte wieder hinein gehen. Kommt ihr mit? Papa soll spüren, dass ich nicht nachgebe. Er muss Taten folgen lassen.“

Er stand auf und zog mich einfach von der Bank. So gefiel mir mein Freund viel besser und ich war überzeugt, gemeinsam werden wir das auch schaffen. Er war nicht mehr abhängig von seinem Vater. Das hatte er gerade eben deutlich aufgezeigt, dass er sich aus dieser Umklammerung befreit hatte.

Jetzt hatte er für sich die Basis gefunden, auf der er weitermachen wollte. Vielleicht würde sein Vater ja für ihn kämpfen. Dann würde es eine Möglichkeit geben, wenn nicht, dann würden wir unser eigenes Leben fortführen, ohne ihn.

Gemeinsam öffneten wir die Tür zum Besprechungsraum und wurden neugierig empfangen. Patrick schien sehr mitgenommen zu sein. Er hatte ebenfalls geweint. Das war nicht zu übersehen. Als wir uns wieder auf unsere Plätze gesetzt hatten, fragte uns Thomas:

„Möchtet ihr noch etwas zu dem sagen, was Fynn hier eben von sich gegeben hat? Oder ist alles gesagt?“

Fynn schüttelte nur mit dem Kopf und Thomas übernahm jetzt das Gespräch. Er machte Fynn ganz deutlich, dass er jetzt erst mit dieser Aussage es möglich gemacht habe, sich für diese Aufgabe zu öffnen. Vielleicht würde es nun die Chance geben, dass wir uns alle aufeinander zu bewegen können. Thomas sagte Fynns Vater deutlich, dass er nun gefordert sei, mit Taten und Veränderungen unter Beweis zu stellen, dass er es ernst meint. Seine abschließenden Sätze waren sehr einprägend.

„Heute ist der erste vorsichtige Schritt gemacht worden, dass ihr in den nächsten Monaten und Jahren wieder eine richtige Familie werden könnt. Ihr habt noch einen langen Weg vor euch, aber der Weg ist bereitet und ich kann Sie nur warnen, Herr Grehl, nehmen Sie ihre Kinder ernst und kämpfen sie hart. Es wird ihnen nichts geschenkt werden. Sollten Sie aber weiterhin dafür kämpfen, werden sie auch die Ernte bekommen. Wenn ich Fynn richtig verstanden habe, möchte er jetzt keine Worte mehr hören, sondern Taten. Also fangen Sie an, etwas zu tun und zu verändern.“

Nach einer kleinen Pause sagte er noch: „Wenn keiner mehr etwas sagen möchte, dann sollten wir dieses erste Familienwochenende damit beenden und hoffentlich treffen wir uns in vier Wochen wieder. Alle weiteren vorgesehenen Tagespunkte werden gestrichen. Ich glaube, es ist alles gesagt.“

Patrick sprang von seinem Stuhl auf und rannte auf Fynn zu. Er fiel seinem großen Bruder um den Hals und fragte ihn immer wieder: „Hast du wirklich vorgehabt, dich umzubringen?“

Christine half Fynn sich aus der Situation zu befreien und nahm ihren Jüngsten mit hinaus. Bevor wir den Raum verließen, standen sich Vater und Sohn noch einmal gegenüber. Sein Vater war sehr bewegt und sagte nur einen Satz:

„Danke, dass ihr gekommen seid. Ich werde um dich kämpfen, Fynn. Dann sehen wir weiter.“

Dass sie sich jetzt noch umarmten, war für mich ein tolles Zeichen. Vielleicht hatte Fynn ja doch etwas bei seinem Vater erreicht. Was genau, dass würde die Zukunft zeigen. Ich für meinen Teil war jedenfalls sehr froh, dieses Wochenende überstanden zu haben.

Lesemodus deaktivieren (?)