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Stories, Gedichte und mehr
Anis
Weihnachtschallenge 2010
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Die Ampel wechselte auf Rot und nach einer kleinen Pause senkte sich die Bahnschranke. Tom stieg vom Fahrrad, dabei behinderte ihn eine kleine Fichte, die, zusammengeschnürt, weit über den Gepäckträger hinausragte. Vielleicht sollte er den Drahtesel doch lieber schieben…
„Das ist doch nicht dein Ernst“, finde ich und blicke Diane an.
„Du sollst nicht kommentieren, sondern weiter schreiben.“
„Und du sollst keine Geschichten erfinden, in denen Leute vorkommen, die wir kennen. Nebenbei… Tom würde im Leben nicht mit einer Fichte auf’m Gepäckträger umherfahren. So was Bescheuertes.“
Genervt entreißt Diane mir den Schreibblock.
„Ist die Fichte etwa eine Art Phallussymbol?“
„Leck mich am Arsch!“
„Kann ich was dafür, dass du so einen langweiligen Anfang erfindest? Eine gute Story braucht immer Sex and Crime.“
„So wie du immer Sex and Cry brauchst, mh?“
„Arschloch. Ist es meine Schuld, dass jeder halbwegs hübsche…“
„Hey, da kommt Anis“, unterbricht sie mich und kriegt sofort Stielaugen.
Dass sie in dieser schummrigen Partybeleuchtung überhaupt jemanden erkennt, der nicht direkt vor ihrer Nase steht, grenzt an ein Wunder. Und Anis hasse ich. Seit er vor ein paar Wochen ungefragt und unaufgefordert in unsere, meine, Clique bollerte und so tut, als wären die Leute SEINE Freunde. Überhaupt kann der sich irgendwie nicht entscheiden, oder so. Bevor er sich bei uns breitgemacht hat, hing er mit ’ner Gruppe Punks rum und wer weiß, wie viele Subkulturen der sonst noch durchprobiert.
Diane hasse ich ebenfalls, denn vor diesem ätzenden Eindringling war ich ihre unangefochtene Nummer Eins… jetzt hechelt sie bloß noch Anis hinterher.
Kaum hat der Eindringling Diane und mich erblickt, quetscht er sich auch schon neben uns.
„Heute krieg ich das Video“, erklärt sie und zückt ihre Kamera.
„Vergiss es.“
„Aber ich bin schon total im Rückstand und Lady Pissnelke denkt, sie sei die Größte.“
Diane hat bekanntlich einen youtube-Konkurrenzkampf mit Lady Luna am Laufen. Dabei geht es um knutschende Emojungs in allen Variationen. Dianes Nachteil ist, dass die Jungs hier meistens keinen Bock haben, sich gegenseitig abzuschlecken. Bei Lady Luna scheint das Problem nicht zu bestehen. Na ja, was geht mich so’n Kindergartenscheiß an?!
„Ich finde“, meldet sich Anis zu Wort, „du könntest deiner Freundin echt mal diesen kleinen Gefallen tun. Was’n schon dabei?“
„Genau“, strahlt Diane.
„Frag doch Matti oder Dominik. Oder Sascha. Vielleicht hat ja einer von denen Lust… den da zu küssen.“
„Die küssen aber nicht sexy genug.“
„Und ich fühle grad, dass ich schlimmen Herpes an der Lippe kriege.“
„Du hast Herpes im Kopf“, zischt sie, steht auf und geht.
„Wow, du weißt, wie man Frauen behandelt.“
„Hat dich einer um deine Meinung gebeten?“
„Das ist ein freies Land… mehr oder weniger.“
„Dann sei doch so frei und verpiss dich!“
Das macht Anis allerdings nicht. Im Gegenteil. Er rückt noch ein Stück näher.
„Deine Lippen sehen nicht aus, als würde da in nächster Zeit was Übles, Ansteckendes wachsen. Eigentlich… also eigentlich sehen die total knutschbar aus“, grinst er.
Es ärgert mich kolossal, dass mir darauf kein originelles Schimpfwort einfällt. Allein aus diesem Grund ist er noch hundertmal hassenswerter.
„Ich hab gewonnen.“
„Du bist ein Scheißkerl.“
Er zuckt die Schultern und gesellt sich zu Diane, die inzwischen offenbar doch noch Matti und Dominik überreden konnte. Das laute Lachen und Johlen lässt die Vermutung zu.
Schule ist heute mal wieder voll für’n Arsch. Zwei Freistunden und danach noch Englisch. Können die das hier vielleicht mal etwas besser organisieren?! Diane und ich warten bei einem Becher wässrigen Automatenkakao auf den Unterricht, als ich plötzlich meinen schlimmsten Feind erblicke. Sofort krampft sich mein Magen zusammen und mein Herz beginnt zu schmerzen.
„Versuch doch bitte wenigstens, dir nichts anmerken zu lassen“, stöhnt Diane.
Tom spaziert cool und lässig an uns vorbei. Kein Wort, kein Blick, kein Garnichts.
„Also entweder bist du dermaßen schlecht gewesen… oder der Typ ist einfach ein blödes Arschloch. Ich tippe auf… Letzteres.“
„Danke.“
„Das ist aber auch echt deine eigene Schuld“, behauptet sie und nippt an ihrem Getränk.
„Wie bitte?“, frage ich fassungslos.
„Na, wenn du dich jedes Mal bereits nach fünf Minuten verscherbelst… Maik hat mich erst nach fünf Monaten bekommen.“
„Ja, und nach zwei weiteren war Schluss.“
„Ich hab Schluss gemacht, was aber überhaupt nichts zur Sache tut. Ich meine halt, dass du dir ein bisschen mehr Zeit lassen solltest.“
„Tom wollte keine Zeit, sondern Sex“, bemerke ich finster.
„Das ist dein Problem, Lukas. Du suchst dir immer nur Leute, die es eilig haben. Und du hast hinterher den Katzenjammer.“
„Können wir bitte das Thema wechseln?“
Diane kramt eine Bürste aus ihrer Tasche und widmet sich ihrer Haarfrisur. Mein Blick wandert durch die Pausenhalle und bleibt an Tom hängen, der mit einigen Mädels zusammen steht. Wenn die wüssten, dass ihr Schwarm in seiner Freizeit Jungs fickt… offiziell ist er nämlich total hetero, blöder Feigling. Am liebsten würde ich hingehen und ihm vor versammelter Mannschaft einen Zungenkuss geben. Mache ich natürlich nicht, weil Tom sehr viel bemuskelter ist als ich und mich wahrscheinlich krankenhausreif schlagen würde.
Aber eines Tages werde ich es ihm heimzahlen! Eines Tages werde ich es allen heimzahlen, die mich irgendwann mal mies behandelt haben!
Am Nachmittag trifft sich die Clique im Park, weil es ausnahmsweise warm und sonnig ist. Dominik hat schon wieder seine Handgelenke verbunden. Ich finde, er nimmt diesen Emo-Depri-Selbstverletzungs-Scheiß viel zu ernst. Ey, es gibt doch echt genügend Leute, die dir im Laufe deines Lebens Schmerzen zufügen, das muss man nicht auch noch selber übernehmen, oder?!
Weiter hinten spielt Tom mit seinen Freunden irgendeine Ballsportart. Und von links kommt Anis angetrottet. Mitsamt seinem ranzigen, vollgekritzelten Rucksack hockt er sich neben uns. Mann, mir bleibt aber heute gar nichts erspart.
„Hast du dich in der Adresse geirrt?“
„Ja, Lukas, ich freue mich auch, dich zu sehen“, entgegnet er blöde lächelnd.
„Das ist ja geil“, quietscht Diane und griffelt an einer silbernen Kette herum, die an Anis’ Gürtel baumelt.
„Das ist Steampunk.“
In die Kette ist ein altertümlich wirkender, kleiner Löffel mit Rosengriff eingearbeitet.
„Und so praktisch, wenn man unterwegs mal Appetit auf Pudding oder so hat“, nicke ich.
„Ich will das auch, wo kann man so was kaufen?“, kriegt Diane sich immer noch nicht wieder ein.
„Keine Ahnung. Das hat mir eine Freundin geschenkt. Von irgendeinem Festival.“
„Aha. Bekommst du oft was von Freundinnen geschenkt?“
„Schon.“
„Dann hast du wohl viele Freundinnen?“
„Keine feste… falls du das wissen wolltest.“
Logisch. Wer würde mit dem zusammen sein wollen? Der kann sich ja nicht mal entscheiden, ob er Emo oder Punk sein will. Ehrlich, der ganze Typ ist eine einzige Zusammenwürfelung.
Diane grinst debil. Hat sich wohl soeben verknallt und wittert ihre Chance.
„Deine Haare sehen voll schön aus“, flirtet sie.
Na ja, voll schön… kann man so sehen, muss man aber nicht. Schwarz halt, mit blondierten und bunten Strähnen im langen Pony. Total nix Besonderes.
„Hm-hm“, macht er, „mir gefallen sie auch.“
Tom und seine Sportsfreunde machen grad Pause. Hoffentlich fällt keinem von denen auf, dass er andauernd verstohlen zu uns rüber glotzt. Na ja, sicher prahlt er damit, welches der Mädels er als Nächstes flachlegt. Ich bilde mir allerdings ein, dass er mich ansieht. Dass es ihm leid tut, wie er mit mir umgesprungen ist und alles tun würde, um mich zurück zu kriegen. Vielleicht ist das tatsächlich so. Ich meine, es könnte doch sein, dass er… ha, dann pass mal schön auf, Kleiner!
„He“, ich stupse Diane an, „heute ist dein Glückstag, Glückskind.“
„Hast du dir heimlich einen gesoffen?“
„Hol deine Kamera raus, dann kriegst du ein Eins-A-Knutschvideo.“
„Sorry“, schüttelt Anis den Kopf, „ich fühl mich grad nicht danach.“
Diane verdreht genervt die Augen. „Ihr seid schlimmere Zicken als Mädchen.“
„Entschuldige mal, aber was, wenn Lukas’ Herpes auf mich überspringt?“
„Los jetzt!“, drängle ich. Sonst hat Tom seine Pause beendet und alles ist umsonst.
„Meinetwegen“, seufzt Anis und rückt näher.
„Okay“, nickt Diane, „gebt euch Mühe, ja?!“
Ich lasse also meine Lippen auf seinen Mund krachen und knutsche drauflos. Bereits nach ein paar Sekunden unterbricht Anis den Kuss.
„Junge, hast du’s eilig?“
„Hm?“
„Langsamer“, wispert er.
Da packt mich auf einmal der Ehrgeiz, ihn so zu küssen, dass er es nie mehr vergisst. Ich schließe die Augen… er schmeckt leicht nach… ah, ich glaub, ich weiß, woher sein Spitzname kommt… seine Lippen sind weich… eigentlich kann er ziemlich gut küssen. Seine Finger streicheln meinen Nacken und ein Fußball trifft mich hart an der Schulter.
„Ey, ihr Schwulis“, ruft Tom extrem tuckig, „kullert mal das Bällchen rüber!“
Er hat den Kuss gesehen und ist eifersüchtig, freue ich mich in Gedanken, während Diane wütend den Ball kilometerweit in die andere Richtung schießt.
„Hol das Bällchen selber, du homophobes Arschgesicht!“
Meine Freundin ist wirklich großartig, das muss mal gesagt werden. Die würde mich auch vor zwanzig blutrünstigen, rechtsradikalen Skinheads verteidigen… zum Glück war das bislang noch nie nötig, weil das sicher eher ungünstig für sie ausgehen würde.
Zufrieden setzt sie sich und betrachtet den Knutschclip.
„Lady Pissnelke ist Geschichte.“
Diane ist eine verdammte Fremdgängerin! Da ist sie doch tatsächlich am Wochenende allein mit Anis unterwegs gewesen. Ohne mich. Ohne mir etwas zu sagen. Danach hat sie allerdings eine Menge gesagt. Wie toll und lustig es war, zum Beispiel. Und wie süß Anis ist. Und ihre dämliche Geschichte hat sie weiter geschrieben… mit ihm! Und nach einer Stunde hatte unser youtube-Clip bereits zwanzig Kommentare und Lady Luna ärgerte sich dumm und dämlich.
Kann die vielleicht mal fragen, wie es mir geht? Ich hab schlimmen Liebeskummer, herrgottnochmal!! Am Wochenende, als sich meine beste Freundin anderweitig vergnügte,
beging ich nämlich den schweren Fehler, Tom anzurufen. Ich war also bloß ein Ausrutscher, er vorübergehend verwirrt. Selbstverständlich glaube ich ihm das nicht eine Sekunde. Tom ist mindestens so schwul wie ich, nur dass er zu feige ist, das zuzugeben, weil er dann seinen Status als Mädchenschwarm der Schule verlieren würde und bei seinen Sportsfreunden unten durch wäre. Oh Mann, bestimmt ist es seine Standardmasche, auf unsicher zu machen. Im Chat hat er nämlich permanent rumgejammert und über seine innere Zerrissenheit gefaselt. Fuck, und ich bin total darauf reingefallen. Das hätte mir spätestens klar sein müssen, als er bereits bei unserem ersten Date mit mir ins Bett wollte. Unsicher und zerrissen wirkte seine Performance jedenfalls nicht. Diane hat bestimmt Recht. Ich lasse mich viel zu schnell flachlegen. Aber Diane hat jetzt offenbar einen neuen besten Freund und deshalb hat sie doch nicht Recht!
Nachmittags ruft die Fremdgängerin an.
„Anis und ich wollen nach Köln, shoppen und so… kommst du mit?“
„Zu spät“, murmle ich.
„Wieso? Musst du etwa zur Sesamstraße wieder zuhause sein?“
„Möchtest du nicht lieber allein mit deinem Freund Zeit verbringen?“
„Lukas“, schnauft sie, „benimm dich bitte nicht wie ein Volltrottel. Wir treffen uns in einer halben Stunde am Bahnhof.“
Bevor ich noch irgendwas sagen kann, hat sie mich weggedrückt. Na klasse! Ein Ausflug mit dem neuen Traumpaar… kann das Leben schöner sein?!
Eine Dreiviertelstunde später knutsche ich mit Anis im Zugabteil. Logischerweise war das nicht meine Idee. Diane hat so extrem genervt, dass ich schließlich nachgegeben habe, damit sie endlich die Fresse hält.
Anis hat schon wieder diesen ekelerregenden Lakritzgeschmack an der Zunge und ich finde, jetzt ist es genug.
„Mir ist da eine supergute Idee gekommen“, erklärt Diane, nur dass es sich eher nach Drohung anhört. Mir wird vorsichtshalber Angst und Bange. „Wir könnten doch eine Art Videotagebuch machen. Weil… also in den Kommentaren heißt es ganz deutlich, dass ihr süß und verliebt ausseht… ihr habt echt Eindruck gemacht und das mit nur einem Clip… na ja, und ich dachte, ich könnte eure Liebesgeschichte quasi dokumentieren und die Welt daran teilhaben lassen.“
Au schade, jetzt hat sie endgültig nicht mehr alle beisammen!!
„Die Welt, die du meinst, besteht aus blöden youtube-Gänsen, die feucht im Schritt werden, wenn die sich knutschende Jungs ankucken.“
„Du bist ekelhaft“, stellt sie fest.
„Und du scheinst zu vergessen, dass ich keine Liebesgeschichte habe. Mit niemanden.“
„Also ich würd da mitmachen“, erklärt Anis. „Ich hab mir die Kommentare von Lady Pissnelke angesehen… die Frau ist echt unsympathisch.“
„Ich weigere mich, weiter darüber zu reden.“
„Die findet, dass du einen total großen Zinken hast“, lacht er sich kaputt.
„Mir doch egal, was fremde Leute sagen.“
„Und arg dilettantisch rumschlabberst. Du hättest wohl noch nicht oft die Gelegenheit gehabt, jemanden zu küssen.“
„Das hast du dir ausgedacht.“
„Nee“, schüttelt Diane den Kopf, „die hat das wirklich geschrieben.“
Ich hab sofort Lust, Lady Pissnelke gründlich zu vermöbeln. Was bildet diese Bitch sich ein, meine Küsse beurteilen zu können?!
„Trotzdem hab ich keine Lust, für andere auf verliebt zu machen.“
„Spielverderber“, behaupten Anis und Diane gleichzeitig.
„Sie“, ich deute auf Diane, „kann ich grad noch verstehen. Aber wieso ist dir das so wichtig?“
Anis robbt sich an meine Seite. „Na… weil’s Spaß macht, dich zu küssen“, entgegnet er und leckt über meine Wange.
„Du Pottsau“, rege ich mich auf und schubse ihn von mir.
In Köln angekommen schleppt Diane uns zwei Stunden lang durch sämtliche Klamottenläden der Innenstadt, weil sie noch gar nicht weiß, was sie eigentlich kaufen will.
„Wenn ich es sehe“, sagte sie, „werde ich es wissen.“
Tz… Weiber! Allesamt irre!
In einem Ramschladen wird sie schließlich fündig. Und als sie aus der Umkleide stolziert, starrt Anis sie mindestens ebenso fassungslos an wie ich.
„Wenn du dir noch eine Lichterkette um den Hals hängst, gehst du total als Christbaum durch“, ist sein Kommentar.
„Vielen Dank, Blödmann. Lukas, was sagst du?“
Nichts. Mein Sprachzentrum ist blockiert. Das Kleid… wow… als hätte jemand ein paar Bündel Lametta an ein Stück Stoff getackert.
„Äh… ungewöhnlich?“
„Was frag ich euch überhaupt?!“, zischt sie, zieht sich um und kauft das Kleid.
Danach essen wir Pizza, flanieren am Rhein entlang und treiben uns anschließend auf der Domplatte rum. Diane möchte uns unbedingt mit dem Dom im Hintergrund filmen. Meine Güte, hab ich mich im Zug eigentlich so unklar ausgedrückt? Außerdem… wer interessiert sich schon für das, was sich hinter knutschenden Jungs befindet?!
„Du bist völlig besessen, das macht mir langsam Angst.“
„Wenn das so wäre, würde ich dich mit vorgehaltener Knarre zwingen.“
„Hast du mit Dominik geredet?“
„Nee, wieso?“
Ich ritze mir mit einer imaginären Klinge in den Arm. „Deswegen.“
Diane nimmt einen Schluck aus ihrer Mezzo-Mix-Flasche. „Am Besten man ignoriert das einfach.“
„Na, super“, schnauft Anis, „hoffentlich sagst du das auch noch, wenn er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat und du an seinem Grab stehst.“
„Reg dich ab, okay? Domi kommt nicht mal in die Nähe seiner Pulsadern. Der macht das nicht, weil er sterben will, sondern weil er’s cool und dramatisch findet. Und weil er denkt, die Mädels stehen drauf.“
„Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.“
„Menschen machen nun mal dumme Sachen“, zuckt sie die Schultern.
„Krank ist es auf alle Fälle. Wenn Domi nicht suizidgefährdet ist, hat er eben einen anderweitigen Dachschaden. Und Mädels, die zerschnittene Arme geil finden, haben auch einen.“
„Apropos Dachschaden… ich hab mal von einem Typen gelesen, der sich der Kunst wegen Körperteile amputieren ließ und sich einer Lobotomie unterzogen hat. Und am Schluss stand…“
„Die Selbstenthauptung“, unterbricht Anis sie. „Der soll doch so Amputationsroboter gehabt haben, die ihm live vor Publikum alle möglichen Körperteile abgeschnitten haben.“
„Genau. Das stand in einem Artikel über die Industrial-Szene“, nickt Diane.
„Ich kann mit Industrial nix anfangen. Ich brauche bei Musik wenigstens eine halbwegs erkennbare Melodie. Außerdem hat sich die Geschichte sicher nur irgendwer ausgedacht. Also, dass einer auf so’ne kranke Idee kommt, kann ich mir schon nur schwer vorstellen, aber ob man nach einer Lobotomie tatsächlich noch genug Grips hat, um zu entscheiden, dass man sich der Kunst wegen enthaupten lässt, ist fraglich, oder?“
„Ihr habt echt zu viel Freizeit“, ist alles, was mir zu dem Thema einfällt.
„Na ja, es soll Leute geben, die sich gerne verspeisen lassen möchten… und das ganz ohne Lobotomie… kann ich mir persönlich auch nur schwer vorstellen, aber kranke Ideen gibt’s genug.“
„Das ist wahrscheinlich weniger Idee, sondern viel mehr ein gestörter Wunsch oder so. Der Gegenpart dazu ist vielleicht noch eher nachvollziehbar.“
„Können wir bitte, bitte über etwas Erfreulicheres reden?“
„Ja, sonst kriegt der kleine Lukas Alpträume.“
„Nee, aber für mich sind das alles Psychospinner und Perverse, die dringend weggesperrt gehören.“
„Logisch. Alle, die ein bisschen von der Norm abweichen, ab ins Lager.“
„Jemanden aufzuessen fällt bei dir unter ‚ein bisschen von der Norm abweichend‘?“
„Das war doch jetzt eines der krassesten Beispiele. Ich meine nur, dass man wie auch immer geartete psychische Störungen nicht durch bloßes Wegsperren behandeln kann.“
„Und wie gut Therapien funktionieren, sieht man an der hohen Rückfallquote von Kinderschändern und Vergewaltigern.“
„Mann, jetzt wirfst du aber echt alles in einen Topf. Es gibt sicher Leute mit psychischen Problemen, denen eine Therapie wirklich hilft.“
„He, wie wäre es mit einem Knutschfleck-Clip?“, fragt Anis.
„Alles, wenn wir dadurch von den Psychos wegkommen.“
„Ich weiß was Besseres“, grinst Diane und deutet auf den Fotoautomaten, der völlig behämmert und unpassend in der Gegend rumsteht.
Was soll’s?! Quetschen wir uns halt zu dritt in die klaustrophobisch winzige Kabine, die leider nicht den Tardis-Effekt besitzt und größer wird, wenn man erstmal drin ist. Anis hockt sich gleich auf den Drehschemel und ist somit fein raus. Diane ebenfalls, die darf nämlich auf Anis’ Schoß Platz nehmen, was sie sicherlich supi findet.
„Das geht nicht, macht das alleine“, schnaufe ich und will flüchten, obwohl der beschissene Automat schon lustig drauflos knipst.
„Hier geblieben!“, lacht Anis.
Ey, die Leute draußen denken doch, wir treiben wer weiß was!
„Ich krieg Platzangst“, jammert Diane und nimmt Reißaus.
Mich hält Anis dummerweise immer noch fest und auf einmal hocke ich irgendwie seitlich auf seinem Schoß und hab seine Arme um mich herum.
„Äh…“
Er sieht mich an… verflixt, ich mag grüne Augen… seine Hand berührt meine Wange… plötzlich macht es ‚Klick‘ und das ist ganz bestimmt nicht die Knipskiste. Keine Ahnung, was los ist, aber ich küsse ihn. Auf den Mund und mit Zunge. Eine halbe Minute später funktioniert mein Gehirn zum Glück wieder, denn noch ein paar Sekunden später reißt Diane den Vorhang auf und fragt, ob wir da drin übernachten wollen.
Übrigens erkennt man auf den Fotos absolut gar nichts.
Okay, ich musste logischerweise über den Kuss nachdenken. Ich bin auch zu einem vernünftigen Ergebnis gekommen. Nämlich, dass mich Dianes Verliebtheitsgedöns total verwirrt hat, weswegen der bescheuerte Kuss zustande kam. Ey, die Frau schafft es noch, dass ich schizo werde. Deshalb ist jetzt Schluss mit lustig. Soll die sich wen anders suchen, um Lady Pissnelke eins auszuwischen. Anis werde ich jedenfalls nie wieder küssen. Weder um Diane einen Gefallen zu tun, noch aus irgendwelchen anderen Gründen. Glücklicherweise glänzte er die letzten paar Tage durch Abwesenheit, das reichte aus, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.
Freitagabend hängen alle in Dominiks Keller rum. Diane und ich haben uns vorher schon eine Flasche Billigwein geteilt, also sind wir gut angeschickert. Allerdings bin ich noch nüchtern genug, um Anis zu bemerken, der von den Mädels umringt wird. Während Diane sich zu Dominik setzt, würde ich gerne wissen, was da bei den Mädchen abgeht. Die quietschen verzückt, als hätten sie grad den schnöseligen Twilight-Vampir erblickt, auf den momentan die ganze Welt abfährt.
„He, was’n hier los?“, frage ich Lara.
„Anis… hol das Teil noch mal raus und zeig’s ihm!“
Ich hoffe, sie meint nicht seinen Schwanz oder so, dann geh ich aber echt eine Runde kotzen.
Anis kramt etwas aus seiner Hosentasche… ein Feuerzeug.
„Gib mir deine Hand.“
„Willst du mir jetzt die Finger abfackeln?“
Er schüttelt den Kopf, greift nach meiner Flosse und drückt am Feuerzeug rum, worauf so laserpointermäßig das Bild einer Gummiente mit Teufelshörnern in meiner Hand erscheint. Mann, und deswegen machen die so einen Aufstand?! Ja, es ist ein ganz netter, süßer Trick, aber vor Vergnügen in die Hose strullen muss ich mir nicht.
„Lass mich raten… das hat dir eine Freundin geschenkt, mh?“
„Yep.“
„Solche Geschenke eignen sich prima zum Weiterverschenken“, säuselt Lara mit Dackelblick.
„So was kannste überall für ’nen Euro kaufen“, entgegnet er und lässt das Entenfeuerzeug in seiner Tasche verschwinden. Dann reicht er mir eine Flasche. „Schluck Wein?“
Eine Weile hocken wir auf Domis Matratze und unterhalten uns über belangloses Zeug…. Xandir und Captain Hero… Milka- oder Kinderschokolade… grünes Weingummi… Stromberg… Elmo… Cookies&Cream-Eis… Herr von Bödefeld… der kleine Vampir… vielleicht ändere ich meine Meinung über ihn, weil, eigentlich kann man doch relativ gut mit ihm auskommen.
„Hol noch mal das Teil raus und zeig’s mir“, grinse ich beduselt.
Anis lässt die Teufelsente erscheinen und grinst ebenfalls. „Du bist genauso leicht zu entertainen wie die Mädels.“
„Das kommt vom Saufen.“
Als er das Feuerzeug in seine Hosentasche zurücksteckt, fällt mir etwas auf.
„Ey, dein Gürtel sieht aus wie das Marsupilami.“
„Huba“, kiekst er.
Mir wird so flau… zu viel Alkohol, nehme ich an. Langsam streicht mein Zeigefinger über das Leder, aber Anis nimmt meine Hand und legt sie auf seinen Bauch. Was zur Hölle… meine Hand schiebt sich unter sein Shirt… Mann, kann der mal aufhören, so süß zu lächeln, verdammt?!
„Was Interessantes gefunden?“
Allerdings! Meine Finger berühren seinen Nippel.
„Schluss jetzt!“, lacht er und holt meine Hand unter dem Stoff hervor.
Nee, ich kann jetzt nicht aufhören. Blitzschnell hab ich mich halb auf ihn gelegt und halte seine Handgelenke fest. Dann küsse ich ihn… ausgiebig.
Keine Ahnung, wie lange wir knutschen. Das Lachen und Kreischen der anderen nehme ich bloß noch am Rande wahr.
„Du hast mir den Tag gerettet“, behauptet Diane, als sie am nächsten Nachmittag in mein Zimmer stiefelt.
„Wie schön für mich.“
„Du und Anis, ihr seid der absolute Knaller.“
„Hä?“
Sie hantiert an meinem Laptop und zeigt mir… ach du Scheiße!
„Du hast mich heimlich gefilmt und ins Internet gestellt? Dafür könnte ich dich verklagen, Süße.“
„Versuch’s doch, Kleiner. Mein Papa ist Rechtsanwalt, wie du weißt. Hier, schau dir mal die ganzen Kommentare an.“
Süß… heiß… ich will auch… boah, sind die geil… die treiben es gleich…
Ihhh, mir wird schlecht. Meine Hand fummelt permanent an Anis’ Arsch rum, während wir uns gegenseitig fast auffressen. Hm… ich hätte nicht so viel durcheinander trinken sollen, oder?
„Scheiß Emos, voll die Opfer, ey, alles Schwule, fuck you…“, lese ich. „Wie nett.“
„Ich glaube ja, dass Lady Pissnelke das unter falschem Namen geschrieben hat.“
Was auch sonst?!
„Mach das weg, mir reicht’s.“
„Das sieht aber aus, als hättest du ’ne Menge Spaß gehabt“, zwinkert sie.
„Ich war breit und kann mich kaum noch erinnern“, lüge ich.
„Okay, ich muss los. Bin noch mit Domi verabredet.“
„Warte mal… alleine? Läuft da was?“
„Bis dann, Lukas.“
Wie immer ist Diane an allem Schuld! Seit sie schon die ganze Woche Mutter Theresa bei Dominik spielt und nie mehr Zeit für ihren besten Freund hat, langweile ich mich eben zu Tode. Deshalb, und nur deshalb, hab ich mich von Anis breitschlagen lassen, auf irgendein Festival zu fahren. Punkrock gegen Rechts… oder so ähnlich. Da ist doch Randale vorprogrammiert… logisch, dass sonst keiner mit wollte. Jedenfalls, Anis meint, man müsse Zeichen setzen. Ich finde heimlich, mein Hakenkreuz-in-Mülltonne-Button reicht völlig aus.
Na ja, und stundenlang laute Punkmusik ist auch nicht so ganz meins. Trotzdem, jetzt hab ich zugesagt, also Augen zu und durch!
Das Festival findet eine Zugstunde entfernt in irgendeinem Park statt und der Veranstalter könnte durchaus die DKP oder so sein… es sind nämlich neben den Bier- und Bratwurstständen auch Infostände aufgebaut und man wird mit Flyern bombardiert, die mir doch sehr kommunistisch angehaucht erscheinen. Auf der kleinen Bühne spielen offenbar nur unbekannte Bands und ungefähr jeder zweite Festivalbesucher trägt Che Guevara auf seinem Shirt.
„Du siehst aus, als wolltest du alle hier abstechen“, mault Anis.
„Das ist auch nicht gerade das, was ich mir unter einem schönen Nachmittag vorstelle.“
„Warum bist du dann mitgefahren?“
Gute Frage! Ich weiß es nicht.
„Lass uns mal was zu essen kaufen.“
Mit Pommes und Cola bewaffnet setzen wir uns an einen der Holztische. Schwarz gekleidete Herren, Marke Preisboxer, laufen umher und tun wichtig.
„Die sind bestimmt vom Verfassungsschutz“, flüstere ich.
„Das ist die Security.“
„Weißt du das genau? Das könnten beispielsweise auch Leute von der NPD sein, die hier rumspionieren und wenn wir weg wollen, haben rechte Schläger vielleicht schon alle Ausgänge umzingelt.“
„Du leidest doch unter Verfolgungswahn.“
„Überhaupt nicht. Die DKP wird als linksextremistisch und verfassungsfeindlich eingestuft.“
„Ist aber nicht verboten. Überhaupt ist die NPD wohl viel verfassungsfeindlicher, oder? Und wenn ich zwischen links- und rechtsextrem zu wählen habe, ist es ja wohl klar, auf welche Seite ich mich stelle.“
„Ich lehne jede Form von Extremismus ab.“
„Trotzdem. Besser links als rechts. Du trägst deinen Button nur weil es chic ist, oder was?“
„Nee, weil es vernünftig ist.“
„Na also.“
„Das bedeutet aber nicht, dass ich Kommunismus gut finde und eine entsprechende Partei wählen würde.“
„Dann hör doch einfach ein bisschen der Musik zu.“
„Ich stehe nicht besonders auf Punk.“
„Äh… hab ich dich eben schon mal gefragt, warum du mitgekommen bist?“
„Ja, und ich hab immer noch keinen Schimmer.“
„Okay, dann freu dich halt, dass du an der frischen Luft bist. Dagegen kannst selbst du nix haben.“
„Frisch ist es in der Tat… und es sieht nach Regen aus.“
„Du bist so ein Weichei, Lukas“, lacht er mich aus. „Aber wenn du möchtest, wärm ich dich.“
„Danke, so dringend ist es nicht.“
Übrigens wird die tolle, frische Luft grad von einer Gruppe Punks verpestet, die sich in der Nähe niedergelassen hat und Drogen zum Rauchen konsumiert.
Weil Anis den Gestank genauso eklig findet wie ich, kucken wir uns die Band an, die noch vier Lieder spielt, laufen an den Ständen entlang, an denen man Schmuck und Klamotten kaufen kann und suchen uns danach einen ruhigen Platz.
„Jetzt erklär mir mal bitte, wer dir deinen Spitznamen verpasst hat. Du heißt nicht wirklich Anis, oder?“
„Nee, den Namen hab ich mir selber gegeben, weil mein richtiger Name total peinlich, blöd und bescheuert ist.“
„Ja?“
„Du glaubst doch nicht, dass ich dir meinen richtigen Namen verrate…“
„So schlimm wird der schon nicht sein.“
„Das kannst du gar nicht beurteilen.“
„Eben.“
Ich warte gespannt, aber Anis schüttelt den Kopf.
„Meine Güte, stell dich nicht so an.“
„Ares.“
„Aha.“
„Beyer.“
„Na und? Mann, da hast du dir bei deinem Spitznamen aber nicht viel Mühe gemacht, mh?“, grinse ich. „Also wieso Anis?“
„Weil… Campino behauptet gerne, dass er so heißt, weil er immer gleichnamige Bonbons gegessen hat.“
„Müsstest du dich dann nicht Campino nennen?“
Er holt etwas aus seiner Tasche… Anisbonbons! Kein Wunder, dass seine Küsse nach Lakritz schmecken. Ui, mir fällt plötzlich die Kellerknutscherei ein, woraufhin sich mein Gesicht ein wenig heiß anfühlt. Ares… klingt eigentlich nicht blöd und bescheuert. Im Gegenteil. Mann, und wie der so da sitzt mit den verstrubbelten Haaren, den schwarz lackierten Fingernägeln, den Gürteln und Armbändern an sich dran, irgendwie niedlich.
He, was ist denn auf einmal los? Ich hasse ihn, weil er sich ungefragt bei meinen Freunden breitgemacht hat und Diane… ahh… die hat seit einer Woche eine ganz neue Nummer Eins.
Meine Gedanken werden durch einen Tumult unterbrochen. Besser gesagt durch eine Prügelei, die nebenan stattfindet.
„Wir sollten abhauen“, drängelt Anis.
Keine schlechte Idee! Leider scheinen die Krawallmacher zu denken, dass wir Freunde von den bunten Gestalten sind, die sie grad vermöbeln, und auch was auf die Fresse verdient haben. Mann, das tut richtig weh! Mir ist es irgendwann egal, wohin ich trete und schlage, Hauptsache, ich muss nicht noch mehr einstecken. Als die Bullen endlich nach gefühlten drei Stunden anrücken, können Anis und ich im allgemeinen Getümmel flüchten. Nicht auszudenken, wenn die mich in Gewahrsam oder so was genommen hätten.
Wie durch den Gulli gezogen hocken wir schließlich im Zug. Mein Auge schmerzt, von meinen Rippen ganz zu schweigen. Anis hat einen schönen Schuhabdruck auf seinem Pulli und betastet vorsichtig seine Nase, die inzwischen aufgehört hat zu bluten.
„Frag mich niemals wieder, ob ich mit dir irgendwohin gehe“, zische ich.
„Ist ja wohl nicht meine Schuld, was passiert ist.“
„Ares… hast deinem Namen alle Ehre gemacht.“
„Ich hab die Schlägerei nicht angezettelt“, antwortet er und zupft an seinen dreckigen Klamotten. „Fuck, ich kann so unmöglich zuhause aufkreuzen.“
„Meine Eltern sind übers Wochenende bei meiner Schwester… du kannst dich bei mir waschen und umziehen,“, biete ich an.
„Cool, danke.“
Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause regnet und stürmt es orkanartig. Macht auch schon nix mehr. Nachdem ich Anis mit frischen Sachen ins Bad geschickt und mir selber was Trockenes angezogen habe, klopfe ich an die Badezimmertür.
„Komm rein.“
Anis steht mit nacktem Oberkörper da und begutachtet die blauen Flecke und Abschürfungen.
Scheiße, der hat viel mehr abgekriegt als ich.
„Links im Schrank ist eine Salbe“, sage ich und kann nicht aufhören, ihn anzustarren.
„Links ist immer gut“, grinst er.
Während er mit der Wundsalbe hantiert, glotze ich ihn einfach weiter an, weil… mhhh… er ist eben verdammt hübsch… und halbnackt… und seine Haut sieht so weich aus… und er hat immer noch dieses verruchte Grinsen im Gesicht… und mir wird ekelhaft heiß und kribblig… und eigentlich möchte ich ihn wahnsinnig gerne anfassen und… in meiner Phantasie treiben wir es längst wie die Irren.
Shit, ich bin dermaßen mit starren beschäftigt, dass ich gar nicht merke, dass Anis meine Anglotzerei sehr wohl bemerkt.
„Soll ich dir helfen?“, krächze ich.
„Wobei denn?“
„Na ja, ich könnte doch von hinten… äh…“ Oh mein Gott, was rede ich für einen Schwachsinn? Ich muss einen schlimmen Schlag auf den Kopf gekriegt haben! „Also… mit der Salbe… da hinten, wo du nicht dran… ich geh mal Kakao kochen“, stottere ich blödianistisch.
„Gute Idee“, giggelt er. „Ach, und ruf mich, wenn du Hilfe brauchst.“
Ja, sehr lustig!
Mit zwei Tassen Kakao stiefle ich in mein Zimmer und frage mich einen Moment, warum Anis es zwischenzeitlich nicht geschafft hat, sich was überzuziehen?! Das ist doch voll gemein, mich so zu reizen.
„Krieg ich mein Heißgetränk? Mir ist echt kalt.“
„Wie wäre es erstmal mit einem T-Shirt?“
„Verflixt, ich wusste, ich hab was vergessen“, schüttelt er den Kopf und verschwindet kurz.
Der macht das extra, ganz sicher!
Mit den Nerven reichlich am Ende krauche ich unter meine Bettdecke und erwarte fast, dass er gleich völlig nackt hereinspaziert. Zum Glück taucht er in meinem Cookie-Monster-Shirt wieder auf, schlürft seinen Kakao und fragt danach, ob es möglich wäre, hier zu übernachten.
„Der letzte Bus ist weg und ich hab keine Lust, eine Stunde nach Hause zu latschen.“
„Ja, meinetwegen.“
„Fein“, lächelt er und wurschtelt sich zu mir unter die Decke, „wie gut, dass du so’n großes Bett hast.“
Allerdings. Es wäre also nicht nötig, mir derart auf die Pelle zu rücken.
„Hm-hm“, nicke ich, „Diane übernachtet oft bei mir, die braucht immer viel Platz.“
Seine Füße stupsen gegen meine und wenn mich Anis noch eine Sekunde länger anlächelt, garantiere ich für nichts. Meine Phantasie überschlägt sich eh grad dermaßen, dass ein bestimmtes Körperteil ziemlich heftig drauf reagiert.
„Aha.“
„Wollen wir schlafen… ich meine… du und ich… miteinander?“
„Klar“, flüstert er und küsst mich.
Mein Auge hat sich entzündet. Also erst war’s ein Veilchen, das ist mittlerweile weg, aber dafür tummeln sich Bakterien im Auge, die es verkleben und verschmocken und ständig tränt es.
Meinen Eltern hab ich mal lieber reinen Wein eingeschenkt, weil ich finde, dass man bei denen mit der Wahrheit am besten fährt. Ich konnte ja auch wirklich nichts dafür, dass ich was aufs Maul gekriegt habe. Außerdem lüge ich meine Eltern eh nicht an, denn dann hätte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil die sich doch um mich kümmern und ich mir total wie ein undankbarer Schmarotzer vorkäme.
Von Anis fehlt seit ungefähr zwei Wochen jede Spur. Zuerst war ich irritiert, als er morgens nicht mehr in meinem Bett gelegen hat, dann hab ich mir Sorgen gemacht… wegen der Schlägerei, weil er vielleicht innere Verletzungen gehabt haben könnte… jetzt bin ich einfach nur noch tierisch wütend, enttäuscht und traurig. Es ist eine Meisterleistung, mir vor Diane und den anderen nichts anmerken zu lassen, wenn ich ganz nebenbei frage, ob irgendwer Anis kürzlich gesehen hat. Ich weiß genau, was Diane sagen würde und darauf kann ich momentan noch gut verzichten.
Es ist also wieder passiert. Das dritte Mal in folge. Und eigentlich gab’s bisher sowieso nur die drei Mal. Warum immer ich, hä?
„He, Triefauge“, grüßt Diane, als sie mein Zimmer betritt.
„Hallo.“
„Ich hab eine traurige Nachricht.“
Anis ist bestimmt neuerdings mit Tom zusammen… und mit Bastian wahrscheinlich ebenfalls.
„Oma Schulte ist gestorben.“
„Oh…“, entgegne ich betroffen, „das tut mir leid. Allerdings war sie, keine Ahnung, hundertzehn?“
„Dreiundneunzig.“
Oma Schulte wohnte, seit ich denken kann, in Dianes Nachbarschaft und als wir klein waren, haben wir ziemlich oft nachmittags bei ihr Kakao getrunken und selbstgebackenen Marmorkuchen gegessen.
„Du glaubst gar nicht, was abgeht. Die Oma ist noch nicht mal unter der Erde und schon streiten sich die Verwandten ums Geld.“
„Ist doch normal, oder? Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Oma Schulte so wahnsinnig viel Geld hatte.“
„Zwanzigtausend Euro… in ihrem Schrank hinter der Unterwäsche. Mein Papa muss sich jetzt um alles kümmern, weil er ihr Anwalt ist… war… jedenfalls hat die Oma verfügt, dass zehntausend Euro an die Katzenhilfe und zehntausend Euro an den RTL-Spendenmarathon gehen sollen. Das wollen ihr die Verwandten logischerweise nicht so durchgehen lassen und faseln was von Erbrecht und geistiger Umnachtung und so.“
„Dass sie Verwandte hatte, wusste ich gar nicht.“
„Nee, die sind erst nach ihrem Tod aus den Löchern gekrochen. Wie die Aasgeier. Aber mein Papa sagt, die haben keine Chance an das Geld zu kommen. Übrigens ist morgen die Beerdigung… du fährst doch bei uns mit, oder?“
Auch das noch!
„Eigentlich… so gut kannte ich…“
„Lukas“, unterbricht sie mich, „du wirst dich vernünftig von ihr verabschieden, ja? Das hat sie verdient.“
„Okay.“
„Sag mal, weiß du, wo Anis steckt?“
„Nee. Ist mir auch völlig egal, der Typ. Erzähl mir lieber, wie’s mit Dominik läuft. Hast ihn von seiner Schlitzerei runtergebracht, was?“
„Domi hat ganz andere Probleme“, erklärt sie finster.
„Zum Beispiel? Und seid ihr nun zusammen oder nicht?“
„Irgendwie schon. Findest du es nicht komisch, dass Anis plötzlich gar nicht mehr auftaucht? Der war doch sonst immer da.“
Offenbar mag keiner von uns beiden über seinen Angebeteten reden.
„Du bist doch bloß angepisst, weil du keine Knutschclips mehr kriegst.“
„Ja, kann sein. Aber ich mache mir auch Gedanken. Ich meine, was wissen wir eigentlich über die Leute, die wir als Freunde bezeichnen und mit denen wir fast jeden Tag rumhängen?“
Oh Mann, was kommt den jetzt? Die Erkenntnis, dass wir alle oberflächlich sind?!
„Ich weiß auf jeden Fall, dass Anis ein dämliches Arschloch ist.“
„Klärst du mich vielleicht mal auf, was du gegen ihn hast?“
„Ich verdanke ihm ein blaues Auge.“
„Du konntest ihn von Anfang an nicht leiden. Das hat mit deinem Auge herzlich wenig zu tun.“
„Können wir das Thema wechseln?“
„Nein.“
Demonstrativ schnappe ich mir ein Buch, was Diane mir jedoch sofort aus den Händen reißt.
„Lukas, ich kenne diesen Gesichtsausdruck, den du seit Tagen drauf hast, genau. Den hattest du nach Tom und nach Bastian.“
„Wenn du’s eh weißt, dann frag doch nicht.“
„Also hast du mit ihm geschlafen“, stellt sie fest.
„Ja, und seitdem meldet er sich nicht mehr und ist deshalb genauso ein Penner wie Bastian und Tom.“
„Schade, ich hätte nicht gedacht, dass Anis so ein Versager ist.“
„Ja, was soll’s?“
„Du wirst aber auch nicht schlau. Ich hab dir gesagt, du sollst dich nicht immer sofort flachlegen lassen.“
„Diane, das hilft mir grad überhaupt nicht. Außerdem war es anders.“
„Ach tatsächlich?“
„Es hat sich anders angefühlt, verstehst du?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Erstens hab ich ihn flachgelegt, zweitens haben wir danach total lange gekuschelt, weswegen ich es in Erwägung gezogen habe, dass bei ihm echte Gefühle im Spiel sind und sich was daraus entwickeln könnte, und drittens… ja, es war ein Fehler.“
„Das heißt, deine Abneigung war eine Art Selbstschutz.“
„Danke, Doktor Psycho, das ist mir auch klar.“
„Oh, Kacke, dann ist es meine Schuld. Ich war diejenige, die dich immer wieder gezwungen hat, ihn zu küssen. Mensch, warum hast du mir nicht gesagt, dass du Anis in Wirklichkeit toll findest und Angst davor hast, dich zu verlieben, was verständlich ist, nachdem du zweimal hintereinander auf die Nase gefallen bist?“
Ey, ich flipp gleich aus!!
„Diane“, zische ich leise und reibe mir genervt die Schläfen, „glaubst du vielleicht, ich hätte das ALLES SCHON VORHER GEWUSST?“
„Kein Grund zu schreien und mich anzuspucken“, antwortet sie und wischt an ihrer Wange herum.
„Entschuldigung, aber du bist manchmal einfach… ARGH!“
„Hey“, sagt sie leise und schlingt ihre Arme um mich, „es tut mir leid. Du und Anis… das hätte so gut gepasst.“
Das zu hören hilft leider ebenso wenig.
Oma Schultes Beerdigung war echt eigentümlich. Der Pfarrer hat gefaselt, als hätte er sich vorher heimlich ein paar Schnäpse genehmigt und zwei Verwandte haben Dianes Papa auf dem Weg zum Auto wegen der Erbschaft angehauen. Pietätlos nennt man das wohl. Ich finde es jedenfalls gut, dass die Oma den Arschgeigen nix hinterlassen hat, sondern Katzen und Kinder das Geld kriegen!
Immerhin gibt’s noch eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist: Es macht mir absolut überhaupt nichts mehr aus, dass Tom mich nicht beachtet, weil er mir am Arsch vorbei geht. Die schlechte Nachricht ist, dass ich dafür leider andauernd an Anis und die Nacht mit ihm denken muss. Warum kann bei mir nicht zur Abwechslung mal alles irgendwie leicht und einfach sein?!
Und warum schleift mich Diane zu Mattis ‚meine-Eltern-sind-das-Wochenende-nicht-da-Party‘ und hängt dann den ganzen Abend ausschließlich an ihrem Herzblatt? Überhaupt hab ich eigentlich total keine Lust auf meine Freunde, die alle geradezu bestialisch gute Laune haben. Domi ist mal wieder der Partykracher… aber der hat auch schon reichlich gebechert. Na ja. Ich werd mal zusehen, dass ich mich gleich diskret vom Acker machen kann.
„Ey, Anis“, brüllt Lara und winkt hektisch.
Tatsächlich. Taucht der hier nach über zwei Wochen auf. Unfassbar. Ich versuche, ihn zu ignorieren, aber leider kommt er schnurstracks auf mich zu.
„Hey, Lukas“, strahlt er.
Der hat doch ’nen Sockenschuss. Ich meine, warum freut er sich, mich zu sehen? Was fällt dem Penner ein?
„Du bist ein Scheiß…“
„… kerl, ich weiß.“
Ey, jetzt will der mich auch noch küssen?!
„Was ist denn los?“, fragt er beschissen unschuldig.
„Das ist ein Witz, oder?“
„Keine Ahnung. Wenn es einer ist, hab ich ihn nicht verstanden.“
„Du schläfst mit mir, haust danach einfach ab und meldest dich zwei verfluchte Wochen nicht“, erkläre ich überflüssigerweise.
Anis scheint einen Moment zu überlegen. „Du denkst… ich musste mich um Tante Dorothee kümmern, deshalb hatte ich keine Zeit für dich.“
„Hä?“
„Magenschleimhautentzündung… es ging ihr echt dreckig.“
„Das ist natürlich unangenehm, aber wie wäre es mal mit anrufen gewesen?“
„Ich hab doch deine Telefonnummer gar nicht.“
„Anis, du hättest hier jeden fragen können, okay? Außerdem weißt du, wo ich wohne, also hättest du mal für fünf Minuten vorbeikommen…“
„Meine Güte, ich hätte dir auch ’nen Eilbrief schicken können“, verdreht er die Augen. „Tante Dorothee war halt wichtiger und…“
„Und außer dir war niemand da, der sich hätte kümmern können, nein?“
„Na ja, sie gehört mir, also…“
„Wie, deine Tante gehört dir? Willst du mich verarschen?“
„Ähem… Tante Dorothee ist meine Katze.“
„Ich glaub das nicht“, schüttle ich den Kopf und will gehen, werde jedoch von ihm festgehalten.
„Lukas, es tut mir wirklich leid. Kuck mal, ich hab Tante Dorothee schon so lange und musste doch andauernd mit ihr zum Tierarzt und so.“
„Na, toll. Dann scheint’s ihr ja jetzt wieder besser zu gehen.“
„Inzwischen schon. Du… das mit uns… das war doch keine einmalige Sache, oder?“
„Das fragst du mich? Du bist abgehauen und untergetaucht.“
„Du kennst aber jetzt den Grund. Mann, Lukas… ich…“, er blickt sich kurz nach allen Seiten um, „ich bin voll verknallt in dich.“
Das zaubert blöderweise ein Lächeln in mein Gesicht und ich hab Brausepulverkribbeln im Bauch. Sehr ärgerlich.
„Gib mir dein Handy.“
Nachdem ich meine Nummer gespeichert habe, gebe ich es ihm zurück.
„Heißt das, du verzeihst mir?“
„Sieht so aus.“
„Cool, darf ich dich küssen?“
„Wenn’s sein muss.“
„Es muss sein“, wispert er, „dringend.“
„He, wieso knutscht ihr, ohne dass meine Kamera draufhält?“, schreit Diane. „Sofort aufhören
und dann wird das hier richtig gemacht. Lukas, kann ich dich einen Moment sprechen?“
Sie zieht mich ein Stück zur Seite und schaut mich fragend an.
„Anis hat erklärt, weshalb…“
„Es ist dein Leben“, unterbricht sie mich. „Pass halt ein bisschen auf, ja? Ich kann’s nicht leiden, wenn jemand dein Herz kaputt macht.“
Nach dem Knutschclip für Diane knuddeln Anis und ich uns zusammen auf Domis Matratze. Das heißt, ich setze mich auf Anis’ Schoß.
„Gott, alle hübschen Jungs sind schwul“, seufzt Lara.
„Oder besoffen“, entgegnet Britt und deutet auf Dominik, der wirklich arg zugedröhnt in der Ecke hockt.
Mir ist das grad alles egal, ich küsse Anis. Jedenfalls so lange, bis er mich stoppt.
„Was?“
„Hör mal auf damit.“
„Womit?“
„Dich so an mich zu drängen… besonders im unteren Bereich.“
„Wenn wir jetzt alleine wären, würd ich dir einen blasen“, flüstere ich ihm ins Ohr.
„Lukas!“
„Was?“
„Verdammt, wir sind nicht alleine, also hör auf, okay?“
Ich rutsche ein bisschen auf ihm herum. „Wieso? Kriegste ’ne Latte?“
„Lass den Scheiß“, zischt er und schubst mich, dass ich fast zur Seite kippe.
„Sorry“, murmle ich. „War doch bloß Spaß.“
„Ich find’s aber nicht spaßig, sondern peinlich.“
„Hast du Lust, zu mir nach Hause?“
„Allerdings. Ich kann bloß grad nicht aufstehen“, grinst er.
„Denk an Eisbären.“
„Hä?“
„Eisbären. Die sind süß… aber total nichts zum geil werden.“
„Du hast echt einen an der Waffel.“
Ehrlich gesagt ist es mir etwas unangenehm, dass meine Eltern im Haus sind. Jedenfalls wenn ich überlege, was ich mit Anis vorhabe. Na ja, man kann sich’s leider nicht immer aussuchen. Außerdem schlafen meine Eltern eine Treppe tiefer und würden eh nie einfach so in mein Zimmer platzen, also sind wir eigentlich doch relativ ungestört. Anis ist trotzdem eher zurückhaltend, als wir kuschelnd auf meinem Bett liegen.
„Sagen deine Eltern nichts, wenn du über Nacht Leute bei dir hast?“
„Normalerweise ist ja bloß Diane hier und die kennen meine Eltern seit ewig. Tja, und dich werden sie spätestens beim Frühstück kennen lernen.“
Anis macht nach dieser Ansage keinen glücklichen Eindruck.
„Meine Eltern wissen, dass ich auf Jungs stehe… falls es das ist.“
„Und?“
„Und es ist in Ordnung. Alles andere wäre auch sinnlos, weil sie’s eh nicht ändern könnten.“
Langsam ziehe ich ihm den Pullover aus, streichle seinen Bauch und verteile kleine Küsse auf seiner Brust.
„Vielleicht sollten wir so was nicht…“
„Wir sind allein und ich hab dir was versprochen“, erkläre ich und öffne seine Hose.
„Lukas…“
Na ja, als ich dann anfange, stoppt sein Protest augenblicklich.
Nach einer Weile sehe ich ihn an. Er hat ganz rote Wangen und… mh, ich denke, es hat ihm bis jetzt gefallen. Eilig schlüpfe ich aus meinen Klamotten und küsse ihn auf den Mund.
„Okay“, nicke ich.
„Okay was?“
Lächelnd drücke ich ihm ein Kondom in die Hand. „Beim ersten Mal durfte ich, heute darfst du.“
„Echt jetzt?“
„Hm-hm.“
Anis wirkt etwas unbeholfen, wobei ich nicht behaupten will, dass ich wahnsinnig viel Erfahrung habe. Es ist nur so, dass Tom im Gegensatz zu Anis sehr genau wusste, wie’s geht, obwohl er vorher auf scheu und ahnungslos gemacht hat. Bastian wusste ebenfalls, wie Sex funktioniert und hat das von Anfang an ziemlich raushängen lassen. Allerdings kann man das, was hier grad passiert, eh in überhaupt keiner Weise mit Tom oder Bastian oder irgendwem oder irgendwas vergleichen.
„Ich hab mal gelesen, dass es gar nicht so einfach ist, zusammen zu kommen“, japse ich, als wir nebeneinander liegen. „Wir waren immerhin verdammt nah dran.“
Anis schüttelt bloß den Kopf.
„Das ist wirklich lustig“, bemerke ich und kuschle mich an ihn, „du bist überhaupt nicht so unanständig wie du immer tust.“
„Und du bist unanständiger als ich angenommen hab.“
„Schlimm?“
„Nee, es reicht ja, wenn einer von uns beiden total schüchtern ist.“
„Total würde ich jetzt nicht sagen. Schließlich hast du bei Dianes Knutschclip-Aktionen immer sofort ‚Hier‘ gebrüllt.“
„Küssen ist was anderes. Und ich hab zwar oft ’ne große Klappe, aber besonders viel mit Jungs hatte ich eigentlich noch nicht. Ich meine, so richtig.“
„Ja, na, ich doch auch nicht.“
„Dafür hast du aber vor zwei Wochen genau gewusst, was du willst… und wie du es bekommst.“
„Hm, in meiner Erinnerung hast du den Anfang gemacht.“
„Wie bitte?“
„Indem du halbnackt vor mir herumspaziert bist.“
„Ey, so war das nicht“, widerspricht er.
„Doch, das war so. Ich weiß es, denn ich bin dabei gewesen.“
„Trotzdem hätte ich mich nie getraut…“
„Niemals?“
„Wieso hast du dich eigentlich immer so dagegen gesträubt, mich zu küssen?“
„Das… erzähle ich dir irgendwann mal“, antworte ich und küsse ihn.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, weil Mom die Treppe raufbrüllt, dass das Frühstück fertig ist, liegt Anis zum Glück noch neben mir.
„Ich muss nach Hause“, behauptet er.
„Einen wunderschönen guten Morgen.“
„Was? Äh… ja. Ich muss nach Hause.“
„Ohne Frühstück?“
„Hör mal, dieses ganze… Elternding… ich steh da nicht so drauf.“
„Okay. Dann sehen wir uns…“
„Auf jeden Fall“, lächelt er, küsst mich, zieht sich ratzfatz an und verschwindet.
„Mann, der Typ taucht nicht mehr auf, also lasst uns endlich fahren“, mault Matti und hüpft von einem Bein aufs andere.
„Echt, ey, bis Anis auftaucht, ist sicher schon die nächste Kirmes am Start“, stimmt Domi zu und nimmt einen großen Schluck aus seiner Bierdose.
Ich könnte heulen und danach sofort alle möglichen Leute verprügeln. Unnötig zu erwähnen, dass ich mich auf heute gefreut habe, oder? Hand in Hand mit Anis über die Herbstkirmes gehen, Mandeln und Zuckerwatte essen, rumknutschen… stattdessen warten wir seit einer Dreiviertelstunde am Bahnhof und langsam werden alle etwas aggressiv.
„Ruf ihn doch an“, schlägt Diane vor.
„Ich hab seine Nummer nicht.“
„Euch hält man im Kopf nicht aus.“
„Okay, also wir fahren jetzt“, beschließt Matti. „Kommst du mit oder willst du noch warten?“
Der Zug ist dermaßen überfüllt, dass wir wie die Sardinen in der Büchste stehen. Das nervt auch schon bei einer fünfzehnminütigen Fahrt. Diane hat’s arg erwischt. Ein fremdes Mädel wirbelt ihr ständig die Haare ins Gesicht.
„Ey, Tussi… geht’s noch?“, faucht sie.
Das Mädchen wirkt daraufhin sehr eingeschüchtert.
Mitten im Gedränge klingelt’s plötzlich in meiner Hosentasche. Umständlich krame ich nach meinem Handy, wobei es mich einen Scheiß interessiert, in wessen Körperteile ich dabei meine Ellenbogen bohre.
Unbekannte Nummer, behauptet mein Telefon.
„Ja?“
„Hey, Lukas, ich bin’s.“
„Aha.“
„Ähem… ich glaub, ich schaff’s heut nicht.“
„Das ist cool. Wir waren vor ’ner Stunde verabredet.“
„Sorry.“
„Was’n los? Tante Dorothee wieder krank?“
„Nee. Ich hab irgendwie voll Kopfschmerzen und so.“
„Gute Besserung.“
„Danke. Und…äh… viel Spaß.“
„War das Anis?“, will Diane wissen. „Kommt er nach?“
„Er hat Kopfschmerzen“, erkläre ich beim Aussteigen.
„Hoffentlich sagt er das nicht auch, wenn du mit ihm schlafen willst… dann würd ich mir an deiner Stelle Gedanken machen.“
„Mach du dir lieber Gedanken über deinen Freund.“
Domis Gang ist nach dem ganzen Bierkonsum nämlich nicht mehr sehr sicher.
So, wir ziehen also los, haben Spaß und müssen andauernd aufpassen, dass keiner von uns verloren geht. Während die Jungs sämtliche Fahrgeschäfte ausprobieren, teilen Diane und ich uns diversen Kirmesfraß.
„Ich kann nicht begreifen, dass man freiwillig in so ein Höllenteil steigt“, erklärt Lara, klaubt eine Erdbeere mit Schokoüberzug von meinem Fruchtspieß und stiert in die Höhe.
„Das überschlägt sich“, sagt Diane betroffen. „Heutzutage überschlägt sich einfach alles, das ist doch nicht normal, dass man mit dem Kopf nach unten in der Luft baumelt. Wozu soll das gut sein?“
„Das ist lustig.“
„Halt die Fresse“, faucht sie ihren Freund an. „Trink doch lieber noch ein Bier.“
„Blöde Fo…“
„Ich knall dir gleich eine!“
Oha… Ehekrach!
„Bleib mal locker, Süße“, rülpst Domi.
Diane hakt sich bei mir und Lara ein. „Schönen Abend noch.“ Dann zieht sie uns weiter.
„Zu dritt ist es viel gemütlicher.“
„Und man verliert sich nicht so leicht“, nickt Lara.
Mir ist eh alles egal. Aber nach fünf Minuten finde ich, dass ich mir von Anis nicht die Laune verderben lassen sollte. Außerdem, vielleicht ist er ja tatsächlich krank. Deshalb kaufe ich ihm ein Tüte gebrannte Mandeln und ein Lebkuchenherz.
Nach zwei Stunden treffen wir die anderen an einem Pizzastand. Domi schwankt augenblicklich auf seine Freundin zu. In der einen Hand hält er ein rosa Plüscheinhorn.
„Hier, das hab ich gewonnen. Beim Dosenwerfen.“
„Ein Wunder, dass du bei deinem Pegel überhaupt was getroffen hast“, entgegnet sie angepisst. „Hübsch. Wie schade, dass ich mir nix aus Einhörnern mache.“
„Das ist ja auch nicht für dich, sondern für Kiki.“
Kiki ist Dominiks elfjährige Schwester.
„Das ist für dich“, lächelt er und drückt ihr Graf Zahl in die Hand.
Schwupps ist Diane besänftigt, denn Graf Zahl liebt sie heiß und innig. Zum Schluss kauft er ihr noch rosa Zuckerwatte. Die Welt ist wieder in Ordnung!
„Ich hasse Verliebte“, erklärt Lara naserümpfend. „Echt eklig so was.“
Kann ich nur bestätigen. Besonders wenn man so einen eigenartigen Freund wie Anis hat. Klar, er ist süß und ich hab ihn gern, aber irgendwie… ich weiß nicht, es ist halt komisch. Beispielsweise verabreden wir uns nicht. Nehmen wir nur mal die letzten zwei Wochen… da waren Ferien und trotzdem tauchte er bloß sporadisch und dann auch nur für ’ne Stunde auf.
Er behauptet, dass seine Eltern nach der Festival-Schlägerei halt sehr streng geworden sind. Mann, was sind das denn für Horror-Eltern, die ihr Kind nicht mal in den Ferien von der Leine lassen?!
„Na, Kopfschmerzen weg?“, begrüße ich meinen Freund, der sich nach ein paar Tagen mal wieder die Ehre gibt. Logischerweise hab ich ihn ungefähr tausendmal angerufen, aber sein Handy war immer aus.
„Ich war erkältet.“
„Oh, armer Schatz.“
„Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst?“, fragt er.
„Keine Ahnung. Ich fand meine Erwiderung auf dein Erkältetsein irgendwie passend.“
„Entschuldige, dass ich krank war. Wird nie wieder vorkommen“, sagt er beleidigt und dreht sich um.
Von hinten schlinge ich meine Arme um ihn. „Ich hab dir was mitgebracht.“
„Was’n?“
„Äh… das ist bei mir zuhause. Du kannst schließlich nicht erwarten, dass ich alle möglichen Klamotten für dich mit mir rumschleppe, obwohl ich nie weiß, wann du auftauchst und ob überhaupt.“
„Ist heute Tag der Vorwürfe?“
„Warum drehst du dich nicht um und gibst mir einen Begrüßungskuss. Vielleicht bessert sich dadurch meine Laune.“
„Einen Versuch ist es wert“, antwortet er und küsst mich.
Ich sag’s nicht gern, aber sobald Anis mich küsst, kann ich nicht mehr klar denken. Und ihm böse sein sowieso nicht. Ich kann bloß blöde grinsen und mich noch mehr verlieben.
„Ich will das haben… gib mir das!“, fordert er, an meinem Sternchen-Schal zuppelnd.
Haha, so ausgeschaltet ist mein Hirn dann doch nicht.
„Das ist mein Lieblingsschal. Den kriegt niemand. Aber ich kauf dir...“
„Nein, ich will DAS!“ Schwupps, hat er sich das Teil unter den Nagel gerissen, beziehungsweise um den Hals geschlungen. „Ich mag etwas tragen, das nach dir riecht.“
Tja, dagegen kann man nix machen.
„Du bist ganz schön gierig. Immerhin hab zuhause noch was für dich.“
„Dann lass uns gehen, mir wird langsam kalt.“
Okay, es ist ja so, dass ein normaler Mensch eigentlich nie, niemals, auf die Idee kommen würde, ein geschenktes Lebkuchenherz aufzuessen, oder? Jedenfalls hab ich bisher Lebkuchenherzen nie mit essen in Verbindung gebracht. Anis tickt offensichtlich anders. Der hat das Herz kurz bewundert, ausgepackt und genüsslich hinein gebissen.
Ich bin fassungslos!
„Mmhh… lecker“, mampft er, „ich stehe auf Lebkuchen.“
„Ist nicht zu übersehen.“
Möglicherweise darf man der brutalen Herzverspeisung nicht zu viel Bedeutung beimessen. Möglicherweise ist es einfach nur bescheuert, so was für immer und ewig aufzubewahren und gar an die Wand zu hängen. Ich meine, was soll das schon aussagen? Es ist eigentlich etwas anderes, was mich stört. Und zwar, dass er behauptet, in mich verknallt zu sein, allerdings trotzdem irgendwie so… unverbindlich ist. Also sind wir zusammen oder schlafen wir nur ab und zu miteinander? Diane und Domi beispielsweise… die telefonieren, schicken sich schwülstige Nachrichten aufs Handy, verabreden sich allein und sicher hat sie Graf Zahl nicht aufgegessen. Bei Anis und mir ist es so, dass man sich eher zufällig trifft. Es ergibt sich immer alles. Das ist aber nicht meine Definition von Beziehung. Allerdings… Anis hat bisher noch kein Wort darüber verloren, ob er mich als seinen Freund sieht oder lediglich als, weiß nicht, Gelegenheitsfick.
Nachdem Anis das Herz ratzeputz verzehrt hat, surfen wir ein bisschen durchs Internet, kucken uns die Knutschclip-Kommentare auf youtube an und so. Meine Güte, die Mädels scheinen uns echt zu lieben! Bis auf: Schwule Emo-Opfer haben kleine fahle Ärsche! Da hat sicher wieder Lady Pissnelke unter falschem Namen zugeschlagen. Der arme Anis kriegt nach dem Lesen des Kommentars einen dermaßen heftigen Lachanfall, dass ich Angst habe, er erstickt.
„Die alte Pissnelke geht mir langsam auf den…“
„Kleinen fahlen Arsch?“, unterbricht er mich glucksend und wischt sich Tränen aus den Augen.
„Mein Arsch ist nicht fahl.“
„Aber klein.“
„Hab ich kein Problem mit.“
„Ich auch nicht“, zuckt er die Schultern, zieht mich auf seinen Schoß und schiebt seine Hände in die hinteren Taschen meiner Jeans.
Es dauert nicht lange und wir liegen eng umschlungen und knutschend auf meinem Bett.
„Deinetwegen verpasse ich noch den letzten Bus“, murmelt er an meinem Hals.
„Meinetwegen? Du hast angefangen. Übrigens, mein Papa fährt dich bestimmt.“
„Danke, nicht nötig. Laufe ich halt.“
„Im Dustern lassen dich meine Eltern nicht umherlaufen.“
„Egal. Nur keine Umstände.“
„Mann, ich kann dir auch ein Taxi rufen, wenn dir mein Vater nicht passt“, rege ich mich auf.
„Wieso bist’n du jetzt sauer?“
„Weil… ich hab das Gefühl, je öfter wir uns sehen, desto mehr willst du eigentlich weg von mir.“
„Ist doch Blödsinn“, zuckt er die Schultern.
„Ach ja? Als du angefangen hast, mit uns rumzuhängen, warst du jeden verdammten Tag da. Kaum haben wir was miteinander, sehen wir uns höchstens einmal in der Woche. Was treibst du denn die anderen sechs Tage?“
„Nichts, was für dich von Bedeutung wäre.“
„Okay, dann weiß ich wenigstens, was Sache ist.“
Er schüttelt den Kopf. „Das glaub ich zwar nicht, aber…“
„Du willst dich nicht festlegen, sondern kucken, ob sich vielleicht was Besseres findet.“
„Das ist aber jetzt völliger Blödsinn. Denkst du echt, wenn ich nicht bei dir bin, treffe ich mich mit anderen Jungs? Lukas, ich kann halt nicht immer so weg, meine Eltern sind da wahrscheinlich anders als deine. Die kommen auch schon mal mit Hausarrest und solchen Späßen um die Ecke, wenn ich mich zu wenig an ihre Regeln halte.“
„Das verstehe ich ja, aber du bist halt nie zu erreichen und du meldest dich auch nie und… du hast das Herz aufgegessen.“
„Dafür sind Lebkuchenherzen da.“
„Eben nicht.“
„Na, schön, das war vielleicht gedankenlos. Tut mir leid. Und wenn es dir so wichtig ist, schicke ich dir jeden Tag eine SMS, in der ich mich darüber auslasse, wie sehr du mir fehlst und wie verknallt ich bin.“
„Ja.“
„Fein. Dann frag doch bitte deinen Vater, ob er mich später nach Hause bringen kann.“
„Kein Problem“, lächle ich.
Anis hält sich tatsächlich dran. Jeden Tag krieg ich eine SMS von ihm… auch wenn wir uns nachmittags sehen. Mama und Papa hat er inzwischen kennen gelernt. Er war zwar reichlich still und eingeschüchtert, aber meine Eltern mögen ihn, was logisch ist, weil die eigentlich alle meine Freunde mögen. Gesagt haben sie noch nix, aber bestimmt ahnen sie, dass ich Anis mehr mag als die anderen… schließlich verabschiede ich mich von meinen Freunden selten mit einem Kuss auf den Mund. Das hat zumindest Paps gesehen, als wir Anis letztens nach Hause gebracht haben. Mann, der wohnt echt chic. Ziemlich großes Haus mit Garten und so… leider jedoch am Arsch der Welt.
Grad liegen wir knutschenderweise herum, da bollert Diane herein. Ohne anzuklopfen!
„Ach du Scheiße… störe ich?“, stöhnt sie genervt, nimmt aber sofort auf meinem Schreibtischstuhl Platz.
„Kaum“, antworte ich und ziehe mein Shirt runter, „du kommst total gelegen.“
„Ja, euren Schweinkram könnt ihr andauernd machen.“
„Normalerweise gefällt dir dieser Schweinkram.“
„Ich bin nicht hier, um über Schweinkram zu diskutieren.“
„Sondern?“, fragt Anis freundlich, erntet allerdings von ihr einen Finsterblick.
„Eigentlich wollte ich dich allein sprechen. Na ja, ist eh schon wurscht. Lukas, du musst unbedingt mit Dominik reden.“
„Okay. Worüber?“
Sie macht eine aus-der-Flasche-trinken-Geste. „Darüber.“
„Hä?“
„Ist dir noch nicht aufgefallen, dass Domi säuft wie’n Loch?“
„Klar, aber…“
„Das ist nicht mehr normal“, unterbricht sie mich. „An manchen Tagen fängt er schon morgens damit an. Und was nachmittags und abends abgeht, kriegst du ja wohl mit.“
„Du meinst, er säuft, weil er Probleme hat?“, will Anis wissen.
„Allerdings.“
„So’n Quatsch. Was sollte der für Probleme haben? Domi hat ein absolutes Bilderbuchleben. Seine Eltern haben die dicke Knete, mischen sich nicht in seine Angelegenheiten, er hat haufenweise Freunde, eine super tolle Freundin… alles gute Gründe, um zum Säufer zu werden.“
„Du bist so ein Vollarsch“, schreit Diane. „Als ob Geld und viele Leute um einen herum alles wäre, was man braucht. Wie’s in ihm drin aussieht… danach sollte mal jemand fragen.“
„Na, dann frag ihn doch.“
„Glaubst du vielleicht, er spricht darüber mit mir? Ey, Lukas, du warst mal sein bester Freund und du weißt einen Scheiß über ihn. Wann bist du eigentlich zum egoistischen Penner mutiert, der sich bloß noch um seinen eigenen Kram schert?“
„Domi hat sich von mir distanziert, das wollen wir doch mal festhalten.“
„Und das kam dir nicht irgendwie komisch vor?“
„Ich hab gedacht, er hätte heimlich was gegen Schwule“, zucke ich die Schultern. „Außerdem ist die Sauferei nur eine neue Masche, um cool und dramatisch zu wirken. Das Ritzen ist ihm vermutlich zu ausgelutscht.“
„Ich finde, Diane hat Recht, wenn sie sich Sorgen macht“, erklärt Anis. „Auch wenn er bloß Aufmerksamkeit will… das ist doch ein ganz deutliches Zeichen, dass bei ihm was nicht stimmt.“
„Bei Domi stimmt alles. DAS ist sein Problem. Er ist gelangweilt, weil sein Leben so einfach ist.“
„Entschuldige“, schüttelt er den Kopf, „aber du bist wirklich ein Vollarsch.“
„Danke, gleichfalls. Hast du nicht zugehört? Domi und ich waren beste Freunde, deshalb kenne ich ihn sehr wohl. Und zwar besser als du oder die kleine Drama-Queen.“
„Logisch. Deswegen hast du ja auch gedacht, er hätte was gegen Schwule“, entgegnet sie.
„Na gut, was schlägst du vor? Soll ich zu ihm gehen und ihn fragen, warum er säuft?“
„Weißt du was? Bleib doch einfach hier liegen, knutsch deinen Freund und kümmer dich weiter nur um dich“, zischt sie und stampft aus dem Zimmer.
Genau das habe ich vor. Leider steht Anis auf und zieht seine Jacke an.
„Ich muss los.“
Er geht ohne Abschiedskuss.
Da ich keine Lust hab, dass alle sauer auf mich sind, statte ich Dominik am nächsten Tag einen Besuch ab. Er freut sich nicht, mich zu sehen.
„Was willst du?“
„Dachte, du hättest Lust auf Gesellschaft.“
„Ja? Seit wann interessiert dich, worauf ich Lust hab?“
„Du hast dir die letzten Monate auch nicht grad ein Bein ausgerissen, um mit mir abzuhängen“, erkläre ich und lasse mich auf seine Matratze fallen.
„Möglicherweise, weil du die letzten Monate viel zu sehr damit beschäftigt warst, dich nicht in Anis zu verlieben.“
Mann, wieso ist dem das aufgefallen? Das ist ja direkt unheimlich.
„Ich war nicht besonders erfolgreich.“
„Und? Willst du mir jetzt deine Liebesgeschichte erzählen?“
„Nein. Ich will wissen, was mit dir los ist.“
„Nix.“
„Verarsch mich nicht. Wieso besäufst du dich andauernd? Reicht dir das Ritzen nicht mehr?“
„Ah, verstehe…“, lächelt er bitter, „Diane hat dich geschickt. Sag ihr, es geht mir gut und dass ich hab alles im Griff habe. Wenn sonst nichts mehr ist… tschüß.“
„Ey, ich raff’s nicht. Warum können wir nicht mehr miteinander reden?“
„Lustig, dass grad du diese Frage stellst. Schließlich hast du es vorgezogen, alles Wichtige nur noch mit Diane zu bequatschen. Gut, dass ich Augen im Kopf hab, sonst wüsste ich immer noch nicht, dass mein bester Freund ein Schwulibert ist.“
„Das ist es, womit du nicht klar kommst? Dass ich auf Jungs…“
Domi verdreht die Augen. „Lukas, ich hab auch schon Jungs geküsst, okay? Verdammte Scheiße, ich hab dich geknutscht, du hättest also locker wissen können, dass es mich nicht stört, wenn du noch ein bisschen mehr mit anderen Jungs machst. Mir geht’s auf den Geist, dass du’s mit jedem besprochen hast, wahrscheinlich sogar mit deinen Eltern… aber mir muss man so was ja nicht sagen, mh?“
„Dominik, ich hab dir was zu sagen“, grinse ich, versuche allerdings, ernst zu bleiben, „ich stehe auf Jungs.“
„Du bist so’n Arsch“, grinst er ebenfalls, schmeißt sich zu mir auf die Matratze und kuschelt sich an meine Seite. „Denk jetzt nichts Falsches… ich liebe Diane.“
„Schade, ich würd dich gerne ficken.“
„Echt?“
„Nein. Du bist nicht mein Typ. Ich hab mit Tom geschlafen.“
„Tom? Der ich-lauf-jedem-Ball-und-jeder-Muschi-nach-Tom?“
„Yep.“
„Und was sagt Anis dazu?“
„Vor Anis, Blödmann.“
„Ich hab mir schon gedacht, dass die schnöselige Lichtgestalt heimlich Jungs geil findet. Wenn der an einem vorbeigeht, weht einen so was Schwules an.“
„Er hat danach behauptet, dass er nicht schwul ist.“
„Ist doch kackegal, was der behauptet, oder? Ich meine, du hast jetzt Anis.“
„Diane macht sich wirklich Sorgen.“
„Noch mal, es ist alles in Ordnung. Diane übertreibt total.“
„Das sehe ich nicht so. Du stinkst wie ’ne Wodkaflasche.“
„Hey, wusstest du, dass es Emo-Pornos für Leute wie dich gibt?“
„Lenk nicht ab.“
Domi wurschtelt nach seinen Kippen und zündet sich eine an.
„Was für Pornos?“, frage ich beiläufig, worauf er sich kaputt lacht.
„Schwules Zeug halt. Rumgeficke und so. Bete zu Gott und allen Heiligen, dass Diane das niemals sieht, denn was dir dann blüht… möchte ich mir jedenfalls im Traum nicht vorstellen.“
„Wieso kuckst du dir schwule Pornos an?“
„Zufall. Bin da irgendwie aus Versehen gelandet.“
„Du landest rein zufällig auf schwulen Pornoseiten… nee, is klar!“
„Es hat mich eben mal kurz interessiert, wie das so funktioniert bei zwei Kerlen. Scharf gemacht hat’s mich nicht.“
„Wie viel hast du heute schon getrunken?“
Seufzend hält er mir ein Stück von seinem Shirt unter die Nase. „Ich hab mich angeschüttet, deswegen riech ich so penetrant.“
„Wie…ähem… sind die Typen hübsch?“
„Na ja, so weit ich das beurteilen kann, würden dir einige bestimmt gefallen“, nickt er und macht eine Wichsgeste.
„Schwein“, behaupten wir gleichzeitig und kichern uns halb tot.
Na super! Auf Domis toller Emo-Seite muss man sich für Geld anmelden, damit man was zu sehen kriegt. Da stelle ich mir lieber meinen Freund vor. Das ist erstens viel geiler und zweitens ganz umsonst.
Ach ja… Dominik musste seine eigene Halloweenparty leider früher als geplant verlassen. Und zwar in einem Krankenwagen. Alkoholvergiftung! Obwohl es ihm inzwischen halbwegs gut geht, waren Anis und Diane reichlich sauer auf mich. Mann, kann ich was dafür, dass Dominik sich dermaßen abschädelt? Ich hab ihm die Gelegenheit gegeben, mir zu sagen, was los ist. Aber Anis faselte, dass ich ihm wahrscheinlich irgendwelche Luxusproblemchen vorgeworfen hätte, weil sein Leben doch so easy ist. Ich hatte daraufhin keine Lust, ihm zu erklären, dass es nicht so war. Im Nachhinein hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Dominik nicht mehr unter Druck gesetzt habe… oder vielleicht auch zu sehr, was weiß ich. Dass bei ihm was falsch läuft, liegt jetzt sogar für mich auf der Hand. Aber was? Das ist die große Frage. Überhaupt, vielleicht sollte Diane ein viel schlechteres Gewissen haben. Die hat Domi nämlich gesagt, dass sie Schluss macht, wenn er nicht mit dem Saufen aufhört.
„Ich kapier nicht, wie du so gelassen sein kannst“, erklärt Anis und entfernt meine Hand von seinem Bauch.
„Ich bin keineswegs gelassen. Aber Domi soll sich erstmal erholen, dann krieg ich raus, was Sache ist. Und da wir momentan nichts weiter tun können, lass uns einfach ein bisschen üben.“
„Was üben?“
Ich schlängle mich an ihn. „Zusammen zu kommen.“
„Hast du auch noch was anderes im Kopf als das?“
„Wenn du da bist, nein. Also nicht viel.“
„Ich bin jedenfalls grad nicht in Stimmung.“
Das ist auch wieder so’n Ding. Während ich quasi andauernd in Stimmung bin, muss man ihn… na, zwingen wäre übertrieben, aber… man muss ihm halt einen kleinen Schubs verpassen. Haben wir allerdings erstmal angefangen, kriegt er genauso wie ich nicht genug. Und das ist doch eigentlich das, was zählt, oder?!
„Hör mal, Ares, ich hab begriffen, dass Dominik Hilfe braucht und ich werde zukünftig auf jeden Fall ein Auge auf ihn haben.“
„Würdest du mich bitte nicht so nennen?!“
„Mhhh… aber das klingt sooo toll… Ares. Ehrlich, ich liebe deinen Namen. Ich…“
Mist, beinahe hätte ich ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Ich war schon ein oder zwei Mal kurz davor und hab mich dann doch nicht getraut. Normal, oder? Man kann nicht jemandem, mit dem man ungefähr fünf Minuten zusammen ist, sagen, dass man ihn liebt. Andererseits macht es mich fertig, es ihm nicht zu sagen. Weil es irgendwie total weh tut, mich zurückzuhalten. Besonders wenn er so nah bei mir ist, mich so ansieht, seine Hand in meine schiebt und meine Finger streichelt. Wenn er kurz seine Lippen leckt und ich weiß, dass er mich in zwei Sekunden küsst.
Eine Weile schmusen und knutschen wir, bis sich Anis aus meiner Umarmung befreit. Logisch, was jetzt kommt. Der letzte Bus blablabla.
„Ruf deine Eltern an und frag, ob du heute hier übernachten darfst.“
„Morgen ist Schule.“
„Und? Da liegt deine Tasche. Also alles kein Problem.“
„Sagen deine Eltern nichts?“
„Solange ich pünktlich im Unterricht sitze, ist das in Ordnung.“
„Scheint so, als hättest du das Bilderbuchleben, das du Domi unterstellst. Meine Eltern werden da nicht mitspielen, deshalb gehe ich lieber.“
Blitzschnell schlinge ich Arme und Beine um ihn. „Ich lass dich aber nicht weg.“
„Lukas“, seufzt er gequält.
„Ich will mit dir einschlafen. In deinen Armen… nachdem wir die ganze Nacht gevögelt haben“, grinse ich drücke mich an ihn.
„Eisbären… Eisbären… Eisbären…“
Meine Hand wandert zwischen seine Beine.
„Das funktioniert grad total nicht.“
„Eis… fuck!“
„Ihh, was’n das für’n Schweinkram? Ich hoffe, du verlangst so was nicht von mir.“
„Lass mich los.“
Arme und Beine schlingen wieder fester. „Nein.“
„Ernsthaft, ich muss nach Hause.“
„Keine Chance.“
Haha, der kleine Schleicher denkt, wenn er mich küsst, lasse ich locker.
„Du bist schuld, wenn wir uns die nächsten hundert Jahre nicht sehen können, weil ich Hausarrest habe.“
„Das, was du heute Nacht dafür kriegst, ist es wert, glaub mir.“
Nachdem ich ihm ein bisschen bewiesen habe, dass ich Versprechen einhalte, stolpere ich durchs dustere Haus in die Küche, denn Anis hat den Tick, nach Sexualaktivitäten immer irgendwas essen zu wollen.
„Lukas…“
„ARGH“, kreische ich und schnappe nach Luft, während Mom das Licht anmacht.
„Hab ich dich erschreckt?“
Mein Herz rast und bollert. „Nein.“
„Sag mal, hast du oben jemanden bei dir?“
„Äh… Anis hat den Bus verpasst.“
„Papa hätte ihn sicher gefahren. Anis ist ein netter Junge und er darf auch gerne hier übernachten… aber bitte nicht mehr in der Woche, wenn du am nächsten Tag Schule hast, ja?“
„Ausnahmsweise“, nicke ich.
„Ich weiß natürlich, dass ich die letzte Person bin, mit der du darüber reden möchtest, Lukas, und Papa und ich verlangen auch gar nicht, dass du uns über alles informierst… es ist nur… wenn du mit Anis oder einem anderen Jungen… du schützt dich doch hoffentlich?“
„Klar, Mom.“
„Warte mal einen Moment.“
Zwei Minuten später bekomme ich… Kondome in die Hand gedrückt.
„Ähem… das ist nicht nötig, weil…“
„Ich bin beruhigter, wenn ich genau weiß, dass du welche hast“, lächelt sie. „Gute Nacht.“
Erwähnte ich schon, wie cool ich’s finde, dass ich so tolle Eltern gekriegt habe?! Ich meine, es hätte ja auch ganz schlimm für mich ausgehen können.
Als ich mit einer Schüssel Vanillepudding in mein Zimmer zurückkomme, ist Anis schon fast eingeschlafen.
„Ist das alles?“, murmelt er. „Wo ist die Schokolade, die Pizza, die…“
„Ares, es ist tausend Uhr. Denkst du, ich koche dir mitten in der Nacht ein Fünf-Gänge-Menü?“
„Für hundert Jahre Hausarrest ist eine Schüssel Pudding echt lausig“, behauptet er, fängt aber natürlich sofort an zu löffeln.
„Ich liebe dich“, rutscht mir aus Versehen heraus.
Anis spuckt ein wenig Pudding in die Schüssel und stiert mich an.
„Du… du musst nicht darauf antworten. Ich wollte nur, dass du’s weißt“, versuche ich zu relativieren.
Langsam stellt er den Pudding zur Seite, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich ultra süß auf den Mund. Danach isst er weiter, als wäre nichts passiert.
Okaaay… ich schätze, das hätte ebenfalls schlimmer für mich ausgehen können.
Anis hat Hausarrest mit völliger Kontaktsperre. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass er keine SMS mehr schickt und sein Handy dauerhaft ausgeschaltet ist. Weil mich die wenigen Tage ohne ihn bereits ziemlich zum Wrack gemacht haben und ich ihn halt sehen möchte, beschließe ich, zu ihm nach Hause zu gehen. Sollten seine Eltern da sein, werden die mir bestimmt nicht direkt die Tür vor der Nase zuknallen. Und wenn doch… kann ich immer noch nach irgendwelchen Hausaufgaben fragen. Schule zieht bei jeden Eltern!
Vor seiner Haustür angekommen, irritiert mich zunächst, dass auf dem einzigen Klingelschild ‚Wagner‘ steht. Na ja, vielleicht hat seine Mama neu geheiratet und Anis einfach seinen Nachnamen behalten. Ich klingle. Eine Frau mittleren Alters öffnet mir kurz darauf die Tür.
„Guten Tag“, grüße ich höflich, „ich möchte bitte zu Ares.“
„Einen Ares gibt es hier nicht, junger Mann“, behauptet sie.
„Äh… Beyer. Ares Beyer“
Sie deutet auf das Klingelschild. „Da haben Sie sich wohl in der Adresse geirrt.“
„Aber… wir haben ihn doch… ich meine, er hat gesagt, dass er hier wohnt.“
„Tut mir leid“, schüttelt sie den Kopf.
„Sie sind nicht zufällig erst gestern oder vorgestern hier eingezogen?“, frage ich und will am liebsten losheulen.
„Nein. Wir wohnen hier seit zwanzig Jahren.“
„Entschuldigung“, wispere ich mit hängendem Kopf.
„Das macht doch nichts“, lächelt sie, wünscht mir einen schönen Tag und schließt die Tür.
Ey, was hat denn das zu bedeuten? Wieso lässt sich Anis hierher… obwohl er ganz woanders…? Ich kapier das nicht! Außerdem beschäftigt mich spontan die Frage, welche Lügen er sonst noch aufgetischt hat. Oh Mann, am Ende heißt er nicht mal Ares Beyer.
So sehr ich auch überlege, ich komm einfach nicht drauf, was einen Menschen dazu bewegt, einem anderen einen falschen Wohnort zu präsentieren. Erstmal rufe ich ihn an, aber sein Handy ist immer noch aus. Danach frage ich Diane, ob sie eventuell seine Adresse hat. Hat sie nicht. Allerdings findet sie es reichlich sonderbar, dass ich mit Anis schlafe, aber nicht weiß, wo er wohnt. Dann rufe ich einige Leute aus der Clique an. Die können mir leider auch nicht helfen.
Zuhause werfe ich einen Blick ins Telefonbuch. Soll ich jetzt etwa alle Beyers anrufen und nach Ares fragen? Was bringt das, wenn er vielleicht gar nicht so heißt? Ich hab keine Ahnung, was ich machen soll. Ich weiß irgendwie überhaupt nichts mehr.
Zwei Tage später gelingt es mir tatsächlich, Anis aufm Handy zu erreichen. Mein Magen spielt verrückt und mein Herz klopft total laut.
„Und? Wie lange hast du noch Hausarrest?“
„Eigentlich… also, das ist jetzt vielleicht doof so am Telefon… ich wollte Schluss machen.“
„Was?“, frage ich verdattert.
„Es passt einfach nicht.“
Schade, ich dachte, ich hätte mich verhört.
„Sorry, Lukas.“
„Schwachsinn. Du sagt mir jetzt sofort, was los ist.“
„Hab ich doch gerade.“
Will der mich verarschen?? Am Besten, ich gehe auf diesen Irrsinn gar nicht ein.
„Ich wollte dich vorgestern besuchen. Erklär mir bitte, warum dich in dem Haus niemand kennt und seit zwanzig Jahren kein verdammter Beyer da gewohnt hat.“
„Was soll der Scheiß, unangemeldet bei mir aufzukreuzen?“, regt er sich auf.
„Äh… ich bin nicht bei dir aufgekreuzt, sondern bei Frau Wagner. Wieso lügst du mich an? Wieso lässt du dich zu einer falschen Adresse kutschieren? Was zur Hölle geht in deinem Schädel vor?“
„Es ist vorbei“, entgegnet er kalt. „Ich will dich nicht mehr sehen, weil… ich einen neuen Freund habe, also lass mich in Ruhe.“
Bevor ich was sagen kann, hat er mich weggedrückt und danach logischerweise sein Handy ausgeschaltet.
Ich werd langsam wahnsinnig! Und das Geilste ist: Ich kann verdammt noch mal nichts tun, weil ich verdammt noch mal keine scheißverfickte Möglichkeit habe, an Anis ranzukommen! Wenn das sein Plan war… der ist so was von aufgegangen. Ich krieg nur nicht in meine Birne, was er sich dabei gedacht hat. Was ist seine Motivation gewesen? Ich meine, so was tut man doch nicht einfach, weil man’s grad lustig findet.
„He, Schluckspecht“, begrüße ich Dominik.
„Bitte, komm mir nicht wieder mit irgendwelchen Sorgen, die sich Diane macht“, verzieht er das Gesicht.
„Okay. Ich mache mir Sorgen. Wie wäre es damit?“
„Du klingst so schwul, Lukas, echt.“
„Und ich bin gespannt, wie du deinen Totalabsturz von neulich runterspielen wirst.“
„Hab halt etwas übertrieben.“
„Süß. Du hattest eine verdammte Alkoholvergiftung, Blödarsch. Das ist kein Spaß mehr. Nebenbei ist es auch nicht sehr spaßig, dir jedes Wochenende dabei zukucken zu können, wie du dich zuschüttest, eine Runde kotzen gehst und danach fröhlich weiter säufst. Du bist doch kein minderbemittelter Teenie außer Kontrolle, der so was für die ideale Freizeitgestaltung hält.“
„Laber mich nicht voll. Du hast doch null Ahnung.“
„Nee, hab ich auch nicht. Vielleicht spuckst du’s endlich aus.“
„Mann, warum gehst du nicht mit Anis ficken und lässt mich in Ruhe?“, verdreht er die Augen.
Puh… der hat gesessen! Daraufhin muss ich mich erstmal setzen.
„Anis… also, der hat Schluss gemacht.“
„Wieso das denn?“
Ich berichte ihm von unserem letzten Gespräch.
„Das ist wirklich mies, am Telefon Schluss zu machen. Aber… wenn’s halt nicht passt, ist es besser, man zieht einen Strich.“
„Äh…?“ Hat der jetzt den Ultra-Schwachsinn?
„Ja, was habt ihr davon, jahrelang zusammen zu sein und euch und allen anderen was vorzuspielen?“
„Anis und ich haben letztens noch miteinander geschlafen und er hat mir bestimmt nichts vorgespielt. Und was gehen mich alle anderen an? Wen meinst du überhaupt?“
„Leute, die dir wichtig sein sollten. Leute, die deine Verlogenheit nicht mehr aushalten. Leute, die keinen Bock mehr auf Heile-Welt-Getue haben, weil sie längst wissen, was in Wirklichkeit abläuft.“
Okay, es geht hier nicht mehr um Anis und mich, das hab ich verstanden.
„Willst du reden?“, seufze ich.
„Meine Eltern… die machen immer auf tolle Familie und ficken heimlich in fremden Betten. Aber nicht miteinander. Ich glaub, das geht schon seit Jahren so.“
„Wow, das ist ätzend.“
„Allerdings. Ich meine, was denken die? Dass ich ihnen die getrennten Zimmer, weil Papa schnarcht, abkaufe, oder was? Mann, die benehmen sich inzwischen wie Leute, die in einer WG leben und meinen, sie würden ihren Kindern einen Gefallen tun, wenn sie zusammen bleiben und so tun, als wär alles in Ordnung.“
„Warum redest du nicht Klartext mit ihnen?“
„Weil die eh nicht zuhören würden, weil die viel zu sehr damit beschäftigt sind, dass wir nichts von ihren Affären mitkriegen. Kiki… ey, die ist grad mal elf und sagt, sie hofft, dass Mama und Papa sich endlich trennen, damit wir nicht mehr so tun müssen, als wüssten wir von nichts. Das ist gemein, so was von deiner kleinen Schwester zu hören.“
„Saufen und ritzen ist keine Lösung, Domi.“
„Das weiß ich doch selber. Es geht nur manchmal nicht anders.“
„Kiki hilfst du damit nicht.“
„Man tritt nicht jemanden, der bereits am Boden liegt“, lächelt er traurig.
„Du… solltest Diane erzählen, was los ist… und vielleicht ihrem Papa.“
„Soll ich den als Scheidungsanwalt engagieren oder was?“
„Nee, aber vielleicht weiß der, an wen man sich in deiner Situation wenden kann. Oder geh zum Schulpsychologen. Und kauf dir einen Sandsack oder ’nen Punchingball, wenn du Frust hast. Das ist wesentlich gesünder als saufen und Arme kaputt schneiden.“
„Du solltest nach’m Abi Frau Kallwass werden“, grinst er.
„Ha ha.“
„Ernsthaft. Immerhin hast du mich dazu gebracht, über den ganzen Bullshit zu reden.“
„Purer Egoismus. Muss ich wenigstens nicht über meinen bekloppten Exfreund nachdenken.“
„Ich find das schon komisch, dass er wochenlang an dir rumgebaggert hat und jetzt, wo er quasi am Ziel ist, plötzlich mit einem neuen Freund um die Ecke kommt“, überlegt Domi.
„Ich finde es viel komischer, dass er mir eine falsche Adresse gegeben hat.“
„Hä?“
Ich erzähle von meinem Ausflug zum angeblichen Beyer-Haus.
„Hm, dazu fällt mir leider auch keine gescheite Erklärung ein. Außer… na ja, vielleicht pennt er unter irgendwelchen Brücken und wollt’s vor dir nicht zugeben. Wird ihm sicher peinlich sein, dass er kein Zuhause hat.“
„Anis sieht nicht aus wie das typische Straßenkind.“
„Aha. Und wie sieht das deiner Meinung nach aus?“
„Dreckig und zerlumpt?“, schlage ich vor.
„Dann wohnt er wahrscheinlich in ’nem fiesen Hochhaus-Ghetto, wo überall Säufer, Junkies und Kriminelle rumlungern. Und seine Eltern sind Langzeitarbeitslose, die den ganzen Tag nur Bier trinken und Kippen drehen. Oder seine Eltern sind Messies. Oder in einer Sekte.“
„Wieso Sekte?“
„Hast du eine bessere Idee?“
„Was für eine Sekte denn?“
„Irgendeine, die den Teufel anbetet… oder einen Guru, der, wenn er abkassiert hat, zum kollektiven Selbstmord aufruft… oder Charles Manson.“
„Der aus dem Jenseits befiehlt, alle umzubringen?!“
„Charles Manson lebt noch.“
„Völlig egal“, erkläre ich, „Anis’ Eltern sind bestimmt keine Fans von dem.“
„Okay, und was hast du jetzt vor?“
„Ihn abhaken und vergessen. Ist ja nicht so, als würd er nicht super in meine Reihe von Fehltritten passen… Anis hat mich bloß ein kleines bisschen länger verarscht als Tom und Bastian.“
„Scheiße, Lukas, wie viele Typen hattest du eigentlich schon?“
„Ich gehe jetzt“, entscheide ich und stehe auf. „Und du… rede mit deiner Freundin!“
Abhaken und vergessen klappt nicht wirklich. Besonders wenn man gerne blöd-romantisch über den Weihnachtsmarkt schlendern, danach heißen Kakao trinken und stundenlang kuscheln würde. Fuck Winter… Fuck Weihnachtszeit… ich hasse die ganze Welt! Bestimmt ist es meine Schuld, hab ich mir überlegt. Ich hätte nicht nach knapp vier Monaten schon mit ‚Ich liebe dich‘ kommen dürfen. Wahrscheinlich hat Anis gedacht, er könnte ab und zu Spaß mit mir haben und war dann völlig angewidert, als ich von Liebe faselte. Wir leben schließlich in keiner dämlichen Hollywood-Romanze, wo alles rosa ist, der Himmel voller beknackter Geigen hängt und man nach der Traumhochzeit gemeinsam in den Sonnenuntergang spaziert.
Ich glaub, ich weiß jetzt ungefähr, wie Domi sich fühlt, wenn er wahlweise zur Klinge oder zur Flasche greift. Es ist nicht nur, dass man sich scheiße fühlt… man ist irgendwie so machtlos und ausgeliefert, nichts hilft, das Gefühl geht einfach nicht weg. Man möchte mit dem Kopf gegen die Wand rennen, Sachen kaputt hauen, sich selber vermöbeln, Anis auf den Mond schießen… und ihn sofort wieder zurückholen, weil man ihn lieb hat und vermisst wie sau. Dann möchte man sich noch viel doller verprügeln, weil es total bescheuert ist, jemanden lieb zu haben, der einen von vorne bis hinten verarscht hat.
Nachmittags treffe ich mich mit der Clique in der Stadt. Wir lungern da an der kleinen Eisbahn rum, die in der Weihnachtszeit immer aufgebaut wird. Eigentlich ist mir grad nicht nach vielen Leuten, aber zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. Außerdem besteht momentan wenigstens nicht die Gefahr, dass ich mir stundenlang Knutschclips ankucke und total durchdrehe.
Apropos drehen… als ich mich kurz umdrehe, sehe ich Anis in einiger Entfernung allein herumstehen. Scheint fast, als würde er uns beobachten. Mir wird spontan übel und zittrig.
Und ich hab keine Ahnung, was ich tun soll?! Ihn ignorieren? Hingehen und ihm eine reinhauen? Hingehen und ihn küssen? Ey, der Sack wagt es doch tatsächlich, meinen Schal zu tragen. Die Sterne leuchten bis hierher.
Mit schlabberigen Gummibeinen stampfe ich zu ihm rüber.
„Hallo“, sagt er leise.
Jetzt wagt er es auch noch, mich anzusprechen?!
„Ich wollte… ähem… also…“, stammelt er behämmert.
Ich strecke meine Hand aus.
„Was?“
„Gib ihn mir zurück.“
Er reibt seine Lippen an dem weichen Stoff, dann nimmt er den Schal ab und drückt ihn mir in die Hand. So ein blöder Penner!
„Ich hasse dich“, zische ich und gehe zur Eisbahn, wo Diane und Domi auf mich warten.
„Er ist weg“, verkündet Diane fünf Minuten später und entkrampft meine Finger, die immer noch den Schal festhalten. „Her damit, ich schmeiß das Teil in die nächste Mülltonne.“
„Nein“, brülle ich und bringe das Teil in Sicherheit, indem ich es mir um den Hals schlinge. Fein, jetzt muss ich nur noch aufpassen, dass ich nicht in Tränen ausbreche, weil der Schal natürlich voll nach Anis riecht.
„Ich hab was für dich“, behauptet Dominik und kramt einen Zettel aus seiner Tasche. „Das ist seine Adresse… die richtige.“
„Woher…“
„Trixi. Die gehört zu den Punks, mit denen er mal rumhing und ist zufällig in seiner Klasse. War nicht schwer für sie, da dran zu kommen.“
„Und was soll ich damit?“
„Lukas, der Typ hat vorhin, als er gegangen ist, beinahe geheult… so benimmt sich keiner, der was Neues am Start hat.“
„Mir doch egal.“
„Hm-hm. Mach mit dem Zettel einfach, was du willst.“
Am Hexenteich wohnt er also. Ich weiß ungefähr, wo das ist… zehn Minuten von der Wagner-Residenz entfernt. Wäre auch schön blöd gewesen, wenn er sich den einen Abend von Paps in die total falsche Gegend hätte bringen lassen.
Am Sonntag (wir schreiben inzwischen den vierten Advent) bin ich soweit, dass ich’s nicht mehr aushalte. Ich muss wissen, was Sache ist und ob Anis wirklich einen neuen Freund hat. Und wenn nicht, warum er dann trotzdem Schluss gemacht hat.
Bei gefühlten zwanzig Grad unter Null schwinge ich mich aufs Fahrrad, Bus fahren kann man Sonntags nämlich völlig vergessen und Paps ist anderweitig beschäftigt. Sollte Anis gleich nicht da sein, werde ich ihm allein fürs durch-die-Kälte-fahren bei der nächsten Gelegenheit auf die Fresse hauen.
So, Domis fieses Hochhaus-Ghetto gibt’s hier schon mal nicht. Dafür verwinkelte Wege, Häuserblöcke, zwischendurch einen kleinen Spielplatz und es dauert ewig, bis ich die richtige Nummer gefunden habe. Ah… neben einer Klingel steht Beyer und mir wird sogar aufgemacht, nachdem ich geklingelt habe. Es geht vier Treppen hoch, im Hausflur riecht’s nach Mittagessen und die Fenster sind weihnachtlich dekoriert. Als ich oben bin, trifft mich fast der Schlag.
„Lukas? Was willst du denn hier?“, fragt Anis leise und offenbar ziemlich überrascht und nervös.
Überrascht… das bin ich wohl auch. Er trägt 08/15-Jeans und ein labberiges Shirt. Kann man machen, wenn man zu Hause rumgammelt, aber seine Haare… schön ordentlich gekämmt und gescheitelt. Wo zum Arsch ist sein süßer Strubbelschopf und der Pony, der ihm normalerweise so niedlich ins Gesicht fällt, dass er ihn immer zur Seite streichen muss?
„Wer ist an der Tür?“, ruft es irgendwo hinter Anis.
„Ein Freund… jemand aus der Schule“, ruft er zurück. „Hör zu, hier weiß keiner, dass ich… die verstehen so was nicht, okay?“
Ich nicke, obwohl ich keinen blassen Schimmer hab, was wer nicht versteht. Dass er emo-mäßig unterwegs ist… oder dass er schwul ist… oder beides?!
Kurz darauf erscheint eine Frau, allerdings ist die eigentlich viel zu alt, um seine Mutter zu sein. Andererseits hört man ja öfter, dass Frauen reichlich spät Kinder kriegen.
„Hallo, ich bin Lukas“, stelle ich mich vor.
„Lukas wollte Hausaufgaben besprechen“, lügt Anis.
„In Ordnung“, sagt die Frau und verschwindet ins Wohnzimmer.
Er hängt meine Jacke an die Garderobe im Flur und schiebt mich in sein Zimmer. Da trifft mich zum zweiten Mal der Schlag. Keine Ahnung, was ich erwartet habe… Wölkchentapete und uralte Möbel, die vermutlich noch aus seiner Kinderzeit stammen, jedenfalls nicht. Dass er sich gerade unbequem fühlt, merkt man sehr deutlich. Er sieht mich kaum an, sondern stiert bedröppelt auf seine Füße.
„Deswegen, ja? Weil du kein cooles Zimmer hast und zu Hause kein Emo sein darfst?“, schüttle ich den Kopf. „Weil deine Mutter…“
„Oma.“
„Ach so.“
„Ich lebe bei meinen Großeltern.“
Ja, kommen wir zu wichtigeren Dingen. „Hast du wirklich einen neuen Freund, Ares?“
„Nein“, murmelt er.
Innerlich hüpfe ich wie ein Gummiball durchs Zimmer, denn das bedeutet ja, dass er doch noch in mich verknallt ist.
Da er mir keinen Platz anbietet, setze ich mich einfach aufs Bett, während Anis die Tür kurz aufmacht, weil es eben davor miaute. Eine schwarzweiße Katze schleicht sich an mich ran und schnüffelt argwöhnisch an meinem Hosenbein. Ich strecke meine Hand aus und kraule ihr ein bisschen den Kopf.
„Tante Dorothee, nehme ich an. Also war doch nicht alles gelogen.“
Die Katze ist momentan sehr viel zutraulicher als ihr Herrchen, sie hopst auf meinen Schoß und schubbert sich schnurrend an meiner Kapuzenjacke.
„Ich warte übrigens immer noch auf eine Erklärung.“
Leider werde ich darauf noch länger warten müssen, denn soeben klopft die Oma und bittet uns zum Kaffeetrinken. Au je!!
„Tut mir leid“, verdreht Anis die Augen.
Im Wohnzimmer lerne ich dann auch Opa Beyer kennen, der mich mindestens genauso argwöhnisch ankuckt wie Tante Dorothee. Na ja, solange der Opa nicht an mir rumschnüffelt oder auf meinen Schoß springt, ist alles im grünen Bereich, würd ich sagen.
Die Kerzen vom Adventskranz werden angezündet, Kaffee (in einer Kanne mit hellblauem Schmetterlingstropfenfänger!) wird eingeschenkt und jeder bekommt ein Stück Käsesahnetorte auf den Teller. Eigentlich ist es ein bisschen wie bei meiner Oma. Nur dass die traditionell selbstgemachten Frankfurter Kranz serviert. Bei Oma Schulte war es übrigens auch immer so… heimelig, antiquiert. Allerdings war es da lustiger, weil Diane neben mir saß. Anis ist im Augenblick keine Spaßgranate. Oma und Opa halten sich sprachlich ebenfalls dezent zurück. Bis auf die Fragen nach Schule, meinen Eltern und ob die damit einverstanden sind, dass ich mich so auffällig kleide.
Oh, schade! Die Torte schmeckt leicht nach Wurst. Das passiert, wenn man so was unabgedeckt in den Kühlschrank stellt. Ich mache den Leuten hier keinen Vorwurf, dass sie das Wurstaroma nicht bemerken, denn ich bin, was Geschmack und Geruch angeht, äußerst empfindlich. Höflich würge ich das Stück runter, lehne jedoch ein zweites ab.
Zurück in seinem Zimmer, entschuldigt sich Anis für alles Mögliche und findet, dass ich lieber gehen sollte.
„Oma hatte gestern Geburtstag und es ist noch was vom Kartoffelsalat übrig, also wenn du bis zum Abendbrot bleibst…“
Er weiß natürlich, WIE empfindlich ich bin und ich muss sofort an Diane denken, die früher, als wir klein waren, immer behauptet hat: Kartoffelsalat stinkt nach Pups und Furz!
„Dann gehe ich wohl tatsächlich besser. Na gut, Ares… ich werde es dir jetzt ganz leicht machen, ja? Frag mich bitte einfach, ob ich dich zurück nehme!“
Das ist vielleicht etwas hoch gepokert, aber was hab ich für eine Wahl?!
„Äh… ich würde dann ‚Ja‘ sagen“, füge ich hinzu, weil Anis mich wortlos anstarrt.
„Ich lieb dich auch“, flüstert er so leise, dass ich es eigentlich mehr von seinen Lippen ablese. „Aber…“
Das ‚Aber‘ ignoriere ich und schlinge meine Arme um ihn.
„Lukas… nicht hier.“
„Versuch mal, ob du morgen raus darfst. Dann kommst du zu mir und… wir besprechen alles.“
„Okay.“
Einen ganz kurzen Kuss auf den Mund gestatte ich mir doch, was sich leider als blöder Fehler rausstellt, weil ich augenblicklich mehr will, was natürlich hier ausgeschlossen ist. Egal. Hauptsache, Anis liebt mich!!
Ha! Ich krieg doch noch meinen romantischen Weihnachtsmarktbummel. Mit Zimt- und Zuckerwatteduft, mit Mandeln und mit Anis. Hand in Hand laufen wir durch die Kälte und seine Augen haben ein kleines bisschen ihren Glanz zurück. Meine wahrscheinlich auch. Ich fühle mich irgendwie grad so… strahlend. Anis schenkt mir ein Regenbogenarmband, ich schenke ihm ein Sternchenarmband. Besonders geredet haben wir bisher noch nicht, also jedenfalls nicht über seine Lügengeschichten. Ich fürchte, ich hab ihm längst alles verziehen und bin einfach nur froh, dass wir wieder zusammen sind. Schließlich ist bald Weihnachten und Silvester will ich eh mit meinem Freund ins neue Jahr knutschen.
Erstmal serviere ich ihm aber nach dem Weihnachtsmarkt in meinem Zimmer heißen Kakao mit Sahne.
„Ich hab dich vermisst“, stellt er fest.
Ah, das ist das Stichwort!
„Warum hast du dann Schluss gemacht?“
„Weiß nicht. Mir ist das wohl zu viel geworden.“
„Was genau?“
„Meine Großeltern würden tot umfallen, wenn sie’s wüssten. Ich meine, für die ist es schon schwer genug, dass ich… meine Haare färbe, schwarze Klamotten trage und mir die Nägel lackiere. Wenn ich jetzt noch mit ’nem Freund ankomme… das geht überhaupt nicht.“
„Entschuldige, aber warum hast mir das nicht mal eher erzählt?“
„Mir war das alles so… peinlich. Du hast doch gesehen, wie und mit welchen Leuten ich leben muss.“
„Na und? So was kann man sich halt nicht aussuchen. Denkst du, ich hätte mich total drüber lustig gemacht, oder wie?“
„Ja, vielleicht“, zuckt er die Schultern.
„Okay, ich hab’s gesehen… und lache immer noch nicht. Und ich renne bestimmt nicht gleich zu Oma und Opa und brülle ihnen ins Gesicht, dass wir miteinander schlafen.“
Seine Reaktion ist echt interessant. Und süß. Er wird nämlich rot, strubbelt nervös durch seine Haare und beißt sich auf die Lippe.
„Hast du Lust…“
„Total“, unterbricht er mich hastig.
„Auf eine weitere Tasse Kakao?“
Seine Wangen werden noch eine Ecke rötlicher. „Ach so… äh…nee, danke.“
„Was hast du denn gedacht?“, amüsiere ich mich.
„Du bist gemein, Lukas.“
„Ah ja?“
„Du… weißt genau, dass ich nicht anfangen kann. Nicht nachdem, was ich mir geleistet habe.“
„Und ich kann es dir nicht immer so leicht machen wie gestern“, erkläre ich und verschränke meine Arme vor der Brust.
„Außerdem… deine Eltern sind da, oder?“
„Meine Mama weiß, dass wir miteinander geschlafen haben.“
„Oh, nein“, presst er entsetzt hervor. „Hat sie uns… ähem… gehört?“
„Ich glaub nicht. Trotzdem. Sie weiß es.“
„Und was hat sie dazu gesagt?“
„Sie empfahl mir, mich zu schützen“, entgegne ich und krame ein Kondom hervor.
„Du hast’s gut. Meine Großeltern…“
„Würden tot umfallen. Aber die sind sicher nicht hier im Haus. Und meine Eltern sind eben einkaufen gefahren. Also fang endlich an… bei so vielen Eisbären, an die ich schon die ganze Zeit denke, verliere ich langsam den Überblick.“
Schwupps, sitzt er auf meinem Schoß und küsst mich. Die ersten Kleidungsstücke landen schnell auf dem Boden, aber dann lässt sich Anis viel Zeit. Das ist eigentlich unglaublich schön, treibt mich jedoch andererseits in den Wahnsinn. Und zwar dermaßen, dass ich einen Moment überlege, es mir selber zu besorgen, wenn er nicht… mhhhh, ich glaube, er hat meinen Gedanken erraten.
Ich muss das mal loswerden… Sex ist toll! Also Sex mit Anis. Ehrlich, es beamt mich jedes Mal so absolut und vollkommen weg, ihn zu spüren, zu küssen, seine weiche Haut zu streicheln, ihn dabei anzusehen und zu hören, ihn zu umarmen und ganz fest zu halten.
Erschöpft sinkt sein Kopf auf meine Brust. Ich wuschle träge durch seine Haare und lächle vermutlich entrückt.
„Es hat wieder nicht geklappt“, flüstert er atemlos.
„Hm?“
„Zusammen… du weißt schon.“
„Ach du meine Güte, als ob es bloß darum geht. Hey, ich hab das nur gesagt, um eine Ausrede für pausenlosen Sex mit dir zu haben.“
„Ich weiß“, grinst er und küsst mich. „Ein bisschen kenne ich dich inzwischen.“
„Ares, lüg mich nicht noch mal an, okay? Peinlichkeit hin oder her. Ich lieb dich, du musst dich also wegen überhaupt nichts vor mir schämen.“
„Wir sollten uns anziehen… deine Eltern bleiben wahrscheinlich nicht ewig weg. Und mir wäre es außerordentlich peinlich, wenn die uns erwischen würden. Außerdem muss ich eh bald nach Hause.“
„Paps fährt dich.“
„Zur falschen Adresse.“
„Siehst du… Lügen machen alles kompliziert.“
„Lukas, ich hab’s begriffen“, entgegnet er, während er sich anzieht.
Mann, selbst das sieht bei ihm so umwerfend aus, dass ich ihm die Klamotten sofort wieder vom Leib reißen will.
Heilig Abend, es schneit und Dominiks Leuchtstern am Fenster blinkt bunt. Vorher gab’s natürlich Essen, Bescherung und den ganzen Kram zu Hause. Morgen und übermorgen stehen Verwandtenbesuche an. Keine Möglichkeit, Anis zu treffen. Diane, Dominik und ich hingegen treffen uns immer an Heilig Abend, wenn das Familiengedöns vorbei ist… also jedenfalls seit wir gecheckt haben, dass es den Weihnachtsmann in echt gar nicht gibt. Dominik hat das übrigens sehr viel früher rausgefunden. Ich kann mich noch dran erinnern, dass ich ihn auf dem Schulhof verkloppt habe, weil er so einen Scheiß erzählt hat. Na ja, vielleicht auch, weil er mich „zugelaufene Suse“ nannte. Egal. Es schneit und ich denke an Anis. Eigentlich hätte er auch hier sein sollen, aber Oma und Opa finden, dass man so einen Tag eben im Kreise der Familie verbringt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er jetzt allein in seinem hässlichen Kinderzimmer hockt und… woah, ich fang gleich an zu heulen.
„Fängst du an zu heulen?“, will Domi wissen
„Lass ihn in Ruhe, unsensibler Klotz.“
„Sensibel ist mein zweiter Vorname, ja? Schließlich sind mir die sexuellen Schwingungen zwischen ihm und Anis sofort aufgefallen, während du wochenlang überhaupt nichts gerafft hast.“
„Blödarsch“, zischt sie. „Lukas, komm her, wir bekuscheln dich auch.“
„Nee, ey, das ist mir zu schwul. Aber, okay, da wir uns alle wieder lieb haben…“, Domi breitet seine Arme aus, „komm her zu mir, mein Schatz!“
„Danke, ich verzichte.“
Er zuckt die Schultern und steckt sich eine Marzipankartoffel von seinem Süßigkeitenteller in den Mund. Dann sind ein paar Dominosteine dran und danach nimmt er sich den Schokonikolaus vor.
„Was?“, fragt er seine Freundin, die ihn anstarrt. „Das ist Ersatzbefriedigung, weil ich nicht mehr saufen darf. Rauchen hast du mir ebenfalls verboten. Ich hab aber zufällig eine orale Fixierung… frag den Schulpsychologen… ich muss mir zwanghaft irgendwas in den Mund stecken.“
Dominik ist tatsächlich zu dem Typen gegangen und nach den Ferien will der sich intensiv um die Angelegenheit kümmern. Was immer das zu bedeuten hat.
„Sicher hat meine Mutter mich nicht gestillt und mir keinen Schnuller erlaubt“, überlegt er.
„Und bestimmt hat sie dich auch ein paar Mal zu heiß gebadet.“
„Na und? Man kann in den kindlichen Entwicklungsphasen eine Menge falsch machen.“
„Haben wir uns im Internet rumgetrieben, Doktor Freud?“, spottet Diane.
„Nee, ich kucke manchmal die Supernanny und da kommt halt raus, dass eigentlich immer die Eltern schuld sind.“
„Wieso kuckst du so einen Müll?“
„Mich beruhigt der Gedanke, dass ich nichts dafür kann, sondern lediglich das Produkt falscher Erziehung bin. Lukas, hör auf, Trübsal zu blasen… sonst blas ich dir einen. Hey, du hast deinen Süßen zurück, alles ist in Ordnung.“
„Du Arsch hast mir Weihnachten für immer verdorben“, bemerke ich und werfe mich neben die beiden auf die Matratze.
„Neeneenee… ich hab dich aufgeklärt. Und zwar nicht nur, was Weihnachten und Ostern betrifft. Wer hat dir das Küssen beigebracht, damit Diane dich nicht für einen Loser hält, mh?“
Shit, da waren wir zehn oder elf und ich fand Diane toll, weil sie halt das coolste Mädchen war und Jungs nun mal Mädchen toll finden. Allerdings hab ich Diane dann doch nicht geküsst, weil ich nämlich beim Küssen mit Dominik gemerkt habe, dass DAS toll ist.
„Wolltest du mir nicht eben einen blasen?“
„Genau“, mischt sich Diane ein, „da kannst du deine orale Fixierung hemmungslos ausleben.“
„Äh… mir reicht grad die Zuckerstange“, grinst er nuckelnd.
Das ist auf alle Fälle besser so, denn zwei Sekunden später stiefelt Kiki herein, die mit ihrem großen Bruder und seinen coolen Freunden abhängen, beziehungsweise Dominion spielen will.
Weihnachten steht, wie gesagt, im Zeichen der Verwandten. Oma und Opa, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen und meine Schwester mit ihrem Freund. Aber am zweiten Weihnachtstag ruft unerwartet Anis spätnachmittags an und sagt, dass er grad unterwegs ist und bei mir vorbei kommen könnte. Ich strahle daraufhin mit unserem Christbaum um die Wette!
„Mann, du siehst total durchgefroren aus“, bemerke ich, als Anis da ist. „Magst du alle meine Verwandten kennen lernen oder gleich in mein Zimmer?“
Er blickt sich gehetzt um. „Letzteres.“
Kaum sind wir oben, küsse ich ihn wie verrückt. Seine Nase und die Wangen sind ganz kalt, seine Hände auch. Deshalb verfrachte ich ihn sofort aufs Bett, breite meine flauschige Totenkopfdecke über ihn und lege mich mit darunter. Schließlich muss ich ihn ja wärmen.
„Ein Heißgetränk hätte auch erstmal geholfen“, lächelt er.
„Mir nicht.“
„Du hast aber bitte jetzt nicht vor…“
„Ares, hältst du mich für total schweinisch?“
„Willst du darauf eine ehrliche Antwort?“
„Lieber nicht, wenn du schon so fragst. Wo bist’n du unterwegs gewesen?“
„Irgendwo. Ich musste halt mal raus. Und ich wollte dich sehen.“
„Wieso?“
„Weil ich dich vermisst hab, Blödian.“
„Ich finde, du könntest mir ruhig einen liebevolleren Namen geben.“
„Fahlarsch?“, schlägt er vor.
„Wir haben bereits festgestellt, dass mein Arsch nicht fahl ist.“
„Sexbesessener Irrer?“
„Du bist genauso verrückt danach wie ich.“
„Und du nennst mich Ares, obwohl ich den Namen doof finde.“
Na ja, wenn man sich Herkunft und Bedeutung ankuckt, kann ich’s schon verstehen, aber… Ares klingt halt schön, das lasse ich mir auch nicht ausreden!
„Deine Hände sind immer noch kalt“, murmle ich und wickle mein Shirt um seine Eisflossen.
„Ist doch voll unvernünftig, bei solch arktischen Temperaturen draußen rumzurennen, um deinen Freund zu besuchen.“
„Erwähnte ich, wie sehr ich dich vermisst hab und dass ich es nicht eine Sekunde länger ohne dich ausgehalten hätte?“
„Ja, aber meinetwegen kannst du das noch öfter erwähnen.“
Stattdessen küsst er mich, wogegen ich nicht das Geringste einzuwenden habe.
„Hey, wie war denn Weihnachten bis jetzt?“
„Langweilig und scheiße wie jedes Jahr“, seufzt er.
„Darf ich dich was fragen?“
„Okay.“
„Warum wohnst du bei deinen Großeltern?“
Er setzt sich auf und zieht die Beine eng an seinen Körper. Super, Lukas, mitten rein gestochen, was?! Vielleicht sind seine Eltern tot, Volltrottel.
„Darf ich dir das mal später erzählen? Irgendwann?“
„Logisch.“
Er wirkt plötzlich so unglücklich, dass ich ihn ganz doll umarmen muss.
„Ich hab dich lieb, Ares“, flüstere ich ihm ins Ohr.
„Ich… bin froh, dass du mich zurück haben wolltest.“
Wir haben entschieden, dass wir bei Sascha feiern. Es stand mal zur Debatte, in irgendeinen Club zu gehen… aber ’ne Silvesterparty in einem Club kann sich ja wohl kein Mensch leisten. Saschas Eltern sind günstigerweise bei Freunden, also haben wir ungestört und müssen halt nur Getränke und so weiter kaufen. Und da Dominik Alkoholverbot hat, sollte auch keine Gefahr bestehen, dass er die Hausbar plündert und danach wieder auf die Intensivstation gekarrt werden muss. Wenn aber doch, werde ich ihm eigenhändig die Fresse polieren und mit Freude den Magenauspumpschlauch in seinen Rachen stopfen!
Anis… tja, wie soll ich sagen… der hat mal wieder Schluss gemacht. Vorgestern. Am Telefon. Nur, dass er diesmal keinen neuen Freund hat, sondern aus anderen Gründen nicht mit mir zusammen sein kann. Die Gründe hat mir nicht verraten. Ich hab so langsam den Verdacht, dass er entweder geistesgestört ist oder Spaß daran hat, mich fertig zu machen. Wie dem auch sein… das war’s jetzt für mich. Oder wie Diane sagen würde: Anis ist Geschichte!
Meine Laune ist nicht die allerbeste, als ich mit Diane und Domi bei Sascha auftauche. Im Wohnzimmer ist’s mir zu voll, weil anscheinend jeder hier noch mindestens drei bis vier Leute mitgebracht hat… die meisten kenne ich nicht. In der Küche knutschen zwei Mädels neben den Partysalaten. Ich hasse Partysalate! Ich hasse es, wenn sich alle amüsieren, nur ich nicht. Na toll! Da stehe ich an Silvester mit meiner Flasche Bier blöde in der Gegend rum und werde hardcore von einem fremden Mädchen angelächelt.
„Scheiße, was’n das für eine Ische?“, fragt Diane eifersüchtig. Die hat nämlich auch immer Angst, dass sie irgendwann nicht mehr meine Nummer Eins ist. Sie legt ihren Arm um meine Schulter und zieht mich aus der Schmachtlinie. „Komm, ich stell dir einen total süßen Typen vor.“
„Wieso?“
„Weil Anis ein Versager ist.“
Ach so. Ich mag aber gar niemanden kennen lernen. Leider hat Diane den total süßen Typen bereits heran gewunken.
„Hier, das ist Mirko.“
„Hey“, grinst er unsicher.
„Sag mir Bescheid, wenn’s was zu sehen gibt, ich hab meine Kamera dabei“, flüstert sie mir zu, bevor sie im Partygetümmel verschwindet.
„Deine Freundin will dich anscheinend verkuppeln oder so. Allerdings… äh… ich stehe gar nicht auf Jungs.“
Ey, Diane ist echt unglaublich!
„In ihrem Universum sind alle Emojungs schwul“, erkläre ich lachend, „außer natürlich ihr Freund.“
Wir smalltalken ein paar Minuten bis Lara mit Herzchenaugen angeschlendert kommt. Ah… der Beginn einer wundervollen was auch immer. Ich suche derweil in der Küche irgend etwas Essbares. Finden tu ich einen griechischen Kriegsgott. Geil, der fehlt mir gerade noch.
„Lukas…“
Ich flüchte. Zu Diane und Domi auf die Couch.
„Der Versager steht in der Küche.“
„Wahrscheinlich hat Sascha vergessen, ihn auszuladen. Soll ich ihn verprügeln?“, fragt Diane.
„Wen? Sascha oder Anis?“
„Beide.“
„Wozu?“, seufze ich. „Übrigens, wenn du mir schon irgendwelche Jungs aufs Auge drückst, bring doch einfach vorher in Erfahrung, ob die schwul sind.“
„Mirko ist auch ein Versager“, beschließt Diane.
„Am besten, du schleppst überhaupt niemanden mehr für mich an. Denn was dabei rauskommt, sieht man ja“, sage ich und deute auf Anis, der sich inzwischen ins Wohnzimmer geschlichen hat und uns dämlich anglotzt.
„Ignorier den Penner, der hat dich nämlich echt nicht verdient.“
„Besonders fröhlich sieht der nicht aus“, bemerkt Domi.
Diane zieht eine Grimasse. „Geh doch hin und munter ihn auf.“
„Ich glaube kaum, dass er von mir aufgemuntert werden möchte.“
„Könnt ihr bitte aufhören, über ihn zu reden?! Schlimm genug, dass ich seine blöde Fresse ertragen muss.“
„Bist immer noch heftig verschossen, was?“
„Leider geht so was nicht innerhalb von zwei Tagen weg“, lächle ich horrorartig.
„Ich werd dem jetzt ordentlich die Meinung geigen“, schnauft Diane und will aufstehen, aber Domi und ich halten sie fest.
„Misch dich da nicht ein, Süße.“
„Sehr richtig“, nicke ich.
„Das hier“, zwinkert Dominik und setzt sich auf meinen Schoß, „ist viel effektiver.“
„Äh…?“
„Zeig mal, was du gelernt hast“, wispert er und knutscht mich plötzlich auf den Mund.
„Anis weiß, dass du mit Diane zusammen bist.“
„Okay, ich blas dir einen, um es wirkungsvoller zu machen.“
„Vor den ganzen Leuten?“
Er blickt sich kurz um und zuckt die Schultern.
„Vor deiner Freundin?“
„Hey, wir reden von Diane.“
„Lass mal. Ich muss ihn nicht eifersüchtig machen, weil… ich ihn nicht mehr haben will.“
Dominik wurschelt sich von meinem Schoß. „Klingt wahnsinnig überzeugend.“
„Meine Güte“, rege ich mich auf, „die Welt dreht sich nicht nur um den da.“ Als sich zufällig unsere Blicke treffen, strecke ich Anis ätzend die Zunge raus.
„Du bist echt süß, Kleiner“, lacht Domi. „Kippst du ihm gleich noch dein Getränk ins Gesicht? Dann solltest du dich aber beeilen… er geht nämlich.“
„Lukas, du läufst dem jetzt nicht hinterher!“, brüllt Diane.
Zu spät.
Es hat zu schneien angefangen. Die Treppe und das Geländer des Zechenhauses sind schon weiß. Auf dem Bürgersteig sieht man Anis’ Fußstapfen.
„Bleib stehen, Blödarsch!“, rufe ich ihm nach.
Er dreht sich langsam um. Mir ist nach kaputt gehen. Anis ist so verdammt schön. In seinen Haaren sind Schneeflocken gelandet und seine Wangen sind gerötet. Ich dagegen spüre die Kälte fast gar nicht, obwohl ich ohne Jacke draußen bin.
„Was zum Teufel ist los mit dir, hä?“, schreie ich ihm ins Gesicht.
Da er nichts sagt, schubse ich ihn so doll, dass er beinahe auf die Fresse fliegt.
„Komm gut ins neue Jahr“, faselt er, worauf mir endgültig der Geduldsfaden reißt. Ich haue ihm reflexartig eine runter.
Seine Augen werden gefährlich feucht. Er senkt den Kopf. Und er zittert. Und ich… ich schlinge verzweifelt meine Arme um ihn. Dann küssen wir uns und tausend Sterne explodieren.
„Ich frier mir den Arsch ab.“
Deshalb nehme ich seine Hand und gehe mit ihm… nach oben. Da ist eigentlich partyfreie Zone, aber, na ja, eine Party wollen wir ja auch nicht grad feiern. Wir verziehen uns ins Elternschlafzimmer, wo es angenehm ruhig ist. Die Musik und die Stimmen dringen nur gedämpft hier rauf.
Auf der Spiegelkommode liegt eine Decke, die ich Anis zuwerfe, eine weitere finde ich im Schrank. Eingehüllt setzen wir uns einander gegenüber auf das Doppelbett.
„Es tut mir leid“, behauptet Anis bedröppelt. „Ich mag dich wirklich, aber…“
„Mögen, mh?“, unterbreche ich ihn. „Vor zwei Wochen hast du noch gesagt, dass du mich liebst.“
„Ja, ich lieb dich. Na und? Es geht trotzdem nicht.“
„Ares“, beginne ich und reibe mir die Schläfen, „willst du noch eine Ohrfeige? Ey, ich bin so kurz davor, auszurasten, also reiz mich nicht, okay?“
„Du weißt doch gar nicht… Mann, du mit deinen tollen Eltern und deinem tollen Leben, für dich ist immer alles einfach… und du glaubst, bloß weil’s bei dir so ist, ist es bei allen anderen genauso. Mach die Augen auf, Traumtänzer. Dann hättest du vielleicht eher gemerkt, dass Dominik sich nicht ins Koma säuft, weil er gelangweilt ist.“
„Wir reden nicht über Dominik, sondern darüber, dass du dich wie ein Psycho verhältst.“
„Möglicherweise weil ich einer bin.“
„Außerdem kannst du absolut nicht beurteilen, wie toll mein Leben bisher gewesen ist, nur weil du ein paar Mal bei mir zuhause warst. Du bist doch überhaupt nicht besser… wirfst mir vor, oberflächlich oder so was zu sein, fragst aber selber auch nicht nach. Wenn du das getan hättest, wüsstest du nämlich, dass mir meine tollen Eltern und mein tolles Leben nicht in den Schoß gefallen sind und würdest nicht so eine Scheiße reden.“
Abwartend schaut er mich an. Na gut, was soll’s?! Erzähle ich ihm halt, dass meine Eltern, also Herr und Frau Falkenberg, mich bloß adoptiert haben, was einige Jahre gedauert hat, weil meine Erzeugerin einer Adoption nicht zustimmen wollte, sich dann, als alles legal war, vom Acker gemacht hat und ich seither nix mehr von ihr gehört habe.
„Meine Mutter sitzt in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie, weil sie Rasierklingen gefressen hat. Ich finde, ich hab gewonnen“, lächelt er gequält.
„Was?“
Es dauert zwei, drei Minuten, bis er anfängt zu erzählen. Aber was er dann vom Stapel lässt ist echt… unschön.
Seine Mutter leidet an einer bipolaren Störung, was bedeutet, dass sie eigentlich nie in der Lage war, sich um Anis zu kümmern. Einen Vater gab’s auch nicht, denn so wie seine Mama in den manischen Phasen durch die Gegend gevögelt hat, war es wohl kaum möglich, den Erzeuger zu finden. Seine Großeltern… so ganz bin ich da nicht durchgestiegen. Einerseits sind die unheimlich besorgt, auf der anderen Seite… haben die wahrscheinlich auch eine Menge mitgemacht, wenn die Tochter von einer schlimmen Phase in die nächste gesprungen ist, Selbstmordgedanken hegte und sie dann auch noch für ein Kind sorgen mussten, das das alles logischerweise überhaupt nicht begreifen konnte.
Seit einigen Wochen ist seine Mama wieder in der Klinik und als Highlight hat sie einen Tag nach Weihnachten Rasierklingen geschluckt, obwohl es ihr eigentlich besser ging. Zum Glück wurde das aber rechtzeitig bemerkt, sodass man ihr helfen konnte. Jetzt macht Anis sich Vorwürfe, weil er sie an Weihnachten zwar besucht, aber nicht gemerkt hat, wie mies sie drauf gewesen ist. Und als Super-Highlight hat er Angst, dass er wie seine Mutter wird, obwohl er weiß, dass das keine Erbkrankheit ist, sondern lediglich ein etwas erhöhtes Risiko für ihn besteht.
So, und mir schwirrt gehörig der Schädel! Allerdings erklärt die Geschichte ein bisschen sein komisches Verhalten. Was nicht heißen soll, dass ich ihn jetzt für total gestört halte, aber irgendeinen Knacks hat er bestimmt davon getragen.
„Glaubst du vielleicht, ich hab Lust, mit dir zusammen zu sein und irgendwann zu so einem Psychospinner zu mutieren, der deiner Meinung nach weggesperrt gehört?“
Hä? Wann hab ich denn so was… au, ich erinnere mich dunkel.
„Ey, Ares, da ging es um Leute, die andere Leute aufessen, oder? Damit hab ich doch nicht dich oder deine Mutter gemeint.“
„Trotzdem. Es ist besser, wenn…“
Vorm Fenster wird es bunt und laut.
„Ich will jetzt meinen Neujahrskuss.“
Anis schüttelt den Kopf, deshalb lege ich meine Hände auf seine Hüften und ziehe uns beide näher zusammen. Es ist kein besonders langer Kuss, aber ein irre süßer. Danach schauen wir uns engumschlungen das Feuerwerk an.
Als die Knaller und Raketen verpufft sind, lösen wir uns von einander und reden weiter. Die ganze Nacht. Über tausend Dinge. Wichtige und unwichtige, ernstes Zeug und lustige Sachen. Beispielsweise, dass Diane, Dominik und ich fast gleichzeitig Geburtstag haben… am 10., 12. und 15. April, sie allerdings ein Jahr älter ist als wir. Dass Anis am Valentinstag Geburtstag hat. Dass er meine Sommersprossen niedlich findet, auf Karamell steht und kein Marzipan mag. Dass ich manchmal doch gerne wissen möchte, was aus meiner Erzeugerin geworden ist. Dass er seine Mama trotz allem lieb hat. Dass ich mit zwei Typen geschlafen hab, die mich danach mit dem Arsch nicht mehr angekuckt haben und dass er vor mir noch mit niemandem geschlafen hat. Alles mögliche eben.
Klar, eigentlich wollte ich mit meinem Freund ins neue Jahr knutschen und… Sex kam in meiner Vorstellung auch vor. Aber das hier ist mindestens genauso gut. Vielleicht sogar noch besser, weil ich das Gefühl hab, ihm wirklich nah zu sein, ohne dass wir uns großartig berühren müssen.
Irgendwann, in der unteren Etage ist es längst still geworden, reicht uns eine Decke, unter die wir uns gemeinsam kuscheln. Und mit dem Geruch von Anis in der Nase, schlafe ich ein.
Diane war etwas angepisst, weil ich Silvester einfach abgehauen bin und ihr um zwölf Uhr kein frohes, neues Jahr gewünscht habe. Aber sie hat mir verziehen, weil… wir verzeihen uns irgendwie immer alles. Jetzt ist sie beleidigt, weil ich ihr die Emo-Pornos unterschlagen hab.
Mann, Dominik ist so eine blöde Plaudertasche!
Anis hat… nein, nicht mal wieder Schluss gemacht… ihm ist vor Oma und Opa rausgerutscht, dass er in mich verliebt ist, als sie wissen wollten, wo er sich Weihnachten rumgetrieben hat, denn bei seiner Mama sei er ja nicht besonders lange gewesen. Das war zwar überfällig, aber manchen Leuten sollte man so was eben schonend beibringen. Die Großeltern waren natürlich geschockt. Sind sie immer noch, weil… Schwule sind doch Kerle, die sich wie Frauen anziehen. Da passen lackierte Fingernägel logischerweise total ins Bild. Jedenfalls möchte ich ihn bitte erstmal nicht mehr besuchen, sagte die Oma. Vielleicht denkt sie, dass Anis dadurch wieder normal wird, keine Ahnung. Wenigstens hat sie ihm nicht verboten, mich zu besuchen. Das ist doch schon mal was.
„Mal ehrlich“, überlegt Diane und klaut einen Zuckerstern von meinem Weihnachtsteller, „die Jungs sind ja ganz schnuckelig, aber diese Großaufnahmen immer. Was soll der Kack? Erzähl mir bitte nicht, dass du scharf dabei wirst.“
„Ich finde nicht, dass es dich etwas angeht, wobei ich scharf werde.“
„Ich würde das ganz anders machen. Eine kleine Handlung erfinden und dann geht’s irgendwann langsam und süß zur Sache. Allerdings nicht mit so lächerlichen Kameraeinstellungen. Wen interessieren schon baumelnde Hoden? Weiß man doch, wie unhübsch die Dinger aussehen. Nackige Penisse sind auch nicht atemberaubend. Ey, und immer müssen die sich gegenseitig ins Gesicht spritzen. Das ist wirklich übel.“
„Wie viele Clips hast du dir denn angekuckt?“
Sie winkt gelangweilt ab. „Kennste einen, kennste alle. Wann kommt denn Anis?“
„Ich hoffe, du meinst das jetzt nicht sexuell.“
„Ja, total witzig, Lukas. Obwohl… mir geistert da eine supertolle Idee durch den Kopf.“
„Vergiss es.“
„Aber…“
„Auf keinen Fall.“
„Es muss doch nicht gleich alles zu sehen sein… nur so’n bisschen.“
„Hat dir eine Silvesterrakete das Hirn weggeschossen? Pornodarsteller gehörte bis jetzt nicht zu meinen dringenden Berufswünschen.“
„Mit dir kann man überhaupt nicht reden.“
„Und mit dir will man manchmal nicht reden. Anis hat genug Schwierigkeiten. Denkst du, seine Familie wäre begeistert, wenn die ihn im Internet mit seinem schwulen Freund in Action bewundern könnten? Von meinen Eltern ganz zu schweigen.“
„Geiler Titel“, kichert sie. „Gay friends in action!“
Wie aufs Stichwort geht die Tür auf und Anis stiefelt ins Zimmer, Diane lacht sich kaputt.
„Was’n so lustig?“
„Diane hat sich dazu entschlossen, nach’m Abi Homoporno-Regisseurin zu werden.“
„Ach so“, nickt er, küsst mich zur Begrüßung und quetscht sich neben uns aufs Bett.
„Findest du das etwa in Ordnung?“, frage ich fassungslos.
„Solange ich keine Rolle darin spielen muss…“
„Sollst du aber.“
„Ich glaube nicht, dass sie mich bezahlen kann.“
„Wie teuer wärst du denn?“, will sie wissen.
„Zu teuer für dich, Schätzchen.“
„Dann gehe ich jetzt zu meinem Freund. Bis morgen.“
Sehr schön! Nix gegen Diane, aber Anis und ich hatten seit Silvester irgendwie keine Gelegenheit, mal alleine zu sein, und das ist immerhin drei Tage her.
„Hallo“, lächle ich und ziehe ihn in meine Arme.
„Hey“, lächelt er zurück und küsst mich.
Mir ist klar, dass Anis nicht von heute auf morgen aufhört, Angst zu haben, oder zu denken, dass er keine Beziehung haben kann, weil seine Mutter krank in der Klapse hockt. Und seine Großeltern werden mich wahrscheinlich die nächsten hundert Jahre nicht mehr zu Käsesahnetorte und Kartoffelsalat einladen. Na und? Wichtig ist es, ihm zu zeigen, dass mich der ganze Kack, den er mit sich rumschleppen muss, nicht abschreckt oder so, dass ich ihn liebe und bei mir haben will. Und natürlich braucht er ganz doll viel schmusen und kuscheln, denn ich glaube nicht, dass er das bisher wahnsinnig oft bekommen hat. Von wem auch? Die zwei, drei Jungs, in der er mal verschossen war, hat er ja dann gleich abgeschossen, als es drohte, ernster zu werden. Blöd für die, dass die so schnell aufgegeben haben. Gut für mich, weil Anis jetzt mir gehört und ich lasse ihn bestimmt nicht mehr weg. Nie mehr.
Ende
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