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Das Christkind hat die Pocken
Winterchallenge 2005 - Gewinner
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Informationen
- Story: Das Christkind hat die Pocken
- Autor: Chelsea
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Vorworte
von der Redaktion
Dies ist der Gewinner der WinterChallenge 2005 im User-Vote
Dies ist der Gewinner der WinterChallenge 2005 im Redaktions-Vote
von der Autorin
Sehr geehrte Leser und Leserinnen! Ich möchte mal eben sagen dürfen, wie scheiße schwierig es manchmal ist, einen Titel für etwas Geschriebenes zu finden. Also man tippt so vor sich hin, ist plötzlich fertig und dann...ach du Heimatland...wie soll ich das denn jetzt bloß nennen?! Meine Lieblingsfreundin fand: Weihnachtlzzziche Sack-Romanze! Ich finde: auch Lieblingsfreundinnen haben oftmals nicht alle Tassen im Schrank. Okay...zur Weihnachtszeit eine eher ruhige, besinnliche Geschichte. Für heimelige Abende im Ohrensessel. Vor dem Kamin. Mit einem Kätzchen auf dem Schoß. Oder dem Freund. Oder der Freundin. Ganz egal. Hauptsache, es lässt sich hinterm Ohr kraulen und schnurrt ;)
Das Christkind hat die Pocken
„Jetzt beeil dich endlich, wir haben noch viel vor“, höre ich meine Mutter irgendwo sagen.
Hallo! Ich bin 17 und dein Sohn und nicht dein Schwertransporter. Mühsam schleppe ich die ganzen Tüten diverser Modegeschäfte und Einrichtungshäuser durch die Einkaufspassage.
Jedes Jahr zu Weihnachten dasselbe Spiel: Meine Mutter zückt die Kreditkarte meines Vaters
und macht die Stadt unsicher. Und ich, ihr heiß geliebter, einziger Sohn, darf Packesel spielen. Toll, oder?
„Kommst du jetzt endlich?“
„Ja! Ich bin unterwegs. Kannst du mir vielleicht mal was abnehmen? Ich seh kaum noch
was.“
„Stell dich nicht so an, die paar Sachen.“
Die paar...was?! Ist die nicht mehr ganz gescheit? Die gesamte City hat sie bereits leergekauft
und während ihr lediglich ein ippeliges Gucci-Täschchen am Handgelenk baumelt, kriege
ich hier langsam Affenarme. Ich hasse Weihnachten. Und ich hasse meine Mutter. Meinen
Vater auch. Der hat mich nämlich nicht vor dem Einkaufswahn seiner Frau beschützt.
Nach weiteren zwei Sunden hat sich zu Einkaufstüten eine schwindelerregende Anzahl an
Päckchen gesellt. Ich würde mir ja gerne die Daumen drücken, dass ich unter der Last nicht zusammenbreche, wenn ich meine Daumen frei hätte.
„Entschuldigung, junge Frau...haben Sie vielleicht mal ‘nen Euro übrig?“
Ich schiele vorsichtig durch die Pakete und habe sofort Mitleid. Nicht, weil der Typ so
abgefuckt rumläuft, sondern weil er es wagt, meine Mutter wegen Geld anzuhauen. Die steht
auf sowas überhaupt nicht. Ihre Auswahlkriterien für Geldspenden sind sehr streng.
„Geh arbeiten!“ faucht sie. „Ich verschwende mein sauer verdientes Geld doch nicht an so einen...einen...“, sie blickt sich hilfesuchend nach mir um.
„Nichtsnutzigen Penner?“ schlage ich vor.
„Jawohl“, nickt sie, „nichtsnutziger Penner. Weg mit dir!“ Sie wedelt drohend mit ihrem
Gucci-Täschchen.
Der Typ zieht eine enttäuschte Schnute. „Ein gesegnetes Weihnachtsfest wünsche ich.“
„Lukas, komm endlich! Du meine Güte...“
„Ja, Mama“, murmle ich und lasse absichtlich eines der Pakete fallen. Das mit dem Versace-Fähnchen für Estella.
Zum Glück springt der Typ sofort darauf an. „Hey, Lukas, du hast was verloren“, lächelt er.
„Äh, danke.“ Für das Aufheben und dafür, dass du mir dabei einen Blick auf deinen hübschen
Arsch gewährt hast! Hat sich der Tag doch ein bisschen gelohnt.
Er legt mir das Teil auf den Paketturm in meinen Armen. „Das war echt so eine schwule
Nummer...zum Glück hast du kein weißes Spitzentaschentüchlein fallen lassen.“
„Aus dem Weg, nichtsnutziger Penner“, grummle ich und trotte hinter meiner Mama her.
„Wir haben das Geschenk für Oma Adele vergessen“, stellt meine shopping-süchtige
Mutter daheim in unserer protzigen Villa fest. „Daran ist nur dein Gejammer Schuld, das hat
mich ganz aus dem Konzept gebracht. Das und dieser...dieser...“
„Penner?“ seufze ich.
„Sehr richtig.“ Sie schüttelt sich genüsslich. „Der war sicher auf Drogen. Und ansteckend.
Aids....Hepatitis...Schleppe, Krätze, Staupe...Vogelgrippe. Hat der dich angefasst?“
Na, das wär ja mal was, denke ich und erschrecke mich gewaltig. Wenn ich sowas laut gesagt
hätte, mein lieber Schwan! „Nein. Aber eins von den Päckchen.“
Angestrengt überlegend legt sie Daumen und Zeigefinger ans Kinn. „Oma Adele ohne Geschenk...das gibt Mord und Totschlag. Da lässt sich dein Vater sofort von mir scheiden.“
Oma Adele ist die Mutter meines Vaters und hasst ihre Schwiegertochter leidenschaftlich.
„Naja, muss ich eben morgen noch mal los. Nur für diese alte Krähe.“
Mom hasst ihre Schwiegermutter genauso.
„Aber ohne mich“, entfährt es mir sogleich.
„Ja, natürlich. Du hast nämlich schon was vor.“
Holla, was denn? „Äh...?“
„Weißt du, wir haben uns gedacht, weil Estella doch ausfällt...das darf ja nun nicht auf Kosten
der armen Kinder gehen. Du wirst sie also vertreten. Ist mit Frau Wagner schon alles
besprochen. Wasch dir die Hände, Schatz, wir essen gleich.“
Und nach dem Essen darf ich noch die Sesamstraße kucken und dann ab ins Bett, oder wie?!
* * *
Meine Mutter hält es für absolut notwendig, sich sozial zu engagieren. Also ein bisschen
Geld zu spenden...SOS-Kinderdörfer, Krankenhäuser und auch schonmal die Patenschaft für
ein kleines afrikanisches Mädchen. Alles, was sie bequem mit einem Scheck erledigen kann
und sich gut anhört, wenn sie’s auf schicken Parties ganz nebenbei erwähnt. Logischerweise
ist unsere gesamte Verwandtschaft ständig drauf bedacht, sich in Sachen Wohltätigkeit zu
übertrumpfen. Dieses Jahr sollte meine Cousine Estella im hiesigen Waisenhaus auf
Christkind machen aber sie bekam vor ein paar Tagen die Windpocken und ist somit schön
aus dem Schneider. Das Christkind mit ansteckenden roten Pusteln in der Visage geht ja nicht. Die armen Bälger wären doch geschockt bis in alle Ewigkeit.
Jetzt darf ich mich zum Arsch machen, bin allerdings schon froh, dass ich nicht gezwungen
werde, mir einen Bart ins Gesicht zu pappen und „Hohoho“ zu krakeelen. Mein nikoläusiger
Partner heißt Berthold und der Name verspricht schon, dass es wenig zu lachen geben wird. Ich meine, wieviel Spaß kann man denn mit einem Berthold wohl haben, oder?!
Naja, ich schmeiße mich in meine 1A-Knecht-Ruprecht-Garderobe, schmiere mir ein wenig Pseudoruß in die Fresse, setze mich ins Auto und düse los.
„Lukas, richtig?“ lächelt Frau Wagner, die Chefin des Kinderheims. „Wie schön. Berthold
ist auch schon da. Der zieht sich noch um. Gehen Sie doch einfach ins Büro.“
Ich begebe mich in die stark beheizte Räumlichkeit. Sehe erstmal nur einen weißen
Rauschebart und buschige Augenbrauen. Einen roten Mantel und...äh...einen nackten
Oberkörper darunter?! Die rote Hose hängt lässig auf schmalen Hüften. Ein schwarzes Tribal schlängelt sich um den Bauchnabel. Ich geh kaputt! Was ist das denn bitte für ein Nikolaus??
„Hallo.“
„Fuck you, Arschloch“, zischt es durch den Bart, so dass ich ganz gehörig zusammenzucke.
Dann genehmigt sich der halbfertige Santa Claus einen kräftigen Schluck aus einem silbernen Flachmann.
„Bist...ähem...bist du Berthold?“ frage ich vorsichtig.
„Nee, der Weihnachtsmann. Hilf mir mal kurz mit meinem Bauch.“ Er hantiert umständlich mit einem Kissen, das er versucht unter seinen Mantel zu stopfen. „Hier...mach mal zu.“
Ich stopfe mit, knöpfe den Mantel zu und schlinge zu guter Letzt noch den Gürtel um ihn.
„Hab übrigens grad nicht dich gemeint.“ Er klopft sich auf den jetzt bemerkenswert dicken Bauch. Danach setzt er die rote Mütze auf seine schwarzen Strubbelhaare und sieht mich an.
„Äh...ich bin Lukas“, sage ich verlegen.
„Wo ist das verdammte Christkind? Mir wurde nämlich eins versprochen. Süß und blond... mit Brüsten.“
Fick dich, du Penner! „Das Christkind hat die Pocken.“
„Oha. Hoffentlich nichts Ernstes.“ Langsam kommt er auf mich zu und zuppelt an meinen Klamotten. Schiebt mein Shirt ein Stück nach oben.
„Was...äh...was soll das?“ Meine Stimme klingt blödianistisch schrill.
„Wollte nur mal sehen, ob du auch irgendwo Pocken hast...und ob du überall so dreckig bist“, erklärt er und streicht mir über die rußige Wange. „Okay, dann lass uns mal die Gören erschrecken, oder? Mh, aber vorher...“, erneut setzt er den Flachmann an den Hals.
Ich bin irgendwie fassungslos.
„Entschuldige...willst du auch?“ fragt er und hält mir das Fläschchen hin. „Ich meine, für
diesen Job kann man gar nicht breit genug sein.“
Ohne groß zu überlegen nehme ich einen Schluck. Das Gesöff brennt in der Kehle und
schmeckt irgendwie braun, mir wird gleich warm überall. Normalerweise trinke ich keine
harten Sachen. Der Flachmann verschwindet in seiner Tasche und ich bekomme noch eine Mintpastille. Dann schnappt sich Berthold das goldene Nikolausbuch, reicht mir eine Rute
und deutet auf den Sack, der am Boden liegt. Super. Ich hätte doch den anderen Part
übernehmen sollen.
Als wir zu den Bälgern kommen, sind die schon außer Rand und Band. Die Quirligkeit
vergeht denen allerdings ganz fix, was ich sehr gut verstehen kann. Mir hat der Nikolaus
als Kind auch immer Angst eingeflößt. Ehrlich, ich hab mir an jedem 6. Dezember fast in
die Hose geschissen, wenn so ein blödes verkleidetes Arschgesicht fragte, ob ich denn auch
schön brav gewesen sei und ein Gedicht aufsagen könne. Konnte ich logischerweise nicht,
weil ich zu dem Zeitpunkt schon dermaßen bibberte, dass ich nicht mal mehr meinen eigenen Namen wusste. Nikoläuse sind genauso schlimm wie Clowns, die manchmal in der
Fußgängerzone vor neu eröffneten Geschäften rumlungern und unschuldige Passanten
veräppeln.
Wie nicht anders zu erwarten fangen auch gleich zwei Mädchen synchron an zu heulen,
werden jedoch von den Erzieherinnen beruhigend in die Arme genommen. Berthold rülpst verstohlen in seinen Bart. Dann werden Weihnachtslieder gesungen, Gedichte aufgesagt. Ein Mädchen mit zentimeterdicken Brillengläsern und Rundschnitt spielt furchtbar schief auf der Blockflöte ‘Stille Nacht‘. Berthold schnappt sich die Gitarre einer Erzieherin und beginnt Happy Xmas von John Lennon zu schmettern. Mh, sein Gesang ist gar nicht mal so übel.
„Und jetzt alle“, krakeelt er Rockstar-like.
A very merry christmas and a happy new year...
Den Gören stehen die Münder offen. Ratlose Blicke bei den Erzieherinnen.
„Banausen“, grummelt Berthold in seinen Bart. „Na gut...ich hab jetzt noch ein ganz tolles
Lied über den Weihnachtsmann und dann gibt’s Geschenke, okay? Also...wollt ihr es hören?“
„Jaaaaaaa“, plärren die Gören gezwungenermaßen.
Berthold grinst fies und beginnt mit zerbrechlichem Stimmchen zu singen:
Glaubt mir, ich hab den Weihnachtsmann mit eigenen Augen geseh’n.
Er ist zurzeit bei uns im Haus und hält sich dort verste-heckt.
Er riecht nach Äpfeln und nach Schnee, er kommt wohl grad aus seinem Wald.
Seine Augen seh’n so traurig aus, ihm ist bestimmt ganz ka-halt.
Ohhh...das ist ja süß, ich bin sofort begeistert.
Hört mir irgendjemand zu, der Weihnachtsmann ist hier bei uns.
Er hängt auf dem Dachboden rum, ich glaube, er braucht Hilfe und ist in Not.
Seine Stimme wird lauter:
Plätzchen, Nüsse und Geschenkpapier sind wild auf dem Boden zerstreut,
zwischen zwei Wunschzetteln und ‘ner Flasche Schnaps liegt sein Studentenauswa-heis.
Der rote Mantel und sein weißer Bart, ja selbst die Stiefel liegen neben seinem Sack.
Mittendrin ein umgekippter Stuhl, auf einer Kar...
„Danke, lieber Nikolaus“, unterbricht Frau Wagner peinlich berührt und nimmt eilig die
Gitarre an sich.
„Aber das Beste kommt doch noch“, schmollt er.
„Heute nicht“, zischelt Frau Wagner.
Schließlich darf jedes Kind nach vorne kommen und die Horrorfrage beantworten. Berthold
glotzt gelangweilt in sein goldenes Buch, nickt und verteilt Geschenke und Süßigkeiten. Die
Rute wird hier nicht gebraucht, weil die Bälger natürlich alle brav waren. Ich hätte auch
bequem zuhause bleiben können.
Während der Nikolaus angewidert an seiner Hose rumwischt (das Blockflötenmädchen
musste sich vor Aufregung, Angst oder aus Boshaftigkeit übergeben) kraucht ein kleiner Rabaukenkopp am Boden und wühlt sich durch die Päckchen, die noch im Sack verblieben
sind.
„Heyheyhey“, ruft Berthold entrüstet und zerrt an dem Balg, „der Nikolaus hat es nicht so
gerne, wenn man ungefragt seinen Sack begrabbelt.“
Der Junge sieht nicht die Spur erschrocken oder schuldbewusst aus. Mit verschränkten Armen
stellt er sich vor uns. „Ich weiß längst, dass es den Nikolaus in echt gar nicht gibt. Außerdem
wollte ich kucken, ob mein Gameboy da drin ist.“
„Wie alt bist‘n du?“ fragt Berthold.
„Zehn.“
„Bist noch viel zu klein, um mit boys zu spielen, frag mich in sechs Jahren“, erklärt er und drückt ihm irgendein Geschenk in die Hand.
Ich muss mich ein bisschen an meiner eigenen Spucke verschlucken. Ist der irre, so einen
Spruch vom Stapel zu lassen?! Wenn das Frau Wagner erfährt!
„Sagt wer?“ antwortet der Junge schnippisch.
„Ich. Und wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, versohlt dir Knecht Ruprecht deinen kleinen
Hintern. Sowas macht ihm nämlich besonders viel Spaß.“
„Blödarsch“, zischt der Rotzlöffel und trollt sich.
„Ich hasse Kinder“, stöhnt Berthold und hat sich damit auf Platz eins meiner Sympathieskala
katapultiert.
Es wird noch ein letztes (traditionelles) Weihnachtslied gesungen, dann dürfen wir endlich
gehen.
Das heißt, wir stehen auf dem Flur, wo Berthold sich erschöpft an die Wand lehnt und seinen
Fusel hin sich hineinkippt. Ob der Alkoholiker ist?
„Normalerweise trinke ich nicht“, erklärt er, als er meinen Blick sieht.
Ich glaube ihm kein Wort und will mich davon machen, doch er hält mich fest.
„Und normalerweise bin ich auch nicht so aufdringlich aber...wow...also irgendwie hab ich
grad total Lust zu knutschen.“
Ja und? Was zur Hölle geht mich das an?
„Ich meine mit dir“, fügt er hinzu.
Hä? „Hast du sie nicht mehr alle beisammen?“ frage ich entgeistert. „Wie kommst du darauf, dass ich...“
„Siehst aus, als könntest du eine fremde Zunge in deinem Mund dringend gebrauchen.“
„Erstens ist das totaler Schwachsinn und zweitens hab ich noch nicht mal dein Gesicht gesehen. Vielleicht bist du ja abstoßend hässlich.“
Langsam zieht er seinen Bart runter. „Vielleicht aber auch nicht.“
Mir wird flau. Aus mehreren Gründen. Vor mir steht nämlich der nichtsnutzige Penner von
gestern und der ist heute noch genauso süß!! Nee, viel süßer! Er hat Rouge auf seine Wangen geschmiert...wegen der Nikolausbacken...jetzt, so ohne Haare im Gesicht, sieht das einfach nur WOW aus.
„Kennen wir uns nicht von irgendwoher?“ grinst er.
Und ehe ich noch einen Mucks von mir geben kann, hängt er schon an meinen Lippen und
verpasst mir einen Kuss, dass ich Sterne sehe. Seine Zunge will sich grad durch meine geöffneten Lippen schlängeln als plötzlich eine Sirene losheult und wir erschrocken den Kuss unterbrechen. Ein kleines Mädel starrt uns entsetzt an.
„Frau Wagner“, brammelt das Gör und rennt davon, „der Nikolaus küsst sich mit Knecht Ruprecht...Frau Waaaaaagner...“
Au weia, jetzt ist die Kleine durch unsere Schuld total traumatisiert und wird niemals
wieder Freude an einem Weihnachtsfest haben können. Zum Glück konnten ihre verheulten
Augen nicht erkennen, dass der Nikolaus seinem Knecht sehr unkeusch in den Schritt langen mochte.
„Los, raus hier“, drängt Berthold, friemelt das Kissen unter seinem Wams hervor, wirft es einfach auf den Boden, nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her.
„Wie? So?“ rufe ich irritiert...schließlich sind wir immer noch verkleidet. „Und mein Auto?“
Die Leute auf der Straße kucken ein bisschen eigenartig. Okay, SEHR eigenartig. Berthold
scheint das überhaupt nicht zu stören, er grinst blöde und denkt nicht dran, meine Hand
loszulassen.
„Wohin gehen wir?“
„Ein paar Freunde besuchen und Spaß haben. Warum? Hattest du schon andere Pläne?“
Hatte ich zwar nicht aber...meine Güte, ich kenne diesen Menschen doch kaum bis gar nicht.
Wenn das nun ein Entsprungener ist, der mich verschleppt, mit Drogen vollpumpt,
vergewaltigt und auf den Strich schickt. Immerhin hat er mich bereits nach einer Stunde
geküsst!
Er hat seine buschigen Brauen abgenommen, die Mütze ebenfalls. Den Bart trägt er jetzt wie
ein Tuch vor dem Hals. „Bist du immer so gesprächig?“ fragt er.
„Weiß nicht...was soll ich denn sagen?“ antworte ich unbehaglich.
„Von drauß‘ vom Walde komm ich her...“, kichert Berthold. „Wenn du ein Gedicht aufsagen
kannst, gibt’s nachher noch eine Überraschung.“
Also mir reicht’s für heute. Ich sollte echt nach Hause aber...spannend ist’s ja doch irgendwie.
Und wenn ich es richtig anstelle, küsst er mich vielleicht noch mal. Möglicherweise hat
er mich aber auch nur geküsst, weil er besoffen ist? Ich kann doch kaum annehmen, dass
jeder Typ, den ich treffe, auf mich abfährt. Schon gar nicht der Nikolaus.
Während ich so vor mich hin denke, hält er mich plötzlich fest. „Warte mal.“
„Was denn?“
Er antwortet nicht sondern küsst mich auf den Mund. Ich werd bekloppt! Seine Zunge will sich grad durch meine geöffneten Lippen schlängeln...da brüllt jemand: Scheiß Schwuchteln!
Ich drehe mich um, sehe drei Typen, denen das Minderbemittelte und die Gewaltbereitschaft
quasi aus den Augen sticht. Hilfe!!
„Ihr seid doch selber schwul, ihr dämlichen Arschgeigen“, schreit Berthold aggressiv.
Der ist komplett irre, so viel ist mal sicher. Ich pisse mir beinahe in die Hose. Die Typen
sind auch sofort erbost, stürmen auf uns zu.
„Wir reißen euch den Arsch auf, ihr alten Säue“, bollert der eine Schläger und hält seine
Kameraden an, loszulaufen.
Das machen Berthold und ich auch...LAUFEN!! Er hat meine Hand losgelassen, rennt und
kuckt sich um und kuckt sich um und rennt. Ich renne nur. Als wäre mir der Leibhaftige höchstpersönlich auf den Fersen. Na, irgendwie ist er das ja auch, oder? Mal drei!
Scheiße, ich hab schon nach einigen Minuten so schlimme Seitenstiche, dass mir schlecht
wird. Meine Lunge ist praktisch in sich zusammengefallen. Ich sollte dringend das Rauchen aufgeben. Die Schläger sind immer noch da. Haben die nichts Sinnvolleres zu tun, als hinter
uns her zu sein? Ich begreife das einfach nicht. Berthold dreht sich um und...schmeißt dem
einen seinen Flachmann an den Schädel. „Da, du Pissetrinker!“
Die töten uns! Nachdem sie uns ausgiebig gefoltert haben.
„Schnappt euch die Scheißer!“ jault es erbärmlich. Der eine Schläger hält sich die Rübe, die beiden anderen...egal, bloß weiter rennen. Wenn die uns erwischen ist der Ofen aus. Aber ultra aus!
Berthold reißt im Galopp ein paar Mülltonnen um. Pech gehabt, die Kameraden hüpfen
elegant darüber und sehen nicht die Spur angestrengt aus. Wahrscheinlich sind die solche
Aktionen gewöhnt.
„Los...rein hier!“ kommandiert Berthold und zerrt mich in ein Kaufhaus.
Das ist unsere Rettung, die Schläger verfolgen uns nicht weiter...hoffe ich.
„Was für Ficker“, hechelt Berthold.
Ich hab nicht genügend Luft, um ihm zuzustimmen und hänge mich wie ein nasser Sack
über einen Wühltisch mit Damenunterwäsche, während Berthold den Sack vom großen Plastiknikolaus, der da als Deko rumsteht, auskippt und mit Lebensmitteln füllt.
„Sie sind aber spät dran. Wir haben schon vor einer halben Stunde mit Ihnen gerechnet“, höre
ich eine etwas ärgerliche Stimme. „Und es war auch nur der Nikolaus ausgemacht. Also wir zahlen nur für eine Person, dass das mal klar ist.“
Ich drehe mich, immer noch röchelnd, um. Berthold glotzt belämmert einen Anzug-Typen an,
überlegt kurz und sagt „Geht in Ordnung.“
Gehen...das sollte ich und zwar sofort. Die nächste Katastrophe zeichnet sich doch bereits ab.
„Der da“, kichert Berthold und deutet auf mich, „ist ein Service unserer...äh...Firma. Und
nebenbei, ich gehe nie ohne meinen Knecht.“ Beim letzten Wort haut er mir mit der Hand auf
den Hintern.
Der Anzug-Typ schüttelt den Kopf. „Folgen Sie mir.“
„Komm, das wird irre lustig“, flüstert Berthold und beißt mir ins Ohrläppchen.
„Und wenn jetzt der echte Nikolaus auftaucht?“ frage ich beklommen.
„Süß“, giggelt er, „mein lieber Lukas, ich muss dir wohl die Wahrheit sagen. Es gibt gar
keinen echten Nikolaus. Und wo wir schon beim Thema sind...den Osterhasen kannst du
auch vergessen.“
„Ich meine den, den die hier engagiert haben, Blödmann.“
Er zuckt nur die Schultern und dann ist es auch schon zu spät.
Irre lustig war’s nicht, sich vor einer Horde besoffener Kaufhaus-Angstellten zum Kasper
zu machen. Eine vollbusige Blondine wollte ständig an meine Rute langen und kicherte sich
schwachsinnig. Auf Bertholds Schoß haute sie dann noch peinlichere Schlüpfrigkeiten raus,
so dass ich mich fast zu Tode geschämt habe. Dann tauchte der echte Nikolaus auf. Der war figurmäßig ungefähr beschaffen wie ein Rummelplatz-Boxer und total mies gelaunt, weil wir seinen Job übernommen hatten. Richtig übel wurde es, als Berthold dafür die Kohle haben und der Boxer ihm daraufhin die Fresse polieren wollte. Und zwar kräftig.
Ich entschied, ohne Geld aber mit heilen Gesichtern zu verschwinden. Berthold gab nach. Schließlich hatte er ja noch seinen Sack mit den Fressalien. Zusätzlich ließ er eine Flasche Sekt mitgehen, die er mir grad unaufhörlich an den Hals setzt.
„Mann, willst du mich besoffen machen, oder was?“ frage ich gereizt und flitsche seine
Hand weg.
„Nur ein bisschen“, lächelt er.
„Ich geh jetzt nach Hause.“ Es ist nämlich mittlerweile früher Abend und Mom mag es nicht, wenn ich zu spät zum Essen komme.
„Ach ja? Gar nicht an dem Geschenk interessiert, das der Nikolaus noch für dich hat?“
„Nee.“
„Schade. Ich bin mir nämlich sicher, dass es dir gefallen würde.“
„Mir ist schweinekalt“, maule ich.
Berthold legt seinen Arm um mich. „Soll ich dich wärmen, mh?“
Äh...ja. JAJAJAJAJA!! „Nein. Mir sagen, wo wir hingehen.“
„Du kommst also mit?“
„Sieht wohl so aus.“ Scheiß auf’s Essen!
„Cool“, grinst er.
„Sag mal...wieso hast du eigentlich die ganzen Sachen geklaut?“ frage ich und deute auf
den vollen Sack.
„Ach ja...da müssen wir ja vorher noch hin. Naja, liegt auf dem Weg.“
Ich bin jetzt wirklich überzeugt, dass er irre ist. Damit kann ich mich aber nicht befassen,
weil meine Nase läuft und meine Füße langsam zu Eisklumpen werden.
Vor einem grauen Haus bleibt er stehen. Ich weiß, wo wir sind. Das ist eine Pennerunterkunft.
Ob er hier wohnt? Ich meine, wenn er schon Leute anschnorren und Nahrungsmittel stehlen
muss.
Er öffnet die Tür und stellt den Sack ab. „Schönen Gruß vom Nikolaus. Hohoho.“ Dann
nimmt er meine Hand. „Auf zur Party.“
„Du bist mir unheimlich.“
Er sieht mich überrascht an. „Wieso? Weil ich ein paar Lebensmittel geklaut und Leuten
gegeben habe, die sie gebrauchen können? Der Anzug-Wichser wird überhaupt nicht merken,
dass was fehlt.“
„Nee, ich meine mehr...so insgesamt.“
„Keine Angst. Du bist bei mir in absolut den besten Händen.“
„Ja, solange du mich nicht wieder küsst und uns Bollerköppe deswegen verhauen wollen.“
Berthold dreht sich nach allen Seiten um. „Es ist niemand da. Willst du, dass ich dich noch
mal küsse?“
Mann, warum muss der denn ausgerechnet sowas fragen? Da wird mir ja gleich wabbelig im Gebein. Und antworten kann ich schonmal gar nicht.
„Kannst es dir ja noch überlegen und mir dann Bescheid sagen.“
Mist!
Inzwischen sind wir übrigens an einer Lagerhalle angekommen. Riesig und düster. Mit
kaputtgeschmissenen Fenstern und so. Verdammt, dabei hatte ich mich auf ein bisschen
Wärme gefreut. Stattdessen bekomme ich Punkmusik um die Ohren geknallt. Berthold ist
längst durch eine milchige Plastikplane ins Innere des Gemäuers verschwunden. Ich könnte
auch ganz leicht verschwinden. Die Gelegenheit ist günstig. Weiß der Geier, warum ich jetzt
auf eine abgefuckte Punkparty gehe.
Okay, es ist schonmal genauso siffig und kaputt, wie ich’s mir vorgestellt habe. Überall
Dreck und Schutt und brennende Mülltonnen. Dazwischen lauter besoffene Punks. Aldi-Einkaufswagen mit Flaschenbier und anderen alkoholhaltigen Getränken. In der Mitte steht ein unechtes Weihnachtsbäumchen, das liebevoll mit Stacheldraht, Anarchiezeichen (wahrscheinlich aus Alufolie gebastelt) und Plastik-Totenköpfen dekoriert wurde. Es riecht stark nach gerauchten Drogen. Und noch stärker nach Urin. Als ich einen Blick nach links werfe, weiß ich wieso. In einer dunklen Ecke steht ein Typ und strullt ungeniert an die Wand. Er haut mir kräftig auf den Rücken, als er an mir vorbei schlendert und sich eine Flasche Bier aus ‘nem Einkaufswagen schnappt.
„Ey, Nikki“, brüllt ein Punk mit orange-roten Strubbelhaaren, legt einen Arm um Bertholds
Schulter und krault ihm durch den Bart.
„Sidney“, strahlt Berthold. „Geile Party.“ Dann knutscht er ihn einfach auf den Mund. Er
frisst ihn beinahe auf und sieht mich dabei an.
Ich sag’s ja, der ist irre. Ich meine, was soll der Kack? Erst werden wir ständig unterbrochen und dann knutscht er diesen...ist das sein Freund, oder was?
Nach einigen Sekunden schubst Sidney Berthold weg und wischt sich den Mund ab. „Ey, bist
du schwul, oder was?“
„Nein, ich bin der Weihnachtsmann, Idiot.“
„Seit wann denn das?“
Er antwortet nicht, sondern küsst ihn einfach nochmal. Ich denke, der Zeitpunkt diesen Ort
zu verlassen ist da. Bevor ich allerdings nach draußen komme, spüre ich eine Hand im
Nacken, die mich am Kragen festhält.
„Hey, mein Knecht hat mich zu fragen, ob er gehen darf“, behauptet Berthold.
„Was kümmert’s dich, ob ich da bin oder nicht? Wünsche viel Spaß beim Knutschen.“
„Oh, Siddie...er ist eifersüchtig“, ruft er spöttisch. „Süß, oder?“
„Gib ihm was zu trinken. Sieht aus, als könnte er was vertragen.“
Berthold nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und beäugt mich angestrengt.
„Findest du? Ich glaube, der liegt nach einem Bier schon flach.“
„Also genauso wie du’s magst“, kichert Sidney.
„Darf ich jetzt bitte gehen?“ frage ich total genervt.
„Wieso? Gefällt dir unsere Party etwa nicht?“
„Lukas ist angepisst, weil ich dich geküsst habe anstatt ihn“, erklärt Berthold ernst.
Ich fühle mich leider total ertappt. „Du hast doch den Arsch auf!“
Sidney glotzt mich pseudo-mitelidig an. „Ah, verstehe. Ist da vielleicht grad eine zarte, kleine
Romanze zwischen euch am...äh...entknospen?“
Die veräppeln mich hier nach Strich und Faden. Berthold denkt, ich hätte ihn dringend nötig
und Sidney ist einfach nur bescheuert. Ich lasse die beiden stehen, schnappe mir gleich zwei
Flaschen Bier und hocke mich auf einen kaputten Autositz. Wenn ich besoffen genug bin,
macht mir das alles hier vielleicht nichts mehr aus. Oder ich finde einen anderen Typen, den
ich vernaschen kann. Letzteres ist sehr unwahrscheinlich, weil ich a: total schüchtern bin, also
b: niemals einfach so jemanden anquatschen würde und c: ich hab mich leider ein bisschen in
Berthold verknallt, obwohl der so’ne Arschgeige ist.
Nachdem ich beide Flaschen intus habe, sehe ich Sterne. Berthold hängt noch immer mit
der orange-roten Pissnelke zusammen und ich sitze immer noch alleine rum. Ich würde jetzt
gehen, wenn ich stehen könnte. Mir ist aber gefährlich schwumsig. Vertrag halt tatsächlich
nix. Um mich herum führen die Punks wilde Pogotänze auf. Einer kotzt aus’m Fenster. Ein
anderer hat’s bis dahin nicht mehr geschafft und sich einfach an Ort und Stelle erbrochen.
Neben dem Geruch von Alk, Kiff und ungewaschenen Körpern schwabbert mir zusätzlich
noch eine Kotzgestankwolke entgegen, wenn ich meinen Kopf zur Seite drehe. Bah! Ist das ekelhaft! Mich durchkraucht starke Übelkeit, also schließe ich die Augen und versuche, an etwas Schönes zu denken. An eine kuschelweichgespülte Schmusedecke...Lavendel und Jasmin...mhhh...meine Nase tief vergraben in Kamilleblüten...frische Luft...
„Ey, mein hübscher Knecht!“
Ich öffne vorsichtig erst das linke Auge, dann das rechte. Berthold steht vor mir. Oder mehr
über mir...breitbeinig, so als wolle er sich...ach du Kacke! Kaum bin ich halbwegs bei klarem Verstand, hat er sich auch schon auf meinen Schoß gesetzt. Grinst mich an und nimmt einen
üppigen Schluck aus seiner Flasche.
„Ich finde, du solltest nicht so viel trinken“, bemerke ich schwach.
Er stellt die Flasche ab und legt seine Arme auf meine Schultern. „Hast du Angst, ich krieg
sonst keinen mehr hoch?“
Meine Güte, was soll man denn bitte darauf sagen?! „Geh runter von mir.“
Das macht er allerdings nicht. Im Gegenteil. Er drückt sich an mich und...schubbert sich
irgendwie an mir.
„Du hast mir von der ersten Sekunde an gefallen, Lukas“, wispert er.
„Was sagt’n dein Freund dazu?“
„Hast du dir das mit dem Kuss überlegt?“
Ich nicke.
„Das war ein Ja, oder?“
Dieses Mal schafft es seine Zunge in meinen Mund. Bertholt küsst mich fast schwachsinnig.
Griffelt, grapscht und reibt an mir rum...das ist echt nicht jugendfrei!
„Ich hab wahnsinnige Lust, dich zu ficken“, flüstert er atemlos.
Ich weiß genau, dass ich irgendwann mal sprechen gelernt habe. Leider ist mir momentan entfallen, wie das funktioniert. Ich bekomme nur ein grolliges Stöhnen zustande. Wie peinlich! Der muss ja denken, ich hätte grad ‘nen Orgasmus.
„Das machen wir aber nicht hier. Komm, ich weiß, wo wir ungestört sind.“
Noch ein Wort in diesem Säuselton und ich krieg tatsächlich einen! Auf der anderen Seite...ich bin eigentlich gar nicht der Typ für sowas. Ich meine, Sex mit einem völlig fremden Typen. Bin eben romantisch veranlagt und mag eine Beziehung haben. Einen süßen, kuscheligen Freund, der mich liebt. Es könnte ja auch sein, dass Berthold sexuelle Vorlieben hat, die ich nun überhaupt nicht teile. Was, wenn er drauf steht, mir gehörig den Arsch zu versohlen? Oder es macht ihn scharf, wenn ich seine Füße lecke? Estella hat mal von ‘nem Porno erzählt, wo Leute Ekliges mit Hackfleisch anstellten. Man glaubt ja immer gar nicht, was es alles so für Neigungen gibt. Berthold könnte theoretisch sogar der Typ sein, der letztens bei Domian angerufen hat, weil er regelmäßig seine Ziege vögelt. Allerdings handelte es sich dabei doch bestimmt um einen Witzanruf, oder? Ich finde das alles jedenfalls grad sehr riskant und unheimlich.
„Komm schon, Lukas. Dass du ‘nen Ständer hast, interessiert hier niemanden...abgesehen
von mir. Musst dich nicht genieren“, erklärt er und zieht mich hoch.
Auf was für einen Irren lasse ich mich da bloß ein?!
Schon wieder laufen wir kilometerlang durch die dunklen Straßen. Es hat leicht zu schneien begonnen. Das ist unfair! Berthold sieht mit Schneeflocken in den schwarzen Strubbelhaaren
sooooo niedlich aus.
„Sag mal, wo wohnst du eigentlich?“
„Ach...mal hier, mal da.“
Scheiße. Der hat kein Zuhause. Das sollte mich beruhigen, weil es dann ebenfalls
unwahrscheinlich ist, dass er eine Ziege hat. „Und wo...“
„Lass dich doch einfach überraschen“, lächelt er und schmatzt mir einen Kuss auf den
Handrücken.
„Ist es denn noch weit?“
„Wieso? Kannst du’s nicht mehr aushalten?“
„Mir ist kalt.“
„Ja, mir auch“, schnieft er, „aber wir sind gleich da.“
Das sind wir tatsächlich. Trotzdem glaub ich’s nicht. Vor uns türmt sich eines der teuersten
Hotels der Stadt auf.
„Berthold, was wollen wir hier?“
„Uns in seidigen Laken wälzen und...sexuell miteinander vergnügen.“
„Ich denke nicht, dass wir uns den Laden leisten können.“
„Du eher als ich, oder? Wer hat eigentlich bei euch die Kohle, mh? Papa oder Mama?“
„Wie kommst du darauf, dass wir reich sind?“
Er verdreht die Augen. „Ihr habt gestern nur in den edelsten Schuppen gekauft. Ich wette,
Mama geht immer mit Papas Kreditkarte shoppen.“
„Ja, na und?“
Berthold sieht an sich runter. „Also so können wir da eh nicht rein. Aber ich hab eine Idee.“
Er führt mich zu irgendeinem Hintereingang. Oder Notausgang. Oder was weiß ich.
„Warte hier. Nicht weglaufen, okay?“ wispert er und stiehlt sich durch die Tür.
Wir werden im Knast landen. Ganz sicher!! Und bei meinem Glück treffen wir dort auf den
Boxer und die drei Schläger. Was die mit uns machen, möchte ich mir lieber nicht vorstellen.
Zwei Zigaretten später ist Berthold zurück und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir
schleichen durch Gänge, Flure, an Türen vorbei, müssen uns vorm Personal verstecken,
steigen ungefähr hundert Treppen rauf, quetschen uns durch eine Tür und...wow! Ist das
Luxus hier!
Berthold schwenkt eine Karte und steuert auf eine weitere Tür zu. „Das ist die Hochzeitssuite.
Bin ich romantisch, oder was?“ kichert er, zieht die Karte durch und schiebt mich ins Zimmer.
„Wie zur Hölle bist du an die Karte gekommen?“
„Hab dem Typen an der Rezeption gesagt, ich sei der Sohn des Besitzers.“
„Und das hat der dir so einfach geglaubt? Ist der verblödet?“ Der arme Kerl wird spätestens
morgen seinen Job verlieren. Hoffentlich hat er die Weihnachtsgeschenke für seine Kinder
bereits gekauft, sonst wird’s ein bitteres Fest. Wahrscheinlich wird sich seine Frau von ihm scheiden lassen und er daraufhin als Alkoholiker auf der Straße enden.
Er zuckt die Schultern. „Nee, aber anscheinend neu hier. Mach’s dir bequem.“
„Wir kriegen doch total Ärger“, rufe ich Richtung Schlafzimmer, das Berthold grad inspiziert.
„Keine Angst“, ruft er zurück, „ich erzähle den Bullen, ich hätte dich zu allem gezwungen.
Ey, das Bett ist super kuschelig. Willst du’s nicht ausprobieren?“
Mir ist das nicht geheuer. Meine Eltern bringen mich um, wenn sie das hier rauskriegen. Wäre
Berthold ein Mädchen, würde sie mich vielleicht am Leben lassen. Aber so?!
„Kuck mal, Lukas, die haben ein Zweitklo eingebaut. Damit das frisch getraute Paar nicht
eine Sekunde getrennt sein muss und sich beim gemeinschaftlichen Strullen verklärt in
die Augen schauen kann.“
Ich folge ihm ins Bad. Puh, goldene Wasserhähne hab ich bis jetzt in echt auch noch nicht
gesehen. In der Wanne hätten sicher drei bis vier Leute Platz. Hübsch ist es zweifellos
allerdings ein wenig zu verschwenderisch für meinen Geschmack.
„Das ist kein Klo sondern ein Bidet“, erkläre ich.
Berthold macht ein ratloses Gesicht.
„Zum...also nach...wenn man...“, stammel ich verlegen.
„Denkst du, ich bin bescheuert? Ich weiß, wofür das ist. Aber dein Gestotter ist echt süß“,
lacht er sich kaputt. „Übrigens hab ich drüben einen Kühlschrank gesehen. Mal kucken, was
da drin ist?“
Hab ich eine Wahl?!
„Mh...Orangensaft, Wasser mit Kohlensäure, Wasser ohne Kohlensäure, Ginger Ale, eine
Schlangengurke? Ein abgehackter Fuß...“
„Was?“ frage ich entgeistert.
„Das war’n Witz“, zwinkert Berthold, „die Gurke hab ich bloß erfunden. Prosecco ist noch da...oh...Erdbeeren und Sahne. Na sowas. Wollen wir Pretty Woman spielen?“ säuselt er und klimpert heftig mit den Augen. „Dann müssen wir nur ausknobeln, wer von uns beiden die
Nutte ist.“ Er nimmt eine Erdbeere, stupst sie in die Sahne und steckt sie mir in den Mund.
„Damit kann man prima rumsauen...ich könnte die Sahne von deinem Körper schlecken.“
Der ist doch pervers. Rumsauen...vom Körper schlecken. Gott sei Dank ist die Sahne kein
Hackfleisch!
Er öffnet den Prosecco, gießt zwei Gläser voll und reicht mir eins. „Worauf wollen wir
trinken?“
„Auf den Hausfriedensbruch, den wir grad begehen?“ schlage ich vor.
„Wie wäre es auf den geilen Sex, den wir gleich haben werden?“
Ich lasse mein Glas sinken und habe plötzlich schlimme Magenschmerzen. Berthold will
tatsächlich mit mir... Klar, sonst hätte er mich wohl kaum hierher geschleppt. Nur ist es jetzt so...real. Flirten und knutschen, okay, das ist eine Sache. Geschlechtsverkehr eine völlig andere. Berthold ist süß, ja, und ich würde ihn gerne näher kennenlernen. Vorher!
„Was ist denn? Sag bloß nicht, du hast noch nie.“
„Nein. Ich meine, doch, hab ich. Aber normalerweise mache ich sowas nicht mit Jungs. Äh,
mit Jungs, die ich kaum kenne.“
„Ich schon. Ständig. Bin da sehr erfahren. Du kannst dich also ganz entspannt zurücklehnen
und mich machen lassen.“
Somit hätten wir dann auch geklärt, wer den Part der Nutte übernimmt. „Mir geht das
irgendwie zu schnell“, gebe ich verschämt zu.
Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich sanft auf den Mund. „Möchtest du
lieber gehen? Hey, ich mag dich und würde gerne ein bisschen mit dir vögeln. Aber ich werde
sicher nichts tun, was du nicht auch willst. Deine Entscheidung, Babe.“
* * *
„Hey, Prinzessin...aufwachen“, wispert es an meinem Ohr. Irgendwas kitzelt mich auch.
Langsam öffne ich die Augen. Berthold! Mh, ich war mir sicher, ich hätte letzte Nacht
nur geträumt. Ein wilder Traum war das. Und fast schon abartig sexuell. Okay, also kein
Traum. Oder...naja, traumhaft war es schon. Berthold. Meine Güte! Ehrlich gesagt hätte ich
eine schnelle Nummer erwartet. Danach ein hastiges Anziehen und Tschüß. Laufen One-
Night-Stands nicht so? Keine Ahnung. Hier lief es anders. Ich dachte, mir käme jeden
Moment der Verstand abhanden. Berthold war so zärtlich und süß...jedenfalls, wenn er mal
nicht von Geilheit getrieben über mich hergefallen ist. Und ich? Ich konnte einfach nicht
genug bekommen. Weder vom Sex noch vom Knutschen und Kuscheln danach...äh,
zwischendurch. Wie auch immer.
„Wir müssen los“, seufzt er und schlüpft zu mir unter die Decke.
Ich will aber gar nicht. Könnte gut den ganzen Tag einfach mit ihm im Bett liegen. Seine
Lippen auf meiner Haut spüren, ihn fest an mich drücken und die nächsten Jahre nicht mehr
loslassen.
„Sonst werden wir doch noch erwischt“, flüstert er an meinem Hals knabbernd.
Ob es hilft, wenn wir einfach die Uhren zurückdrehen? Oder die Zeit anhalten? Ich räkel
mich auf die andere Seite...in seine Arme. Bedauerlicherweise schiebt er mich weg.
„Genug geschmust.“ Er steht auf und zieht mir die Decke weg.
„Ey“, protestiere ich.
„Sorry“, giggelt er, „ich wusste nicht, dass du nackt bist.“
Nachdem wir angezogen sind, nehmen wir den Fahrstuhl nach unten und spazieren durch den Haupteingang. Schließlich kann uns jetzt keiner mehr was. Mir ist elend und kalt, wobei
letzteres nicht am Wetter liegt. Das war’s wohl. Abschied. In meinem Hals klumpt es
fürchterlich. Wenn ich Berthold nicht mehr anschaue wird’s vielleicht gehen. Soll ich ihm
meine Telefonnummer geben? Für den Fall, den unwahrscheinlichen Fall, dass er die letzte
Nacht wiederholen möchte? Blödsinn. Er wird mich sicher nicht anrufen. Vielleicht wird er
aus Nettigkeit lügen und sagen, dass er’s tut. Und ich werde warten, weil ich doch ein
klitzekleines bisschen Hoffnung habe. Und wenn er dann nicht anruft werde ich mir wie eine
Arschgeige vorkommen, dass ich dachte, aus mir und ihm könne mehr werden.
„Ich...ähem...ich hab mein Auto am Waisenhaus. Soll ich dich vielleicht irgendwohin fahren?“
„Nee, lass mal.“
„Berthold?“
„Ja?“
No risk, no fun! „Ich würde dich gerne wiedersehen. Besteht die Chance, dass...“
Er legt mir lächelnd einen Finger auf die Lippen. „Man trifft sich bekanntlich im Leben immer zweimal.“
„Das haben wir schon. Gestern und vorgestern.“
„Oh, richtig. Naja, warum schreibst du’s nicht auf deinen Wunschzettel? Vielleicht liest es
der Weihnachtsmann...Frohes Fest!“
War ja klar, dass man von dem keine vernünftige Antwort erwarten kann.
* * *
Aua, gab das ein Theater als ich nach Hause kam. Meine Mutter hatte erst einen hysterischen
Anfall, dann fiel sie fast in Ohnmacht und zum Schluss bekam sie Migräne und lag drei Tage im Bett. Mom liebt’s dramatisch.
„Du bringst mich noch ins Grab“, jammerte sie unaufhörlich. „Mein kleiner Junge treibt sich
nächtelang herum und macht sich keinerlei Gedanken um seine arme Mutter. Und jetzt muss
ich deinetwegen auch noch mein Beauty-Programm absagen. Oder glaubst du vielleicht, ich
zeige mich mit derart verquollenen Augen in der Öffentlichkeit? Wo warst du überhaupt?
Bei einem Mädchen? Ich hoffe, du hast sie nicht geschwängert. Das gäbe einen Skandal, wir
sind schließlich katholisch. Kinder gibt’s erst, wenn du verheiratet bist, verstanden?!“
Ich brauchte mir keine Geschichte auszudenken, weil sie mich sowieso nicht zu Wort kommen ließ.
Mein Vater sagte übrigens nur, es wäre gut, nochmal kräftig auf den Putz zu hauen, bevor
der Ernst des Lebens beginnt. Keine Ahnung, was er damit meint, aber es hört sich irgendwie
gruselig an. Möglicherweise soll ich verheiratet werden? In unseren Kreisen werden oft Ehen arrangiert. Nicht gar so zwanghaft wie in Ländern, wo man Frauen gegen Kamele tauscht,
aber Estella zum Beispiel kriegt ständig Typen vorgesetzt, die ihre Eltern für gute Partien halten. Das sind natürlich Söhne von potentiellen Geschäftspartnern, die Estella zum kacken langweilig findet. Bis jetzt konnte sie sich jedesmal rausmogeln. Ach du Heimatland! Führt Paps nicht auch grad Verhandlungen mit irgendeinem super wichtigen Knilch? Wenn der
eine Tochter hat, kann ich aber mein Testament machen. Vielleicht ist das der Grund für unsere Weihnachtsparty? Nee, die machen wir eigentlich jedes Jahr. Alles, was Rang und Namen hat, frisst sich bei uns durch und gratuliert sich zu Reichtum und Berühmtheit. Estella und ich besaufen uns und vergeben Punkte an alle mitgeschleppten Söhne. Dabei achten wir auf: Gesicht und Arsch! Ich schlug vor, Genitalien ebenfalls zu bewerten aber Estella meinte,
es käme erstens nicht auf die Schwanzgröße an und zweitens könne man die so verpackt eh
nicht richtig beurteilen. „Wir können denen ja schlecht sagen: lasst mal die Hosen runter, Sportsfreunde, und kriegt ‘nen Ständer“, gab sie zu bedenken. „Andererseits könnten wir den hübschen beim Ständer-kriegen behilflich sein, also von daher...wie wäre es mit einem Wettwichsen? Mh, das ginge aber bloß mit vier Jungs gleichzeitig. Es sei denn, uns würden
noch ein paar zusätzliche Hände wachsen, was sehr unwahrscheinlich ist. Käme vielleicht gut
in einem Horror-Sience-Fiction-Porno...FICK-tion...buahahaha!“
Estella weiß übrigens schon lange, dass ich auf Jungs stehe. „Wir hatten einen im Internat,
der hat genauso sabbernd nach den Jungs geglotzt wie du“, erklärte sie. „Der ist rausgeflogen,
weil er mit dem Neffen vom Direx rumgemacht hat. Er hat ihn gebumst. Mehrfach.“
Hey! Hey, Moment mal. Also es ist zwar nur eine ganz vage Hoffnung aber...also eigentlich
sollte doch meine Cousine den Waisenhausjob machen. Naja und es könnte doch immerhin
sein, dass sie...Berthold eventuell...kennt?! Schließlich war sie letztes Jahr auch schon
Christkind und er vielleicht Nikolaus. Was hab ich zu verlieren? Ich statte ihr einfach einen
Besuch ab und...mh, frage sie ganz vorsichtig aus. Sie muss nicht gleich wissen, dass ich
mich in diesen Chaoten verkuckt habe. Und wo ich schonmal da bin, kann ich auch fragen,
wie man am besten lästige Heiratskandidatinnen vergrault. Nur für alle Fälle.
Vorsichtig luge ich in Estellas Zimmer. „Bist du noch ansteckend?“
„Lukas“, strahlt sie pockig, „nee, komm rein und erlöse mich von meiner Langeweile.“
Ich hopse zu ihr aufs Bett. „Du siehst zum Gruseln aus.“
„Aber der Doktor hat versprochen, dass die schorfigen Stellen bis zur Weihnachtsparty weg
sind. Wenn nicht, kann der was erleben.“
„Sag mal, du weißt nicht zufällig was über eine Hochzeit oder Verlobung oder sowas mit mir
in der Hauptrolle?“
„Ich glaub nicht. Warum?“
„War nur so’n Gedanke. Paps faselte vom Ernst des Lebens.“
Sie macht ein mitleidiges Gesicht. „Dann zieh dich schonmal warm an.“
„Du musst mir helfen. Ich meine, wenn die Alten wirklich auf so eine Idee kommen... wie
werde ich die Tussi los?“
„Sag ihr, dass du schwul bist.“
„Bist du irre?“ kreische ich entsetzt.
Estella nagt seelenruhig an einer Praline. „Ich hab so’nem Weichei mal erzählt, ich sei zwar sexbesessen aber das wäre für ihn kein Grund zum jubeln, weil ich eben auch lesbisch sei.
Das gab ein Gebrüll. Mama und Papa waren tagelang sauer, weil ich den Typen angelogen
habe und weder aus der Verlobung noch aus dem geplanten Geschäft was wurde.“
„Aber ich bin schwul.“
„Umso besser. Dann musst du wenigstens nicht lügen.“
ARGH!!
„Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn das rauskommt? Ich meine, dass ich wirklich...“
Sie greift zur nächsten Praline. „Deine Mama wird vermutlich von Migräne direkt zu
Schlaganfall übergehen. Dein Vater wird sich anschließen und Oma Adele wird ihren
verzauberter-Prinz-Scheiß vom Stapel lassen und dich herzen, um ihrer Schwiegertochter
eins auszuwischen.“
Es ist unheimlich, aber... genauso könnte es ablaufen.
„Wir sollten warten, bis wir Genaueres wissen. Und jetzt erzähl mal, hattest du Spaß mit den Kinderchen?“
„Ja“, antworte ich, „war total super. Die Gören haben sich vor Angst fast in die Buxen
gekackt.“
„Also mich fanden die letztes Jahr total lieb und wunderschön.“
„Eins hat auf Bertholds Schoß gekotzt“, sage ich und lauere auf ihre Reaktion. Bittebittebitte,
sag mir, dass du ihn kennst!!
„Berthold?“ zerstört sie meine Hoffnung.
„Der Nikolaus.“
„Der Nikolaus heißt Berthold?“ fragt sie fassungslos.
„Ja, wie oft denn noch. Ich dachte, du kennst ihn, weil du doch...“
„Was wirst’n so rot?“ unterbricht sie mich.
Mist! „Hä? Werde ich doch gar nicht“, entgegne ich hektisch und wische mir im Gesicht rum.
„Klar“, kichert sie, „volle Kanne. Ich sage Berthold und du wirst rot. Interessant. Gibt’s da
etwas, das ich wissen müsste?“
„Nein“, knurre ich.
„Also ja. Ist Berthold dein heimlicher Freund? Uaaah, ich hoffe, du nennst ihn anders. Der
Name ätzt. Wie sieht er denn aus?“
„Berthold ist nicht mein heimlicher Freund, sondern der Nikolaus, mit dem du dich eigentlich hättest rumschlagen müssen. Aber du hast es ja vorgezogen die Pocken zu kriegen.“
„Das erklärt noch nicht deinen Feuermelder-Teint.“
Ich breche zusammen und gestehe ihr alles.
„Lukas“, schnauft sie empört, „du hast den Nikolaus gevögelt?!“
„Naja...äh...ja, so irgendwie...mehr oder weniger.“
„Ach du Scheiße!“ Sie hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. Eine halbe Sekunde
später lacht sie so arg, dass ich Angst habe, sie erstickt. „Der Weihnachtsmann ist eine
Punk-Schwuppe...hahaha...und...und er heißt...hihihi...Berthold...hahahaha...“, prustet sie, schon ganz rot im Gesicht. Hauptsache, ihr Schädel explodiert nicht. „Und...du...du hast mit ihm... gebumst...hahahahaha...“
„Vielen Dank für die Zusammenfassung.“
Sie japst, gluckst und hat sich nach einiger Zeit beruhigt. „Und wie wollt ihr das jetzt in
Zukunft machen? Euch an jedem 6. Dezember treffen? Du stellst deinen Stiefel raus und
hoffst, dass er drin steckt? Nimm’s mir nicht übel, aber solche Beziehungen halten für
gewöhnlich nicht lange.“
„Sehr witzig.“
„Ein bisschen schon, oder?“ kichert sie.
„Und wenn ich mich verliebt habe?“ murmle ich bedröppelt.
„Ehrlich? Nach einer Nacht? Der Typ muss es echt drauf haben.“
„Das hat doch nichts mit Sex zu tun“, rege ich mich auf. „Berthold ist einfach...unglaublich.
Total hübsch und aufregend und...verdammt, er geht mir eben nicht mehr aus dem Kopf.“
„Aber nach allem, was du mir erzählt hast, ist er eine Schlampe. Sicher würde es dir nur wehtun, wenn du ihn siehst und feststellen musst, dass er sich nicht so nach dir verzehrt wie du dich nach ihm.“
„Kann sein“, seufze ich.
„So hast du wenigstens eine schöne Erinnerung.“
„Ich piss mich ein vor Freude.“
„Runter von meinem Bett!“
* * *
Ich habe schlimme Depressionen. Und noch schlimmeren Liebeskummer. Mann, das ist
doch voll Klischee, sich in seinen One-Night-Stand zu verknallen. In einem Anfall von
Verzweiflung bin ich durch die Stadt, um ihn zu suchen. Erst war ich in der Passage, wo er
Mom angeschnorrt hat, dann bin ich zur Pennerunterkunft, zur Lagerhalle und eine Weile
hab ich mich sogar in der Nähe des Hotels rumgedrückt. Wie blöd kann man denn sein?
Natürlich hab ich ihn nicht gefunden. Hätten in der Lagerhalle nicht noch ein paar Flaschen
und Einkaufswagen rumgestanden, wäre ich zu der Überzeugung gekommen, mir den Abend
nur eingebildet zu haben. Mir ihn, Berthold, zusammenphantasiert zu haben. Dachte kurz,
ob ich vielleicht die Frau Wagner mal frage. Aber dann hätte ich erklären müssen, warum
ich ihn suche. Scheiße, ey, und morgen ist Weihnachten. Da ist mir jetzt echt nach. Mit der
irren Familie festlich grinsend vor dem überladenen Baum zu sitzen und das Gemeinheiten-Match zwischen Mom und Oma Adele zu verfolgen. Und danach lerne ich meine zukünftige Frau kennen. Fröhliche Weihnachten!
* * *
„Oh, vielen Dank“, flötet Mom und stopft ihr Geschenk ins Papier zurück. „Ein bezauberndes Jäckchen. Das wandert direkt auf den Stapel mit den anderen hässlichen Kleidungsstücken,
die du mir bis jetzt geschenkt hast.“
„Du tätest gut daran, etwas davon zu tragen, meine Liebe, anstelle dieses grauenhaften
Ensembles. Übrigens kleidet dich der Lippenstift. Die Hure an der Ecke trug dieselbe Farbe“,
lächelt Oma Adele und nippt an ihrem Sherry.
Estella giggelt unterdrückt in ihr Versace-Fähnchen.
„Nun, mein Junge... wie laufen die Geschäfte? Hast du den Fisch an der Angel?“
Paps räuspert sich. „Richard hat mir für das Hotel fest zugesagt. Heute Abend besprechen
wir noch einige Details.“
Au ja, es fällt mir wieder ein. Paps will unter die Hotel-Bauer gehen. Vermutlich mit dem
Knilch, dessen Tochter ich ehelichen soll. Ich kriege vorsichtshalber schonmal Atemnot.
Oma Adele verzieht schnippisch das Gesicht. „Das wird ja auch langsam Zeit. Dein Vater,
Gott hab ihn selig, hätte die Katze bereits im Sack.“
„Und würde mit der Hure an der Ecke seinen Erfolg feiern“, schnauft Mom.
„Sagtest du etwas, meine Liebe?“
„Ich fragte, ob du noch ein Glas Sherry möchtest.“
„Nein, danke. Ich bin nicht für Maßlosigkeit im Umgang mit Alkohol.“
Mom verdreht die Augen und kippt ihren Champagner auf Ex runter.
Kurze Zeit später trudeln die ersten Gäste ein. Aufgetakelt wie für die Oscar-Verleihung.
Designer-Anzüge, Modellkleider, viel Schmuck und abenteuerlich aufgetürmte Frisuren.
Mom ist total in ihrem Element als Party-Schmeißerin, flaniert erhaben lächelnd durch den
Raum, begrüßt neu Hinzugekommene und macht unser französisches Dienstmädchen Yvette
zur Schnecke, weil die Champagnergläser zu voll oder zu leer sind.
Mir wird von Sekunde zu Sekunde mulmiger. Ein paar Töchter stehen in der Gegend rum.
Welche ist wohl meine Auserwählte?
„Wenn du weiter so horrorartig aus der Wäsche kuckst, will dich eh keine haben“, raunt
Estella mir zu.
Ich hocke mit ihr immer noch oben an der Treppe und traue mich nicht hinunter. Wenn
ich mich nicht zeige, kann ich auch nicht verheiratet werden.
„Ehrlich, Lukas, ich werde nicht den ganzen Abend hier verbringen. Dafür hab ich mich
nicht so aufgebrezelt.“ Sie zuppelt am neuen Versace-Fähnchen, das sich aufregend um ihren Körper schmeichelt.
„Nur noch ein paar Minuten“, bettle ich.
„Hast du wenigstens schon einen hübschen Kerl erspäht?“
„Nee. Du?“
„Weiß nicht. Also...mh, siehst du den, der bei Oma Adele steht?“
Ich kucke angestrengt, kann aber beim besten Willen keine auffallende Schönheit entdecken.
Nur einen etwas dicklichen, jungen Mann mit rötlichbraunem Haar.
„Das ist Andrea soundso...ich kann mir den Nachnamen immer nicht merken. Klingt wie Raffaelo oder Giotto...na, jedenfalls wie irgendwas zu essen. Andrea ist Italiener. Sein
Papa ist übrigens im Weingeschäft.“
„Sieht so aus, als er hätte er schon so manches Kistchen Raffaelo oder Giotto verschlungen.“
„Sich über die Körperfülle eines Menschen lustig zu machen ist genauso ekelhaft wie über
seine sexuelle Orientierung zu lästern. Vielleicht sieht man dir ja auch an, dass du gerne
Schwänze lutschst, schon mal drüber nachgedacht?“
Was ist denn mit der los? „Sorry, war nicht böse gemeint. Konnte doch nicht wissen, dass du neuerdings auf Obelix stehst.“
„Du bist ein ganz blöder, sich in den Arsch ficken lassender Spermaschlucker“, zischt sie und stampft die Treppe runter.
Ich muss ihren Ausbruch nicht verstehen, oder? Aber wissen, warum sie dermaßen abgeht,
möchte ich schon. Also stürze ich mich todesmutig ins Partygetümmel.
Eine alte Vettel mit tausendfachem Facelifting und kiloschweren Klunkern überall, grapscht
sich Kaviar-Häppchen vom Tablett, verspeist sie genüßlich und säuft den Champagner wie
eine Ziege. „Also der Kaviar ist köstlich und die salzige Note eine gute Entschuldigung, um
hemmungslos Champagner zu trinken.“ Sie lacht schrill, die umstehenden Herren und Damen ebenfalls. Ich würde ihr gerne in die Fresse schlagen. Einfach so.
„Lukas, Schatz, komm her“, winkt Mom hektisch. „Das ist Christine Sander“, stellt sie ihr blondiertes Anhängsel vor. „Vater Schönheitschirurg, Mutter Architektin“, flüstert sie mir ins
Ohr.
Das Anhängsel lächelt adrett und beugt sich bei der Begrüßung so weit zu mir rüber, dass ich
ihre gemachten Titten bestaunen kann. Die sind allerdings längst nicht so schlimm, wie die
aufgespritzten Lippen. Schmollmund gut und schön, aber was die in der Visage hat...mein lieber Schwan! Als hätte man ihr zwei Knackwürste auf die Lippen getackert. Da stößt mir doch sofort der Champagner von eben unangenehm auf.
„Schätzchen, warum zeigst du Christine nicht...“
„Entschuldige, Mom“, unterbreche ich sie, „ich muss dem Dingens... kurz Hallo sagen. Bin gleich zurück.“ Hastig ergreife ich die Flucht und halte Ausschau nach Estella. Ah...die
steht bei dem dicken Giotto rum. Ich streiche ihr leicht über den Rücken.
„Verschwinde“, zischelt sie böse.
„Mom wollte mich mit Schnute Sander verkuppeln“, raune ich ihr zu und deute auf die
blondierte Ische.
Estella hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Ach du meine Güte, was ist denn bei der schief gelaufen?“
„So ziemlich alles, fürchte ich.“
„Reich der Dame bitte ein wenig Senf zu den Knackwürsten“, lacht sie.
„Ich bin gegen diesen Schönheitswahn“, erklärt Oma Adele. „Kaum, dass die Mädchen
krauchen können, wollen sie schon eine neue Nase, eine größere Brust und... Lippen, die
das gesamte Gesicht verdecken“, schüttelt sie den Kopf in Schnute Sanders Richtung. „Ich
hoffe, sie hat den Arzt ordentlich verklagt.“
„Der Arzt ist ihr Vater.“
„Ein Grund mehr. Das ist doch die reinste Körperverletzung“, regt Oma sich auf. „So ein
nettes Mädchen zu verunstalten. Und dann auch noch die eigene Tochter. Kriminell ist das.
Man sollte dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen. Meinen Sie nicht auch, Andreas?“
„Absolut“, stimmt er zu.
„Oma, der heißt Andrea. Er kommt aus Italien“, wispere ich.
„Wahre Schönheit strahlt von innen heraus“, faselt sie weiter. „Wenn man sich so akzeptiert
wie man ist, braucht man keinen Busen wie Pamela Anderson oder eine Figur wie Heidi
Klum, um auf andere attraktiv zu wirken. Heutzutage läuft jeder gleich zum Fett absaugen, wenn er ein paar Gramm zu viel auf den Hüften hat. Ja, das muss doch nicht sein.“
Ich kann wirklich nichts dafür, dass ich sofort Andrea anstarre. Auf Estellas Gesicht erscheinen rote Flecken. Die kriegt sie immer, wenn sie sehr nervös ist...oder ernsthaft an einem Typen interessiert, was aber niemand bemerken soll. Oh, ich Hirni! Estella ist auf den dicken Italiener scharf. Deshalb war die auch so angepisst, als ich über ihn gelästert habe, wofür ich mich jetzt arg schäme. Das war nicht nett. Trotzdem komisch, Estella hatte sonst immer schlanke Männer.
„Ein bisschen molliger...das ist mir persönlich viel sympathischer als so ein magersüchtiges
Gerippe. Estella, Schatz, ist dir nicht wohl?“
Mein armes Cousinchen sieht aus, als wollte sie sich kaputtschwitzen.
„Ach, Andreas, warum begleiten Sie Estella nicht für einen Moment nach draußen? Etwas
frische Luft...Sie verstehen?“ säuselt Oma Adele.
„Natürlich“, lächelt der Italiener und bietet Cousinchen galant seinen Arm an.
Übrigens hat der ein bemerkenswert hübsches Lächeln, das muss man mal sagen. Überhaupt
strahlt der sowas aus...ich weiß nicht, vielleicht genau das, was Oma meinte. Er scheint mit
sich total zufrieden zu sein und durchaus zu wissen, dass er bei einer Schönheit wie Estella ohne Probleme landen könnte. Verdammt, der könnte glatt bei mir landen.
„Ein hübsches Paar, nicht?“ zwinkert Oma und blickt den beiden versonnen nach.
„Ja“, seufze ich und muss an Berthold denken. Weiß der Geier, warum. Gefrustet, genervt,
bedröppelt lungere ich mit meinem Champagnerglas in der Gegend rum. Oma unterhält sich
mit der Kaviar-Vettel. Mom versucht verzweifelt, Schnute Sander an den Mann zu bringen.
Ich tue so, als würde ich sie nicht bemerken und verstecke mich zusätzlich noch hinter den
ausladenden Ästen des monströsen Tannenbaums. Ängstlich spähe ich zwischen dem weihnachtlichen Behang hindurch.
„Hey, mein hübscher Knecht.“
Heiliger Strohsack! Vorsichtig, ganz vorsichtig, drehe ich meinen Kopf. NEIN! Nein nein
nein... das ist unmöglich. Das kann gar nicht sein. Nie und nimmer. Hat vielleicht jemand
ausversehen den Unwahrscheinlichkeitsdrive angeknipst? Das Universum durcheinander
gewirbelt? IST DAS EIN GOTTVERDAMMTER SCHERZ, ODER WAS? Neben mir steht
blöde grinsend... Berthold! Mit ordentlich gekämmten Haaren und lässigem, dunklen Anzug.
„Was...was zum Teufel machst du hier? Hat meine Mutter dich gesehen? Ach du Scheiße!“
„Hast ja doch brav deinen Wunschzettel geschrieben, mh?“, ignoriert er meine Fragen. „Kann ich kurz unter vier Augen mit dir reden?
Oh, ist mir schwindlig, als er mich hinter dem Baum hervor zieht und wir uns ein ruhiges Plätzchen suchen. Ich hab Beine wie Wackelpudding und eine Schmetterlingswiese im Bauch.
Vor Paps‘ Arbeitszimmer bleiben wir stehen.
„Hab ich dich schon gefragt, was du hier verflucht noch mal machst?“
„Allerdings“, nickt Berthold, „ich wollte dich wiedersehen. Un...be...dingt!“
„Aber...“, beginne ich hilflos.
Er kommt näher und drückt mich gegen die Tür. Seine Lippen berühren mein Ohr. Meinen Hals auch. Seine Hände legen sich auf meine Hüften. Mir wird heiß. Sehr heiß.
„Die ganze Zeit hab ich an dich gedacht. Total unmöglich, dich zu vergessen, Lukas“, säuselt
er und küsst mich.
Ich küsse ihn zurück. Schlinge meine Arme um ihn und knutsche drauflos. Mir gehen fast
die Lichter aus.
„AHHHHH!“ kreischt es plötzlich.
Berthold und ich zucken zusammen.
„Oh mein Gott! Oh mein Gott!! Lukas?!“ stammelt Mom entsetzt. Sie ist kreidebleich und
wenn die Haare könnten, würden sie jetzt sicher zu Berge stehen. Ungefähr wie bei Linus,
wenn ihm jemand seine Schmusedecke klaut. „Was geht hier vor? Was hat dieser...“, sie
knibbelt heftig mit den Augen, „wer sind Sie? Lukas, wer ist das und was hat er mit dir
gemacht?“
„Er hat mich geküsst“, erkläre ich.
„Warum?“ bölkt sie wie von Sinnen.
„Ich hatte Lust dazu“, antwortet Berthold unschuldig.
„Sie hab ich nicht gefragt. Wer sind Sie überhaupt und wie kommen Sie dazu, meinen Sohn
zu küssen? Lukas, der soll das gefälligst lassen und von hier verschwinden, bevor ich die
Polizei rufe.“
„Mom, reg dich bitte nicht auf...“
„Ich mich nicht aufregen? Bist du wahnsinnig? Wenn ich meinen Sohn knutschend mit
einem...“, sie schüttelt sich und beäugt Berthold, „ich kenne Sie doch. Sie sind...oh mein
Gott! Lukas, das ist doch der Penner!“
„Was hat denn dieser Lärm zu bedeuten?“ Oma Adele ist zu uns gestoßen. „Veronika, du
sagst mir auf der Stelle, warum du derart herumbrüllst. Bist du nicht mehr gescheit?“
„Berthold“, winkt Estella, die zusammen mit Oma Adele auftauchte.
„Hi, Süße“, grinst er.
Ich glaube, ich hab hier irgendwas verpasst, oder? „Äh...“, mache ich dümmlich und lehne
mich völlig fertig gegen die Tür. Dummerweise wird sie just in diesem Moment geöffnet.
Ich falle. Und werde von zwei Armen aufgefangen.
„Hoppla, junger Mann“, lacht mein Retter und stellt mich ordentlich auf die Füße.
„Was soll dieser Auflauf?“ fragt Paps irritiert.
„Das, mein Junge, versuche ich grad herauszufinden. Veronika, mach endlich den Mund auf“, zischt Oma ungeduldig.
„Erwischt hab ich die beiden“, keift Mom. „Die Situation war eindeutig. Er war drauf und
dran, unseren Sohn zu verführen“, flippt sie jetzt völlig aus.
„Du meine Güte, Berthold“, seufzt mein Retter, „nicht schon wieder. Hat dir die Sache im
Internat nicht gereicht? Musst du jeden Jungen küssen, der dir über den Weg läuft?“
Ich verstehe nur Bahnhof.
„Der Neffe vom Direx“, wispert Estella mir zu. „Berthold hat ihn allerdings etwas mehr als nur geküsst.“
Bahnhof. Nichts als Bahnhof. Paps sieht ebenfalls total verwirrt aus. Wahrscheinlich weiß
hier keiner, was eigentlich abgeht.
„Richard, was...?“ beginnt Paps.
„Lukas, Schatz, würdest du mir jetzt bitte sagen, dass du nicht schwul geworden bist“, fleht Mom. „Dass dieser...Penner dich zu allem gezwungen hat, über dich hergefallen ist und...“
„Hey, Sekunde. Mein Sohn ist kein Penner“, unterbricht Richard sie.
Äh? WAS??
„Dein Sohn?“ fragt Paps entgeistert, worauf Richard nickt.
„Aber...“, japst Mom, „vor ein paar Wochen hat er in der Fußgängerzone gelungert und mich angebettelt. Lukas, du warst doch dabei.“
„Da müssen Sie mich verwechseln“, lächelt Berthold freundlich. „Ich lungere nie herum.“
„Schön, das wäre also schon mal geklärt“, stellt Paps fest. „Und wer ist nun über wen
hergefallen?“
„Na, er über unseren Sohn. Seine Zunge hat er ihm in den Mund gesteckt, Georg. Seine Zunge... unserem Jungen.“
Richard und Paps schauen zu Berthold, der entschuldigend lächelt. Ich schnappe ein bisschen nach Luft.
„Lukas, möchtest du vielleicht etwas dazu sagen?“ Oma Adele lächelt aufmunternd.
„Ich hab mich in Berthold verliebt“, murmle ich...dann bricht die Hölle los!
„Mein Junge...mein armer kleiner Liebling...oh, warum nur? Was hab ich falsch gemacht?“
„Du lieber Himmel, Veronika“, zischt Oma Adele, „nun benimm dich nicht wie eine dumme
Gans. Was soll das Theater?“
„Mein Sohn ist...“ jallert sie verzweifelt.
„Verliebt, Veronika. Deine Heulerei ist unangebracht. Schließlich ist niemand gestorben.“
„Kümmer dich um deinen eigenen Kram, du alte Krähe“, faucht Mom und...flennt unbeirrt
weiter. Plötzlich reden alle durcheinander und aufeinander ein, gestikulieren wild herum,
fuchteln mit den Armen. Ich glaube nicht, dass Berthold und ich noch das Thema sind.
Jedenfalls nicht in erster Linie. Mom und Oma beschimpfen sich genüsslich. Ein Wunder,
dass die Partygäste nichts mitkriegen.
Bertholds Hand schiebt sich in meine. „Hast du das ernst gemeint?“
Ich nicke. „Auch wenn ich überhaupt keine Ahnung habe, wer du eigentlich bist.“
„Entschuldigung“, ruft er, „hallo...ent...ENTSCHULDIGT MAL!!“
Alles verstummt.
„Können wir diese Szene auf morgen verschieben? Lukas und ich sind ziemlich müde und
ehrlich gesagt wollen wir jetzt ganz gerne ein bisschen allein sein“, erklärt er und schmatzt
mir einen Kuss auf die Wange.
Mom stöhnt, taumelt, verdreht die Augen und fällt in Ohnmacht. Paps kann sie grad noch rechtzeitig auffangen.
Oma hält unser Dienstmädchen, das vorbei kommt, fest „Yvette, mein Kind, bringen Sie
bitte einen Eimer Wasser.“
„Sehr wohl, Madame.“
Paps tätschelt Moms Gesicht und fächelt ihr Luft zu. „Schatz, komm zu dir.“
Richard reicht ihr einen Cognac, den sie zittrig hinunterkippt.
„Ich denke, Berthold hat Recht. Schließlich haben wir das Haus voller Gäste“, bemerkt Paps.
„Wir besprechen alles weitere morgen. Wenn wir nicht mehr so aufgeregt sind.“
„Oh Georg... unser Sohn ist ein Schwuler“, kriegt Mom sich immer noch nicht ein.
„Das wird schon wieder“, beruhigt sie Paps.
Eine halbe Stunde später liege ich mit Berthold auf meinem Bett.
„Wenn ich gewusst hätte, dass mein Erscheinen so ein Chaos auslöst... puh, deine Mutter ist
echt eine Drama-Queen.“
„Und du bist ein verdammter Lügner.“
Er sieht mich überrascht an. „Kann mich nicht erinnern, dich angelogen zu haben. Wann soll
denn das gewesen sein?“
„Na, die ganze Zeit hast du mich verarscht.“
„Das stimmt aber so nicht, oder? Du hast vielleicht einfach irgendwas angenommen. Dafür
kann ich nichts.“
„Du hast uns angeschnorrt, geklaut, dich mit Punks rumgetrieben und die Sache mit dem
Hotel... was hätte ich denn annehmen sollen?“
„Das Schnorren war’n Scherz, mit den Punks hänge ich ständig rum und im Hotel hab ich dir gesagt, dass es meinem Vater gehört.“
„Nein nein nein“, schüttle ich den Kopf, „du hast mir gesagt, du hättest dem Typen an der
Rezeption...“
„Ist das jetzt so wichtig? Wir hatten doch Spaß, oder?“
Oh ja. Und wie!!
„Sieh mal, eigentlich war es überhaupt nicht geplant, dass wir uns wiedersehen. Aber dann
hat Estella angerufen und mich zur Schnecke gemacht, weil du meinetwegen Liebeskummer
hattest und...“
„Na, super. Du bist also aus Mitleid hier“, schnaufe ich.
„Nein, Lukas. Ich...“
„Estella hat so getan, als ob sie dich nicht kennt. Die kann vielleicht was erleben“, rede ich
dazwischen.
„Dass Estella deine Cousine ist, habe ich erst erfahren, als sie mich angerufen hat. Und sie
hat dir deshalb nichts gesagt, weil sie weiß, dass ich...naja, nicht so unbedingt auf was Festes
aus bin. Allerdings habe ich vor, meine Meinung unbedingt zu ändern.“
„Weil du gemerkt hast, dass ich die Liebe deines Lebens bin und du ohne mich nicht leben
kannst?“ frage ich ironisch.
„Tja, das wäre in der Tat etwas verfrüht. Warum sagen wir nicht einfach, wir versuchen es
eine Weile zusammen und sehen, was passiert? Ich hab zwar kaum Erfahrung in Sachen Beziehung aber ich lerne recht schnell“, grinst er. „Wir hatten phantastischen Sex und ich kann dich immer noch leiden... das sind doch prima Voraussetzungen.“ Er schenkt mir ein Killerlächeln, dass mir quabbelig wird.
„Der Sex ist ja schon Wochen her“, entgegne ich schulterzuckend. „Was weiß denn ich jetzt
noch, ob der tatsächlich so phantastisch war.“
Berthold drückt mich auf die Matratze und seine Lippen auf meinen Mund. „Dann lass mich
deine Erinnerung ein bisschen auffrischen, mh?“ flüstert er.
* * *
Wohlig strecke ich Arme und Beine, gähne ausgiebig und kuschel mich an den schlafenden
Körper neben mir. „Aufwachen“, fordere ich leise und puste ihm ins Ohr.
Berthold klappt ein Auge auf. „Mhhhh... müde“, seufzt er.
„Nix da. Heute ist Weihnachten.“
„Umpf“, stöhnt er, „die halbe Nacht hat mich ein kleines sexbesessenes Monster vom
Schlafen abgehalten.“
Ich reibe kichernd meine Nase an seinem Hals.
„Und den Rest der Nacht musste ich mit ihm schmusen.“
„Fandest du das schlimm?“
„Total“, schüttelt er den Kopf und küsst mich.
„Meine Mutter erwartet, dass wir pünktlich sind.“
Berthold schlingt seine Arme um mich. „Deine Mutter erwartet, dass ich mich in Luft auflöse
und ihren armen Liebling nicht weiter zu schmutzigen Sexspielen nötige.“
„Ja aber dafür ist Oma Adele dir bis zur Halskrause verfallen.“
„Nur weil deine Mutter mich hasst. Du hast echt eine absolut kranke Familie.“
„Wir, mein Lieber, wir. Mitgehangen mitgefangen. Ich gehe duschen. Schlaf nicht wieder
ein, okay?“
„Zu Befehl“, lächelt er.
Berthold und ich sind jetzt genau ein Jahr zusammen. Am Anfang hatten wir diverse...
Schwierigkeiten. Es ist ihm alles andere als leicht gefallen, treu zu sein und einmal ist er
sogar ganz arg gescheitert. Da sah es eine Zeit lang gefährlich nach Trennung aus, aber wir
haben die Kurve gekriegt und, naja, momentan läuft es ziemlich gut. Mom versuchte ständig,
mir die Homosexualität auszureden, wollte mich mit irgendwelchen Weibern (darunter die
schon legendäre Knackwurst-Lady Schnute Sander!) verkuppeln und so, bis Oma Adele ein sehr lautes Machtwort sprach. Dabei fing sie tatsächlich mit dem verzauberter-Prinz-Scheiß an... genau wie Estella es vorausgesagt hatte. Allerdings zwinkerte sie mir zu und lachte sich hinterher kaputt. Man kann Oma einen gewissen Sinn für Humor nicht absprechen. Ach ja, Estella. Die ist inzwischen verlobt. Mit dem dicken Italiener, richtig? Falsch! Das wäre zu sehr wie im Film gewesen. Andrea war zwar nett aber leider schon mit einer rassigen Landsmännin liiert. Cousinchens gebrochenes Herz kittete ein pummeliger Spanier namens Miguel, den sie im Sommer heiraten wird. Mal ehrlich, seit Estella sich als dicke-Männer-Liebhaberin geoutet hat, ist sie viel ausgeglichener und glücklicher. Ungefähr so wie ich, seit
meine Familie weiß, dass ich Berthold liebe. Paps fand das eigenartigerweise überhaupt nicht schlimm. Ich schätze, der Umstand, dass er zusammen mit Bertholds Vater diese Hotel-Sache
am Laufen hat, trägt dazu bei.
Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag bin ich zu Berthold gezogen. Das gab nochmal
Theater, weil Mom mich natürlich nicht weglassen wollte. Sie spulte das gesamte Programm
ab. Heulen, betteln, Nervenzusammenbruch, Ohnmachtsanfall. Seitdem führe ich, wenn wir
uns treffen, stets ein Riechfläschchen mit. Oma Adeles „Tunk ihren Kopf in Eiswasser“ ist
mir ein bisschen zu rabiat.
Während ich meine Haare trockne, kommt Berthold ins Bad getapst. Verschlafen, verstrubbelt, wahnsinnig süß. Gähnend reibt er sich die Augen, zuppelt an seinem Shirt rum und scheint zu überlegen, was als nächstes zu tun ist. Ich grinse verstohlen, weil er grad mal wieder aussieht wie eine Comicfigur.
„Wasser anstellen und duschen“, helfe ich ihm auf die Sprünge.
Träge schlingt er seine Arme um mich und schmiegt sich an meinen Rücken. „Meinst du,
deine Mutter wird das überleben?“ fragt er und zeigt mir den silbernen Ring an seinem
Finger.
„Naja, den schon. Aber bei dem hier“, ich halte meine Hand mit meinem Ring hoch, „bin ich
mir nicht sicher.“
Berthold und ich sind nämlich seit gestern verlobt. Aus mehreren Gründen. Erstens natürlich,
weil wir schrecklich verliebt sind. Zweitens, weil Estella dermaßen mit ihrer Verlobung
angegeben hat, dass es uns schon total auf den Sack ging. Drittens, um Mom zu schocken.
Viertens ist es einfach ein sehr schönes Gefühl und fünftens soll Berthold in...äh...brenzligen
Situationen daran erinnert werden, dass er zu mir gehört. So ganz hab ich seinen Seitensprung
noch nicht vergessen.
„Pack auf alle Fälle das Riechfläschchen ein.“
Ich packe lieber erstmal den Berthold und küsse ihn.
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