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Der Engel

Teil 1

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Der Engel fiel.

Mehrere hunderte Kilometer tief. Stunden, Tage, Wochen. Der Engel wußte es nicht. Er wußte nicht einmal, ob er überhaupt fiel. Aber es mußte doch so sein. Sie hatten ihm gesagt, er würde fallen. Endlos fallen. Sie hatten ihm nicht gesagt, wie es sich anfühlen würde. Sie konnten es nicht. Konnten es nicht fühlen. Konnten nichts fühlen.

Der Engel aber konnte es und auch wieder nicht. Ihm war als spüre er alles zu gleichen Zeit und dann auch wieder nicht. Schweben, trudeln, schwindeln, rasen, Kälte, Hitze, unbeschreib-licher, tosender Lärm, völlige Stille.

Etwas zerrte an ihm, etwas streichelte seine Haut. Besaß er eine Haut? Besaß er überhaupt noch einen Körper?

Er versuchte die Augen zu öffnen. Welche Augen?

Er sah nichts. Keine Dunkelheit. Nichts. Da war nichts um ihn herum.

Der Engel wollte nicht mehr fallen und er fiel nicht mehr.

Jetzt spürte er etwas Feuchtes auf seiner glühenden Haut. Tropfen für Tropfen prasselten auf sein Haar, seine Lider, seine Wangen, benetzten seine Lippen, seinen nackten Oberkörper.

Der Engel fror, zitterte. Er fühlte den harten, kalten Boden unter sich, roch die modrig-süße Erde.


Etwa zur gleichen Zeit brach Felix irgendwo in einen Blumenkübel.

Schwallartig ergoß sich weißlicher, zäher Schleim auf die dunkle Erde.

Felix würgte und würgte, hielt inne, würgte erneut, bis sein Magen nichts mehr herauf bekam.

Er wischte sich mit dem Ärmel seiner weiten Jacke das schwitzenden Gesicht und wankte mit unsicheren Schritten durch die Nacht. Vorbei an den spärlich beleuchteten Schaufenstern der Geschäfte, vorbei an vergitterten Türen, an sirrenden, gehetzt flackernden Leucht- reklamen. Wie war er bloß hierher gekommen? Sein Magen krampfte, doch er konnte sich nicht mehr übergeben. Dieser Schmerz war grauenhaft.

Felix schlang die Arme um seinen Körper und schwankte gekrümmt weiter.

Es war schließlich nicht das erste Mal, daß er betrunken und mit irgendeiner Droge in seinem Blut herumstreunte. Irgendwann würde er schon zu Hause ankommen. Er mußte nur erst die Richtung finden.

Er ließ die Innenstadt hinter sich, hangelte sich an den Häuserwänden entlang durch schmale, dunkle, dreckige Gassen. Vereinzelte Regentropfen erfrischten sein verschwitztes Gesicht.

In sekundenschnelle war der Regen dichter geworden und Felix bis auf die Haut durchnäßt.

Einen Moment ruhte er, an einer Hauswand gelehnt, aus, dann richtete er sich auf, strich seine dunkelbraunen Haare zurück und ging mit festen Schritten weiter. Der Nebel in seinem Kopf verrauchte langsam. Er kannte sich wieder aus in dieser Gegend, er war fast zu Hause.

Nur noch über die Straße, durch die Gasse, über die Straße dahinter und er war da. Das würde er schaffen. Nur noch ein paar Meter, dann die Treppen hinauf in seine Wohnung, in sein Bett. Keine große Sache. Die Straße hatte er hinter sich gelassen, nun kam die kleine Gasse, er konnte bereits die Autos am Ende sehen.

Da war ein Geräusch, ein Scharren oder so etwas. Eine Katze vermutlich, nichts Ungewöhn-liches. Felix ging weiter, das Geräusch wurde lauter, schien mit ihm schon fast auf gleicher Höhe. Da lag ein Bündel, es war zu dunkel, um schon etwas erkennen zu können und eigentlich war es ihm auch egal. Was interessierte ihn der Müll, der in einer gottverdammten stinkenden Gasse lag?

Das Bündel rührte sich plötzlich. Felix blieb stehen. Sein Herz begann heftiger zu klopfen.

Er kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, was sich da vor ihm an der Wand bewegte. Ein Stöhnen drang an sein Ohr.

Aha, noch ein Drogenwrack, dachte Felix. Auch das war hier nichts Ungewöhnliches. Er traf auf seinen nächtlichen Streifzügen viele Junkies, die vollkommen weggetreten irgendwo herumhingen. Er hatte nicht besonders viel Mitgefühl für sie übrig, fragte aber jedesmal höflich, ob er helfen könne, in der Hoffnung, es ja nicht zu müssen.

»Hey...brauchst du Hilfe?« rief er ungeduldig, bekam jedoch keine sichere Antwort.

Unschlüssig stand Felix da und konnte nun beobachten, wie sich das Bündel langsam auf-richtete.

»Ach du Scheiße«, murmelte er, tat einige Schritte und ging in die Hocke.

Das Bündel saß zusammengekauert, schmutzige, kinnlange Strähnen verklebten sein Gesicht.

Dunkle Schlieren zierten seinen nackten Oberkörper.

»Das fehlt mir gerade noch«, zischte Felix böse. »Ein verfluchter, halbnackter Junkie. Hey...

alles in Ordnung bei dir?» Er faßte an kalte Schultern.

Der Junkie wich entsetzt zurück, hob den Kopf und blickte Felix erschrocken und ängstlich an. Sein Gesicht war feucht und dreckig.

»Sieht das vielleicht so aus?« murmelte er mit zitternder Stimme und schlang die Arme um seinen nackten Oberkörper.

»Brauchst du einen Arzt? Da vorne ist ein Krankenhaus...«

»Danke...keinen Arzt, kein Krankenhaus.«

Er begann zu husten, krümmte sich, röchelte und rang schwer nach Luft.

Felix erschrak, richtete den Junkie wieder auf. »Wenn du jetzt abkratzt, schwöre ich dir, folge ich dir in die Hölle. Du wirst mir so eine verfluchte Scheiße nicht antun, hörst du?«

»Hör auf zu fluchen und hilf mir lieber.« Der Junkie hielt sich an Felix fest und rappelte sich mühsam auf die Beine.

»Na wenigstens hast du ne Hose an. Ich bring dich ins Krankenhaus. Hab keinen Bock morgen von dir in der Zeitung zu lesen, daß du das soundsovielte Drogenopfer bist.«

Er schlang seinen Arm um die Taille des Junkies und legte dessen Arm um seinen Hals.

»Kein Krankenhaus«, wiederholte der Junkie scharf.

»Entweder das oder hierbleiben.«

»Wohnst du hier in der Nähe?«

Felix schüttelte den Kopf. »Ich nehme doch so einen verdammten Fixer nicht mit in meine Wohnung.«

»Ich hatte dich gebeten nicht zu fluchen und...was ist ein Fixer?«

Felix schüttelte abermals den Kopf. »Du tickst doch nicht richtig. Auf was für einem Trip bist du?« fragte er, während sie schon die kleine Straße überquert hatten.

»Was meinst du?«

»Vergiß es«, seufzte Felix und bemerkte, daß sie nun vor seiner Haustür standen.

»Hör zu...du kannst duschen, schlafen und morgen bist du weg. Kein Geld, keine Drogen, kein Sex, kein Eine-Nacht-noch-Drama...verstanden.«

Der Junkie hob seinen Kopf und blickte Felix in die Augen. »Ich heiße Nicolai und bin ein Engel.«

»Schön für dich und jetzt komm.« Er packte fester zu und schleppte Nicolai die Treppe hinauf in seine Wohnung.

»Das Bad ist da vorne...«, Felix musterte kritisch den schmutzigen Typen, »du kannst was von mir anziehen. Und morgen früh meinetwegen noch einen Kaffee trinken aber damit ist meine Nächstenliebe erschöpft.«

Nicolai lächelte schief. »Erstaunlich, was die Menschen heutzutage unter Nächstenliebe ver- stehen.« Felix verschwand in sein Schlafzimmer, kramte einige alte Klamotten aus dem Schrank und brachte sie ins Bad, wo Nicolai erstaunt umherblickte. »Was?«

Felix wartete nicht auf eine Antwort, sondern stellte das Wasser der Dusche an, warf die Sachen auf den Boden. »Beeil dich.«

Nicolai blieb allein in den kleinen, hellen Badezimmer zurück, zog seine verdreckte Hose aus, stellte sich unter den heißen Wasserstrahl und wusch Schmutz und Schweiß und Gestank von seiner Haut. Die Hitze des Wassers entspannte seine Muskeln.

Als er fertig war, trocknete er seinen nassen Körper mit einem flauschigen Handtuch. Es war ein ulkiges Gefühl auf seiner Haut, doch sehr angenehm.

Nach einer kleinen Ewigkeit schlang er das Handtuch um seine Hüften und tapste barfüßig über den kalten Fußboden ins Wohnzimmer, wo Felix eine Decke auf die Couch legte.

Der Engel bemerkte, daß sein Gastgeber trockene Kleidung angezogen hatte. Eine schwarze Hose und ein flauschig aussehendes Oberteil.

»Ich hoffe, ich hab mich beeilt«, sagte Nicolai leise.

Felix wirbelte herum und blieb wie angewurzelt stehen.

Der verdammte Junkie war...schön! Unglaublich schön und...bis auf ein Handtuch...nackt!

Seine dunkelblonden Haare hingen ihm kinnlang und noch feucht ins Gesicht. Perfekt ge- schwungene dunkle Brauen, große blaue Augen, eine kleine, zierliche Nase, weiche, sanfte Lippen. Die Unterlippe war etwas stärker ausgeprägt als die obere. Er war etwas größer als Felix und viel zierlicher, geradezu mädchenhaft, seine Haut sahnig weiß schimmernd, unter der sich über dem Brustkorb die Rippen abzeichneten.

Felix musterte ihn gebannt, die kleinen, harten Brustwarzen, den perfekten Bauchnabel, die hervorstehenden Hüftknochen über dem Saum des Handtuchs.

Nicolais Hände waren feingliedrig mit schmalen, schlanken Fingern, die sich jetzt die Haare hinters Ohr strichen.

Felix schluckte verlegen. »Wie...wieso hast du dich nicht angezogen?«

Nicolai lächelte. »Entschuldige aber...ich mag das hier«, er strich über den Stoff auf seinen Hüften, »auf meiner Haut haben.« Er schloß wohlig die Augen. »Das ist so...weich...«, seufzte er.

Felix rang nach Atem, Mund und Kehle waren plötzlich trocken. »Du...du kannst hier schlafen«, erklärte er stockend. »Ich bin nicht müde...jetzt nicht mehr. Komm her und erzähl mir etwas von dir«, forderte Nicolai und setzte sich auf die Couch.

»Nee, das mach ich nicht.«

Nicolai legte den Kopf schräg und blinzelte. »Du hast gesagt, ich bekomme einen Kaffee...

den möchte ich jetzt haben.»

Felix ging in die Küche, warf die Kaffeemaschine an und ärgerte sich. Was bildete sich dieser Junkie überhaupt ein? Wieso tat er, Felix, was der wollte? Gott...wieso war dieser Typ so schön? Felix war sich absolut sicher, daß er niemals zuvor einen so schönen, voll-kommenen Jungen gesehen hatte. Überhaupt, der sah nicht aus wie ein Junkie. Dürr aber nicht krankhaft ausgezehrt. Seine Haut war nicht blaß und grau und fahl sondern weiß, die Wangen leuchteten in einem zarten Rosa wie seine Lippen, seine blauen Augen strahlten und funkelten lebendig. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit diesem Bengel, der da fast nackt auf seiner Couch saß und nach Kaffee verlangte.

Gedankenverloren goß er zwei Tassen bis zur Hälfte voll, nahm eine Milchtüte aus dem Kühlschrank, klemmte sich ein Päckchen Würfelucker unter den Arm und ging ins Wohnzimmer zurück. Unsicher und zittrig stellte er alles auf dem kleinen Glastisch ab und setzte sich.

»Milch?« fragte er.

Der Engel besah sich die Milchtüte und zuckte die Schultern. »Wenn du das sagst.«

»Willst du Milch?« formulierte er die Frage deutlicher und goß zunächst sich selbst die Tasse voll. Nicolai tat es ihm nach, nahm auch die sechs Stück Zucker und einen kräftigen Schluck. »Mhh...heiß«, zischte er und legte eine Hand an die Lippen.

»Du solltest dir was anziehen«, bemerkte Felix.

»Ach ja?«

»Ist mir doch egal.«

»Warum verlangst du es dann?«

Felix seufzte. »Ich gehe schlafen.«

»Nein...du sollst mir doch etwas erzählen«, rief Nicolai hastig.

»Bin nicht in der Stimmung«, brummte er.

»Bitte...ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.«

»Felix. Sag mal...was zum Teufel soll das alles?«

Nicolais Blick verfinsterte sich. »Sprich seinen Namen nicht aus in meiner Gegenwart.«

»Ich sage hier was ich will, kapiert. Gott verdammt...«, schnaufte er.

Nicolai sprang entsetzt auf. »Genug jetzt. Ich lasse es nicht zu, daß du Gott verfluchst.«

»Ach du Scheiße...sag schon, bist du so ein komischer Jesus-Freak?«

»Entschuldige dich«, forderte der Engel böse.

»Du kannst mich mal.«

»Entschuldige dich...sofort!«

Der hat sie doch nicht mehr alle. Hat sich das Hirn zu Brei gekifft oder sonst was, dachte Felix. »Entschuldige«, sagte er übertrieben, worauf Nicolai langsam wieder Platz nahm.

Eine Weile schwiegen sie. Nicolai starrte in seine Tasse, Felix starrte ihn an. Er spürte ein wahnsinniges Verlangen, diese Schönheit zu berühren.

Dieses Gefühl war ihm nicht sonderlich fremd, er hatte gelegentlich Lust auf Sex mit Typen, jedoch nicht in der letzten Zeit und wahrscheinlich sehnte er sich deshalb so danach. Dennoch würde er nichts in dieser Richtung unternehmen. Er hatte noch nie etwas in dieser Richtung unternommen.

Er wußte ja nicht einmal, welches Geschlecht Nicolai bevorzugte, ihn danach fragen mochte er nicht. Wie würde sich das auch anhören?!

»Warum schaust du mich so an?«

Felix schreckte aus seinen Gedanken.

»Du findest mich schön, ja?« fragte der Engel arrogant und hob seine perfekt geschwungene Braue.

»Bist du bescheuert?«

Nicolai sah ihn fragend an. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«

»Woher kommst du?«

Der Engel strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, ich fiel vom Himmel?«

»Wohl kaum.«

»Nun, ich fiel aus dem Himmel, glaube ich. So genau kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Mann...du bist ja immer noch aufm Trip«, brummte Felix.

»Trip?«

»Vergiß es.«

»Glaubst du an Gott?« wollte Nicolai wissen.

»Ach du Kacke. Jetzt bloß keine theologische Diskussion.«

»Keine Diskussion. Eine einfache Frage. Ja oder Nein.«

»Nein, ich glaube nicht an Gott.«

»Wieso nicht?«

»Hast du dich mal in der Welt umgesehen?«

»Gott hat die Welt erschaffen, er ist nicht dafür verantwortlich, was die Menschen daraus machen.«

»Ist mir scheißegal. Was soll das alles?«

»Ich bin ein Engel, Felix...glaubst du mir das?«

»Ja sicher. Ich treffe an jeder Ecke jemanden, der mit Engeln redet oder selbst einer ist.«

»Aber es stimmt.«

»Und wo sind deine Flügel?«

Nicolai warf einen enttäuschten Blick auf seinen Rücken. »Die waren mal da...« Er tippte mit dem Finger auf sein Schulterblatt.

»Hör mal, du solltest jetzt schlafen und...keine Ahnung. Versuch nicht aus dem Fenster zu springen, weil du meinst, du könntest fliegen.«

»Ich kann aber fliegen«, beteuerte Nicolai, »ich meine, wenn meine Flügel erst wieder da sind«, fügte er leicht errötend hinzu.

»Ja...wie auch immer«, sagte Felix.

Der Engel strich vorsichtig über Felix Brust. »Das ist weich...ich will das haben. Gibst du mir das?«

»Nein. Faß mich bloß nicht an«, schrie dieser und wich zurück.

»Mir ist kalt«, jammerte Nicolai.

»Da liegst eine Decke.«

Felix beobachtete, wie Nicolai sich einen Moment in die Decke hüllte, sie jedoch angewidert von sich stieß.

»Das kratzt. Gib mir bitte das, was du trägst, ja?«

Felix sprang auf. »Schluß jetzt mit dem Scheiß.«

»Geh nicht weg«, rief der Engel ängstlich.

Er war ebenfalls aufgestanden. »Mir ist so kalt...«

Felix schnaufte. »Dann nimm die verfl...die Decke. Die wärmt dich.«

Nicolais Augen wurden feucht. »Ich will aber nicht davon gewärmt werden sondern von...

von dir», murmelte er und wandte sich hastig ab.

Felix Herz wollte stehenbleiben. Er sah, daß der halbnackte Junge, der ihm den Rücken zugedreht hatte, zitterte, hörte ihn leise schluchzen. Er konnte nicht anders, trat langsam auf ihn zu und atmete tief ein und aus. Er war so nah, daß er die Haare des Engels riechen konnte. Sie hatten einen betörenden Duft. Der ganze Junge hatte diesen Duft. Nicht nach einem Waschmittel, nicht nach etwas Bekanntem, er roch irgendwie süß und...da war etwas, das Felix nicht eindeutig bestimmen konnte. Aber der Geruch erinnerte ihn an etwas...an eine klare, kühle Winternacht.

Seine Nasenspitze berührte leicht die feinen dunkelblonden Haare im Nacken. Der Engel hielt den Kopf gesenkt. Felix Herz klopfte bis zum Hals als er seine Arme ausbreitete und den Engel zart umfing.

Nicolai atmete geräuschvoll, hob den Kopf und lehnte sich in die Umarmung.

»Danke«, flüsterte er.

Felix rieb seine Brust an dem nackten Rücken des Engels, vergrub sein Gesicht in dessen Haare und erlaubte sich einen Augenblick, dessen Brust zu berühren. Seine Haut war weich wie Watte.

Nicolai drehte sich um, seine Finger glitten über Felix Bauch, griffen an den Bund seines Shirts und zogen es ihm über den Kopf. Dann trat er einen Schritt zurück, berührte mit dem Stoff in seinen Händen die nackte Haut, zog das Shirt an und lächelte.

»Ich bin müde.«

Er legte sich langsam auf die Couch und zog zur Hälfte die Decke über sich. Schlang seine Arme um seinen Körper und blieb regungslos liegen.

Felix schüttelte verwirrt, verärgert den Kopf.


Als Felix am nächsten Morgen in die Küche schlurfte, saß Nicolai am Tisch. Angezogen mit der schwarzen Hose, die Felix ihm hingelegt, und dem flauschigen Shirt, das er selbst ge- tragen hatte.

»Hallo«, säuselte der Engel.

Felix wollte sterben, so schön war dieser Junge, der ihn jetzt anlächelte.

»Du solltest gar nicht mehr hier sein«, brummte er.

»Wo soll ich denn hin?«

»Ist mir doch egal. Ich hab dir gesagt, eine Nacht und kein Drama.«

»Kaffee«, sagte Nicolai triumphierend. »Du sagtest, einen Kaffee bekomme ich.«

»Den hattest du gestern bereits. Was willst du eigentlich noch? Meine Klamotten trägst du auch schon. Hast du kein Zuhause oder was?«

Nicolai senkte betrübt den Kopf. »Doch aber...das ist so weit weg und ich weiß doch nicht wie ich zurück komme.«

»Ich schlage vor, du läßt das in Zukunft mit den Drogen, ok?« sagte Felix und machte Kaffee.

»Ich mache alles, was du willst, wenn...ich bleiben darf.«

Wenn du bleibst, kann ich für nichts garantieren, dachte Felix und schüttelte den Kopf.

»Bitte...«, flehte der Engel. »Wenn ich nur wüßte, wie das mit den Flügeln geht...«

Felix verdrehte genervt die Augen. »Jetzt fang nicht wieder mit dem Blödsinn an. Du bist kein Engel, sondern ein Idiot, der kein LSD verträgt.«

Nicolai sprang wütend auf. »Ja...ich BIN ein Engel«, rief er und stülpte seine Unterlippe etwas nach außen, wie ein kleines, ärgerliches Kind.

Gott, ist der süß, dachte Felix und mußte grinsen.

»Ok ok, nehmen wir mal an...ich glaube dir. Was tust du hier? Wieso hockst du nicht im Himmel auf irgendeiner wattigen Bauschewolke, spielst Harfe und frohlockst?«

Nicolai setzte sich wieder. »Ist das eure Vorstellung?«

Felix goß Kaffee ein und nickte. »Ja«, entgegnete er knapp.

»Wenn du wüßtest...«

»Schieß los, ich wüßte gern«, forderte Felix und nippte an seinem Kaffee.

»Du glaubst mir doch sowieso nicht«, erklärte Nicolai beleidigt.

»Erzähls trotzdem. Vielleicht lasse ich mich überzeugen.«

»Wir Engel«, begann Nicolai hochnäsig, »hocken nicht. Und wir spielen nicht Harfe. Für sowas haben wir nämlich überhaupt keine Zeit.«

»Immer im Streß, was«, grinste Felix amüsiert, »Müßt von einem Termin zum nächsten hetzen. Den Jungengeln Flugunterricht erteilen und so.«

Nicolai blickte ihn fragend an.

»Also, was macht ihr denn nun?«

»Kämpfen. Im Himmel herrscht Krieg.«

»Verstehe...immer noch der alte Luzifer, mh?«

»Er hat was damit zu tun«, bestätigte Nicolai» «aber das kann ich dir nun wirklich nicht er- klären. Jedenfalls sind die Engel gespalten. Die einen sind für Gott, die anderen gegen ihn...

stark vereinfacht ausgedrückt.»

»Und du?«

»Ich denke, daß er mal kräftig auf den Tisch schlagen sollte, damit wieder Ruhe herrscht.

Leider darf man sowas nicht mal denken, sonst...»

»Was?« fragte Felix mit hochgezogener Braue.

»Sonst landet man bei einem Spatzenhirn wie dir.«

»Wenn es dir nicht paßt...da ist die Tür.«

»Sobald ich weiß, wie ich zurückkomme.«

»Du bist doch auch hergekommen. Warum nimmst du nicht den gleichen Weg?«

Nicolai schnaufte. »Ja, na klar. So einfach ist das.«

»Ach...nicht?«

»Nein, sonst wäre ich ja schon weg, Dummkopf. Gabriel hatte recht. Die Menschen sind geradezu unerträglich blöd.«

»Wow...Gabriel, den kenne ich.«

Nicolai starrte ihn finster an. »Das möchte ich bezweifeln.«

»Doch«, versicherte Felix, »der ist ein Erzengel.«

»Blödmann, du hast doch überhaupt keine Ahnung, was ein Erzengel ist.«

»Doch...die stehen irgendwie so über allen anderen, oder?«

Nicolai griff sich an die Stirn. »Ich werde dir jetzt ganz gewiß nicht, die Himmlische Hirarchie erläutern. Nicht so einem Spatzenhirn.«

»Ich wette, die weißt du selber nicht. Schöne Geschichte aber du hättest vielleicht erstmal ein ordentliches Buch über den ganzen Engelkram lesen sollen.«

»ICH habe alle Bücher gelesen, die jemals geschrieben wurden.«

»Ich bin schwer beeindruckt«, sagte Felix ironisch und erhob sich. »War nett mit dir zu plaudern, Engel. Ich muß jetzt los.«

Nicolai sprang entsetzt auf. »Du läßt mich allein? Aber du kannst mich nicht allein lassen.«

Felix rieb sich das Kinn. Allerdings konnte er diesen Wahnsinnigen nicht allein in seiner Wohnung lassen. Der konnte ihm ja die ganze Bude ausräumen oder sonstwas anstellen.

»Tja, dann muß ich dich jetzt leider bitten zu gehen.«

»Wohin denn?«

»Keine Ahnung. Ist nicht mein Problem. Vielleicht findest du ja einen anderen, der so irre ist, dir zu glauben. Vielleicht kann der dir den Weg weisen. Raus!«


Felix machte sich auf den Weg zur Arbeit. Er jobbte seit einigen Monaten in einem Platten-laden. Kein Traumjob aber immer noch besser dort rumzuhängen als acht oder neun Stunden wirklich etwas tun zu müssen. Hier konnte er Musik hören, lesen, sich mit den Leuten unter-halten oder es lassen und bekam sogar noch Geld dafür. Viel Arbeit gab es meist nicht, die Bestellungen, Platten und CDs sortieren, ab und zu mal einem Kunden zeigen, wo was zu finden war. Eigentlich saß er hier nur seine Zeit ab.

Gelegentlich kam Patrick vorbei, dessen Vater der Besitzer des Ladens war und ihm aufge-tragen hatte, sich um alles zu kümmern. Felix verstand sich gut mit ihm, obwohl er ihn nicht sonderlich mochte. Nicht, daß er sich nicht gerne mit ihm unterhielt, ihn nicht lustig und nett fand und all das. Es war mehr die Tatsache, daß Patrick öffentlich dazu stand, sich nicht be- sonders für Mädchen interessierte. Das war nun auch wieder nichts Schlimmes in Felix Augen aber irgendwie...er wußte selbst nicht, warum er manchmal diese eigenartige Abnei-gung empfand.

Seufzend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, legte die Füße auf die Theke und schlürfte seinen Milchkaffee. Die ersten zwei Stunden konnte er relaxen, denn da kam noch niemand vorbei, um etwas zu kaufen. Müde schloß er die Augen und dachte an die Zeit mit Hanna. Drei Jahre war er mit ihr sowas wie glücklich gewesen bis zu dieser schrecklichen Party. Er wußte nicht, warum er ihr das angetan hatte, wußte nicht, wieso er mit ihrer besten Freundin geschlafen hatte. Es war so belanglos gewesen, so überflüssig und er hatte ihr so wehgetan, obwohl er sie wahrscheinlich geliebt hatte. Dennoch war ihm die ganze Beziehung mehr und mehr wie eine Lüge vorgekommen. Während sie nichtsahnend über eine gemein-same Zukunft sprach, fühlte er sich immer unbequemer. Nicht, daß Hanna zu spießig für ihn war oder er sich manchmal nicht auch wünschte, mit ihr zusammenzuleben, er hatte einfach so ein eigenartiges Gefühl, daß ihm etwas fehlte. Was das war konnte er nicht sagen.

Konnte oder wollte nicht. Eher letzteres. Denn manchmal ertappte er sich dabei, wie er an etwas dachte, wofür er sich zutiefst schämte. Glücklicherweise ließen sich solche Ge-danken schnell verdrängen. Ab und zu halfen ihm Alkohol und Drogen.

Und jetzt war dieser merkwürdige Nicolai aufgetaucht, der behauptete, ein Engel zu sein.

Felix schüttelte verwirrt den Kopf. So ein Schwachkopf. Es lohnte sich gar nicht, darüber nachzugrübeln, wer, oder was Nicolai war, wenn Felix nach Hause kam, würde er ver-schwunden sein und sein Leben konnte weiterlaufen wie bisher. Arbeiten, schlafen, essen, sich nach Hanna sehnen und Parties am Wochenende.

»Hey, Schönheit...«

Felix schrak aus seinen Gedanken, sah den lächelnden jungen Mann und verdrehte genervt die Augen.

»Patty, was willst du denn?«

»Sehen, ob du auch alles im Griff hast«, antwortete er und lehnte sich mit dem Oberkörper über die Theke. »Du siehst beschissen aus...schwere Nacht gehabt?«

»Das geht dich einen Dreck an.«

»Warum so kratzbürstig? Kann ich was dafür, daß Hanna endlich begriffen hat, was für ein untreues Arschloch du bist?«

»Halt die Fresse«, fauchte Felix.

Natürlich wußte Patty, was passiert war. Alle wußten es.

»Ich wundere mich nur, daß du sie ausgerechnet mit Ina betrogen hast und nicht mit ihrem hübschen Bruder.«

»Bin ja nicht sone verfluchte Schwuchtel wie du.«

Patty zog ein säuerliches Gesicht. »Nein...natürlich nicht. Entschuldige bitte.«

»Gibts sonst noch was?« fragte Felix unfreundlich.

Patty spazierte im Laden umher. »Nö, eigentlich nicht. Oder...doch...kommst du am Samstag zu unserer Party?«

»Was wird denn gefeiert? Verlobung, oder was?«

»Naja, es könnte ja auch sowas wie ein Jubiläum sein...drei Monate am Stück schlechte Laune...ich finde, darauf sollten wir trinken.«

»Verarschen kann ich mich selber«, zischte Felix.

»Ja, allerdings und zwar nicht zu knapp.«

»Was soll das denn heißen?«

»Denk mal drüber nach«, antwortete Patty und ging zur Tür. »Also, bis Samstag.«

»Ich weiß schon, warum ich diesen Typen hasse«, sagte Felix leise und lehnte sich wieder zurück. Seine Gedanken begannen sich erneut um Hanna zu drehen. Gott...er vermißte sie wahnsinnig. Den zarten Lilienduft ihrer Haut, ihre Haare, die morgens, wenn sie zusammen aufwachten, seine Nase kitzelten, ihr verschlafenes »Guten Morgen, Süßer«, Kakao- und Nutellatoast-Frühstück im Bett, ihre Angewohnheit, mit seinen Haarspitzen spielend ein-zuschlafen, ihr Lachen, ihren besonderer Sinn für Humor, ihre wahnsinnigen Wutausbrüche und der zerknirschte Blick, wenn sie sich wieder mit ihm vertragen wollte...all das fehlte ihm.

Das hatte er verloren in einer einzigen, belanglosen Nacht.


Als Felix am Abend nach Hause kam, saß Nicolai auf der Treppe.

»Au mann, was willst du denn immer noch hier?« rief er genervt und schloß die Tür auf.

»Die Welt ist schlecht und die Menschen sind unfreundlich«, seufzte Nicolai, »dabei sollten die sich doch freuen, einen Engel zu sehen. Bekomme ich einen Kaffee?«

Felix schüttelte den Kopf. »Wie werde ich dich denn bloß wieder los?«

Der Engel zuckte die Schultern und ließ sich auf die Couch sinken. »Das ist ganz schön anstrengend, den ganzen Tag zu laufen. Meine Füße tun weh, verstehst du? Meine Füße taten noch nie weh. Mir tat noch nie irgend etwas weh.«

»Tja...daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen.«

»Will ich aber nicht. Ich will zurück.«

»Dann laß deine Flügel wachsen und guten Flug«, brüllte Felix.

»Wo bleibt der Kaffee?« maulte Nicolai.

Ich polier die gleich die schöne Visage, dachte Felix schnaubend.

»Wenn du Kaffee willst, mach ihn dir verdammt noch mal selber.«

»Hör auf zu fluchen und...ich weiß nicht, wie man das macht«, kreischte Nicolai schrill.

Felix zerrte ihn von der Couch in die Küche.

»Hier...Wasser da rein, Kaffeepulver da rein, zuklappen, Kanne drunterstellen, Knopf drücken und warten, bis der Scheißkaffee durchgelaufen ist, kapiert?«

»Ich bin ja nicht so ein Spatzenhirn wie du«, erwiderte Nicolai gelassen und ging.

»Vielen Dank, daß du so freundlich warst, mir den da zu schicken«, zischelte Felix, den Blick zur Decke gerichtet.

Er warf einen Blick ins Wohnzimmer...es war leer. Er suchte den Engel im Bad, fand ihn schließlich im Schlafzimmer, bäuchlings auf dem Bett, einen Schuhkarton neben sich und verschiedene Fotos auf der Decke ausgelegt.

»Sag mal...was machst du da?«

Nicolai blickte ihn unschuldig an. »Was sind das für Leute?«

»Hab ich dir erlaubt, in meinen Sachen zu kramen?« schrie Felix aufgebracht.

»Sag mir, was das für Leute sind«, schrie Nicolai zurück.

»Freunde von mir. Leg die Fotos wieder zurück.«

»Liebst du die hier?« er hielt ein Bild hoch, auf dem Felix ein Mädchen küßte.

»Hab ich mal«, seufzte er, nahm es ihm aus der Hand und stopfte es mit den anderen in den Karton zurück.

»Wo ist sie jetzt?«

»Keine Ahnung. Wir haben uns vor drei Monaten getrennt.«

Er ließ sich neben den Engel aufs Bett fallen.

»Warum?«

»Du bist eine blöde Nervensäge, weißt du das?«

»Nein, weiß ich nicht aber danke, daß dus mir gesagt hast. Also...warum habt ihr euch ge-trennt?«

»Hab ihre beste Freundin gevögelt.«

»Gevögelt?«

»Ja, gevögelt...Herrgott. Was verstehst du daran nicht?«

»Gevögelt«, erklärte Nicolai ruhig.

Felix legte die Hand über seine Augen und atmete angestrengt. »Vögeln, ficken, poppen...

Sex halt.»

»Ach ja...das ist wichtig für euch, nicht wahr?«

Er blickte Nicolai an. »Für euch Engel etwa nicht?«

»Nicht wirklich.«

»Oh, ich hatte vergessen, Engel haben ja keinen Sex.«

»Wer sagt das?«

»Na, das liest man doch überall. Engel sind Hermaphroditen und können gar nicht.«

»Noch so eine Fehlannahme der Menschen«, seufzte Nicolai. »Die Wahrheit ist, Engel suchen sich ihr Geschlecht aus und können dann gar nicht genug bekommen...jedenfalls einige.«

Felix unterdrückte mühsam einen akuten Geilheitsanfall. »Und...zu welcher Fraktion gehörst du?«

»Ich habe mich für das männliche Geschlecht entschieden, falls du das meintest.«

»Ja...das sehe ich.«

»Wieso fragst du dann?«

»Jetzt mal ernsthaft...du kannst unmöglich noch immer aufm Trip sein, willst du mir nicht mal langsam sagen, wer du bist?«

»Das weißt du doch. Ich bin ein Engel und heiße Nicolai.«

Felix stöhnte. »Engel heißen nicht Nicolai. Die heißen Gabriel, Michael und Raphael.«

»Kommt die ganze Menschheit etwa mit drei Namen aus? Wieso denkst du dann, daß alle Engel entweder Gabriel, Raphael oder Michael heißen?«

»Ich gebs auf. Dein Name klingt nun mal nicht nach Engel. Heißen die nicht immer mit el am Ende?«

Nicolai zuckte die Schultern. »Ich heiße so, seit ER mich erschaffen hat.«

»Er?« fragte Felix. »Ach so...ER.«

Der Engel nickte eifrig.

»Und...was hast du nun vor? Ich meine, du kannst nicht ewig hier bleiben.«

»Wenn du ewig sagt, hast du nicht wirklich eine Ahnung, was das bedeutet«, lächelte Nicolai.

Dieses Lächeln machte Felix schwach. Überhaupt, alles an Nicolai machte Felix schier wahnsinnig. Er wollte ihn so sehr. Ob Engel oder nicht. Er überlegte, ob es Engeln wohl ge- stattet war, mit Menschen Sex zu haben, ärgerte sich aber gleich über diese unsinnige Frage.

Nicolai grinste. »Nein, ist es nicht aber...wer hält sich schon an Gebote...«

»Was?« fragte Felix und riß erschrocken die Augen auf.

»Du hast dich doch gerade gefragt, ob Engel...«

»Ich weiß, was ich mich gefragt habe aber...woher weißt du das? Kannst du etwa auch Gedanken lesen?« fauchte er grimmig.

Der Engel strich sich durchs Haar. »Ja...manchmal, wenn ich Lust dazu habe«, erklärte er übertrieben gelangweilt.

»Ach ja...was denke ich denn grade?«

Nicolai schüttelte den Kopf. »Das ist so unanständig, daß ichs nicht aussprechen mag.«

»Weil du es nicht weißt«, murmelte Felix mit rotem Kopf und versuchte das aufdringliche Pochen in seinem Unterleib zu ignorieren.

»Um zu wissen, was du willst, muß ich nicht deine Gedanken lesen. Das, mein Lieber steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben und...nicht nur da. Leider muß ich dich enttäuschen. Ich gehöre zu der Sorte Engel, die sich an Gebote halten...meistens jedenfalls.«

Felix schnappte nach Luft. Ihm schwirrte der Kopf, sein gesamter Körper kribbelte, er spürte, wie sein Schwanz schmerzhaft gegen seine Jeans drückte.

Nicolai grinste schmutzig. »Jetzt brauchst du wohl eine kalte Dusche, was?«

»Für einen Engel weißt du erstaunlich gut Bescheid«, zischte Felix.

»Ich hab die Menschen beobachtet, wenn mir langweilig war.«

»Geh...verschwinde aus meinem Zimmer!«

»Ach Felix«, seufzte der Engel, »warum bittest du mich nicht einfach, dir dabei«, er deutete auf die Beule in seiner Hose, »behilflich zu sein?«

»Darauf kannst du lange warten. Raus jetzt.«

Nicolai ging, kam aber bereits nach einigen Minuten zurück.

»Wie ist ihr Name?«

»Welcher Name?«

»Stell dich nicht blöder als du bist«, forderte der Engel und setzte sich mit übereinander-geschlagenen Beinen auf die Bettkante.

»Hanna.«

»Schöner Name...hübsches Mädchen. Warum hast du sie betrogen?«

»Ich denke nicht, daß dich das etwas angeht.«

»MICH geht alles etwas an«, erklärte Nicolai hochnäsig. »Also?«

»Was weiß ich«, fauchte Felix, »hatte eben Lust dazu.«

»Das ist keine Antwort. Ich will wissen, warum.«

»Laß mich in Frieden.«

Nicolai seufzte. »Sags mir und ich gehe.«

»Ich weiß es nicht, ok? War auf einer Party und betrunken...da ist es halt passiert.«

»Danke...gute Nacht.«


Felix wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Er konnte nicht schlafen, die ganze Zeit dachte er an den schönen Engel, der nebenan lag. Er wollte ihn. Wollte ihn wie noch niemals jemanden zuvor. Felix schnaufte. Dieser von sich eingenommene, nervige, hochnäsige...

verfluchte Engel. Er mußte lachen, als er das Wort dachte. Engel. Glaubte er jetzt tatsächlich diese völlig irrsinnige Geschichte? Das war ja im Kopf nicht auszuhalten.

Er stand auf, schlüpfte in seine Jeans und tapste durch die Wohnung.

»Kannst du nicht schlafen«, tönte eine sanfte Stimme durch die Dunkelheit.

Felix erschrak. »Willst du, daß mir das Herz stehenbleibt?« brüllte er und knipste das Licht an.

Nicolai saß auf der Couch, die Füße auf dem Tisch und lächelte. »Tut es das nicht immer, wenn du mich nur ansiehst?«

»Soll ich dir mal was sagen? Du bist viel zu eingenommen von dir.«

»Du findest mich also nicht schön?«

»Nein.«

»Und du begehrst nicht meinen Körper?«

»Nein.«

»Weil ich keine Frau bin?«

Felix lachte verächtlich. »Ich dachte, du kannst meine Gedanken lesen. Dann müßtest du doch wissen, daß ich auch auf Typen stehe.«

Erschrocken biß er sich auf die Lippe. Es war das erste Mal, daß er es ausgesprochen hatte.

Bis jetzt hatte er sich nicht einmal getraut, es zu denken.

»Ach das weiß ich längst«, erklärte Nicolai und machte eine lapidare Handbewegung.

»Wieso fragst du dann?«

Er zuckte die Schultern. »Wollte die Konversation in Gang halten.«

»Du bist doch nicht ganz dicht. Laß mich in Frieden.«

»Warum sträubst du dich so?«

»Wieso sagst du mir das nicht?« entgegnete Felix mit einem zuckersüßen Lächeln.

»Das ist mir zu anstrengend. Du kannst ja auch mal den Mund aufmachen.«

Nicolai neigte den Kopf zur Seite. »Würde es dir gefallen, meine Flügel zu sehen, Felix?«

»Ich dachte, du weißt nicht, wo die geblieben sind.«

Der Engel blickte gelangweilt auf seine gläsernen Fingernägel. »Ich hab gelogen.«

»Und...wo sind sie? Hast du sie unter der Couch versteckt?« Felix Stimme klang amüsiert.

»Sieh doch nach, Dummkopf«, entgegnete Nicolai eingeschnappt. »Ich will mich dir, einem Menschen, offenbaren und muß mir so etwas Dummes anhören.«

»Oh...Verzeihung, großer Engel.«

Nicolai stand auf und plötzlich war der Raum angefüllt mit einem sirrenden Geräusch.

Unwillkürlich hielt sich Felix die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, weil ein gleißendes Licht den Engel umhüllte.

Doch schon nach wenigen Sekunden war alles vorbei, Nicolai sank erschöpft auf die Couch, Felix öffnete die Augen und starrte ihn an.

Keine Flügel!

»Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so abweisend und gemein bist«, erklärte er heftig errötend mit vorwurfsvoller Stimme.

Felix Knie gaben nach, er konnte kaum glauben, was da eben geschehen war. Langsam sackte er auf dem Boden zusammen, fuhr sich zittrig durch die braunen Haare.

»Das...das...was war DAS denn?« stammelte er. »Was war das für ein Licht? Und das Ge-räusch...ach du Scheiße...«

»Du hast alles kaputt gemacht«, sagte Nicolai noch eine Spur vorwurfsvoller und nun sichtlich verärgert.

Plötzlich brach Felix in lautes Gelächter aus. »Ach du Scheiße...du kannst es echt nicht.

Was für ein lausiger Engel...», prustete er los. Und als er merkte, was er gerade gesagt hatte, lachte er noch heftiger. «Ein Engel...du bist echt ein Engel...ich halts nicht aus. Auf meiner Couch sitzt tatsächlich ein blöder Engel ohne Flügel...»

»Ja...gieß noch Öl ins Feuer«, zischte Nicolai.

»Du weißt verdammt noch mal nicht, wie du deine Scheiß Flügel ausfahren kannst«, lachte Felix und wischte sich Tränen aus den Augen.

Nicolai sprang auf. »Weiß ich wohl, du Spatzenhirn. Flügel ausfahren...so ein Vollidiot«, zischte er. »Du...du hast es ja gar nicht verdient, daß ich mich dir in meiner ganzen Schön- heit zeige.«

Felix wurde von einem neuen Lachanfall geschüttelt. »Das...das ist echt geil...du bist so ein gottverdammter loser...«

»Hör auf zu fluchen und...hör auf, mich auszulachen«, schrie Nicolai mit erhobenen Fäusten und vor Zorn roten Wangen.

Das war zuviel für Felix, er krümmte sich auf dem Boden zusammen und bekam kaum noch Luft.

Der erboste Engel stampfte in die Küche, füllte die Kaffeekanne mit Wasser, polterte ins Wohnzimmer zurück und goß ruhig und bedächtig den Kanneninhalt über den lachenden Felix.

Der schüttelte sich erschrocken und sprang auf.

»Bist du bescheuert?« Wütend griff er nach dem Engel, zerrte an dem Stoff seines Shirts.

Nicolai wehrte ihn ab, griff nun ebenfalls an den Ausschnitt seines Gegenübers.

»Laß das«, zischte Nicolai, »du hast keine Chance gegen mich.«

»Das werden wir ja sehen«, zischte Felix zurück, riß sich los und rempelte mit dem Engel durch das Zimmer, schubste ihn. Nicolai versetzte ihm einen Stoß, so daß Felix zu Boden ging, wobei er sich den Kopf an der Tischkante stieß.

»Du verfluchter...«

Nicolai warf sich auf ihn und drückte ihm mit einer Hand die Kehle zu.

»Ich hatte dich gebeten, damit aufzuhören.«

Felix versuchte, sich aus dem Griff zu befreien aber der Engel war unglaublich kräftig.

Viel kräftiger als ein normaler Mensch, stellte er röchelnd fest.

»Laß mich...«

Die Hand an seiner Kehle drückte unbarmherzig zu. Felix wand sich, schluckte verzweifelt, schnappte nach Luft. Seine Beine strampelten unkontrolliert auf dem glatten Parkettboden.

Plötzlich ließ Nicolai von ihm ab. Erschrocken starrte er Felix an, an dessen Hals die Finger rote Male hinterlassen hatten.

»Oh...es...es tut mir leid«, stammelte Nicolai zitternd und lehnte sich gegen die Couch.

»Es tut mir so leid«, wiederholte er, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

Felix griff sich japsend an den Hals, hustete und bekam wieder Luft. »Wolltest du mich umbringen...oder was?« Seine Handflächen berührten nun den kalten Fußboden, er stützte sich auf und kroch auf den zitternden Engel zu.

»Ich wollte das nicht«, flüsterte Nicolai mit tränenerstickter Stimme.

»Gott...ich dachte, du bringst mich um.« Sein Hinterkopf fiel auf die Sitzfläche der Couch, er legte eine Hand an den brennenden Hals.

»Ich wollte dir nicht weh tun.«

»Wow...«, sagte Felix knapp. »Sind alle Engel so verd...so kräftig?« Er schloß die Augen, atmete tief durch und ließ erschöpft seine Hand auf den Boden sinken. Einen Moment später spürte er die weiche Hand des Engels. Er wollte sie panikartig wegstoßen, doch die Finger verursachten keinen weiteren Schmerz sondern strichen sanft über seine Haut. Felix drehte seinen Kopf, öffnete die Augen und sah Nicolais Gesicht nah vor seinem eigenen. Die Lippen leicht geöffnet, zitterten noch immer ein wenig.

»Verzeih mir...«, sagte er sehr leise und küßte ihn sachte auf den Mund.

»Warum tust du das?«

»Ich will, daß du mich liebst«, antwortete der Engel samtig, »jetzt!«

Felix wollte nichts lieber tun dennoch schüttelte er den Kopf. »Vergiß es.«

»Bitte«, flehte Nicolai.

»Nein«, entgegnete Felix rauh.

»Doch...bitte!«

»Ist das sowas wie euer Vorspiel? Erst halb erwürgen, dann vögeln?«

»Du hast mich provoziert«, verteidigte sich Nicolai.

»Ja, genau.« Felix rappelte sich auf. »Bleib mir bloß vom Leib«, sagte er beim Hinausgehen.

Er warf sich aufs Bett und blieb regungelos liegen. Sein Herz klopfte so wahnsinnig, daß er Angst hatte, es könne jeden Moment aus seiner Brust springen, sein Puls raste, Arme und Beine waren wie taub, sein gesamter Körper kribbelte. Er wollte Nicolai, wollte ihn so sehr aber wenn er erst anfing, sich auf ihn einzulassen...wo würde das hinführen? Er fürchtete sich zu Tode. Wenn er sich ein bißchen zusammenriß, würden diese unmöglichen Gefühle für den Engel vergehen und alles war wieder in Ordnung. Er durfte nur nicht in jeder Minute an ihn denken.

Felix hatte sich gerade etwas beruhigt, als er plötzlich die Wohnungstür zuschnappen hörte.

Erschrocken sprang er auf, lief durch die Wohnung...sie war leer. Keine Spur von Nicolai.

Matt und müde trottete er ins Schlafzimmer zurück.

Na und, dachte er bei sich, ist er halt weg. Was solls?! Schließlich wollte ich die ganze Zeit, daß er geht. Endlich wird alles wieder normal.

Dennoch fragte er sich, wo der Engel sein mochte. Würde er tatsächlich nicht zurück kommen? Würde Felix niemals wieder sein schönes Gesicht betrachten können?

Er merkte, wie seine Augen anfingen zu brennen, feucht wurden und gleichdarauf Tränen über seine Wangen liefen. Heiß und salzig und schmerzhaft.

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