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Der schöne Italiener und die Zicke mit den dürren Haxen
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Informationen
- Story: Der schöne Italiener und die Zicke mit den dürren Haxen
- Autor: Chelsea
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory
Es weihnachtet mehr oder weniger sehr… im Laufe dieser Geschichte.
Okay, noch mal tief durchatmen und los. Ich hab den Plan wochenlang ausgearbeitet, er ist perfekt. Es kann gar nichts schiefgehen. Ich werde jetzt einfach auf ihn zu marschieren, den Weiberhaufen um ihn herum ignorieren und ... sagen, was zu sagen ist. Jawohl, das werde ich. Sobald meine Füße bereit sind. Bewegt euch, ihr Ärsche! Das Zittern meiner Beine kommt mir alles andere als gelegen. Egal. Unsicher schwanke ich durch den Gemeinschaftsraum des ätzenden Studentenwohnheims und bin insgeheim doch sehr froh, dass ich nicht hier leben muss. Lieber eine billige Miniwohnung als ein Zimmer in diesem Betonkasten. Jedenfalls ... ah, da lümmelt er auf der Couch wie ein verdammter Pascha. Ein Mädchen räkelt sich von rechts an ihn, eins von links. Es würde mich nicht wundern, wenn ein paar Graupen auch noch zu seinen Füßen krauchen würden. Machen wir uns nichts vor … Nico ist sehr beliebt bei der Damenwelt. Das hat mehrere Gründe. Erst mal ist er Italiener, aber nicht so ein braungebrannter Giovanni-Zarrella-Italiener, sondern ein hübscher, blasshäutiger, fast anachronistisch anmutender Italiener mit halblangen, dunkelbraunen Locken, die, je nach Lichteinfall, rötlich schimmern. Da wären wir schon bei Grund Nummer zwei … Nico ist zum Sterben schön. Grund Nummer drei ist sicherlich sein Name … Niccolo Da Silva … ich meine, das klingt doch echt wie ausgedacht … wie ein junger Adeliger im Venedig des 17. oder 18. Jahrhunderts. Mein richtiger Name ist dermaßen unoriginell und gewöhnlich, dass ich mir im Teenageralter einen Spitznamen zulegen musste. Hätte ich damals schon Poppy Brite gekannt, hätte ich mich sehr wahrscheinlich Zillah oder Ghost genannt. Na ja.
Zurück zu meinem Plan. Mist, bei Nicos Anblick hab ich doch glatt vergessen, was ich sagen wollte. Möglicherweise wäre eine Entschuldigung ein guter Einstieg, bin nämlich soeben über eine Damenhaxe gestolpert, die günstigerweise mitten im Weg rumlungerte, und war gezwungen, mich mit beiden Händen auf Nicos Schenkeln abzustützen, weil ich sonst gefallen wäre. Ach du Scheiße, ich habe ohne zu fragen seine Schenkel berührt!
„Hoppla, junger Mann“, lächelt er lässig, während die magersüchtige Dame ihre dürre Haxe reibt.
„Entschuldigung“, kreische ich, total aus dem Konzept gebracht.
„Nichts passiert“, versichert der schöne Italiener und beugt sich etwas vor, „Vivien ... Fuß noch dran, oder?“
„Blöder Tölpel“, zischelt sie böse.
Inzwischen stehe ich übrigens wieder einigermaßen sicher vor ihm. Meine Hände schwitzen ... Gott sei Dank haben sie keine nassen Abdrücke auf seiner Jeans hinterlassen.
„Du bist Feli“, stellt er blinzelnd fest.
Irgendwie erscheint mir mein Spitzname auf einmal selten dämlich. Früher (so mit zwölf, dreizehn) war ich mega stolz darauf, weil ich doch Katzen mag und die heißen nun mal wissenschaftlich Felidae. Erstaunlicherweise nehmen Leute es einfach so hin, wenn man sich als Feli vorstellt, und denken, das sei ein echter Name. Da könnte man genauso gut sagen, man heißt Snickers, Daim oder Pumuckl … würden bestimmt auch alle glauben. Ich hab letztens eine dieser bekackten Reality-Dokus gesehen, da hieß ein Kind mit soundsovieltem Namen Benvenuto! What the fuck … anzunehmen, dass es in der Kita gerne mit der kleinen Happy Birthday und dem etwas größeren Hereinspaziert spielt.
„Möchtest du was?“, reißt mich der Italiener aus meinen Gedanken.
„Äh … nee. Also … doch, ich, ähem …“, stottere ich schwachsinnig, „ich müsste kurz was mit dir besprechen. Allein.“
„Jetzt sofort?“
„Schon, aber …“, ich werfe zwei, drei Blicke auf die Graupen, die sich noch immer an ihn schmiegen, „wenn du grad beschäftigt bist …“
„Is okay. Ich wollte eh was essen. Wir können auf dem Weg zur Pizzeria besprechen, was immer du willst“, erklärt er und befreit sich endlich von den aufdringlichen Weibern. „Warte kurz, ich hol nur meine Jacke.“
Dass Nico weiß, wer ich bin, überrascht mich. Dass ich weiß, wer er ist, liegt natürlich an Silas, der irgendwelche Kurse, Seminare, was auch immer, mit dem Italiener besucht. Nico studiert Musikwissenschaft, singt, spielt tausend Instrumente und ab und an in Silas’ Band, wenn die wieder mal herumexperimentiert. Ach so, Silas ist ein Punk, den ich vor drei Jahren in einem Club aufgerissen habe. Das heißt … eigentlich hat er mich aufgerissen … ist ja völlig egal, wir sind jedenfalls im Bett gelandet, haben allerdings sehr schnell gemerkt, dass der Sex zwar gut war, es bei uns aber für eine Liebesbeziehung nicht reichen würde, seitdem sind wir Freunde. Das nutze ich momentan schamlos aus und lade mich selbst zu jeder Probe ein, wenn Nico da ist. Silas findet es amüsant, dass ich einen Heterokerl anschmachte und schon rote Ohren kriege, wenn Nico bloß den Raum betritt.
Meine Ohren fühlen sich in der Tat ein bisschen warm an, als Nico zurückkommt. Erwähnte ich, dass der Italiener zum Sterben schön ist? Der hübsche, knielange Mantel, dazu der schwarze Kuschelschal … mir wird schwindlig. Leider setzt er eine beknackte Strickmütze auf, aber selbst das kann seiner Schönheit nichts anhaben. Shit, wie war noch mal mein Plan? Mein Hirn ist irgendwie tiefgefroren, es herrschen draußen arktische Temperaturen und ein bisschen Schnee liegt auch noch rum. Nebenbei, es ist Anfang März! Das liegt am Klimawandel, an der globalen Erwärmung … behaupten meine Eltern immer. Früher, vor dreißig Jahren, war es niemals bis November warm und bis Mai kalt. Es gab weniger Hagelstürme und überhaupt weniger orkanartige, Bäume herausreißende, Dächer von Häusern fegende Stürme. Mein Vater, der sich auch gerne über Umweltverschmutzung und Luftverpestung aufregt, fährt logischerweise überall mit dem Auto hin. Ich nehme der Umwelt zuliebe meist das Fahrrad, allerdings ohne Helm, was natürlich eigentlich doof ist … sollte man aus Versehen mal stürzen und schwer auf den Kopf fallen.
„Muss ja was ziemlich Wichtiges sein, wenn du bei diesem Scheißwetter extra zum Wohnheim kommst“, überlegt Nico, während wir durch die Straßen stiefeln. „Du wohnst doch nicht hier, oder?“
„Nee.“
Ich studiere ja nicht mal. Hatte es eigentlich vorgehabt …, Chemie, … aber dann hat mir eine innere Stimme gesagt, dass ich unbedingt die Kunst des Haareschneidens erlernen sollte. Übrigens, dass alle Friseure schwul sind, ist ein Klischee. In meiner Berufschulklasse gibt’s außer mir nur einen Typen und der hat eine Freundin.
Die Pizzeria ist blöderweise bloß zwei Häuserblocks entfernt. Zu nah für ein Gespräch.
„Ciao, Tino“, grüßt Nico beim Betreten des kleinen Lokals und umarmt den Pizzamann. Danach tauschen sie wohl einige Höflichkeiten auf Italienisch aus und Nico bestellt irgendwas. Die Wartezeit wird uns mit Grappa verkürzt. Super, ich bin ja auch noch nicht verwirrt genug.
Als wir mit Nicos Fraß wieder draußen sind, ist mir leicht duselig im Kopf.
„Meine Wohnung ist zehn Minuten von hier“, höre ich mich sagen und möchte mir augenblicklich die Zunge abbeißen. Bin ich des Wahnsinns?
„Aha“, lächelt Nico lasziv. Ich glaube, das ist sein normaler Gesichtsausdruck. „Zum Wohnheim dauert’s fünf. Jetzt erklär mir doch mal, warum ich länger durch die Kälte laufen sollte als nötig.“
Fuck!
„Ich … ähem … also … na ja …“
„Überredet“, strahlt er, dass mir total schummrig wird. „Komm schon, sonst friere ich mir den Hintern ab. Und das Essen wird kalt.“
Ach du Heimatland … der schöne Italiener will mit zu mir!
In meiner Miniwohnung angekommen, zieht Nico ungeniert Mantel, Schal und Strickmütze aus, lässt alles achtlos zu Boden fallen und setzt sich auf die dunkelblaue Samtcouch. Ich spiele perfekten Gastgeber und bringe ihm Besteck und etwas zum Mundabwischen … es ist eine Halloween-Serviette. Nico kichert niedlich.
„Hol dir eine Gabel, ich esse nicht gern allein“, sagt er.
Na gut, stochern wir also gemeinschaftlich in den Tortellini alla panna herum und beim Tiramisu will er dann endlich wissen, was ich mit ihm besprechen wollte. Das hab ich natürlich längst vergessen. Das heißt, eigentlich wollte ich ihn ja fragen, ob er mal mit mir ins Bett gehen würde, aber diese Frage erscheint mir grad irgendwie unangebracht. Will sagen: Ich traue mich selbstverständlich nicht. Bin halt nicht so der Aufreißer und Nico sieht nicht aus, als hätte er Lust, sich ausgerechnet von mir aufreißen zu lassen.
„Feli“, beginnt er und leckt auf fast obszöne Weise den Löffel ab, „ist das die Koseform von Felix?“
„Nein, von Sebastian.“
„Bitte?“
„Feli ist nur ein Spitzname“, erkläre ich und werde rot.
„Klingt süß, aber was bedeutet das?“
Süß? Hat er süß gesagt? Au je! Fuck, ich kann ihm doch jetzt nicht die dämliche Katzengeschichte erzählen …
„Feli… wie Fellini?“, mutmaßt er.
„Felidae.“
„Ah, verstehe. Cooler Film, ziemlich heftig. Besonders die Szene, in der Francis das Katzenmädel fickt.“
Komisch, mir sind von dem Film echt andere Szenen im Gedächtnis geblieben. Außerdem ist Nico grad mal drei Sekunden hier und erzählt schon was übers Ficken?!
„Ehrlich gesagt, fand ich die fast ein bisschen erotisch. Oh Gott, denk jetzt bloß nicht, dass ich auf Tiersex stehe. Ich meine … hey, das ist’n Zeichentrickfilm … vergiss, was ich gesagt habe“, schüttelt er den Kopf.
„Ich glaube, bei Katzen ist die Realität nicht ganz so erotisch.“
„Nee?“
„Weil … also der Penis von ’nem Kater hat Widerhaken … da kann man sich vorstellen, dass das wahrscheinlich eher weh tut, als Spaß macht … ich meine, so als Katze.“
Moment mal, wieso um alles in der Welt rede ich mit ihm über Katerpenisse?
„Wow“, staunt Nico, „wie ekelhaft. Aber Katzenweiber sind doch trotzdem andauernd rollig, also kann’s so schlimm nicht sein.“
„Erstens sind die keineswegs andauernd rollig und zweitens hat das wohl die Natur so eingerichtet … zwecks Fortpflanzung. Wenigstens fressen Katzen ihre Kerle nach dem Sex nicht auf.“
„Kein Grund, laut zu werden“, findet Nico. „Ich mag Katzen, okay?“
„Entschuldigung“, entschuldige ich mich rotgesichtig.
„Bist du immer so … leidenschaftlich?“, grinst er.
„Äh…“, mache ich hilflos.
„Der kleine Punk mit seiner verrückten Band ist ein Freund von dir, ja?“
„Allerdings.“
„Ist der nicht schwul?“
Geil, der kennt nicht mal seinen Namen, weiß aber, dass Silas schwul ist?
„Na und?“
„Dann stehst du auch auf Kerle?“
Das klang weniger nach einer Frage, mehr nach einer Feststellung. Irgendwie beamt sich Nico grad so’n bisschen von meiner Sympathieskala.
„Wieso? Weil Schwule nur mit Schwulen befreundet sind, oder was?“
„Feli, du bist sehr leicht auf die Palme zu bringen. Ich hab nur gefragt und … ich habe auch überhaupt nichts gegen Schwule, also komm wieder aufn Teppich.“
„Tut mir leid.“
„Kein Problem“, winkt er ab. „Die Frage war echt ungehörig. Schließlich kennen wir uns kaum, was … sich natürlich ändern lässt. Gibst du mir deine Telefonnummer? Dann treffen wir uns mal, wenn ich etwas mehr Zeit hab …, wenn du magst.“
Und ob ich mag!
„Was soll’n das bringen?“, will Silas wissen, dem ich logischerweise am nächsten Abend von meinem gestrigen Besuch berichte. „Der Typ ist eine Hete.“
„So gut kennst du ihn? Nico wusste nicht mal deinen Namen.“
„Ja, weil er sich für Weiber interessiert. Hast seinen Harem doch gestern wieder gesehen.“
„Das heißt rein gar nichts.“
„Realitätsflüchtling“, lächelt Silas mitleidig.
Kurz darauf klingelt mein Telefon. Es ist … Nico! Und er verabredet sich mit mir für Freitag. YES!!!
„Wenn du auf die Nase fällst, ich heb dich nicht wieder auf, Kleiner.“
„Bist ja bloß neidisch, weil er nicht mit dir ausgehen will“, maule ich. „Und nenn mich nicht Kleiner.“ Silas ist nämlich bloß zwei Jahre älter als ich!
„Ich hab dich gewarnt“, seufzt er und verspeist einen Donut. „Wie sieht’s aus? Machst du mir meine Haare farbig?“
„Ey, ich hab heute nichts anderes gemacht als Haare schneiden und färben.“
„Cool, dann bist du ja noch voll drin.“
„Das dauert tausend Stunden“, stöhne ich genervt. „Und deine Haare kannste hinterher wahrscheinlich wegschmeißen. Schon mal gehört, dass ständiges Blondieren ganz gemein die Haarstruktur schädigt?“
„Wenn die kaputt gehen, kommen sie eben ab“, zuckt er die Achseln und wedelt lässig mit seiner Hand.
Na ja, wenn ich seine rattige Frisur hätte, würde mich das auch nicht weiter jucken. Die Seiten sind millimeterkurz und der Rest hängt irgendwie halblang strähnig herum. Meine Chefin würde die Hände überm Kopf zusammenschlagen.
Übrigens, Stichwort Lässigkeit … Silas konnte schon als Kind unwahrscheinlich lässig kucken oder sitzen oder stehen oder rumhängen. Silas und ich kennen uns nämlich nicht erst seit unserer gemeinsamen Nacht. Wir gingen ein Jahr lang in die gleiche Kita, wo er eher zu den wilden Rabauken zählte, weshalb ich Angst vor ihm hatte. Gehasst hab ich ihn. Und bewundert, weil ich auch gerne so sein wollte. Später hab ich mich immer mal wieder gefragt, was wohl aus ihm geworden ist … wenn ich mir bei meiner Mutter alte Kita-Fotos anschauen musste … Silas sah als Kind echt süß aus. Und verwegen. Das alles hat er während des Erwachsenwerdens perfektioniert. Kein Wunder also, dass ich sofort mit ihm ins Bett gegangen bin, als wir uns ungefähr fünfzehn Jahre später zufällig über den Weg liefen und feststellten, dass wir beide schwul sind. Manchmal ist das Leben echt lustig, oder?
Nach ungefähr zweieinhalb Stunden sind seine Haarsträhnen jedenfalls schlumpfblau und Silas verschwindet zufrieden. Ich dagegen kann nicht aufhören, an Nico zu denken, der mich übermorgen treffen will.
Donnerstag hab ich Berufschule, alles easy, Freitag muss ich bis um zwei arbeiten. Es hat durchaus Vorteile, wenn man in einem reinen Ausbildungsbetrieb ist. Man lernt besser und schneller, die Arbeitszeiten sind angenehmer als in „normalen“ Läden und es entfallen so Sachen wie Übungsabende, weil wir ja während der Arbeit lernen. Der einzige Nachteil ist das Geld. Als Friseur-Azubi verdient man leider arg wenig … ich verdiene halt noch weniger. Okay, es gibt noch einen Nachteil … zu uns kommen wirklich sehr viele Omis, die das Standartprogramm wollen: waschen, legen, alle vier Wochen schneiden und alle paar Monate Dauerwelle. Letztere könnte ich deshalb vermutlich mit verbundenen Augen wickeln. Die Omis sind echt unglaublich. Einmal wurde einer beim Haare waschen so übel, dass sie mir durch ihr Taschentuch, das sie vor dem Mund hielt, auf die Schuhe kotzte. Das war gar nicht mal das Schlimme. Eklig wurde es, als sie versuchte, mit ihrem bekotzten Tempotuch den gelben Schleim vom Boden zu wischen. Dann wieder packen die morgens ihre mitgebrachten Käsebrote aus, sobald sie unter der Haube sitzen und ein Tässchen Kaffee vor ihnen steht. Oder sie schlafen ein. Und zwar so tief und fest, dass man Herzklopfen kriegt, weil man meint, dass die aus Versehen unbemerkt verstorben sind. Und wenn die nicht essen, nicht schlafen und nicht tot sind, dann erzählen die … faseln bis einem fast der Schädel platzt. Man lernt allerdings, auf Durchzug zu stellen und ab und an zu nicken und „Hm-Hm“ zu sagen. Dennoch sind die alle hauptsächlich lieb und nett. Besonders Rosalie. Die ist ungefähr tausend Jahre alt, kommt jeden Freitag und kriegt handgelegte Wasserwellen. Rosalie darf aber nur ich sie nennen, weil sie auch nur mich an ihre Haare lässt. Die fünf Euro Trinkgeld sind natürlich ein Pluspunkt, denn die meisten geben bloß ein bis zwei.
Momentan hab ich allerdings nicht ganz so viel mit Kunden zu tun, weil sich das dritte Lehrjahr auf die Gesellenprüfung im Sommer vorbereitet. Eigentlich hätte ich schon längst anfangen sollen, Theorie zu lernen, aber … na ja. Gleich bin ich mit Nico im Schlosspark verabredet, das ist auf jeden Fall wichtiger.
Zum Glück scheint der Winter sich langsam zu verpissen. Es ist zwar noch kalt, aber wenigstens sonnig. Nico, der bereits auf mich wartet, hat auf seine Strickmütze verzichtet, was von Vorteil ist, weil seine Haare in der Sonne wieder so hübsch rötlich schimmern. Eine Weile laufen wir durch den Park und ich muss den Drang niederkämpfen, seine Hand zu halten.
„Was studierst du eigentlich?“, fragt er.
„Gar nichts. Ich werd Friseur.“
„Oh, tut mir leid, ich dachte …“
„Das muss dir nicht leid tun. Niemand hat mich gezwungen, ich hab mir das selbst ausgesucht.“
„Warum?“
„Weil’s ein toller Beruf ist?“, schlage ich vor und merke, dass meine Stimme etwas schrill wird.
„Na ja, aber doch nicht unbedingt … anspruchsvoll, oder? Das bisschen Haare schneiden könnte vermutlich jeder.“
„Du hast offenbar null Ahnung“, rege ich mich auf. „Oder könntest du mir mal eben die chemischen Vorgänge bei der Dauerwelle erklären? Oder beim Färben? Sag mir doch mal, was pointen und slicen ist und mit welchen Werkzeugen man das macht. Aufm Klavier oder ’ner Gitarre rumzuklimpern ist auch nicht so anspruchsvoll. DAS kann nun wirklich jeder.“
„Feli“, seufzt er, „was läuft falsch bei uns? Wieso rege ich dich ständig so auf?“
Hm, er steckt voller Vorurteile!
„Weiß nicht.“
„In Ordnung, dann lass uns über was anderes sprechen.“
„Sehr gerne.“
Sonst kommt er noch damit, dass alle Friseure schwul sind und alle Friseurinnen dumme Schmink-Tussis.
„Ist dein Vater Pate einer Familie oder nur ein kleiner Fisch bei der Mafia? Und wie ist das … trittst du später in seine Fußstapfen?“
Sorry, aber der musste jetzt sein!
„Dann müsste ich dir jetzt ein Angebot machen, das du nicht ablehnen kannst, was?“, lacht er.
„Meine Eltern betreiben, wie sich das für unsereins gehört, eine Eisdiele.“
„Welche?“
„Eiscafé Da Silva. Meine Eltern waren bei der Namensgebung nicht sehr originell.“
„Das gehört euch? Da gibt’s das beste Eis.“
„Logisch“, zwinkert er.
Das Lokal ist mir in lustiger Erinnerung. Letzten Sommer war ich mit meiner Schwester da, am Nebentisch saß eine Familie und das Kind verlangte höflich ein Donald-Schmickymaus! Es bekam dann allerdings Pinocchio, was dem Kind jedoch nicht weiter auffiel.
„Was machen deine Eltern?“, fragt er.
„Nichts Besonderes.“
„Okay, da wir jetzt praktisch alles von einander wissen … erzählst du’s mir?“
„Was’n?“
„Ob du auf Kerle stehst und was zwischen dir und dem Punk läuft.“
„Silas und ich sind Freunde.“
„Und ich dachte, du hättest was mit ihm.“
„Das ist ewig her.“
„Aber du hattest.“
„Das war nichts Ernstes, nur Sex. Jetzt sind wir, wie schon gesagt, Freunde.“
„Deshalb hängst du in letzter Zeit so oft bei den Bandproben rum?“
„Warum wohl sonst?“
„Weiß nicht“, antwortet er und bleibt stehen. „Es gibt Leute, die behaupten, du wärst scharf auf mich.“
Okay, ich spreng mich in die Luft. Augenblicklich.
„Was denn für Leute?“
„Leute halt.“
„Und wenn’s so wäre?“
Hä? Bin ich spontan blöd geworden?
„Würd mich nicht stören“, entgegnet er achselzuckend. „Schließlich ist es immer schmeichelhaft, wenn man toll gefunden wird. Egal von wem.“ Plötzlich schaut er auf seine Uhr. „Ich muss los. Danke für den Spaziergang.“
„Ja.“
„Also … bis dann.“
Cool, das war’s wohl. Der wird sich nie wieder bei mir melden. Scheiße, ich hab’s versemmelt. Was musste ich ihm auch unbedingt auf die Nase binden, dass ich auf ihn stehe?
Gerade hat Nico angerufen, um sich mit mir zu verabreden. Für heute Abend. Vielleicht war es doch nicht so verkehrt, mit offenen Karten zu spielen. Oder sagen wir mit halboffenen. Immerhin habe ich nicht wirklich zugegeben, dass ich ihn auf diese spezielle Art anziehend finde. Eigentlich bin ich doch eher hypothetisch geblieben. Außerdem, wenn es ihn nicht stört, besteht ja möglicherweise doch der Hauch einer Chance …
Nachdem ich meine Wohnung aufgeräumt habe, ziehe ich mich ungefähr zwanzig Mal um und finde mich bemerkenswert hässlich … im Gegensatz zum Italiener. Meine Haare gehen, ich trage sie schwarz und auf Emo gestylt, weil das am besten zu mir passt. Ein paar Ponysträhnen sind immer farbig, weil nur schwarz langweilt. Wenn ich wüsste, was Nico vor hat, könnte ich mich klamottentechnisch drauf einstellen. Will er ausgehen? In einen Club, ins Kino, was essen? Oder bleiben wir einfach hier? Scheiße, da hätte ich vielleicht einkaufen sollen. Der Kühlschrank gibt nicht viel her. In meinem Vorratsregal liegen ein paar Fertiggerichte für die Mikrowelle neben einer Dose Ravioli. Süßigkeiten wären eigentlich genug da gewesen, wenn Silas meinen Bestand nicht dramatisch reduziert hätte. Egal. Wenn alles gut läuft, kommt Nico nicht her, um sich satt zu essen, sondern, um mit mir ins Bett zu gehen. Ha, ha, Feli, hör auf zu träumen!
Pünktlich um halb acht steht Nico auf der Matte. Sein Anblick raubt mir wie immer den Atem. Und er macht mir ziemlich schnell klar, dass er es heute gemütlich haben will, denn er lümmelt sich gleich auf die Couch und packt zwei Flaschen Rotwein aus. Romantiker, der ich bin, zünde ich dazu ein paar Kerzen an. Scheiße ey, ich hasse Rotwein. Besonders trockenen. Das Gesöff zieht einem fast die Schuhe aus.
„Du hast es echt gut, dass du allein lebst“, behauptet er. „Im Wohnheim ist andauernd was los, Party und so, immer sehr laut.“
„Stehst du nicht auf Partys?“
„Manchmal schon, aber nicht jeden zweiten Abend.“
Das flackernde Kerzenlicht lässt Nicos Gesicht noch schöner erscheinen. Schön und geheimnisvoll. Seine Lippen sehen unglaublich weich aus. Du meine Güte, wie soll man dabei nicht den Verstand verlieren?
„Warum wohnst du nicht Zuhause bei deinen Eltern?“
„Na ja, es war einfach Zeit, das Nest zu verlassen.“
„Und wieso dann keine eigene Wohnung?“
„Ich hatte keinen Nerv, lange herumzusuchen. Feli, ich hab nachgedacht“, sagt er und nippt aristokratisch an seinem Wein.
„Aha.“
„Über dich und diese Sache.“
„Sache?“
„Sex.“
Vor Schreck kriege ich den verdammten Fusel in die falsche Röhre und muss mich kaputt husten.
„Ich kann mir das nicht vorstellen … also, dass du Sex mit Männern hast.“
„Es ist ja nicht so, dass ich gleich jeden Typen bespringe, den ich sehe.“
„Schon klar, ich meine generell. Auf Partys sieht man oft Jungs, die miteinander rumknutschen …“
„Das ist momentan ziemlich hip. Ich denke nicht, dass die alle schwul sind.“
„Wahrscheinlich. Es muss aber was dran sein, sonst würden es nicht so viele tun.“
„Schätze, das ist bei Heten ungefähr ähnlich. Die knutschen auch rum. Manchmal, weil sie verliebt sind, und manchmal just for fun.“
„Ja, aber Sex mit Männern, das ist doch … das fühlt sich doch sicher anders an.“
„Keine Ahnung. Mir gefällt’s.“
„Immer schon?“
„Eigentlich ja. Ich hatte zwar auch mal was mit einem Mädchen, aber das war’s halt nicht.“
„Und mit Jungs … mit Silas … das war … wie?“
„Silas war ja nicht der erste, aber auf jeden Fall war er bis jetzt der beste“, plaudere ich ungeniert aus dem Nähkästchen. Das liegt an dem verdammten Fusel! „Warum stellst du mir solche Fragen?“
„Weißt du, ich stehe auf Frauen.“
Damit hat er meine sowieso schon wacklige Illusion von Nico und Feli in love vollends zerstört.
„Allerdings kenne ich auch nur das.“
„Hm…“
„Dabei würde es mich wirklich interessieren, wie es zum Beispiel ist, einen Jungen zu küssen.“
Meine Illusion schaufelt sich gerade aus ihrem Grab und schnappt hoffnungsfroh nach Luft. Vor allem, weil Nico näher an mich heranrückt. Sehr viel näher.
„Möchtest du es ausprobieren?“
Er neigt den Kopf zur Seite und sieht mich an. „Ich glaube schon.“
Okay, das war eine Aufforderung, ja. Ich drücke meinen Mund auf seine Lippen, die tatsächlich irre weich sind. Mein Herz klopft wie bescheuert und mein gesamter Körper steht quasi in Flammen, als seine Zunge gegen meine tippt und sich danach leider sehr schnell wieder zurückzieht.
„Und?“
Der schöne Italiener leckt sich leicht die Lippen. „Anders.“
„Anders gut oder anders schlecht?“
„Einfach anders“, wispert er und küsst mich erneut.
Dieser Kuss dauert länger und er ist intensiver. Dass ich momentan lediglich so was wie ein Versuchsobjekt bin, ist mir doch latte. Wie war das noch mit dem geschenkten Gaul?
„Du bist sehr süß“, lächelt Nico irgendwie überrascht.
Und geil. Okay, no risk no fun!
„Ist deine Neugier damit befriedigt oder …“
„Oder?“
„Es gibt ja noch andere Dinge, die Jungs miteinander machen.“
Nico zieht vielsagend eine Braue hoch.
„Willst du noch was wissen?“
„Ja“, flüstert er mir ins Ohr, dass ich fast schon komme, „alles.“
Wow, Nico meint tatsächlich, was er gesagt hat. Nur ein bisschen rumzumachen ist ihm eindeutig zu wenig. Also vernasche ich den schönen Italiener nach allen Regeln der Kunst.
Einige Tage später fühle ich mich immer noch völlig entrückt, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich in die Sache nicht so reinzusteigern, denn man weiß ja nicht, was daraus wird. Kann doch sein, dass es eine einmalige Angelegenheit für Nico war. Er wollte was ausprobieren und hat festgestellt, dass er’s mit Frauen besser findet. Andererseits bin ich mir ziemlich sicher, dass es ihm gefallen hat. Aber vielleicht ist das auch Wunschdenken. Oder es lag am Wein. Viel darüber geredet haben wir hinterher nicht. Wir sind irgendwann eingeschlafen und am nächsten Morgen hat er sich relativ schnell aus dem Staub gemacht. Er hat zwar gesagt, dass er mich anruft, aber das sagt wahrscheinlich jeder nach ’nem One-Night-Stand. Ich kann eigentlich nichts tun, außer zu warten. Auf keinen Fall sollte ich ihm weiterhin bei irgendwelchen Proben oder im Wohnheim auflauern. Peinlich genug, dass sämtliche Weiber der Uni den Boden küssen, auf dem er wandelt. Ich will nicht, dass er denkt, ich wäre wie diese Graupen. Das Blöde ist, die Nacht mit dem Italiener hat mich dermaßen euphorisiert, dass ich permanent grinse und wie auf Wolken laufe. Ich muss das echt in den Griff kriegen, meine Chefin hat heute schon gefragt, ob ich im Lotto gewonnen hätte. Wenn die wüsste, dass ich den absolut wahnsinnigsten Sex mit dem schönsten Menschen des Universums hatte, würde sie meinen Zustand verstehen, nehme ich an. Nico war so … bezaubernd … hinreißend … seine Haut ist weich wie Samt und seine Berührungen … mir fehlen einfach die Worte.
Abends, ich wollte mich gerade zwecks Ablenkung vor die Glotze hocken, klingelt’s bei mir.
„Hey“, strahlt Nico und hüpft die letzten Treppenstufen rauf.
„Hallo“, begrüße ich ihn überrascht.
„Ich hatte Lust, dich zu sehen. Ist das okay?“
„Äh… klar.“
Offenbar hat er auch Lust, mich zu küssen, denn kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, hängt Nico schon an meinen Lippen. Ich fühle mich leicht überrumpelt, als er mich Richtung Schlafzimmer schiebt.
„Was?“, fragt er. „Heute so schüchtern?“
„Eher irritiert.“
„Verstehe ich nicht. Du hast mich verführt und jetzt bist du irritiert, weil ich’s nochmal will?“
„Ich hab irgendwie nicht damit gerechnet, dass es so einfach ist“, gebe ich zu.
„Mich ins Bett zu kriegen?“, grinst er sexy.
„Genau das. Zumal du wohl so was wie ein Frauenschwarm bist.“
„Ich hab halt eine Schwäche für schöne Dinge.“
„Ich bin kein Ding.“
„Aber schön“, zwinkert er und schubst mich auf die Matratze.
„He, wie kommst du überhaupt darauf, dass ich dich verführt habe?“
Langsam beugt er sich über mich, zieht mir das Shirt aus und öffnet die Knöpfe meiner Jeans. „Etwa nicht?“
„Du wolltest wissen …“
„Und du hast es mir gerne gezeigt, mh? Wie auch immer …“, er küsst meinen Hals, meine Brust und leckt ein bisschen an meinen Nippeln, „ich bin Perfektionist und da diese Art der Sexualität neu für mich ist …“
Also, blasen kann er schon ziemlich perfekt. Du meine Güte, mir ist, als würde ich bunte Sterne sehen!
„Ich hätte nie gedacht, dass es so sinnlich sein kann, einen anderen Mann zu berühren“, flüstert Nico hinterher, „zu küssen und … zu lieben.“
Ach du Scheiße, der redet wie ein Schnulzenroman. Keine Ahnung, ob ich mich daran gewöhnen möchte. Die Jungs, mit denen ich zusammen war, waren da eher sehr direkt.
Und Silas zum Beispiel mag’s ganz gerne dreckig.
„Du hast mir echt den Kopf verdreht.“
„Und du mir erst“, entgegne ich und küsse ihn.
Ich muss es Silas sagen. Er hat eh schon gemerkt, dass etwas los ist, und außerdem kann ich das einfach nicht mehr für mich behalten. Nico und ich treffen uns jetzt seit ein paar Wochen, haben uns allerdings trotzdem nicht oft gesehen, weil ich arbeite und er irgendwelche Hausarbeiten schreiben und auf seinen tausend Instrumenten üben muss.
Silas lümmelt wie immer auf der Couch und frisst mir die Haare vom Kopf. Kaum hab ich Süßigkeiten eingekauft, sind sie auch schon wieder weg.
„Spuck es endlich aus, Kleiner“, fordert er an einem Kinderschokoriegel lutschend.
„Hm?“, tue ich, als wüsste ich nicht, was er meint.
„Ich sehe dir an deiner süßen Nasenspitze an, dass du mir was erzählen willst. Sicher über den langweiligen Italiener.“
„Nico ist nicht langweilig.“
„Ein Spaziergang im Schlosspark würde mich persönlich jetzt nicht so vom Hocker reißen.“
„Du hast ja auch keinen Sinn für Romantik.“
„Ich habe dir mal beim Kotzen die Haare nach hinten gehalten, Junge, das ist Romantik pur.“
„Das war höchstens … nett.“
„Entschuldige, dass ich keine rote Rose parat hatte, die ich in deine schwarzen Flechten hätte stecken können“, entgegnet er. „Also, was ist mit Nico? Ist er noch mal mit dir spazieren gegangen, Romeo?“
„Nein, er ist mit mir ins Bett gegangen.“
„Aha“, sagt er und glotzt gelangweilt auf seine Fingernägel, aber der macht mir nichts vor. Er ist sicher ebenso überrascht darüber, wie ich es immer noch bin.
„Du bist ein Arsch“, finde ich.
„Ich hab nie daran gezweifelt, dass du ihn rumkriegen könntest, wenn sich die Gelegenheit bietet. Du bist süß und stellst dich geschickt beim Blasen an, da wird sogar eine Hete schwach. Seid ihr jetzt zusammen oder war’s eine einmalige Sache?“
„Es war mehrmals“, grinse ich wie bekifft.
„Mich würde interessieren, was seine Freundin dazu sagt.“
Mein Grinsen stirbt reflexartig.
„Was für eine Freundin?“
„Na, eine von den Haremsdamen ist sicher seine Freundin.“
Ah, okay, mein Herz schlägt wieder. Ich dachte schon, Silas wüsste tatsächlich irgendwas.
„Von wegen. Nico ist mit mir zusammen.“
„Na, dann ist doch alles dings … im Lack, oder so.“
„Sehr richtig.“
„Darf ich bitte morgen bei der Probe blöde Sexsprüche reißen, wenn der Italiener kommt?“
„Auf keinen Fall, Vollidiot.“
Silas lacht sich kaputt.
„Cool. Ich bin dann mal weg“, erklärt er, zieht Schuhe und Jacke an, schnappt sich noch ein paar Schokoriegel und … ist dann mal weg.
Ich kann nur hoffen, dass er sein verdammtes Maul hält! Silas ist nicht eine Sekunde über den Weg zu trauen.
Eigentlich weiß ich gar nicht, ob Nico und ich zusammen sind. Es fühlt sich zwar so an, aber ausgesprochen hat es bisher keiner. Andererseits muss man so was doch nicht extra sagen, oder? Wir sind schließlich keine Zwölfjährigen, die sich in der Schule heimlich kleine Willst-du-mit-mir-gehen-ja-nein-vielleicht-Zettel schicken. Dass er normalerweise auf Frauen steht, ist auch ein Problem. Weil ich keine Ahnung hab, ob er bei mir immer noch in der Probephase steckt. Ist er eine Hete, die bloß mal was Neues will? Oder ist er bi und hat sich eben einfach vorher noch nicht getraut? Ich finde es schon schwer genug mit Jungs, die genau wissen, was Sache ist. Jetzt hab ich so halbwegs einen Freund und keinen blassen Schimmer, was in ihm vorgeht. Und wenn er sich übermorgen entscheidet, dass er genug homosexuelle Erfahrungen gesammelt hat und mich abschießt, um glücklich mit irgendeiner seiner Graupen zusammen zu sein? Womöglich noch mit der dürren Haxen-Tussi. Ich muss sofort sterben.
Am nächsten Abend steht Nico mit Einkaufstaschen vor der Tür. Aus einer lugt irgendein Gemüse. Er küsst mich zur Begrüßung, stiefelt sogleich in die Küche und breitet seinen Einkauf auf dem Tisch aus.
„Ich koch uns was“, behauptet er fröhlich.
„Okay?“
„Das ist nichts Besonderes“, grinst er, „ich bin Italiener … wir kochen andauernd.“
Ich nehme stark an, dass er den Begriff vollkommen anders definiert als ich. Für mich heißt Kochen schon, irgendeinen Fertigfraß in die Mikrowelle zu stellen. Und wenn ich Appetit auf was „Richtiges“ habe, lade ich mich bei Mama zum Essen ein. Scheiße, Nico hat den widerwärtigen Rotwein mitgebracht. Allein bei dem Gedanken an das ätzende Gesöff ziehen sich meine sämtlichen Geschmacksnerven zusammen. Aber ich bringe es nicht fertig, ihm zu sagen, dass ich sein Lieblingsgetränk ablehne, immerhin will er für mich kochen und das hat noch kein Kerl getan. Verzückt schaue ich ihm dabei zu, wie er Zeugs klein schnipselt und in Töpfen herumrührt. Dass ich überhaupt Küchenutensilien habe, ist meiner Mama zu verdanken, die alles Mögliche angeschleppt hat, als ich hier eingezogen bin. Mir persönlich hätte die Mikrowelle gereicht.
„Das war natürlich keine wirklich klassische Bolognese“, erklärt Nico, als wir später zusammengekuschelt auf der Couch sitzen, „die hätte viel zu lange gedauert.“
„Schmeckte trotzdem besser, als alles, was ich bisher gegessen habe.“
„Danke. Ich wollte es dir nicht gleich sagen, aber dein Silas hat mir heute nach der Probe Prügel angedroht.“
Entsetzt rücke ich von ihm weg.
„Wie bitte?“
„Für den Fall, dass ich nur mit dir spiele und dir weh tue.“
Okay, Silas kriegt auf alle Fälle von mir eine Tracht Prügel. Und die wird ihm sehr wehtun!
„Silas ist als Kind mal schlimm auf den Kopf gefallen. Seitdem hat er einen Dachschaden. Nimm das bloß nicht ernst.“
„Er scheint dich gern zu haben“, zuckt Nico die Schultern. „Sehr gern.“
„Deshalb braucht er noch lange nicht als Rambo durch die Gegend zu laufen. Der spinnt wohl.“
„Du hättest ihm ja nicht erzählen müssen, dass wir uns mögen.“
„Wieso? Ist das ein Geheimnis?“
„Nein“, schüttelt er lächelnd den Kopf, „natürlich nicht. Aber offenbar kann er mit dieser Information nicht gut umgehen. Nebenbei, ich würde niemals mit den Gefühlen anderer Menschen spielen. Und mit deinen sowieso nicht.“
„Dann hast du ja nichts zu befürchten“, strahle ich verliebt bis zum Gehtnichtmehr.
Silas hat sich aus dem Staub gemacht, die feige Ratte. Ist über die Ostertage nach Hause zu seinen Eltern gefahren. Ha! Der wollte nicht, dass ich ihm eins auf die Nuss gebe. Nico ist übrigens ebenfalls ein paar Tage verreist, was natürlich viel schlimmer ist, denn ich vermisse ihn wie verrückt. Ich selbst habe logischerweise von irgendwelchen Osterferien rein gar nichts, weil ich eh nur einmal die Woche zur Schule gehe und wenn die ausfällt, muss ich arbeiten. Urlaub krieg ich erst im Sommer. Und zwar vielleicht einen sehr langen, falls ich die Prüfung bestehe und mir einen neuen Laden suchen muss. Das heißt, meine Chefin hat ganz gute Kontakte und bereits einen coolen Salon für mich ausgesucht. Aber will ich tatsächlich nach der Ausbildung hundert Jahre als Friseur arbeiten? Ich könnte eigentlich noch locker ein Chemiestudium beginnen. Allerdings kostet mein Leben Geld und das muss ja irgendwie verdient werden. Ich glaube, Silas studiert überhaupt nur, weil er keine Lust auf irgendeinen Acht-bis-fünf-Job hat, sondern lieber mit seiner Band groß rauskommen möchte. Nico … keine Ahnung, wir reden kaum über solche Sachen, wenn wir zusammen sind. Oh Mann, Hauptsache, ich sehe meinen schönen Italiener bald wieder.
Zuerst sehe ich Silas wieder, den ich sogleich zur Schnecke machen will, aber … na ja, er steht vor der Tür und hält mir niedlich grinsend einen Schokohasen vor die Nase. Wie soll man da bitte sauer bleiben?
„Ist das deine Art, dich zu entschuldigen?“
„Wieso?“, fragt er und setzt sich auf die Couch. „Hab ich was verbrochen?“
„Äh… du willst meinen Freund verdreschen?“, helfe ich ihm auf die Sprünge.
„Ach das“, sagt er achselzuckend.
„Ja, es wäre schön, wenn du dich nicht in meine Angelegenheiten mischen würdest.“
„Was ist das denn für eine Lusche, die gleich petzen geht?“
„Das ist nicht der Punkt.“
„Ich wollte ihm nur klar machen, dass er unter Beobachtung steht.“
„Und das tut er, weil …?“
„Ich dem Italiener nicht übern Weg traue“, erklärt er.
„Ich traue ihm, das reicht ja wohl. Seit wann habe ich dich überhaupt zu meinem Beschützer erkoren?“
„Das würdest du für mich doch auch tun.“
„Du kannst sicher gut auf dich selbst aufpassen … bei deiner Erfahrung im Faustkampf.“
„Stimmt. Denn ich verliebe mich im Gegensatz zu dir nicht in irgendwelche Klemmschwestern.“
„Wo hast’n das Wort her? Ausm Schwulenlexikon?“
„Warum geht er mit dir nicht aus? Wieso trefft ihr euch immer nur hier … wo euch keiner sieht, mh? Traut er sich nicht mit dir in die Öffentlichkeit?“
„Vielleicht will er einfach die wenige Zeit, die uns zur Verfügung steht, allein mit mir verbringen. Wenn man verliebt ist, braucht man keine Öffentlichkeit, Arschloch.“
„Kann natürlich alles sein“, nickt er. „Tut mir leid, aber Typen, die sich dermaßen demonstrativ mit Frauen zeigen und hinter verschlossenen Türen mit Kerlen schlafen, sind mir suspekt.“
Mir ja auch. Aber wir reden hier von Nico, verdammt nochmal.
„Ich finde, wir sollten das Thema wechseln.“
„Klar, von mir aus.“
„Wie war’s bei deinen Eltern?“
Silas zieht eine Grimasse. „Treffer, versenkt. Vielen Dank.“
Als er zwei Stunden später gegangen ist, tut mir die Frage doch noch ein bisschen leid. Ich weiß, dass Silas sich nicht besonders mit seinen Eltern versteht. Das liegt hauptsächlich an seiner äußeren Erscheinung. Ein abgerissener Punk passt eben nicht in eine Familie von Ärzten und angehenden Architekten. Papa ist Kieferchirurg, Mama Zahnärztin. Sein Bruder, Silvester, studiert Architektur. Schade, dass meine Eltern nur gewöhnliche Leute sind, sonst hätte ich bestimmt auch so einen tollen Namen. Na ja, man kann nicht alles haben. Ha, ha … Silas und Silvester, du meine Güte, Herr und Frau Doktor haben wahrscheinlich bloß zu viel Lachgas inhaliert. Meine Eltern sind echt in Ordnung, die mögen mich wie ich bin … selbst wenn ich Punk wäre, würden sie mich lieben. Dass ich schwul bin, ist Zuhause keine große Sache, ich könnte problemlos meinen Freund zum Essen oder so mitbringen. Silas darf jedenfalls mit zu meinen Eltern, allerdings kennen die ihn ja auch noch als Kind und ich bin bei ihnen nicht unbedingt damit hausieren gegangen, dass wir irgendwann mal Sex hatten. Aber durch den Begrüßungskuss, den er mir mal vor Mama und Papa verpasste, könnten sie natürlich schon auf so einen Gedanken gekommen sein.
Einige Tage nach Silas taucht Nico ebenfalls wieder auf. Und wir landen gleich wieder im Bett. Dagegen hab ich ja eigentlich nichts, aber das Gespräch mit Silas ist mir irgendwie im Gedächtnis geblieben. Außerdem frage ich mich, wieso Nico immer seinen ekelhaften Fusel braucht, um sich flachlegen zu lassen? Andererseits ist er Italiener, die saufen ständig Rotwein.
„Ich hab dich vermisst“, säuselt Nico romantisch.
„Wieso gehen wir nie raus?“, bollert es aus meinem Mund.
„Hm?“
„Wir sind andauernd in meiner Wohnung. Willst du nicht mit mir gesehen werden? Weil keiner wissen soll, dass du … dass wir …“
Nico reißt überrascht seine Augen auf. „Du denkst … Feli, ich hab dich nun mal gerne für mich ganz allein.“
Ah… wie süß!
„Aber wenn du ausgehen möchtest … kein Problem. Wie wäre es mit Kino?“
Na toll, da ist’s ja auch dunkel und niemand sieht uns. Warum hat er mich nicht gleich zu einer Runde in der Geisterbahn eingeladen? Oder bestellt mich heimlich in einer finsteren Nacht zu der alten Eiche vor den Toren der Stadt?
„Wir könnten uns am Samstag Dark Shadows anschauen“, schlage ich vor.
„Den hab ich schon mit … Freunden gesehen.“
„Ach so. Ich nicht“, erkläre ich etwas enttäuscht.
„Meinetwegen. Der ist so toll, den kann man sich auch zweimal ankucken.“
„Also sind wir am Samstag verabredet?“
„Klar“, lächelt er.
So, mein lieber Silas, das ist ja wohl der Beweis dafür, dass deine bescheuerte Theorie nicht stimmt!
Leider ruft Nico mich Freitagnachmittag an und teilt mir mit, dass er vor lauter Verliebtheit irgendeine Familienfeierlichkeit vergessen hat, an der er unbedingt Samstag teilnehmen muss. Unser Kinobesuch fällt somit ins Wasser. Das heißt, er verschiebt ihn auf nächste Woche.
Dark Shadows hab ich mir mit Silas angesehen. Der hat die ganze Zeit Johnny Depp angeschmachtet, es war fürchterlich. Obwohl … also Johnny ist als Vampir echt hinreißend. Und niedlich. Und lustig. Ich mag eh Depp/Burton-Filme. So, und eine Woche später, als Nico und ich verabredet waren, ist er plötzlich krank geworden. Erkältung. Das kann etwas bedeuten, muss es aber nicht. Nico fürchtet sich nämlich ständig vor Erkältungskrankheiten. Besonders vor solchen, die mit Halsentzündungen und Kehlkopfbedrängnis einhergehen. Logisch, immerhin braucht er seine Stimme fürs Studium. Ich steig da nicht so ganz durch, was er alles studiert … Gesang scheint jedenfalls irgendwie dabei zu sein. Dazu kennt er sich noch wahnsinnig gut mit altertümlichen Instrumenten aus … Schalmei, Laute, verschiedene Flöten, Cembalo, Dulcimer, Psalter-irgendwas, Sackpfeifen, Drehleier … allerdings kann er davon nur ein paar spielen. Du meine Güte … und ich drehe Omas die Haare auf! Silas kennt diese ganzen Instrumente übrigens auch, allerdings hält er mir darüber niemals Vorträge. Na ja, Nico ist halt ein absoluter Musikfreak. Manchmal ein bisschen zu freakig für meinen Geschmack. Aber eben nur manchmal.
Heute ist es soweit. Heute gehen Nico und ich endlich ins Kino. Bis jetzt hat er noch nicht abgesagt, das ist ein gutes Zeichen, denn wir treffen uns bereits in einer Stunde. Logischerweise hat er einen Musikfilm ausgesucht. Farinelli. Läuft außer der Reihe im Rahmen irgendeines speziellen Programms, das heißt, dass vermutlich nicht viele Leute da sein werden. Egal, ich mache mich jetzt auf den Weg.
Nico wartet vorm Kino, die Karten hat er schon gekauft. Wie aufmerksam, ich bin offenbar eingeladen. Das Popkorn und die Getränke übernimmt er ebenfalls. Wow, was für ein Gentleman! Der Film ist okay, schöne Bilder und so, aber … hm, vielleicht liegt es an der nervigen Synchronstimme von der Farinelli-Type. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kastraten so krächzig geredet haben. Allerdings kann man sich auch nicht vorstellen, wie Kastraten in echt gesungen haben. Der Gesang im Film ist nämlich ein elektronisches Mischwerk aus den Stimmen eines Countertenors und einer Koloratur-Sopranistin … weiß Nico.
„Ja, klar“, tue ich so, als wäre mir das total bekannt.
„Ich hab eine CD von Alessandro Moreschi, dem letzten und einzigen Kastraten, von dem Tonaufnahmen existieren. Aber der Gesang klingt eher schauerlich, als dass man einen Eindruck bekommt, wie Kastraten tatsächlich geklungen haben. Ehrlich gesagt … er jallert, als täte ihm was weh“, grinst er, als wir hinterher in einer Bar noch was trinken. „Na ja, als die Aufnahmen entstanden, hatte er wohl schon ziemlich an Stimmumfang verloren.“
„Hm…“, sage ich.
„Entschuldige, wenn ich dich langweile oder dir auf die Nerven gehe.“
„Tust du nicht. Ich finde das sehr interessant. Hast du zufällig mal Falsetto von Anne Rice gelesen?“
„Hab’s in Erwägung gezogen. Aber bereits die Inhaltsangabe war mir ein bisschen zu … ähem…“
„Schwul?“
„Zu viel schwülstige Geschichte drumherum. Ich möchte nicht wissen, mit wem Kastraten Sex hatten oder an wem sie sich rächen wollten. Mich interessieren Gesang und Musik.“
Also bei mir ist das genau umgekehrt. Beispielsweise wusste ich vorher nicht, dass Kastraten überhaupt Sex haben konnten. Ha, ha, deshalb waren die bei der Damenwelt ja so wahnsinnig beliebt … Spaß haben, ohne unschöne Konsequenzen befürchten zu müssen!
„Liest du denn niemals was zur Unterhaltung?“
„Wenn ich Zeit habe durchaus.“
„Was’n?“
„Letztens … Mein innerer Elvis. Glaube kaum, dass du …“
„Die kleine Schwester mit der Reptilienaugenbrille, die ihren Urin sammelt, ständig Psychotherapie spielt und nach Orgasmen fragt“, unterbreche ich ihn lachend.
„Genau. Das fand ich irre lustig. Ungefähr so lustig wie vorhin die Szene, in der Farinelli den alten Händel quasi zu Tode gesungen hat“, kichert er.
„He, das sollte dramatisch sein, du Banause.“
„Ja … war’s aber irgendwie nicht, oder? Da konnte Lascia ch’io pianga auch nichts retten.“
Ich bin sehr froh, dass Nico doch ein normaler Mensch ist. Und dass es ihm nichts ausmacht, mit mir gesehen zu werden. Die Bar ist gut besucht. Andererseits, wir sitzen nicht wer weiß wie dicht beisammen, halten nicht Händchen und machen auch sonst nichts Verliebtes. Man könnte meinen, wir wären lediglich gute Freunde, die was trinken. Ihm jetzt einen Kuss zu geben, traue ich mich nicht. Vielleicht würde ihn das überfordern oder erschrecken. Keine Ahnung. Man muss ja seine Homosexualität auch nicht immer und überall …
„Das war ein schöner Abend“, lächelt Nico, rückt ein Stück näher, legt seine Hand auf meine und streichelt mit dem Daumen meinen Handrücken. Dann küsst er hauchzart meine Wange.
Mein gesamter Körper kribbelt und fühlt sich bemerkenswert wie Gummi an. Vor allem meine Beine, beim Verlassen des Lokals.
„Ich würde gerne die Nacht mit dir verbringen, aber ich muss morgen früh raus.“
Dass auf meinem morgigen Plan ab acht Uhr Dauerwellen und Omaköpfe stehen, ist mir so was von latte. Ich würde die Nacht durchmachen. Na ja. Nico verabschiedet sich mit einem super zärtlichen Kuss und ich gehe nicht nach Hause … ich schwebe!
Der nächste Tag ist Freitag und Rosalies Haar bereits gewaschen. Hastig kippe ich meinen Kaffee runter und schiebe die kleine Praktikantin zur Seite, die mir schon seit einer Woche andauernd im Weg rumsteht. Ich glaube, die ist ein bisschen verknallt in mich, bei den anderen guckt die nie zu. Was soll’s, ich mache mich an die Arbeit, forme perfekte Wellen und fixiere sie mit den Kämmen.
„Sebastian, mein Junge, Sie scheinen mir heute besonders gut aufgelegt zu sein.“
„Bin ich doch immer.“
„Natürlich, aber heute … irgendetwas stimmt doch nicht mit Ihnen.“
„Alles in Ordnung“, zucke ich die Schultern und nehme mir selbst einen Kamm, weil die kleine Praktikantin beim Anreichen zu lahmarschig ist.
„Ich glaube, da steckt ein Mädchen dahinter. Muss ich eifersüchtig sein?“, scherzt meine Kundin.
„Kein Mädchen, kein Grund zur Eifersucht“, grinse ich.
„Na, also dann ist es ein Junge“, entgegnet sie trocken.
Vor Schreck schmeiße ich erst mal den Kasten mit den Kämmen und Wicklern vom Wagen. Die arme kleine Praktikantin muss alles aufheben.
„Erwischt“, lächelt Rosalie. „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. Ist doch schön, wenn man frisch verliebt ist.“
Ich kann im Spiegel meinem Gesicht beim Rotwerden zugucken. Plötzlich dreht sie sich um, greift nach mir und zieht mich zu sich runter.
„Sie sind doch wohl nicht noch im Schrank?“
„Bitte?“
„Sagt man das nicht so?“
„Doch, ich meine … nein, also … äh… ein Geheimnis ist es nicht.“
„Ich hab mir das bei Ihnen von Anfang an gedacht“, behauptet sie und lässt mich los, damit ich meine Arbeit fortsetzen kann. „Sie sind viel zu hübsch, um heterosexuell zu sein.“
„Danke“, sage ich hilflos.
Die kleine Praktikantin hat sich übrigens soeben aus dem Staub gemacht. Rosalie schüttelt irritiert den Kopf.
„Jedenfalls, die Freundin meiner Enkeltochter ist lesbisch. Sehr nettes Mädchen. Hat großen Krach mit ihren Eltern deswegen. Eine Schande ist das, wenn Sie mich fragen. Ich hoffe, dass Obama Präsident bleibt, ich kann den Romney nicht ausstehen. Was meinen Sie, Sebastian?“
Meine Güte, die hat vielleicht Gedankensprünge.
„Ja, klar“, nicke ich, drapiere das Haarnetz auf ihrem Kopf und zerre die Haube zurecht. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“
„Sie sind aber ganz schön durch den Wind“, bölkt Rosalie gegen das Haubengetöse an. „Ich hätte gern ein Glas Sekt … wie jeden Freitagmorgen. Ist gut für den Kreislauf“, lacht sie.
Unglaublich, diese antiquierte Wellenfrisur mit Löckchen im Nacken steht im totalen Gegensatz zu den modernen Ansichten, die sie zweifellos hat. Aber Rosalie selbst bezeichnete ihre handgelegten Wellen mal als „klassisch und zeitlos chic“ und findet sowieso, dass es drauf ankommt, was man im Kopf hat, und nicht, welche Frisur man spazieren trägt.
Zum Glück war heute nur ein halber Tag. Als ich Zuhause bin, hole ich erst mal ein paar Stunden Schlaf nach und stecke anschließend endlich meine Nase ins Fachbuch, um mich mit Redox-Reaktionen, Schwefelbrücken, Peptidspiralen, Estern und dergleichen so vertraut zu machen, dass es für meine nahende Prüfung ausreicht.
Samstagnachmittag fällt mir auf, dass mein schöner Italiener letztens irgendein Buch über Bildmotetten bei mir vergessen hat. Da ich ihn im Augenblick telefonisch nicht erreichen kann und eh grad kurz zu meinen Eltern wollte, beschließe ich, ihm das Buch vorbeizubringen. Das Wohnheim liegt ja ziemlich auf dem Weg und außerdem hab ich dann einen guten Grund, um ihn ein paar Minuten zu sehen und zu küssen.
Relativ gut gelaunt klopfe ich also an seine Zimmertür und warte … gefühlte fünf Minuten. Scheiße, ist der nicht Zuhause, oder was?
Ah, endlich geht die Tür auf und Nico erscheint, obenrum nackig. Wie günstig.
„Hey“, grinse ich und mustere ihn anzüglich.
„Feli … was willst du denn hier?“
Mein Gute-Laune-Pegel sinkt ein bisschen.
„Was ist’n das für eine Begrüßung?“
„Entschuldige, es ist nur grad … ähem…“
„Schatz …“, ist auf einmal eine weibliche Stimme zu vernehmen.
Was zum Teufel ist hier los? Ich drücke die Tür weiter auf, stampfe ins Zimmer und möchte mich spontan übergeben. Auf Nicos Bett räkelt sich halbnackt die Zicke, der ich mal auf den Fuß gelatscht bin. Ich erkenne sie an ihren magersüchtigen Haxen.
„Verzeihung“, murmle ich fassungslos, „ich wollte nicht stören.“
„Na, dann verschwinde“, krakeelt die Zicke.
„Vivien“, faucht Nico. „Feli … warte!“
Nee, danke. Ich hab genug gesehen.
Dass ich draußen im hässlichen Eingangsbereich erst mal kurz Luft holen muss, erweist sich als Fehler, weil Nico plötzlich neben mir steht.
„Lass es mich erklären“, bittet er … immerhin ist er jetzt bekleidet.
„Was“, frage ich, „gibt es da zu erklären? Die Probezeit ist offenbar vorbei. Und ich hab sie nicht bestanden.“
„So einfach ist das aber nicht, Feli.“
Stimmt. Wenn es so einfach wäre, hätte ich grad nicht diese fiesen Herzschmerzen und wäre nicht kurz vorm Heulen.
„Sieh mal“, faselt er, „ich hab dich wirklich gern und …“
„Aha, dann hab ich mir die Trulla in deinem Bett bloß eingebildet?“
„Vivien.“
„Mir doch egal, wie die heißt. Läuft das übrigens schon länger?“
Nico streicht sich angestrengt durch die Haare.
„Also eigentlich … sind wir seit zwei Jahren …“
„Fick dich“, zische ich, spucke vor ihm auf den Boden und mache mich schleunigst aus dem Staub.
Scheiße, ey, Silas hatte von Anfang an recht und von mir aus kann er dem verdammten Italiener jetzt auch seine verdammte Fresse polieren!
Und ganz plötzlich geht einem alles auf den Sack. Die Arbeit, die fucking Lernerei, Silas, vor dem ich mich seit Tagen verstecke, weil er nicht wissen soll, dass er recht hatte, das fast schon sommerliche Wetter, das geradezu danach schreit, verliebt durch die Gegend zu schlendern … und Nico, der mich mit Anrufen bombardiert. Erwartet der wirklich, dass ich mit ihm spreche? Nachdem er ungefähr zugegeben hat, dass ich bloß eine Affäre für ihn war? Irgendetwas Exotisches, das ihn ein paar Wochen aus seinem langweiligen Hetero-Alltag gerissen hat? Wahrscheinlich lag er jedes Mal, wenn er was fürs Studium machen musste, in Wirklichkeit mit seiner dürren Haxen-Tussi im Bett. Hat ihre widerwärtige Zunge in seinem Mund gehabt und ist danach zu mir gekommen, um mich zu küssen und mir einen zu blasen. Am liebsten würde ich meinen Schwanz in Klorix tunken und mit Domestos gurgeln.
Fuck, ich hätte es wissen müssen. Man lässt sich einfach nicht auf eine Hete ein, in der aberwitzigen Hoffnung, dass die vielleicht doch auf Kerle steht. Aber Nico war so … ich dachte, er liebt mich. Na ja, abhaken und weiter. Geht leider nicht. Lernen, zwecks Ablenkung, geht ebenfalls nicht. Ehrlich gesagt, ich bin total im Arsch. Und zwar so dermaßen, dass ich aus Versehen die Tür aufmache, als es klingelt, obwohl mir logischerweise gar nicht nach Besuch ist. Hoffentlich nicht Silas, dem ich gestehen muss, dass mein Freund eine dürre Haxen-Tussi bumst. Oh nein, viel besser. Es ist mein Freund höchstpersönlich. Zum Glück ohne seine dürre Haxen-Tussi. Ich bin dennoch alles andere als begeistert.
„Lass uns noch mal reden“, bittet der italienische Schuft.
„Geh von meiner Tür weg, sonst rufe ich die Polizei.“
„Feli … das ist doch albern.“
Na ja, ein bisschen vielleicht.
„Hast du auch nur ansatzweise eine Ahnung, wie ich mich grad fühle?“, zische ich.
„Nein. Aber ich kann’s mir vorstellen.“
„Einen Scheiß kannst du. Arschloch.“
„Mann, Feli … es war doch nicht geplant, dass … ich mich in dich verliebe.“
„Nee? Was war denn der Plan?“
„Das möchte ich dir nicht zwischen Tür und Angel erklären“, entgegnet er und verschafft sich Einlass, indem er mich einfach zur Seite schiebt.
„Das ist Hausfriedensbruch“, brülle ich und knalle die Tür zu.
„Ich fand’s irgendwie schräg, dass ein Kerl auf mich abfährt … also am Anfang. Aber als wir dann … als wir uns kennengelernt haben … verdammt, Feli, ich will dich nicht verlieren, okay?“
„Deshalb fickst du irgendeine Trulla.“
„Ich hätte dir von Vivien erzählen müssen“, gibt er zu.
„Äh, nein“, widerspreche ich. „Du hättest dich von ihr trennen müssen, bevor du was mit mir angefangen hast. So machen das normale Menschen.“
„Dass ich mit Vivien zusammen bin, heißt doch nicht … ich liebe dich doch auch.“
„Du willst jetzt aber bitte nicht uns beide, oder?“, frage ich entsetzt.
„So was kann durchaus funktionieren“, behauptet er.
Wie bitte? Ich glaub, es hackt!
„Hast du ihr deinen tollen Vorschlag auch schon unterbreitet?“
„Vivien ist da ziemlich locker. Sie hätte kein Problem damit.“
Der meint das wirklich ernst. Au weia!
„Sorry, aber ich bin, was das angeht, gänzlich unlocker. Also mach dich vom Acker und lass mich gefälligst in Ruhe.“
„Denk drüber nach“, schlägt er vor und geht.
Ey, der Typ hat doch einen an der Schüssel. Was sag ich … Einen? Mehrere. Will der eine Dreierkiste mit mir und der dürren Zicke. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man drüber lachen.
Okay, ich stehe grad so sehr vorm Ausflippen, ich muss mich unbedingt abreagieren. Ausgehen, tanzen, trinken. Ganz viel trinken. Im Kristallpalast ist heute „Tanztee“, da wird ausschließlich alter Gruft- und Punkkram gespielt. Sehr gut. Ich rufe Silas an und verabrede mich mit ihm.
„Ich dachte schon, du wärst tot“, begrüßt mich mein bester Freund, stellt zwei Flaschen Bier auf den kleinen, runden Tisch und setzt sich zu mir. „Warum hast’n nicht auf meine Anrufe reagiert?“
„Hatte viel zu tun“, entgegne ich knapp und trinke die eine Flasche zur Hälfte leer.
„Deinen Italiener ficken, was?“
Sofort bekomme ich fieses Stechen im Brustkorb, aber ich bin noch nicht betrunken genug, um Silas zu erzählen, was vorgefallen ist.
„Ich musste lernen, ich hab bald Prüfung“, sage ich stattdessen.
Silas sieht echt heiß aus heute. Hohe Doc’s, enge Jeans, breiter Silbergürtel und ein dunkles, weit ausgeschnittenes Totenkopf-Shirt ohne Ärmel. Und wie immer trägt er ein nietenbesetztes Hundehalsband, an dem Sid-Vicious-like ein kleines Schloss baumelt.
Passenderweise erklingt „Anarchy in the UK“ und er stürmt auf die Tanzfläche.
Während Silas beschäftigt ist, hole ich an der Theke Nachschub.
„Mann, du willst es aber heute wissen“, bemerkt er, als er zurück an den Tisch kommt und die vollen Tequilagläser sieht.
Ich kippe hastig das Gesöff runter. „Du hast ja keine Ahnung.“
„Was’n los?“
„Nix.“
„Aha“, schüttelt er den Kopf.
Nach dem soundsovielten Tequila fühle ich mich gefährlich duselig und endlich bereit, auszupacken.
„Nico bumst die Zicke mit den dürren Haxen“, lalle ich.
„Was hast du erwartet? Der Typ ist ’ne Hete“, antwortet Silas.
„Ein bisschen mehr Verständnis von meinem besten Freund. Ich liebe Nico.“
„Es tut mir ja auch leid, aber ich hatte dich gewarnt“, zuckt er die Schultern. „Woher weißt’n davon?“
„Hab ihn erwischt. Ingraflanti.“
„Hä?“, grinst er.
„In… glafran… du weißt, was ich meine … infladings“, nicke ich und kippe mir einen weiteren Tequila hinter die Binde.
„Scheiße.“
„Das Beste kommt noch. Er ist seit zwei Jahren mit der Tussi zusammen. Verstehst du? Ich war der beschissene Seitensprung, nicht sie.“
„Arschloch“, schnauft Silas. „Darf ich ihm aufs Maul hauen?“
„Nein. Das Beste kommt noch“, kichere ich besoffen. „Er will … er hat … er findet …“
„Junge reiß dich …“
„Nico hat mir einen Dreier vorgeschlagen.“
„Er ist sich aber schon im Klaren darüber, dass du auf Kerle stehst, ja?“, fragt Silas irritiert.
„Ich meinte eine Dreierbeziehung … er, ich und seine magersüchtige Trulla.“
„Worauf du dich ja wohl hoffentlich nicht eingelassen hast.“
„Natürlich nicht“, rege ich mich auf. „Hältst du mich für total bescheuert? Ich hab ihn rausgeschmissen.“
„Ey, was für ein Vollpfosten. Bei den Proben und so macht er immer auf ernsthaften Künstler, harmlos und übertrieben höflich … und privat will er mit einer Freundin und ’nem Freund die Sau rauslassen.“
„Yep“, rülpse ich.
„Haste genug?“
„Nein. Aber lass uns trotzdem abhauen, mir wird grad irre schlecht“, nuschele ich, stehe auf und halte mich lieber einen Moment am Tisch fest, weil sich alles um mich herum merkwürdig dreht.
Draußen kotze ich die gesamten Getränke in die Büsche. Danach geht’s mir immerhin besser.
Bin zwar noch leicht beduselt, aber die Übelkeit ist weg.
„Brauchst du Gesellschaft?“, will Silas wissen, nachdem er mich in meine Wohnung gebracht hat.
„Auf jeden Fall.“
„Okay“, sagt er, zieht seine Schuhe aus und hockt sich zu mir aufs Bett.
„Ich dachte, er liebt mich … nur mich“, fange ich gleich wieder an zu jammern.
„Ja“, seufzt er und legt seinen Arm um mich.
„Danke, dass du da bist … obwohl du mich gewarnt hast.“
„Macht man so als bester Freund.“
Mmhhh… Silas riecht total schnuffig. Und ein bisschen nach Alkohol. Und ein bisschen nach Vanille.
„Hätte mir in der Kita jemand gesagt, dass wir mal Freunde werden würden, hätte ich ihn ausgelacht.“
„Hm.“
Ich hebe meinen Kopf, dass ich ihn ansehen kann.
„Dabei mochte ich dich da auch schon.“
„Du hast mich gehasst“, grinst er.
„Aber nur weil … du nie mit mir spielen wolltest.“
Plötzlich spüre ich Silas’ Lippen auf meinen.
Äh…?
Es war nur ein sehr kurzer Kuss, verwirrt bin ich trotzdem.
„Was sollte das?“
„Keine Ahnung“, behauptet er und küsst mich noch mal. Länger. Und mit Zunge.
Moment mal, das ist doch Blödsinn. Bestimmt schiebe ich ihn weg.
„Das ist keine so gute Idee. Ich bin betrunken und hab Liebeskummer.“
„Na und? Sind doch die besten Voraussetzungen dafür“, säuselt er.
Gott sei Dank hab ich noch ein bisschen Hirn im Schädel.
„Entweder du benimmst dich oder du gehst nach Hause.“
Silas scheint einen Moment zu überlegen.
„Okay“, sagt er und steht auf.
„Äh… du gehst?“
„Ja“, schnauft er augenverdrehend, „in die Küche … Süßigkeiten holen.“
Zwischen Silas und mir ist nicht weiter passiert. Außer einer schlimmen Fressorgie, zu der er mich verführte, aber damit kann ich leben. Es wäre doch auch wirklich zu dämlich gewesen, aus Frust mit meinem besten Freund zu schlafen. Ansonsten sieht’s momentan logischerweise alles andere als rosig aus. Gefühle lassen sich ja leider nicht einfach so abstellen. Der schöne Italiener fehlt mir, ich bin immer noch wütend und enttäuscht … und schrecklich verliebt. Deswegen arbeite ich gerade an einem neuen Plan, weil der erste bereits so gut funktioniert hat. Der Plan sieht vor, zum Schein auf Nicos völlig beknackten Vorschlag einzugehen, um ihm zu zeigen, dass sein Vorschlag völlig beknackt ist und ich die einzige Person bin, mit der er zusammen sein sollte. Ey, die blöde Zicke liebt ihn niemals so sehr, wie ich ihn liebe. Und genau das muss Nico einsehen. Und zwar fix. Deswegen mache ich mich am frühen Abend sofort auf den Weg zum Wohnheim.
Nico sitzt im Gemeinschaftsraum. Mit seiner Zicke. Der übliche Harem ist abwesend.
„Feli“, lächelt er überrascht.
„Ich habe nachgedacht“, komme ich ohne Umschweife zur Sache.
„Herzlichen Glückwunsch“, ätzt die Zicke.
„Wir sollten es versuchen.“
„Du meinst …?“
Ich nicke und setze mich neben den Italiener.
„Cool. Ich bin froh, dass du’s dir überlegt hast.“
„Bin ich auch.“
„Verpiss dich trotzdem. Heute ist mein Tag“, behauptet die Zicke.
Mit ihrer Unhöflichkeit wird die sich selbst ins Aus schießen, ganz sicher.
„Erstens sollten wir das gemeinsam vereinbaren und zweitens … ich finde, wir sollten uns ein gewisses Maß an Höflichkeit entgegenbringen, wenn das mit uns klappen soll.“
„Klugscheißer.“
„Feli hat recht“, nickt MEIN Freund. „Wer dazu keine Lust hat, kann jederzeit aussteigen.“
Mir kommt fast die Kotze hoch. Der redet über diese ganze Sache, als hätten wir beschlossen, einen Verein oder so was zu gründen. Jetzt bloß nicht die Beherrschung verlieren, sonst ist alles im Arsch!
„Hi, ich bin Feli“, lächele ich falsch und reiche Frl. Haxe meine Hand, „sorry, wir hatten wohl einen etwas schlechten Start. Frieden?“
Frl. Haxe lächelt genauso falsch zurück und schüttelt meine Hand. „Vivien, und ja, von mir aus, Frieden.“
„Na, seht ihr ... es geht doch“, behauptet Nico zufrieden, während er uns beide im Arm hat.
Was er nicht sieht, sind die Blicke, die Frl. Haxe und ich uns zuschmeißen und die ganz deutlich sagen: Du bist totes Fleisch! Ich bete, dass Silas nicht aus Versehen hier vorbeilatscht und diese Freakshow mitkriegt. Zuzutrauen wäre es ihm, der hängt öfters hier rum, weil er hier tausend Leute kennt. Die Haxen-Tussi griffelt übrigens inzwischen besitzergreifend am schönen Italiener rum. Blöde Graupe! Ich kann besser verführen. Unaufdringlich streichele ich sein Knie und lasse meine Fingerspitzen langsam seinen Schenkel hinauf wandern. Nico seufzt leise als ich sein Ohrläppchen küsse. Sein Arm verlässt die Schultern der Zicke und schlängelt sich um meine Taille.
„Können wir ... irgendwo allein sein?“, flüstere ich.
„Okay“, wispert er.
„Nico!“, kreischt Frl. Haxe schrill. „Wir wollten doch …“
„Morgen, Süße“, unterbricht er sie, nimmt meine Hand und zieht mich von der Couch.
Buahahahaha! Feli: 1000 Punkte. Zicke: 0!
Logischerweise kann ich nicht mit Nico in das Bett gehen, in dem er mit seiner Trulla gelegen hat, weswegen wir zum Knutschen und Kuscheln mein Bett nehmen. So schön es auch ist, ihn im Arm zu haben … ein merkwürdiges Gefühl bleibt.
„Ich weiß, dass ich viel von euch beiden verlange“, flüstert er und streichelt meine Wange, „aber mich zwischen euch entscheiden zu müssen, wäre Wahnsinn.“
Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll, also halte ich die Klappe und küsse ihn. Bloß nicht drüber nachdenken, dass er morgen wahrscheinlich wieder seine Freundin küssen wird.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht ehrlich zu dir war. Und dass du … auf die Art von Vivien und mir erfahren hast. Du glaubst mir doch, dass ich dich nie verletzen wollte, ja?“
„Warum hast du’s mir dann nicht früher erzählt?“
„Ich war halt so glücklich mit dir“, antwortet er.
„Hat sie es gewusst?“
„Nicht sofort. Aber nachdem wir miteinander geschlafen hatten, da hab ich’s ihr gesagt.“
Wie schön für die Zicke, dass die nicht wochenlang im Dunkeln tappen musste.
„Lass uns nicht über Vivien reden. Ich bin jetzt bei dir, okay?“, säuselt er, lässt seine Finger über meinen nackten Oberkörper gleiten und küsst meinen Hals. Als seine Hand weiter nach unten wandert … na ja, ich vergesse für den Moment die Haxen-Tussi.
Mein Plan will irgendwie nicht so richtig aufgehen. Im Gegenteil, Nico findet, dass es super läuft. Ich finde, bei ihm läuft super was falsch im Kopf. Und bei mir sowieso, weil ich das alles mitmache. Dass ich vor Eifersucht bekloppt werde, wenn er bei seiner Trulla ist, verschweige ich ihm. Dass die Vorstellung, wie er sie küsst und mit ihr kuschelt, mir fast körperliche Schmerzen beschert, sage ich ihm ebenfalls nicht. Ich versuche, die Zeit zu genießen, in der wir zusammen sind. Erstaunlicherweise krieg ich das ganz gut hin. Ich frage mich, ob ich vielleicht schizophren bin.
Silas hat sich eine Weile nicht blicken lassen, was von Vorteil ist, weil ich nicht über unangenehme Dinge mit ihm sprechen muss. Er würde es eh nicht verstehen. Um mich abzulenken, hab ich aber echt wie besessen gelernt und verspüre kein bisschen Nervosität vor der schriftlichen Prüfung nächste Woche. Na ja, und Praxis ist ja eh kein Problem. Nico hat mir einen kleinen Plüsch-Marienkäfer geschenkt … als Glücksbringer. Obwohl ich so was eigentlich gar nicht brauche, weil ich seiner Meinung nach die Prüfung sowieso bestehen werde. Trotzdem ist das doch sehr süß. Tja, und wenn er solche süßen Dinge tut, kann ich ihm nur verliebt um den Hals fallen, anstatt ihm dafür in den Hintern zu treten, dass er sich nicht für mich entscheiden will.
Heute ist Haxen-Zicken-Tag und ich bin dementsprechend mies drauf, als es bei mir klingelt.
Etwas Zotteliges, Bunthaariges stiefelt mit schweren Schuhen die Treppen rauf. Na fein, Silas kann ich grad total gut gebrauchen.
„Was willst’n du hier?“, frage ich aus Versehen sehr unhöflich.
„Was’n das für eine beschissene Begrüßung?“, fragt er zurück.
„Entschuldige, ich lerne“, lüge ich.
„Immer noch Liebeskummer, mh?“, vermutet er, setzt sich auf die Couch und zündet eine Zigarette an.
Ich stelle ihm einen Aschenbecher hin und setze mich ebenfalls.
„Hak die Sache ab. Er hat es längst.“
„Bitte?“
„Dein italienischer Hengst schnuckelt mit ’ner Frau.“
„Ach ja?“
„Ja. Also vergiss ihn.“
Scheiße, ich kann Silas nicht anlügen, wenn es um wichtige Sachen geht. Wie ich ihm diese wichtige Sache allerdings beibringen soll, ist mir schleierhaft. Am besten, ich sag einfach wie es ist.
„Nico ist mit uns beiden zusammen.“
Silas reißt ungläubig seine Augen auf.
„Wir haben beschlossen, es zu dritt zu versuchen“, werde ich deutlicher.
„Ach du Scheiße“, schüttelt er den Kopf, „kaum kümmert man sich mal ein paar Tage um seinen eigenen Kram, stellst du nur Schwachsinn an. Wie kommst du darauf, bei so einem Scheiß mitzumachen? Hast du keine Selbstachtung, oder was?“
„Das hat doch mit Selbstachtung nichts zu tun. Wir haben uns ausgesprochen, er liebt mich und … alles ist in Ordnung.“
„Feli, das ist Bullshit. Hoffst du vielleicht, dass er sich doch noch von seiner Tussi trennt? Das wird er nicht. Der Typ ist eine Hete.“
„Ach so, deshalb schläft er mit mir.“
„Und es ist ihm offenbar scheißegal, wie es dir geht, wenn er mit seiner Tussi schläft.“
„Wie gesagt, es ist in Ordnung. Und damit ist das Thema beendet.“
Silas denkt logischerweise nicht daran, mich in Frieden zu lassen.
„Dreiergeschichten funktionieren nicht. Einer bleibt dabei immer auf der Strecke.“
„Würdest du jetzt bitte aufhören? Danke“, schnaufe ich angepisst.
„Okay, aber heul mir nicht die Ohren voll, wenn du feststellst, dass …“
„Und heul du mir nicht die Ohren voll, weil deine Eltern Silvester lieber haben als dich“, unterbreche ich ihn.
„Wow … hast du dich ganz plötzlich in ein Arschloch verwandelt oder kam das schleichend, ohne dass ich’s gemerkt habe? Wie dem auch sei …“, er steht auf und zieht seine Jacke an, „man sieht sich irgendwann.“ Bums, hat er die Tür hinter sich zugeknallt.
Supi, jetzt hab ich meinen besten Freund vergrault.
Ich könnte mich von oben bis unten bekotzen. Dabei fing alles total gut an. Nämlich mit einer schriftlichen Prüfung, die so leicht war, dass ich doch nervös wurde und hektisch nach Fangfragen suchte. Es gab jedoch keine, also ich konnte jedenfalls keine entdecken. Der praktische Teil war die Hölle. Mein Herrenmodell ist nicht aufgetaucht, weshalb ich den Typen kalt machen werde, sobald er mir über den Weg läuft. Erst mal musste ich aber laufen … durch die gesamte Schule, um ein neues, passendes Modell zu finden. Günstigerweise war gerade ein Berufsschultag, an dem hauptsächlich Kinderpflegerinnen und Hauswirtschafterinnen da waren. Der einzige Junge, mit ausreichend rausgewachsener Kurzhaarfrisur, den ich fand, musste minutenlang überredet und angebettelt werden, was natürlich alles von meiner Zeit abging. Die fucking Prüfer hatten bloß fünf Minuten Mitleid. Das war aber noch nicht die Hölle, weil ich den Haarschnitt trotz allem perfekt hingekriegt habe. Leider habe ich dafür mein Damenmodell total verhauen. Die Farbe ist nicht so geworden, wie es dokumentiert war, und Frisur und Make-up sahen irgendwie unterirdisch aus. Meine Chefin fand am nächsten Tag auch, dass das Färben völlig daneben gegangen ist, als sich die Dame ihr präsentierte, meinte aber, wenn alles andere gut geklappt hat, würde es bestimmt reichen. Ich soll positiv denken … der Schnitt sei doch in Ordnung. Ja, klar, die hat ja auch nicht mitgekriegt, wie beschissen ich gefönt und gestylt habe! Rosalie war sowieso der Meinung, ich hätte handgelegte Wellen machen sollen … wollte ich ja eigentlich, aber meiner Chefin war das zu riskant, weil die Prüfer sich so etwas besonders kritisch anschauen würden. Was soll’s! Jetzt ist’s vorbei und ich kann bloß hoffen.
Natürlich würde ich mich gerne von meinem schönen Italiener aufmuntern lassen, aber der ist mit Frl. Haxe beschäftigt. So langsam geht mir dieses Arrangement echt ganz gewaltig auf den Sack.
Netterweise übernimmt am Wochenende Silas das Aufmuntern. Erst tanzen und trinken wir im Kristallpalast, danach hängen wir bei mir rum und essen Süßigkeiten.
„Ich finde, der italienische Hengst sollte dringend mal andere Prioritäten setzen“, erklärt Silas kauend.
„Hör schon auf“, seufze ich und lehne mich bequem an ihn.
„Ist doch wahr. Seine Tussi kann er auch morgen oder übermorgen vögeln.“
„Silas“, knurre ich.
„Wie hältst du das bloß aus? Ich würde verrückt werden. Und sag mir nicht wieder, das alles super ist, ich kenne dich.“
„Na schön, es macht mir was aus. Zufrieden?“
„Dann ist der Scheiß nichts für dich“, bringt er es eigentlich total auf den Punkt. „Und dass seine Tussi nichts dagegen hat, ist mir eh unbegreiflich.“
Damit er endlich die Klappe hält, stopfe ich ihm einfach ein Stück Mäusespeck in den Mund.
„Das nützt gar nichts. Ich sag meine Meinung trotzdem.“
Genervt rücke ich von ihm weg.
„Fick dich, Silas. Ich hab dich nicht um deine Meinung gebeten.“
„He, ist es etwa meine Schuld, dass sich dein Freund mit seiner Freundin vergnügt, anstatt bei dir zu sein?“
„Du musst nicht noch Salz reinstreuen.“
„Anders kapierst du es offenbar nicht.“
„Du kapierst etwas nicht. Nämlich, dass ich Nico liebe und …“, weiter komme ich nicht, weil er mich küsst. „Und was sollte das jetzt?“
Er zuckt bloß die Schultern und küsst mich noch mal. Länger. Und mit Zunge. Scheiße, ich hab ein Déjà-vu! Und einen Freund, woran ich Silas sofort erinnere, als er aufhört, mich zu küssen.
„Einen Freund, der grad mit seiner Freundin im Bett liegt. Gleiches Recht für alle“, findet er.
Zur Hölle, warum eigentlich nicht? Silas ist süß, ich mag ihn und der Sex, den wir vor drei Jahren hatten, war unglaublich. Ich denke nicht, dass er diesbezüglich was verlernt hat. Andererseits ist die Idee noch genauso verrückt, wie sie es vor einigen Wochen war. Verrückter sogar, weil ich heute mit Nico zusammen bin. Oh Mann, Silas hat sein Shirt ausgezogen und präsentiert mir einen Schlafzimmerblick … der ist sich seiner Sache ja ganz schön sicher. Mmhhh… die Versuchung, seine weiche Haut zu berühren, ist wirklich enorm.
„Wie viel Aufforderung brauchst du eigentlich noch?“, fragt er und knöpft langsam seine Jeans auf.
Okay, das reicht.
Oh… wow, der Sex war abartig geil. Immer noch heftig atmend schmiege ich mich an den warmen Körper neben mir und versuche, runterzukommen.
„Scheiße, Feli“, lacht Silas leise, „ich hatte ganz vergessen, was für ein Schmusetier du nach’m Sex bist.“
„Du hast angefangen“, schnurre ich, „also beschwer dich nicht.“
„Das war lediglich eine Feststellung“, lächelt er und schlingt seine Arme fester um mich.
„Dass uns so was noch mal passieren würde …“
„Ich fand dich eigentlich die ganze Zeit über scharf.“
„Das hast du aber nie auch nur ansatzweise erwähnt.“
„Weil wir beschlossen hatten …“
„Ja“, unterbreche ich ihn, „aber gegen gelegentlichen Sex hätte ich vielleicht nichts gehabt.“
Silas rückt von mir weg und glotzt mich fassungslos an.
„Ey, und das sagst du mir erst jetzt?“
Ich küsse ihn, kuschele mich danach wieder in seine Arme und schlafe ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Silas weg, mein schlechtes Gewissen leider noch da. Verdammte Hacke, ich hab aus Frust mit meinem besten Freund geschlafen, ich bin ein wandelnder Klischeehaufen! Und es türmen sich tausend Fragen wie Berge vor mir auf. Was denkt Silas über die Sache? Soll ich Nico sagen, dass ich quasi fremdgegangen bin? Wie wird er darauf reagieren? Was hat Silas sich dabei gedacht, meinen Zustand so schamlos auszunutzen? Warum konnte ich mich nicht zusammenreißen? Wieso, verfluchte Scheiße, hab ich immer noch einen Freund, der sich ums Verrecken nicht von seiner dürren Zicke trennen will? Ich muss dringend mit Silas reden. Wenn der Nico an der Uni oder beim Proben sieht und fröhlich ausplaudert, dass er mit mir im Bett war … ach du Scheiße! Na toll, sein Handy ist aus.
Okay, erst mal aufstehen und einen Kaffee trinken. Danach gehe ich zum Wäschewaschen zu meinen Eltern. Zwischendurch probiere ich es immer wieder auf Silas’ Handy … ohne Erfolg.
Den ganzen Samstag über ist er nicht erreichbar. Nico übrigens auch nicht. Der ist nämlich das Wochenende bei den Zicken-Eltern, weil Mama Haxe Geburtstag hat oder so. Na und? Kann er da nicht mal drei Sekunden mit mir telefonieren? Tolle Freunde, echt!
Sonntagnachmittag wird’s mir zu bunt. Ich gehe zu Silas und wenn der jetzt nicht gleich die Tür aufmacht, kann der was erleben, der Sack! Als er dann die Tür doch aufmacht, geschieht etwas sehr Eigenartiges. Ich weiß echt nicht, woran es liegt … vielleicht sind’s die Knutschflecke an seinem Hals, die eindeutig von mir stammen, oder, dass er es nicht für nötig hält, sie unter einem Halstuch zu verstecken, wie es jeder normale Mensch tun würde … aber mein Herz beginnt auf einmal heftig zu klopfen und mir wird plötzlich so kribblig überall. Die Erinnerung an Freitagnacht schießt mir durchs Hirn … Silas, der mich küsst, Silas, der meine Nippel leckt, Silas, der mir einen bläst, Silas, der mich … STOP! Ich krame das letzte bisschen Verstand zusammen, sage ihm, dass er Nico gegenüber gefälligst seine Klappe halten soll, dass der Sex mit ihm eine Art Versehen war, dass es nichts weiter zu bedeuten hat, und … mache, dass ich weg komme.
Meine Chefin hat mich voll zur Schnecke gemacht. Weil ich so miesepetrig durch den Salon schlurfe. Wenn die wüsste, was in meinem Privatleben zurzeit abgeht, würde sie vermutlich sagen, dass mein Privatleben bei der Arbeit nichts verloren hat. Hey, ich reiße mich schon total zusammen, bin nett und freundlich zu den Omas, obwohl ich die allesamt auf den Mond schießen möchte, aber ich kann halt grad nicht noch lustig mit denen smalltalken. Da muss man doch mal Verständnis dafür haben. Nico weiß nicht, dass ich ihn betrogen habe, meint allerdings, dass Frl. Haxe und ich uns besser kennenlernen sollten, weil es ihm auf die Nerven geht, dass wir andauernd so schlecht bei ihm übereinander reden. Was erwartet der denn bitte? Dass wir Händchen haltend zu dritt über eine bunte Blumenwiese laufen? Ich hasse die Zicke, sie hasst mich ebenso, ist doch völlig normal. So locker, wie Nico behauptete, geht die Zicke mit der Dreierbeziehung nämlich nicht um. Mir ist aufgefallen, dass die andauernd irgendwas Wichtiges hat, wenn Nico eigentlich bei mir sein sollte. Entweder sie braucht Hilfe bei einer Hausarbeit oder sie wird krank oder sonst was. Kleine, intrigante Scheißkuh! Und jetzt soll ich die wenige Zeit, die ich mit meinem Freund hab, auch noch mit der verplempern? Um nicht noch mehr Stress zu haben, spiele ich mit. Weil ich immer noch hoffe, dass Nico irgendwann merkt, dass die Zicke eine Sau ist, und sie endlich abschießt, um nur mit mir zusammen zu sein.
Die seltsame Geilheit auf Silas ist übrigens verflogen, seit Nico wieder mit mir kuschelt und das sogar außer der Reihe. Gestern hat er ausnahmsweise mal seiner Haxen-Tussi abgesagt, weil die sich wohntechnisch eh viel öfter sehen und weil er mich vermisst. Trotzdem hat Frl. Haxe zweimal angerufen, Nico danach sein Handy ausgeschaltet.
Nächsten Samstag will er mit mir und ihr ausgehen. In den Kristallpalast, weil die Zicke auf gruftige Musik steht. Na und? Das macht sie jetzt nicht zu meiner besten Freundin … auch wenn der Italiener das gerne hätte.
Samstag ist die Zicke unpässlich. Migräne oder so’n Scheiß. Ha, ha, die hat bloß keinen Bock drauf, mit dem Freund ihres Freundes einen gemütlichen Abend zu verbringen. Sicher hat sie angenommen, Nico würde sie den ganzen Abend betüddeln … falsch gedacht. Er geht mit mir aus! Im Kristallpalast läuft uns erst mal Silas über den Weg, der aber günstigerweise irgendeinen Gothic-Jungen im Schlepptau hat und deshalb auf doofe Sprüche verzichtet. Nico hält meine Hand, umarmt und küsst mich zwischendurch immer wieder, wenn ich vom Tanzen zurückkomme, und ich könnte eigentlich zufrieden sein. Jedoch … wenn ich sehe, wie Silas mit seinem Gothic-Jungen flirtet und schmust … irgendwie stört mich das. Mir ist nur nicht klar, warum. Schließlich hab ich Silas schon häufiger mit Typen knutschen sehen, das kann’s also nicht sein. Vielleicht bin ich bloß neidisch, weil er seinen Typen bestimmt für sich allein hat, während mein Typ … na ja. Wenigstens nervt die Zicke heute nicht mit Anrufen. Die Nacht verbringt Nico jedenfalls in meinem Bett und als er anfängt, mich zu küssen und anzufassen, blende ich eh mal wieder alles Unangenehme komplett aus.
Die Prüfungsergebnisse sind da. Juhuu… ich bin durchgefallen. Das hatte ich zwar bereits befürchtet, aber wenn man das so schwarz auf weiß mitgeteilt kriegt … ich bin echt im Arsch.
Da kann mich nicht mal trösten, dass ich Theorie mit ’ner Zwei bestanden habe und mir beim praktischen Teil eigentlich nur das fucking Damenmodell das Genick gebrochen hat. Durchgefallen ist durchgefallen. Meine Chefin, die alte Positiv-Denkerin, findet das alles gar nicht so dramatisch. Ich soll halt noch ein halbes Jahr dranhängen und gut ist’s. Die muss sich ja auch jetzt kein neues Modell suchen und den ganzen Scheiß noch mal machen. Ach so … meine drei Azubi-Kolleginnen haben natürlich bestanden und saufen fröhlich wie die Arschgeigen ein Gläschen Sekt auf ihren Erfolg. Ich könnte die allesamt wegbomben!
Nico ist süß. Der lässt, als ich Zuhause bin und ihn anrufe, alles stehen und liegen, um bei mir zu sein. Schenkt mir eine Schachtel Trostschokolade und meint ebenfalls, dass es keine Schande ist, ein halbes Jahr verlängern zu müssen. Ähnliches sagen in den nächsten Tagen meine Eltern, meine Schwester und Silas. Es ist ja wirklich lieb, dass die mich so aufmuntern wollen … aber die Enttäuschung sitzt halt tief.
Rosalie ist irgendwie die einzige, die mich versteht.
„Da kann man schönreden, wie man will, es ändert nichts an den Tatsachen“, erklärt sie. „Es tut mir leid für Sie, Sebastian.“
„Danke“, nicke ich bedröppelt.
„Allerdings hilft es nicht, zu lamentieren. Schauen Sie nach vorn und tun Sie das, was Sie für richtig halten, dann klappt’s beim nächsten Mal“, lächelt sie. „Haben Sie denn schon ein neues Modell?“
„Nein. Ich hab die Woche damit verbracht, mir selbst leid zu tun“, seufze ich.
„Das muss man auch manchmal. Aber jetzt reicht’s doch wohl.“
„Es ist halt nicht so einfach, was Passendes zu finden.“
„Und warum fragen Sie nicht mich?“
„Ähem…“
„Keine Angst, ich wollte nicht mich selbst vorschlagen“, lacht sie sich kaputt, „vielleicht wenn ich hundert Jahre jünger wäre … aber die Freundin meiner Enkelin könnte was sein. Ich frag sie einfach mal, ob sie Lust dazu hätte, in Ordnung?“
„Äh… okay.“
Schaden kann’s ja nicht.
Die Freundin von Rosalies Enkelin hat tatsächlich Lust. Als sie in den Salon spaziert, bin ich mehr als begeistert. Sie passt wie die berühmte Faust aufs Auge, weil sie vom Stil her total in die Richtung geht, die ich brauche … nämlich Burlesque … und weil sie ein sehr schönes, klassisches Dreißigerjahre-Pin-up-Gesicht hat. Pia ist ebenfalls begeistert, dass ich aus ihr nicht was vollkommen anderes machen will, und arbeitet sofort am Konzept mit, schlägt Klamotten vor, die sie anziehen könnte und so weiter. Na ja, und meine Chefin sieht auch langsam ein, dass ich mir mit einer Wellenfrisur eben doch kein Bein stelle.
„Stehst du neuerdings auf Frauen?“, fragt Silas, der mich abends spontan besucht.
„Klar, meine Homosexualität war bloß Tarnung“, verdrehe ich die Augen.
„Ich mein ja nur … so wie du grad geschwärmt hast.“
„Pia ist lesbisch, da wäre eine Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“
„Wer weiß, dein Italiener ist ja eigentlich auch eine Hete, also von daher …“
Supi, kaum ist er hier, muss er mich dran erinnern, dass Nico heute mit seiner Haxen-Tussi beschäftigt ist.
„Und? Wann ist endlich das große Treffen der beiden Geliebten?“
„Wenn’s nach mir geht … nie.“
„Tja, leider geht es in eurer komischen Beziehung selten nach dir.“
„Und wie steht’s mit deinem Gothic-Jungen?“, wechsle ich das Thema.
„Patrick?“
„Keine Ahnung, wie der Typ heißt, mit dem du seit Wochen zugange bist.“
„Patrick“, nickt er und strubbelt sich seufzend durch die inzwischen grünen Haare. „Ich versuche gerade einen Weg zu finden, auf möglichst elegante Art mit ihm Schluss zu machen.“
„Wieso das?“
„Weil er mir aufn Sack geht mit seinem Gefasel von Liebe, Treue und Beziehung.“
„Ah, der will dich an die Kette legen, was?“, grinse ich. „Den Tiger zähmen.“
„Es gibt nur einen, von dem ich mich an die Kette legen lassen würde“, entgegnet er leise.
„Echt? Jemand, den ich kenne?“
Silas sieht mich an. Sekundenlang. Und lächelt irgendwie … traurig … oder mitleidig … oder beides. Oh nein! Mir ist plötzlich so taumelig im Kopf … es fühlt sich an, als sei mein Gehirn mal eben kurz verrutscht und wieder an die richtige Stelle gerückt. Ach du Schande!
„Warum hast du nie was gesagt?“, frage ich geschockt.
„Wann denn? Wie denn? Wir wollten bloß Freunde sein, du erinnerst dich? Hey, mach nicht so’n Gesicht, ich komm damit absolut klar.“
Na, wie schön für ihn.
„Entschuldige, aber … ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme.“
Besonders, wenn ich daran denke, dass wir Sex hatten.
„Was soll sich ändern? Du hast es doch nicht mal gemerkt, also spielt es keine Rolle.“
Was für eine Scheiße! Wann hat mein Leben eigentlich angefangen, so verdammt kompliziert zu werden? Und … was kommt als Nächstes? Vielen Dank, ich will’s überhaupt nicht wissen.
„Können wir bitte einfach normal miteinander umgehen? Ich hab keinen Bock auf Rumgekrampfe zwischen uns“, erklärt er.
„Dann hättest du mir nicht sagen sollen, dass …“
„Du meine Güte“, schnauft er, „es ist nicht so, dass ich jede Nacht in mein Kissen flenne.“
„Sondern?“
„Ich hab mich damit abgefunden. Außerdem ist Freundschaft eh wichtiger.“
Wahnsinn, ich hab tatsächlich nicht gemerkt, dass Silas offenbar mehr von mir will. Er hat das aber auch wirklich sehr gut verschleiert. Und jetzt? Ich meine … ich kann ihm doch nichts mehr über Nico und mich erzählen, weil es ihn verletzt, dass ich Nico liebe und nicht ihn. Genauso kann ich mich nicht mehr einfach so bequem an ihn kuscheln.
„Okay, ich werd dann mal“, sagt er und steht auf. „Man sieht sich.“
Ich bin irgendwie erleichtert, als er weg ist. Trotzdem schwirrt mir gehörig der Schädel. Schließlich kriegt man nicht jeden Tag von seinem besten Freund eine Liebeserklärung vor den Latz geknallt. Ja … wenn Nico nicht wäre, würde ich es vielleicht unter Umständen in Erwägung ziehen, doch was mit Silas anzufangen. Keine Ahnung, ich hab da logischerweise nie drüber nachgedacht.
„Du warst doch schon damit einverstanden. Wieso sträubst du dich jetzt dagegen?“
Nico will mal wieder ein Treffen zu dritt, worauf ich jedoch keine Lust habe.
„Was soll das bringen? Ich bin mit dir zusammen, nicht mit deiner Tussi.“
„Es wäre ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung, wenn du sie nicht immer nur Tussi nennen würdest. Sie heißt Vivien.“
„Ist mir scheißegal“, rege ich mich auf, „ich will die nicht kennenlernen. Wie kommst du Traumtänzer auf den absurden Gedanken, dass wir uns alle prima verstehen? Warum hat sie dich übrigens noch nicht fünfmal angerufen? Immerhin bist du bereits seit einer halben Stunde hier.“
„Genau deshalb möchte ich, dass ihr euch kennenlernt. Damit ihr begreift, dass ich keinen von euch bevorzuge und dass keiner dem anderen etwas wegnimmt. Ich liebe euch beide.“
„Sag ihr das. Ich mache keine Störanrufe, wenn du mit ihr … was auch immer.“
„Ich habe mit Vivien darüber gesprochen, dass das aufhören muss. Und wie du siehst, sie hält sich dran. Wenn du jetzt auch noch dein kindisches Verhalten ablegen würdest …“
„Kindisches Verhalten?“, brülle ich wütend. „Ich verhalte mich kindisch, weil ich dich nicht teilen will? Du hast doch überhaupt keinen Schimmer, wie schwer das alles auszuhalten ist. Echt, ey, als hätte ich nicht genügend andere Probleme.“
„Feli, ich habe dich niemals zu irgendetwas gezwungen.“
„Aber eine Wahl gelassen hast du mir auch nicht unbedingt. Entweder ich akzeptiere deine Tussi oder ich kann mich verpissen.“
„Das habe ich so nicht gesagt, oder?“
„Kommt aber aufs Selbe raus.“
Seufzend greift er nach meiner Hand und streichelt sanft meine Finger.
„Sieh mal, für mich ist das auch nicht leicht. Ich hätte es nie für möglich gehalten, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Und schon gar nicht einen Mann. Aber es ist nun mal so und ich möchte dich auf gar keinen Fall verlieren.“
Immer noch angepisst, ziehe ich meine Flosse weg, woraufhin Nico vorsichtig seine Arme um mich schlingt.
„Bitte, ich mag nicht mit dir streiten“, wispert er und küsst mein Ohrläppchen.
„Ein Treffen. Und wenn das schiefgeht, lässt du mich mit dem Thema in Frieden.“
„Okay“, nickt er lächelnd und küsst mich auf den Mund.
Donnerstag ist im Salon Modell-Nachmittag, da gibt’s keine Kunden … das ist das einzige, worauf ich mich momentan freue. Pia hat so eine Art an sich, man kriegt einfach sofort gute Laune in ihrer Nähe. Obwohl in ihrem Leben auch nicht alles rosig ist. Den Kontakt zu ihren Eltern hat sie mittlerweile abgebrochen, weil die nicht akzeptieren können, dass sie auf Frauen steht.
„Natürlich tut das weh“, erzählt sie, während die rote Farbe auf ihrem Kopf einwirkt, „aber es ist doch mein Leben. Soll ich unglücklich sein, nur um ihnen zu gefallen?“
„Vielleicht brauchen sie ein wenig Zeit, um das zu begreifen.“
„Du kennst meine Eltern nicht“, lächelt sie gequält. „Für meinen Vater bin ich ein Flittchen, das es mit jeder dahergelaufenen Hure treibt.“
„Au je, das ist übel.“
„Allerdings.“
Mann, ich bin wieder mal froh und dankbar, dass ich so tolle Eltern habe! Die waren zwar kurz geschockt, als ich ihnen mitteilte, dass ich auf Jungs stehe, aber Paps war der erste, der gemeint hat, dass deswegen nicht gleich die Welt untergeht. Mama hat ein paar Wochen gebraucht, um die Nachricht zu verdauen. Meine Schwester war super, die hat unserer Mutter so’n Internetforum gezeigt, wo sich Eltern homosexueller Kinder austauschen, und … ja, da hat sie sich dann ausgetauscht. Und festgestellt, dass sie ihre Kinder liebt, ganz egal, wen die lieben.
Apropos Liebe … Silas hat sich seit Tagen nicht gemeldet. Einerseits finde ich das gut, weil ich somit sein Geständnis verdrängen kann. Andererseits hab ich wahnsinnige Angst, dass unsere Freundschaft den Bach runtergeht.
Das Klingeln des Weckers reißt mich zum Glück aus meinen Gedanken. Jetzt heißt es: Farbe rauswaschen, Wellen legen, Make-up, Styling, danach noch ein Foto für die Prüfungsmappe und Feierabend.
Freitag hoffe ich, dass die Zicke wieder spontan krank wird. Leider ist Hoffnung ja immer so eine Sache … die Zicke ist kerngesund. Scheiße, verdammte. Na gut, es ist nur ein Abend, der dauert auch nicht ewig. Mit jahrelang im Salon antrainierter Fake-Fröhlichkeit warte ich vorm Kristallpalast auf meinen Freund und seine Freundin. Blöd, dass ich mir nicht Zuhause noch schnell einen angesoffen habe … egal, das kann man da drin prima nachholen. Ah, der schöne Italiener naht … Hand in Hand mit der Haxen-Tussi. Cool, das fängt schon mal nicht schlecht an. Immerhin kriege ich einen Begrüßungskuss, der Zicke nicke ich kurz zu. Nico strahlt, als sei es völlig normal, in einer derartigen Konstellation in einen Club zu gehen.
Als wir dann tatsächlich reingehen, drängt sich mir ein anderer Verdacht auf. Nico genießt es geradezu, einen Typ an der einen und eine Tussi an der anderen Hand zu haben. Ehrlich, der latscht mit uns beiden durch die düstere Lokalität, als sei er der absolute Star. Dass die Zicke ungefähr genauso finster aus der Wäsche kuckt wie ich, scheint ihm nicht aufzufallen. Oder es ist ihm egal, weil wir von anderen Leuten interessiert angestarrt werden. Momentan wäre Nico auf einem Laufsteg wahrscheinlich besser aufgehoben. Sogar als wir endlich an einem Tisch sitzen, küsst er abwechselnd mich und die Trulla. Du meine Güte, so sehr bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht vorgeführt worden! Ich brauche Alkohol. Ganz dringend und ganz viel. Weil meine Eltern mir irgendwann mal Manieren beigebracht haben, kaufe ich der Trulla auch ein Getränk, sie scheint grad ebenfalls was Hochprozentiges zu benötigen. Also: Tequila für alle … und doppelt und dreifach für mich!
Nicos eine Hand liegt auf dem magersüchtigen Zicken-Schenkel, die andere Hand krault meinen Nacken … ich saufe mir die Situation einigermaßen erträglich und flüchte mich zwischendurch auf die Tanzfläche. Die Zicke verfolgt eine ähnliche Strategie. Nico fühlt sich pudelwohl und ist damit wohl der einzige in der Runde.
Nach gefühlten fünf Stunden verkündet der Italiener plötzlich: „Vivien hat genug, ich bringe sie besser gleich nach Hause.“
What the Fuck …?
„Ich hab auch genug, bringst du mich auch gleich nach Hause?“
„Heute nicht“, schüttelt er bedauernd den Kopf.
Supi, ich hab diese Kacke hier ausgehalten und bekomme anschließend nicht mal einen anständigen Fick?
„Aber du kannst bei uns schlafen, wenn du willst.“
Geil, und jetzt hab ich auch noch was an den Ohren!
„Auf dem Fußboden oder wie?“
„Vivien hat ein großes Bett“, lächelt Nico.
Schade, ich dachte, ich hätte mich eben verhört.
„Danke, ich stehe nicht auf Dreier“, erkläre ich und verschwinde schleunigst.
Dass ich nach dieser Nummer nicht sofort nach Hause kann, ist logisch. Ich bin viel zu fassungslos. Und zu betrunken. Deshalb versuche ich bei Silas mein Glück. Hauptsache, der ist da und hat keinen Patrick bei sich. Wollte er sich nicht sowieso von dem trennen? Was soll’s. Ich klingle Sturm und mir wird geöffnet.
„Feli, es ist tausend Uhr“, mault er, „bist du besoffen oder was? Wieso klingelst du so penetrant?“
Zu viele Fragen. Wortlos werfe ich mich auf die Couch. Silas setzt sich neben mich. Mann, der riecht gut.
„Ich hatte einen grandios beschissenen Abend im dings… Kristallpalast.“
„Und?“, zuckt er die Schultern.
„Mit Nico und seiner Tussi.“
„Aha.“
„Kann ich hier bleiben? Ich will jetzt echt nicht alleine sein“, seufze ich und schmiege mich ein bisschen an ihn.
„Wenn’s sein muss“, antwortet er und schiebt mich weg. „Ich hol dir eine Decke und ein Kissen.“
Der meint hoffentlich nicht, dass ich auf der Couch pennen soll … egal, ich folge ihm ins Schlafzimmer und schlinge meine Arme um ihn.
„Was wird’n das?“
Anstatt ihm zu antworten, lasse ich meine Hände über seinen Körper wandern, dränge ihn zum Bett und nestle an den Knöpfen seiner Jeans, bis Silas mich stoppt.
„Lass den Scheiß“, zischt er böse.
Ich versuche, ihn zu küssen, wovon er mich jedoch rabiat abhält. Scheiße, dass er sich sträubt, macht’s irgendwie noch … interessanter.
„Ich mein’s ernst, Feli. Geh zu deinem Italiener, wenn du’s nötig hast.“
„Der ist bei der Haxen-Zicke“, murmle ich. „Und außerdem ... Nico ist ’ne Miezekatze und ich …“, ich werfe mich auf ihn und grabsche wie irre an ihm rum, „ich brauche einen Tiger. Komm schon, fahr deine Krallen aus und tu mir weh!“
Silas tut mir weh, indem er mich so heftig von sich stößt, dass ich fast vom Bett auf den Boden knalle.
„Okay, wir vergessen einfach, dass du dich grad wie ein Arschloch benimmst, ja? Bleib von mir aus hier liegen, ich nehme die Couch.“
Er schnappt sich ein Kissen und knallt die Tür zu.
Am nächsten Morgen ist mir sehr unangenehm. Erstens hab ich schlimme Kopfschmerzen und zweitens leider keinen Filmriss. Ich kann mich verdammt gut erinnern, dass ich Silas total bedrängt habe. Auch daran, was für einen Miezekatzen-Scheiß ich gebrabbelt hab. Du lieber Himmel! Ich an Silas’ Stelle hätte mich rausgeschmissen und mir die Freundschaft gekündigt.
Ich meine, da gesteht er mir, dass er irgendwie in mich verliebt ist, und ich hab nix Besseres zu tun, als mit ihm ins Bett zu wollen, weil Nico nicht da war.
Völlig im Eimer schlurfe ich in die Küche. Silas sitzt am Tisch und trinkt Kaffee.
„Hey“, röchele ich.
„Mach so was nicht noch mal.“
„Es tut mir leid, ich war …“
„Betrunken“, unterbricht er mich. „Trotzdem. Ich kann auf so eine Scheiße verzichten.“
„Ich … äh… ich geh dann mal“, sage ich vorsichtig.
„Ist wohl besser.“
„Okay, bis dann.“
Wie ein geprügelter Hund schleiche ich nach Hause, lege mich ins Bett und gehe mir selbst auf den Sack.
Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass meine Ausbildung momentan wichtiger ist als mein Privatleben. Deshalb erklärte ich Nico, dass ich mal eine Pause von ihm bräuchte. Um nachzudenken, ob ich diese Dreiersache überhaupt noch will und kann. Nico war entsetzt und schickt mir seither ungefähr alle zwei Tage ’ne SMS, in der er sich darüber auslässt, wie sehr er mich vermisst und dass er mich liebt und so weiter. Silas dagegen hat sofort verstanden, dass ich auch ihn eine Weile nicht sehen möchte. Mir ist mein besoffener Auftritt bei ihm immer noch unangenehm, da soll erst mal ein bisschen Gras drüber wachsen. Natürlich fehlen mir beide … auf unterschiedliche Art, aber ich glaube, es ist die richtige Entscheidung. Dass die Zicke nun wenigstens vorübergehend gewonnen hat, nervt irgendwie, wenn ich mir vorstelle, wie triumphierend sie ihre dürren Haxen und mageren Ärmchen um meinen schönen Italiener schlingt. Na ja, solange er mich noch vermisst, ist es einigermaßen auszuhalten.
Hab mich ein paar Mal außer der Reihe mit Pia getroffen … zum Kuchenessen in einem lauschigen Oma-Café … und ihr eine ganze Menge über Nico erzählt. Sie findet Dreierbeziehungen in Ordnung, wenn es allen Beteiligten damit gut geht, was bei mir allerdings wohl nicht der Fall sei, weswegen ich die einzig logische Konsequenz daraus ziehen sollte: Trennung!
An einem sehr herbstlichen Freitagabend schellt es bei mir. Umständlich krame ich mich aus meiner Kuschelflauschidecke und öffne, in der Hoffnung, dass es vielleicht Nico ist, dem ich so arg fehle, dass er es nicht mehr ausgehalten hat. Die schweren Schuhe, die die Treppen raufstapfen, passen jedoch bloß zu … ah… richtig geraten … strähnig-bunte Haare und Armbandgeklimper.
„Silas.“
Er schwenkt eine Flasche Wein und stolpert über die letzte Stufe … kein gutes Zeichen.
„Hey, Kätzchen, alles fit?“, bölkt er mir entgegen.
Hm, der scheint voller zu sein als seine Weinflasche.
„Ich hab unsere Abmachung gebrochen. Ist’n Notfall“, behauptet er, schlängelt sich elegant an mir vorbei, schmeißt seine Jacke auf den Boden und sich selbst wie einen nassen Sack auf die Couch.
Nass trifft es übrigens ausgezeichnet … draußen regnet’s.
„Ey“, kreische ich, „bist du bescheuert?“
„Sorry“, nuschelt er und kickt seine Schuhe von den Füßen, „hast du mal ein Handtuch?“
Sogar zwei Handtücher. Eins wurschtele ich unter seinen nassen Arsch, mit dem anderen trockne ich seine nassen Haare.
„Das gibt sicher eine fette Erkältung“, bemerke ich.
„Ich hab mich von innen gewärmt“, grinst er und kippt seinen Fusel runter.
„Was’n passiert?“
„Abendessen bei der Familie.“
Oh, ich verstehe.
„Silvester hat seine Freundin vorgestellt. Karina studiert Jura. Und ich bin ein schwuler Punk, der was total Nutzloses macht. Wenn ich wenigstens einen Kerl mit ordentlich Schotter hätte, das würde Mama und Papa vielleicht gnädig stimmen. Ey, Silvester, der Penner, immer muss das perfekte, kleine Miststück noch eins draufsetzen, was ihn noch scheiß perfekter macht.“
„Du liebst das perfekte, kleine Miststück.“
„Ja, na und? Trotzdem geht’s mir auf den Sack. Karina ist ekelhaft nett und hübsch und gescheit. Mann, und wie fucking verliebt die sind … du hättest sehen müssen, wie die beiden sich angeschmachtet haben. Unnötig zu erwähnen, dass meine Eltern vor Entzückung fast den Boden geküsst haben, auf dem Karina wandelte. Ich war praktisch unsichtbar“, schnieft er.
„Soll ich dir einen heißen Kakao machen, Schnucki?“, frage ich und tätschle ihm den Kopf.
„Ja, bitte. Aber nur wenn du Kekse dazu hast.“
Als ich mit Kakao und Keksen ins Wohnzimmer zurückkomme, liegt sein neonfarbig geringelter Strickpulli neben seiner Lederjacke. Silas hat sich in meine Decke gekuschelt und zappt durch die Fernsehprogramme. Ausgerechnet beim schlechtesten Vampirfilm aller Zeiten bleibt er hängen. Bella und Edward … ich angele heimlich nach der Fernbedienung.
„Lass an, ich will den Fuckward sehen“, quietscht er albern wie ein kleines Mädchen.
Was soll’s! Ich schlüpfe zu ihm unter die Decke, trinke meinen Kakao und halte die Klappe.
„Der Film ist dermaßen grottig“, sagt er … mehr als einmal. „Wahnsinn, die Tussi hat echt nur einen einzigen Gesichtsausdruck.“
„Dafür allerdings einen Freund, der in der Sonne glitzert.“
„Wer hätte den nicht gerne?“
„Äh… ich?“, schlage ich vor.
„Du hast einen italienischen Hengst mit Haxen-Zicke, deine Meinung zählt hier nicht.“
Sofort verspüre ich ein fieses Stechen in der Herzgegend.
„Entschuldige, falsches Thema, mh?“
„Aber so was von.“
„Hast du ihn jetzt endgültig abgeschossen?“
„Nicht so richtig“, seufze ich. „Wir machen immer noch Pause.“
„Alles Scheiße. Ey, wieso laufen die aufgepumpten Muskel-Werwölfe eigentlich ständig oben ohne und in abgeschnittenen Jeans durch den Wald? Ich verstehe das nicht.“
„Damit man ihre aufgepumpten Muskeln sieht, nehme ich an.“
Silas hat sich inzwischen sehr stark an mich gekuschelt und aus Gründen, die ich mir nicht erklären kann, fängt mein Magen an zu kribbeln und mein Herz klopft einen Tick schneller.
„Äh… Feli? Warum fummelst du an meiner Hose rum?“
„Weil sich deine Stacheln in mein Fleisch bohren“, entgegne ich und werfe seine beiden Gürtel auf den Boden.
„Dein Shirt kratzt auf meiner Haut … darf ich dir das auch ausziehen?“
„Nein.“
„Okay, wenn ich Ausschlag im Gesicht kriege, bist du Schuld“, murmelt er vorwurfsvoll und reibt seine Wange an meiner Brust. Der Fuckward will übrigens inzwischen, aus Frust, weil er seine Bella-Ische nicht beschützen konnte, zum Glitzern in die Sonne gehen. Leider ist das nicht dramatisch, sondern lachhaft … wie der gesamte Film. Silas’ Hand, die auf meinem Bauch liegt, schiebt sich langsam unter mein Shirt. Ich muss peinlicherweise kurz aufstöhnen, weil seine Fingernägel ganz leicht über meine Haut kratzen. Offensichtlich versteht er das als eine Art Einladung oder so, denn zu seinen Fingern gesellen sich seine Lippen. Meine Augen schließen sich, meine Finger wuseln durch seine Haare … seine Finger öffnen die Knöpfe meiner Jeans. Silas rutscht ein Stück tiefer, nestelt aufreizend an meiner Hose und fängt an, mir einen zu blasen. Ungefähr solange, bis ich ihn zu mir raufziehe, mit Armen und Beinen umschlinge und ihn gierig küsse.
„Du Blödmann“, wispere ich und beiße Silas leicht in die Schulter, „jetzt hab ich deinetwegen den Schluss verpasst.“
„Was für ein Verlust“, entgegnet er und streckt sich genüsslich.
„Ich hab mit Silas geschlafen.“
Nico, der mich gerade küssen wollte, hält entsetzt inne.
„Was?“
„Du hast mich verstanden.“
„Das war der Grund für die Pause, ja?“, regt er sich auf. „Damit du in aller Ruhe mit dem verlausten Punk rumficken konntest.“
Okay, ich hab nicht erwartet, dass er sich darüber freut, aber so abzugehen …
„Und du bist in der Position, mir Vorhaltungen zu machen? Du fickst ständig mit deiner Tussi …“
„Nicht hinter deinem Rücken.“
„Ja, das macht’s natürlich besser.“
„Und nicht mit einem, bei dem man sich alle möglichen Krankheiten wegholt.“
„Silas hat ein Kondom benutzt, somit ist die Gefahr, dass ich mir was weggeholt habe, relativ gering.“
„Ich finde das nicht besonders witzig.“
„Wenn du keine Zeit für mich hast, weil du deine Tussi beglückst, breche ich auch nicht vor Lachen in Tränen aus.“
„Das geht so nicht“, schüttelt er den Kopf. „Du kannst nicht plötzlich die Spielregeln ändern.“
„Gut zu wissen, dass du unsere Beziehung als Spiel ansiehst.“
„So meinte ich das nicht, das weißt du verdammt gut“, zischt er. „Ich liebe dich und wenn du heimlich mit wem auch immer Sex hast, verletzt mich das.“
„Das tut mir leid. Aber vielleicht bekommst du jetzt mal eine Ahnung, wie ich mich fühle.“
„Also wolltest du mir einfach nur wehtun?“
„Nein. Rache ist nicht mein Ding.“
„Feli“, beginnt er und greift nach meinen Händen, „ich verspreche, dass ich ab jetzt mehr Zeit für dich habe, in Ordnung?“
„Und was ist mit … Vivien?“
„Sie wird das akzeptieren müssen.“
Ja, was soll ich sagen? Sein Versprechen besänftigt mich so sehr, dass ich ihm erlaube, den Rest des Abends mit mir zu kuscheln.
Den nächsten Abend auch. Und den übernächsten sowieso.
Als Nico sich dann doch mal wieder um seine Zicke kümmern muss, treffe ich mich mit Silas.
Und der sieht offenbar dermaßen hübsch aus, dass es in meinem Magen kribbelt. Oder ich hab was Falsches gegessen, aber daran kann ich mich nicht erinnern, also liegt es an ihm. Scheiße!
Diese total unangebrachte Euphorie, die sich immer dann einstellt, wenn wir Sex hatten, muss aufhören!
„Oh, Tante Heike hat wieder zugeschlagen“, bemerke ich, nachdem er seine Jacke ausgezogen hat. Silas trägt einen weiten, bunten Strickpulli, den ich noch nicht kenne. Silas trägt überhaupt mit Vorliebe lustige Strickpullis in allen Farben und Variationen, die allesamt von seiner Tante Heike angefertigt werden. In ihrer Freizeit, denn beruflich macht Tante Heike in Süßwaren … sie ist Inhaberin eines entsprechenden Shops. Außerdem liebt sie ihren aus der Art geschlagenen Neffen heiß und innig. Natürlich liebt sie Silvester mindestens genauso, aber der ist halt nicht der Typ für gestrickte Oberbekleidung. Dass Silas ständig MEINE eingekauften Süßigkeiten wegputzt, wo er doch eigentlich an der Quelle sitzt … na ja.
„Geil, mh?“, grinst er, nimmt sein schwarzes Halstuch ab und will mich küssen.
Ich will ihn reflexartig davon abhalten, aber dann siegen leider die bekloppten Schmetterlinge, die sich in meinem Bauch tummeln. Mmmhhh… er schmeckt nach Schokolade.
„Hier, ich hab dir was mitgebracht“, lächelt er und schwenkt ein Tütchen Pralinen vor meiner Nase. „Mit besten Grüßen von Tante Heike.“
„Wie viele hast’n davon auf dem Weg hierher schon gegessen?“
„Bloß drei Stück. Sorry, aber ich bin wie ein Kolibri ... wenn ich nicht jede Viertelstunde was Süßes essen kann, verhungere ich.“
Ich verstaue die Pralinen im Schrank und hab noch immer mit den Schmetterlingen zu kämpfen. Oder vielleicht haben die sich inzwischen in einen Kolibri verwandelt. Ey, das ist doch nicht normal. Vor allem, weil ich Nico liebe. Andererseits fährt der bekanntlich zweigleisig, warum kann ich also nicht ebenfalls … nee, ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man teilen muss. Deshalb lasse ich mich nicht noch mal von Silas küssen, sondern sage ihm, was Sache ist.
„Nico und ich haben unsere Pause beendet.“
„Ah, verstehe, da ist die Notlösung“, er deutet auf sich, „abgemeldet.“
„Das ist nicht fair. Du hast gewusst, dass wir nicht wirklich getrennt waren. Und du hast letzte Woche angefangen.“
„Klar, schieb mir einfach in die Schuhe, dass du mich immer dann rauskramst, wenn’s mit deinem italienischen Hengst nicht läuft“, entgegnet er.
„So ist das überhaupt nicht.“
„Kommt mir aber verdammt so vor.“
„Stimmt aber trotzdem nicht.“
„Dann erzähl mir, wie es ist. Ich bin ganz Ohr.“
Fuck, er hat ja ein bisschen recht.
„Es tut mir leid“, murmle ich.
„Dafür kann ich mir auch nichts kaufen“, schnauft er, zieht seine Jacke an und geht.
So, und genau deswegen hatten wir vor drei Jahren beschlossen, nur Freunde zu sein. Weil Sex alles schwierig, kompliziert und letztendlich kaputt macht.
Im Salon ist es kaum noch auszuhalten. Überall Weihnachtsdeko. Normalerweise stört mich das nicht, weil ich die Weihnachtszeit mag. Abends bei Kerzenlicht Kakao schlürfen und Zimtsterne naschen, eingekuschelt in eine weiche Decke … oder mit meinem Freund Hand in Hand über den Weihnachtsmarkt schlendern und gebrannte Mandeln und Zuckerwatte essen … alles supi. Dass wir im Salon den Weihnachtsmarkt quasi vor der Tür haben, fand ich die letzten Jahre auch toll. Nur dieses Jahr will sich bei mir ums Verrecken keine weihnachtliche Stimmung einstellen. Das beschissene Gedudel des auf altertümlich getrimmten Karussells, an dem ich vorbei muss, wenn ich von der Arbeit nach Hause gehe, die glitzernden Buden, die Weihnachtslieder, die man andauernd hört, wenn Kunden in den Laden kommen … das nervt tierisch!
Momentan nervt allerdings das Gedudel in der Kirche noch mehr. Nico dagegen ist völlig hingerissen. Ich hab ja auch nichts gegen Barock- oder Renaissancemusik in schönem Ambiente, aber das Konzert hier dauert bereits gefühlte fünf Stunden. Und die Musiker werden und werden nicht fertig. Vorhin, als die ein Stück beendet hatten und mit einem neuen beginnen wollten, klingelte Nicos Handy. Das war vielleicht peinlich, weil sich zwanzig Köpfe zu uns drehten. Ich war sehr froh, dass Nico nicht ranging, sondern sein Handy ausschaltete. Hätte ihm auch mal früher einfallen können. Also, wie gesagt, ich bin für Cembalogeklimper und so was echt ab und zu empfänglich … nur hat mich Nico, seit wir zusammen sind, wahrscheinlich in sämtliche Konzerte dieser oder ähnlicher Art geschleppt und langsam reicht es. Mir wäre es sogar recht gewesen, wenn er heute seine Haxen-Hulda mitgenommen hätte. Wahrscheinlich kann die mit solchen Veranstaltungen nix anfangen, deshalb muss ich jedes Mal dran glauben. Die Haxe hört sicher bloß Rammstein und Unheilig und so einen grottigen Kackscheiß. Und bestimmt steht die auf Twilight! Oh Gott … Twilight … augenblicklich geistert ein zotteliger Punk im bunten Strickpulli durch meinen Schädel.
Apropos … inspiriert durch Heinrich den soundsovielten und seinem legendären Gang nach Canossa habe ich mich in mein Büßergewand geschmissen, vor Silas in den Staub geworfen, einen Kübel Asche auf mein Haupt geschüttet, tausendfach um Vergebung gebettelt und er … hat mich tagelang schmoren lassen, mir aber dann gnädigerweise doch verziehen. So irgendwie. Wir telefonieren ab und zu und es fühlt sich normal an, aber treffen will er sich nicht mit mir. Ich fürchte, unsere Freundschaft hat einen Riss davongetragen, der sich niemals wieder kitten lassen wird. Jedenfalls nicht gänzlich.
Oh gut, die Musiker sind endlich fertig, wofür ich Gott kurz danke … immerhin befinde ich mich in genau der richtigen Location dafür. Und weil das Konzert um sechs losging und tatsächlich „nur“ zwei Stunden dauerte, möchte Nico auf dem Weihnachtsmarkt einen Glühwein trinken. Wir begeben uns also nach draußen in die Kälte (übrigens war es in der Kirche auch kalt wie hulle), laufen an verschiedenen Kram- und Fressständen vorbei und stellen uns an einen runden Tisch in der Nähe der Glühweinhütte. Das heißt, ich stelle mich und Nico reiht sich in die Schlange ein. Es dauert etwas, bis er zurückkommt. Leider hat er mir ein Tässchen Fusel mitgebracht. Scheiße, ich hasse Glühwein! Silas würde sich übrigens niemals auf einem Weihnachtsmarkt irgendwo hinstellen und Glühwein saufen. Silas und ich tranken sonst immer bei mir zu Hause heißen Wintertee von Pfanner, weil der sehr lecker wie warme Fruchtmarmelade schmeckt. Na ja, mein Freund ist eben anders gestrickt. Wie anders fällt mir gerade erstmalig auf. Nico ist ohne Frage freakig. Aber auf eine total andere Art und Weise als Silas und ich beispielsweise. Ehrlich gesagt ist es mir fast peinlich, an einer Glühweinbude herumlungern zu müssen. Hoffentlich kommt jetzt keiner vorbei, den ich kenne.
Nach dem Weihnachtsmarkt gehen wir zu mir, verbringen einen gemütlichen Kuschelabend und Samstag kann ich mich zu Tode langweilen, weil Nico bei seiner Haxen-Zicke ist.
Die nächste Woche über ist im Salon schrecklich viel zu tun … sämtliche Omas der Stadt wollen vor Weihnachten noch schnell eine Dauerwelle. Es ist zum Kotzen. Noch sehr viel mehr zum Kotzen ist allerdings die Tatsache, dass Nico Weihnachten erst bei seinen Eltern ist … natürlich mit Haxen-Zicke … und danach bei den vermutlich zukünftigen Schwiegereltern. Ich hab offensichtlich bei seiner Familie nichts verloren und für mich bleibt an Weihnachten eh gar keine Zeit. Okay, ich kann ja verstehen, dass Nico keine Lust hat, seinen Eltern schnell noch zu beichten, dass er neben der Zicke einen schwulen Freund hat, aber er wollte eben auch nicht mit zu meiner Familie. Dafür will er mit mir Silvester verbringen … ohne Frl. Haxe. Was soll’s? Nehme ich halt, was ich kriegen kann, obwohl ich gerne was anderes hätte.
Meine Güte, war das ein Jahr, oder? Anstrengend bis zum Gehtnichtmehr. Und was hab ich jetzt so kurz vorm Jahresende vorzuweisen? Einen Freund, der nicht mir allein gehört. Einen besten Freund, der kaum noch was von mir wissen will. Eine verkackte Prüfung. Okay, dass ich Pia kennengelernt habe, gehört auf jeden Fall zu den netteren Sachen, die passiert sind.
Ansonsten kann es nächstes Jahr eigentlich nur besser werden.
Yeah … endlich Urlaub! Und zwei Tage vor Heilig Abend hat es sogar angefangen zu schneien. Unnötig zu erwähnen, dass ich jetzt gerne einen romantischen Spaziergang mit meinem Freund machen würde, aber der ist bereits bei seiner italienischen Großfamilie.
Und er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich ihn dort besser nicht anrufen sollte. Er würde sich melden. Dafür ruft Silas bei mir an.
„Hey, Kätzchen“, begrüßt er mich.
Entweder er ist besoffen oder er will irgendwas.
„Hast du morgen schon was vor?“
Hm, vielleicht kriege ich doch noch meinen Schneespaziergang …, wenn auch nicht gar so romantisch.
„Nee. Wieso?“
„Cool. Dann bist du hiermit eingeladen.“
„Wozu genau?“
„Zur Weihnachtsparty bei meinen Eltern“, lässt er die Bombe platzen.
„Auf keinen Fall.“
„Doch, Feli, auf jeden Fall. Erstens schuldest du mir noch was und zweitens bringt Silvester seine perfekte Freundin mit. Ich kann also unmöglich allein da aufkreuzen.“
„Und du bist der Meinung, dass du bei Mama und Papa mit einem schwulen Friseur …“
„Wir treffen uns um dreizehn Uhr am Bahnhof“, unterbricht er mich.
„Silas … bitte …“
„Danke“, sagt er und legt auf.
Großartig! Ein Abend bei seinen versnobten Arschloch-Eltern ist total nach meinem Geschmack. Aber wenn ich ihn versetze, spricht Silas wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit mir und ich hab tatsächlich was gutzumachen, nachdem ich mit ihm geschlafen habe, obwohl ich wusste, dass er mich irgendwie liebt. Jetzt mal ehrlich, Silas ist schließlich kein gefühlloser Klotz, also wird ihn mein Verhalten ziemlich verletzt haben. Okay, der Abend mit Nico und Frl. Haxe war definitiv schlimmer und ich habe ihn überstanden. Andererseits war ich schon mal bei Silas zu Hause und als die Eltern erfuhren, dass ich „nur“ Friseur werde und meine Eltern ganz gewöhnliche Leute sind ... für Silas’ Eltern stehen „gewöhnliche Leute“ bloß eine halbe Stufe über dem Penner an der Straßenecke!
Ich stehe einen Tag später um kurz vor eins am Bahnhof. Der Schnee ist übrigens über Nacht liegen geblieben, was mir heute total auf den Sack geht. Schnee in der Stadt ist nicht glitzernd und romantisch. Schnee in der Stadt ist grau, matschig und ekelhaft. Silas kommt wie immer aufm letzten Drücker, der Zug will gerade losfahren, als wir den Bahnsteig erreichen. Völlig außer Atem lasse ich mich auf einen Sitz fallen.
„Solltest weniger rauchen“, grinst mein bunthaariges Gegenüber.
„Ich mache das hier nur für dich“, erinnere ich ihn hustend.
„Bist ja auch ein netter Junge.“
„Sag das noch mal so dämlich und ich ziehe die Notbremse und steige sofort aus.“
„Cool, du hast schlechte Laune. Genau das, was man für meine Eltern braucht.“
Die Zugfahrt dauert vierzig Minuten, da sind wir aber trotzdem noch lange nicht, denn Silas’ Eltern wohnen selbstverständlich nicht in der stinkigen Stadt, sondern etwas außerhalb, weswegen Silvester uns mit dem Auto abholt. Vermummt wie ein Eskimo lungert er vorm Bahnhof herum.
„Silvi“, krakeelt Silas und springt seinem Bruder fast in die Arme.
„Fuck Schnee“, murmelt Silvi und klopft mir zur Begrüßung kurz auf den Rücken. „Hey, Feli, wie geht’s denn immer so?“
„Hm“, sage ich, steige ins Auto und sehne mich nach einem Heißgetränk.
Die normalerweise zwanzigminütige Fahrt dauert aufgrund der Wetterverhältnisse natürlich sehr viel länger, wird uns aber durch Silas’ Weihnachts-CD von den Roten Rosen versüßt.
„Campino, der alte Sack“, behauptet Silvester. „Silas, mein Junge, du bist Punk, oder? Wie kannst du dir so’ne Kommerzscheiße anhören?“
„Halt’s Maul und fahr. Das Kätzchen aufm Rücksitz ist schon fast zum Eiszapfen mutiert.“
„Nicht abgehärtet, die kleine Mieze, mh?“, grinst Silvester.
„Wenn deine Angeberkarre über eine gescheite Heizung verfügen würde, wäre das durchaus von Vorteil“, entgegne ich.
„Die Heizung läuft auf volle Pulle, Frostbeule.“
„Hier hinten nicht.“
Leise rieselt der Schnee … singt Campino.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir endlich am Ziel. Das Haus ist wirklich schön. So’n bisschen altmodisch mit ’nem Türmchen nach hinten raus. Leider ist das Innere des Hauses geradezu unpassend modern eingerichtet. Knarrende Treppenstufen und Heimeligkeit gibt’s hier nicht. Alles neu, hell und irgendwie kalt.
„Wenn die Gäste kommen, seid ihr hoffentlich umgezogen“, ist das erste, was die Mama uns an den Kopf schmeißt.
„Mutter“, ergreift Silas das Wort, „du erinnerst dich an Feli?“
„Nein. Sollte ich?“ Sie mustert mich geringschätzig, während ich Jacke und Mütze ausziehe und ihr anschließend brav die Hand gebe. „Ach, Sie sind doch der Friseur. Wie nett.“
Ihr Lächeln täuscht. Sie würde mich am liebsten draußen irgendwo anbinden, wie man das mit Kötern vor Supermärkten macht. Dabei sehe ich wesentlich weniger abgerissen aus als ihr jüngster Sohn. Na ja, wahrscheinlich bindet sie ihn grad in der Phantasie neben mir an.
„Du hast nicht gesagt, dass du jemanden mitbringst, Silas.“
„Ist das ein Problem?“
„Nicht so sehr wie dein Outfit“, raunt sie ihm zu und verschwindet, um den Cateringservice und die Häppchen-Tabletts zu überwachen.
Willkommen in der Hölle!
Dr. Dr. Berger stiefelt mit einigen Flaschen Wein im Arm aus dem Keller in Richtung Küche und nickt uns im Vorbeigehen relativ freundlich zu. Im Wohnzimmer erwartet uns eine Blondine, die mit ihrer Lockenmähne stark dem berühmten Christkind ähnelt.
„Hab ich dir zu viel versprochen?“, flüstert Silas.
Ich nehme an, das ist Silvesters Freundin.
„Ich nehme an, du bist Silas’ Freund“, lächelt sie lieblich.
„So was in der Art“, sage ich. „Feli.“
„Das ist Karina“, sagt Silvester mit Herzchenaugen und legt seinen Arm um die Schöne.
Silas stupst mich ungeduldig an. „Lass uns nach oben gehen, bevor wir meiner Mutter noch mal über den Weg laufen.“
In seinem Zimmer fühle ich mich nicht mehr ganz so verloren und fehl am Platz. Silas’ Zimmer ist nämlich, im Gegensatz zum restlichen Haus, gemütlich, punkig-chaotisch.
„Ich bin echt froh, dass du da bist“, erklärt Silas und kramt eine Flasche mit grüner Flüssigkeit aus dem Schrank. Danach stellt er zwei Gläser auf die schwarze Kommode und klaubt aus seiner Tasche ein Päckchen Würfelzucker. Oh Mann, das wird ein anstrengender Abend, wenn er jetzt schon bereit ist, sich zu besaufen. Der Absinth hat die gleiche Farbe wie seine Haare. Ich werde von Absinth schneller breit, als man kucken kann, weswegen ich dankend ablehne, als er mir ein Glas hinhält.
„Spielverderber“, seufzt Silas und kippt sich die grüne Fee hinter die Binde.
Als wir zusammen auf seinem Bett hocken, schleicht sich eine schmutzige kleine Phantasie in meinen Kopf. In dieser Phantasie habe ich mit einem angetrunkenen Punk, der nach Lakritze schmeckt, wilden Sex, während den Partygästen unten Champagner und Häppchen serviert werden. Dass ich einen Freund habe, interessiert meine Phantasie offenbar einen Scheißdreck.
Mmhhh… Silas hat diese geil schlaksige Figur, ist aber nicht zu dünn, wenn man ihn anfasst. Seine Haut ist total weich und er riecht ganz unglaublich gut. Verdammt, wenn ich nicht sofort aufhöre, krieg ich ’ne Latte.
„Was schwitzt du denn so?“, fragt er plötzlich.
Hektisch wische ich mir mit der Hand über die Stirn. „Kommt vom Absinth.“
„Ach so“, nickt er. Dann erscheint ein gefährliches Grinsen auf seinem Gesicht. „Du hast gar nichts davon getrunken, Feli.“
Mann, ich würd ihn echt gerne küssen. Einfach so. Stundenlang knutschen. Seine weichen, vollen Lippen. Okay, Feli, das reicht jetzt!
„Das ist sicher Angstschweiß oder so“, überlegt er. „Meine Mutter ist der Antichrist. Zum Glück ist ihr Erstgeborener da, mit dem sie angeben kann. Und wenn du nicht da wärst, würde sie mich bestimmt den Abend über im dunklen Keller einsperren.“
„Wieso gibst du dir das eigentlich freiwillig?“
„Weil Silvi mich drum gebeten hat“, zuckt er die Schultern.
Meine Hand schiebt sich in seine. Keine Ahnung, warum, und er nimmt seine Hand auch gleich weg.
„Lass das.“
FICKEN, schreit meine Phantasie, der ich mal eben das Maul stopfen muss. Ey, was zum Arsch ist los mit mir?
Silas begnügt sich mit zwei Gläsern Absinth und am frühen Abend trudeln die Gäste ein. Er hat sich extra ein paar feine Klamotten von seinem Bruder geliehen … nicht, dass er sonst doch noch in den Keller gesperrt wird. Ich hab meine Prüfungsklamotten angezogen und finde, das sollte reichen, um nicht unangenehm aufzufallen.
Im Laufe des Abends hab ich die Gelegenheit, mich etwas ausführlicher mit Karina zu unterhalten. Der scheint das alles hier auch nicht so geheuer zu sein. Ihre Eltern gehören ebenfalls zu den eher gewöhnlicheren Leuten. Sie kann sich allerdings sehr gut verstellen und smalltalkt gekonnt mit den Gästen … sicher alles Ärzte und Rechtsanwälte mit richtig viel Schotter. Außer Silas, Karina und Silvester redet übrigens niemand mit mir. Vorgestellt werde ich eh nicht. Muss ja niemand wissen, dass ich der schwule Freund des Sohnes der Gastgeber bin. Überhaupt soll niemand wissen, dass der Sohn der Gastgeber schwul ist. Macht sich halt nicht so gut. Schlimm genug, dass er bunte Haare hat. Mir wird wieder einmal deutlich klar, wie toll meine Eltern sind!
Irgendwann befinde ich Silas für angeschickert genug und bugsiere ihn die Treppe rauf in sein Zimmer. Dort wartet die Flasche Absinth. Jetzt genehmige ich mir auch ein Glas.
„Sag mal, hast du gar keinen Hunger?“
Na ja, doch. Die Häppchen hab ich nicht angerührt, weil ich kaum wusste, was das alles war.
„Ich schleich mich runter und kucke, ob in der Küche irgendwas Essbares ist.“
„Deine Mutter wird erfreut sein, wenn du besoffen durchs Haus schleichst.“
„Ich muss was essen, sonst breche ich zusammen“, erklärt er und ist schon zur Tür raus.
Eine Weile später verspeisen wir Marmeladenbrote und Zimtsterne.
„Wieso war Tante Heike eigentlich nicht da?“
„Die hat sich höflich entschuldigt. Wie immer. Tante Heike steht auch nicht auf Häppchen.“
„Kann ich total verstehen“, murmle ich und lege mich bequem aufs Bett, weil mir vom zweiten Glas Absinth duselig im Kopf ist.
Silas legt sich bequem neben mich. Und er schmiegt sich an, was ich grad echt nicht gebrauchen kann, weil sogleich meine Phantasie zurückkehrt. In meinem Bauch flattern Schmetterlinge aufgeregt umher. Der kleine Punk räkelt sich träge, wobei sein Hemd hochrutscht und mir einen Blick auf seinen niedlichen Bauch gewährt. Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und berühre seine Haut. Silas seufzt leise. Ich lasse meine Fingerspitzen über seinen Bauch wandern und beginne, seinen Gürtel zu öffnen. Bis Silas meine Hand festhält und mich ansieht.
„Feli, was treibst du da?“
„Ich würd dir so irre gern einen blasen“, flüstere ich völlig überwältigt.
„Okay, für dich keinen Absinth mehr.“
Ich befreie meine Hand aus seinem Griff, setze mich auf seinen Schoß, drücke seine Handgelenke auf die Matratze und beuge mich zu ihm runter.
„Und ich will, dass du mich fickst. Jetzt!“
Oh wow … es ist deutlich zu spüren, dass er auch will.
„Du machst mich fertig, Feli, echt“, schüttelt er den Kopf.
Langsam knöpfe ich sein Hemd auf und kratze mit den Fingernägeln leicht über seine Brust. Ich weiß genau, dass er sich dagegen nicht wehren kann.
„Feli …“, stöhnt er gequält.
Dann wirbelt er mich auf einmal herum, sodass er auf mir liegt.
„Das wird kein netter Gemütlichkeitsfick“, warnt er.
„Mmhhhh… Tiger“, grinse ich und küsse ihn.
Danach schlägt die Realität meine Phantasie um Längen!
„Hey, Kätzchen, wach auf.“
Haarspitzen kitzeln mein Gesicht, ich strecke mich lächelnd und spüre gleich darauf warme Lippen auf meinem Mund. Ich spüre noch etwas. An meinem Finger. Etwas Hartes. Ich öffne die Augen und schiele in Richtung Hand … da grinst mir Silas’ hässlicher Totenkopfring entgegen. Was zum Teufel …? Oh … die Erinnerung kehrt zurück, jedenfalls bruchstückhaft. An Silas’ Ohrläppchen baumelt eine kleine, silberne Fledermaus. MEINE kleine, silberne Fledermaus. Ich glaube, wir haben gestern Nacht so was wie geheiratet. Sicher bin ich mir nicht … der scheiß Absinth. Silas, der blöde Penner, hat mir das Gesöff tonnenweise eingeflößt. Komischerweise habe ich keinerlei Kopfschmerz oder Übelkeit. Nur ab irgendwann einen Filmriss.
„Silvi bringt uns gleich zum Bahnhof.“
„Uns?“
„Dich und mich“, nickt er.
„Wieso? Bleibst du nicht hier?“
„Sehe ich so aus?“, fragt er verständnislos. „Wir sind heute bei deinen Eltern.“
„Ach ja?“
Silas schaut mich skeptisch an. „Äh… weißt du noch, wie du heißt?“
„Sehr lustig“, gähne ich.
„Die grüne Fee hat mächtig reingehauen, mh? Geh duschen und zieh dich an, dann reicht die Zeit grad noch für ’nen Kaffee.“
Den Kaffee kann ich nur zur Hälfte runterkippen, weil Silvester bereits draußen ist und seine Karre wenigstens halbwegs vom Schnee befreit. Die Verabschiedung von den Eltern ist kurz und frostig. Vom Doppeldoktor kriegt Silas einen Umschlag zugesteckt … sein Weihnachtsgeschenk. Ich bin den Eltern nicht mal ein Händeschütteln wert. Dafür umarmt mich Karina sehr herzlich und wünscht mir schöne Weihnachtstage und so weiter.
Die Fahrt zum Bahnhof geht bloß im Schneckentempo … einen gescheiten Räumdienst scheint es hier am Arsch der Welt nicht zu geben. Aber irgendwann nach tausend Stunden sind wir da. Silvester umarmt seinen Bruder, dann bin ich an der Reihe. Das heißt … er tippt auf den Totenkopfring.
„Pass gut auf meinen kleinen Bruder auf. Wenn du ihm wehtust, trete ich dir in die Eier. Alles klar?“, lächelt er.
Ich nicke stumm.
Als Silas beim Gehen meine Hand hält, wird mir das Ausmaß der gestrigen Nacht deutlich. Ich meine, er denkt vermutlich, dass wir jetzt zusammen sind. Scheiße, was hab ich angerichtet? Auch dass er auf dem Bahnsteig seine Arme um mich schlingt, weil ich friere wie Hulle, weil der Zug ungefähr eine Stunde Verspätung hat, beunruhigt mich ein bisschen. Klar ist das total süß von ihm, aber … ich hab immer noch einen Freund. Und dieser Freund heißt Nico. Ich sollte dringend mit Silas reden. Allerdings nicht unbedingt an Heilig Abend.
Nach Weihnachten ist früh genug, beschließe ich und reibe meine Wange an seinem warmen Strickschal.
Völlig durchgefroren und mit zwei Stunden Verspätung bin ich endlich wieder Zuhause. Silas wollte noch in seine Wohnung und mich später abholen. Ich überlege, den Ring abzunehmen, entscheide mich jedoch dagegen, weil Silas unangenehme Fragen stellen würde. Dann entscheide ich mich auch noch dagegen, Nico anzurufen. Der Scheißkerl hat sich natürlich nicht gemeldet, obwohl er es quasi versprochen hatte. Schnuckelt wahrscheinlich gerade mit seiner Haxen-Trulla im Kreise der italienischen Familie.
Am Nachmittag stehen wir bei meiner Familie auf der Matte.
„Ich liebe euer Haus“, informiert mich Silas überwältigt.
Ich liebe „unser“ Haus auch. Es ist dunkelgrün und düster, weil kilometerhohe Tannen davor stehen. Es hat oben kleine, halbrunde Fenster, einen verwilderten Garten und schmiedeeiserne Zaunspitzen. Ein totales Märchenhaus. Allerdings wohnen meine Eltern bloß zur Miete. Gehören tut das Haus Frau Henriette Mendel, die wahrscheinlich noch älter ist als Rosalie und hier souterrain haust … bis vor zwei Jahren noch mit ihrem Mann. Seitdem der nicht mehr da ist, kümmert sich Mom um sie, geht einkaufen und so, weil Frau Mendel inzwischen gehbehindert ist. Frau Mendel nennt Mom immer „mein Mädchen“ und ich bin mir sicher, dass Mom das Haus irgendwann mal erben wird, weil Frau Mendel weder Kinder noch Verwandte hat. Natürlich lädt Mom sie ein, Heilig Abend bei uns zu verbringen, aber Frau Mendel steht nicht auf Weihnachten und will lieber ihre Ruhe haben. Eine große Tüte Weihnachtsplätzchen kriegt sie trotzdem und ein Geschenk ebenfalls. Meine Eltern bekommen von ihr jedes Jahr zu Weihnachten Geld.
„Feli“, begrüßt mich Mom, „wieso hast du nicht gesagt, dass du deinen Freund mitbringst?“
„Silas ist nicht … er ist spontan auf die Idee gekommen … äh…“, stottere ich blödsinnig.
„Geht ins Wohnzimmer und helft Tina beim Schmücken“, kommandiert sie fröhlich. „Ich muss umdisponieren.“
Was immer sie damit meint. Wir gehen ins Wohnzimmer, wo meine Schwester die letzten Strohsterne an die Nordmanntanne hängt. Paps steht daneben und friemelt die Lichterkette auseinander.
„Nächstes Jahr gibt’s echte Kerzen“, behauptet er, „den Scheiß mach ich nicht noch mal mit. Hallo, Jungs.“
Silas schnappt sich sogleich ein Stück Lichterkette und dröselt die Birnchen auseinander, während Tina die leeren Christbaumkugelkartons in die Weihnachtskiste legt und danach einen skeptischen Blick auf den Baum wirft.
„Früher war mehr Lametta“, sage ich mit meiner besten Opa Hoppenstedt-Stimme.
„Dieses Jahr bleibt der Baum grün. Naturgrün“, antwortet Paps.
„Und wenn Feli sein Gedicht aufgesagt hat, wir Geschenke ausgepackt und die Weihnachtssendungen im ersten Programm gesehen haben, dann wird’s gemütlich“, steigt Tina sofort lachend mit ein.
Mom findet, dass es jetzt gemütlich wird. Sie serviert heißen Kakao und Plätzchen. Glühwein oder andere alkoholische Getränke sind bei uns nicht gestattet, weil Paps mal ein ziemliches Alkoholproblem hatte. Tina und ich waren damals noch sehr klein und Paps war arbeitslos.
Zum Glück hat er die Kurve gekriegt, einen neuen Job gefunden, dann sind wir hierher gezogen und alles war gut. Jedenfalls hat Paps seither nie wieder einen Tropfen angerührt.
Nach unserem traditionellen Heilig-Abend-Essen, Toast Hawaii, kommt die Bescherung. Früher wurden Tina und ich immer in der Küche eingesperrt, während Mama und Papa die Geschenke unter den Baum legten und Süßigkeiten hinstellten. Erst wenn das Glöckchen klingelte durften wir ins Wohnzimmer. Heute läuft’s natürlich nicht mehr so geheimnisvoll ab. Mom ist etwas angepisst, weil ich Silas so spontan mitgebracht habe und er nun kein Geschenk bekommt. Dafür hat sie ihm aber noch schnell einen Süßigkeitenteller zurechtgemacht. Silas ist damit total zufrieden und sowieso viel lieber hier als bei seinen Arschloch-Eltern, was ich gut verstehen kann.
Da es draußen schon wieder schneit wie Hulle, beschließen Silas und ich, hier zu übernachten. Mein Zimmer ist schließlich noch fast genauso, wie ich es verlassen habe. Mom ist etwas gluckenhaft und wollte eh nicht, dass ich ausziehe, aber Paps meinte nur, es wäre an der Zeit, dass der Junge lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Wie dem auch sei … wir verziehen uns in mein Zimmer und Silas kramt ’ne DVD aus seiner Tasche.
„Was wäre Heilig Abend ohne George Bailey?“, grinst er.
Tja, da ist was dran. Auf dem uralten Minifernseher kommt der Film zwar nicht ganz so toll, aber egal. Man kennt ihn ja sowieso in und auswendig. Zusammengekuschelt liegen wir im Bett, essen weihnachtlichen Süßkram, kucken „Ist das Leben nicht schön?“, draußen schneit’s und ich muss zugeben, dass ich gerade echt glücklich bin. An Nico denke ich nicht eine Sekunde.
Die letzten Tage waren Silas und ich praktisch ununterbrochen zusammen. Am zweiten Weihnachtstag haben wir uns der mütterlichen Fürsorge entzogen und sind seitdem in meiner Wohnung. Ich glaube, Silas ist wirklich sehr verliebt in mich. Seine Augen glänzen, wenn er mich ansieht, andauernd will er knutschen und schmusen, wir hatten gigantomanisch heißen Sex und ich hab ihm verheimlicht, dass Nico mir schwülstige Nachrichten geschickt hat, weil er mich anders nicht erreichen konnte, weil mein Handy meistens ausgeschaltet war. Ich hab nicht die geringste Ahnung, was ich eigentlich mache.
„Wollen wir übermorgen in den Kristallpalast?“, fragt Silas und steckt sich eine Rumkugel in den Mund.
Ah, mein fucking Stichwort. Übermorgen ist Silvester.
„Ich … ähem … also, na ja …“, stottere ich hilflos.
„Wir können auch woanders hin“, zuckt er die Schultern.
„Eigentlich … also … ich bin mit Nico verabredet.“
Silas’ Blick ist kaum zu ertragen. Ich fühle mich, als hätte ich ihm den Todesstoß versetzt.
„Aber ich dachte …“ Er spricht den Satz nicht zu Ende, so als wäre ihm plötzlich klar, dass er sich komplett zum Narren machen würde.
„Silas, ich …“
„Und was ist damit?“, will er wissen und deutet auf den hässlichen Totenkopfring, den ich noch trage.
Langsam ziehe ich das Teil von meinem Finger.
„Das war doch … nur Spaß, oder? Ich meine, wir haben nicht wirklich … wir sind nicht …“
„Spaß“, schnauft er. „Du hast gesagt, dass du mich liebst.“
„Ich war so besoffen, dass ich mich kaum noch erinnern kann.“
Oh Schande! Das sollte nicht dermaßen fies klingen.
„Weißt du, ich hab das ernst genommen“, erklärt er, während er durch die Wohnung läuft, seine Klamotten zusammenrafft und in seine Tasche stopft. „Ich hab tatsächlich geglaubt, dass du mich liebst und mit mir zusammen sein willst. Dass du endlich gecheckt hast, was für ein Griff ins Klo die kranke Sache mit dem Italiener war. Oh Mann, ich muss echt bescheuert gewesen sein, dir zu vertrauen.“
„Silas …“
„Halt’s Maul, okay? Noch ein Wort und ich hau dir eine rein“, schreit er mir ins Gesicht.
„Geh und fick deinen scheiß Italiener. Meinetwegen auch noch seine dürre Zicke. Ich wünsch euch dreien ein schönes Leben, Arschloch“, brüllt er und knallt die Tür zu.
Na, wenn das mal nicht super gelaufen ist.
In meinem ganzen Leben hab ich mich noch nicht so schlecht gefühlt wie im Augenblick. Wie konnte mir denn alles nur dermaßen … entgleiten? Hab ich echt gedacht, ich könnte mit Silas ein bisschen auf Pärchen machen und danach zu meinem Freund zurückkehren, ohne dass dadurch jemandem wehgetan wird? Und hatte ich Nico nicht versprochen, dass ich nie wieder hinter seinem Rücken irgendwas mit irgendwem treibe? Glaubt mir bitte wer, dass das alles keine Absicht war und ich wirklich niemanden verletzen wollte? Fuck, ey, Silas’ Blick geht mir nicht aus dem Kopf. Ich möchte wetten, wenn er eine Minute länger geblieben wäre, hätte er angefangen zu heulen. Meinetwegen.
„Ich hab mich doch aufgeführt wie ein egoistisches Stück Mist, nicht nur die letzten Tage.
Seit Nico mit seiner Haxen-Tussi aufgetaucht ist, nutze ich Silas ohne Rücksicht auf Verluste aus. Und er hat mir immer wieder verziehen. Und ich hab ihn immer wieder verletzt und enttäuscht.“ Das erzähle ich Pia, die ich aus lauter Verzweiflung eben angerufen habe.
„Dich selbst fertig zu machen ist keine Lösung“, findet sie. „Überleg dir dringend, was du willst und wen du liebst.“
Ach du Kacke! Ich wollte doch glatt sagen, dass ich wahrscheinlich beide liebe. Silas und Nico. Bin ich noch zu retten? Warum schlage ich nicht allen Beteiligten eine lustige Viererbeziehung vor?
„Bring die Sache mit Silas in Ordnung und danke Gott dafür, wenn er dich überhaupt noch haben will. Und trenn dich endlich von dem Italiener!“, meint Pia mir auf die Sprünge helfen zu müssen.
Das Telefonat hat mir leider nicht auf die Sprünge geholfen. Die ganze Nacht tigere ich durch die Wohnung … und vermisse einen süßkramsüchtigen, Strickpullis liebenden, bunthaarigen, zotteligen, verschmusten Punk. Dann wieder schleicht sich das Bild von Nico in meinen Kopf, wie er am Cembalo sitzt und für mich spielt.
Unausgeschlafen und mit Augenringen bis zum Fuß gehe ich am nächsten Morgen ans Telefon, als Nico anruft.
„Wo warst du? Ich hab tausendmal versucht, dich anzurufen.“
„Mein Telefon war irgendwie kaputt oder so“, antworte ich müde.
„Ich hab dich vermisst, mein Schatz“, faselt er.
„Ich dich auch“, sage ich reflexartig.
„Und … Weihnachten gut überstanden?“
„Ja.“
„Feli, bist du sauer? Weil wir nicht zusammen …“
„Nein“, unterbreche ich ihn.
„Okay, also dann sehen wir uns morgen, ja?“
„Klar.“
„Ich freu mich total auf dich“, freut er sich total.
„Ich mich auch. Bis dann.“
Seit wann fällt es mir eigentlich so schwer, Entscheidungen zu treffen? Oder anders ausgedrückt: Nützt es noch was, mich zu entscheiden? Silas hab ich mit Sicherheit für immer und ewig vergrault. Nico hab ich wenigstens zur Hälfte. Aber das wird auf die Dauer nicht reichen. Es reicht ja jetzt schon nicht. Jedes Mal, wenn ich an Silas denke, wird mir übel und meine Kehle schnürt sich zu. Ich weiß aber nicht, ob das nur mein schlechtes Gewissen ist und ich ihn einfach als besten Freund vermisse oder … na ja, selbst wenn ich’s wüsste, es würde keine Rolle mehr spielen, weil ich ihn, wie gesagt, sehr erfolgreich vergrault habe. Ich würde mir im Leben nicht verzeihen. Und gleich muss ich mit Nico Silvester feiern, obwohl ich mir lieber die Kante geben würde. Und zwar allein. Ich frage mich, was Silas grad macht … wie es ihm geht … ich rufe ihn an … und er drückt mich weg. Was hab ich erwartet?
Nico freut sich offenbar immer noch total auf mich. Die Begrüßungsumarmung dauert gefühlte fünf Minuten. Danach quatscht er weitere gefühlte fünf Stunden auf mich ein.
Er will tatsächlich auf die Party im Wohnheim gehen, die in irgendwelchen Gemeinschaftsräumen stattfindet. Ich kann mir ungefähr vorstellen, dass die Haxen-Zicke mit Sicherheit ebenfalls dort sein wird. Und ich kann mir vorstellen, dass Nico es wieder genießen wird, mit seinem Freund und seiner Freundin umherzuflanieren, um allen zu zeigen, was für ein toller Hengst er ist. Komischerweise bin ich weder besonders überrascht noch besonders beleidigt. Es ist mir vollkommen egal, weil sich mein Herz schon längst entschieden hat. Bloß der Kopf stand wie ein dämlicher, lahmarschiger Blödmann auf der Leitung.
„Ich denke, ich werde die Party ausfallen lassen“, höre ich mich sagen. „Und wo wir schon dabei sind … lasse ich auch lieber diese Dreierbeziehung. Das ist einfach nichts für mich.“
„Feli“, beginnt er und reißt entsetzt seine Augen auf, „was … du willst Schluss machen?“
„Genau das.“
„Ich liebe dich“, behauptet er.
„Nicht genug, Nico. Und ich kann nicht mehr mit einem Typen zusammen sein, der mich hauptsächlich aus irgendwelchen scheiß Imagegründen neben sich haben will. Der Auftritt im Kristallpalast hat mir gereicht.“
„Schatz, wir müssen nicht auf die Party, wir können auch allein …“
„Das wird Vivien sicher gefallen.“
„Sie wird das schon verstehen.“
Ja, der einzige, der nichts kapiert, ist er. Zum ersten Mal tut Vivien mir wirklich leid. Zum ersten Mal begreife ich, wie schlimm das alles für sie sein muss.
„Es ist der verlauste Punk, hab ich recht?“, zischt er auf einmal wütend.
„Ich gehe jetzt. Mach’s gut.“
„Hast du ihn die ganze Zeit über gefickt?“, brüllt er mir nach. „Du bist kein bisschen besser, Sebastian.“
Mag sein. Aber im Gegensatz zu ihm fühle ich mich nicht auch noch wohl dabei.
Okay, es gibt bloß zwei Möglichkeiten. Das stimmt natürlich nicht. In Wirklichkeit gibt es unzählige, aber ich will mir doch nicht selbst jegliche Hoffnung nehmen. Da könnte ich mir genauso gut gleich das Leben nehmen. Wie ein Irrer rase ich durch Kälte und Schneematsch, klingele Sturm bei Silas und … nichts. Seine Fenster, die nach vorn rausgehen, sind dunkel. Also Möglichkeit zwei. Wenn es die auch nicht ist … es findet sich bestimmt eine hübsche Brücke, von der man hopsen kann.
Im Kristallpalast ist es rappelvoll und offensichtlich haben sich heute sämtliche, bunthaarige Jungs der Welt hier eingefunden. Ich remple durch die Massen, überlege, wo er sonst sein könnte … bis ich ihn an der Theke sehe. Und er ist nicht allein. Ein magersüchtiger Emo griffelt an ihm rum. Was zum Arsch ist mit den Leuten los, dass die alle figurmäßig wie Zwölfjährige aussehen wollen? Nebenbei, Silas steht gar nicht auf dürre Haxen, aber mich scheinen die zu verfolgen wie ein gottverdammter Fluch. Was soll’s! Das Emo-Gerippe hält mich nicht davon ab, MEINEN süßen Zottelpunk zurückzugewinnen. Ich gehe schnurstracks auf die beiden zu.
„Ach du Scheiße“, lese ich von Silas’ Lippen ab, bevor er sich demonstrativ umdreht.
„Ich muss mit dir reden“, brülle ich ihm ins Ohr.
„Ich hab zu tun“, brüllt er zurück, kippt einen Tequila runter und knutscht den Emo auf den Mund.
Aggressiv reiße ich ihn von dem Magersüchtigen weg.
„Du hörst mir zu, verdammte Scheiße!“
„Hast du wieder Stress mit deinem Italiener?“, fragt er spöttisch.
„Nein, ich hab Schluss gemacht, weil …“
„Oh, tut mir leid, ich hab schon meinen Silvesterfick, aber …“, er schaut sich um, „biete dich doch einfach irgendwem hier an, ich bin sicher …“
„Und was ist damit?“, unterbreche ich ihn und halte meine Hand hoch. Der hässliche Totenschädel an meinem Finger blitzt im Discolicht kurz auf.
„Geschenkt. Mir bedeutet der eh nichts mehr.“
Aus lauter Verzweiflung schlinge ich meine Arme um ihn.
„Ich liebe dich, du Idiot. Ich will mit dir zusammen sein.“
Seine Arme bewegen sich kein Stück, langsam lasse ich ihn los und die Erkenntnis, dass es tatsächlich zu spät ist, setzt ein. Silas’ Blick ist kalt.
„Komm gut ins neue Jahr“, lächele ich und mache, dass ich rauskomme, damit ich nicht vor ihm und seinem dürren Emo-Kerlchen in Tränen ausbreche.
Nachdem ich ein paar Schritte durch den grauen, nassen Matsch gestapft bin, rüttelt auf einmal jemand an meiner Schulter. Ich kriege beinahe einen Infarkt vor Schreck.
„Denkst du echt, du faselst was von Liebe und ich sinke sofort in deine Arme?“, faucht Silas.
„Junge, geht’s noch?“
„Was soll ich sonst machen? Ich kann dir doch nur sagen, dass ich dich liebe und …“
„Wieso sollte ich dir glauben, hä? Vorgestern war alles noch ein Witz für dich.“
„Vorgestern war ich noch total verpeilt. Wie das gesamte letzte Jahr.“
„Cool, und morgen hast du wieder den Durchblick und rennst zu deinem Italiener.“
Silas sieht so unglaublich süß aus mit seinem kilometerlangen Strickschal in Neonfarben, der engen, schwarzen Jeans und den schweren Schuhen. Am liebsten würde ich ihn küssen und für immer und ewig festhalten. Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und streiche ihm eine seidenweiche Ponysträhne hinters Ohr. Genau in diesem Moment geht irgendwo pfeifend eine Silvesterrakete los. Gleich darauf knallt es unaufhörlich und der Himmel ist voller bunter Lichter. Silas zieht eine Grimasse, als täte ihm was weh.
„Super Timing. Genau das brauche ich jetzt“, zischelt er in seinen Schal. „Bloß weg hier.“
„Wohin gehen wir?“, frage ich nach einer Weile.
Silas ignoriert die fröhlichen Leute, die an uns vorbeilaufen, Sektflaschen schwenken und „Frohes neues Jahr“ krakeelen.
Das heißt … den Jugendlichen gerade brüllt er: „Drauf geschissen, ihr Penner!“ hinterher.
„Wohin …“
„Zu dir“, entgegnet er, was mich dazu veranlasst, Hoffnung zu schöpfen und mutig nach seiner Hand zu greifen. „Meine Heizung ist kaputt, in der Wohnung ist es eiskalt. Und da du mir bei dem Emo die Tour vermasselt hast … muss ich ja wohl bei dir übernachten, wenn ich nicht erfrieren will.“
Okay, meine Euphorie lässt etwas nach, Silas’ Hand halte ich allerdings immer noch.
Zuhause drehe ich die Heizung rauf und reiche dem schnatternden Punk auf der Couch eine Decke, in die er sich einwickelt.
„Glaub bloß nicht, dass jetzt alles in Ordnung ist. Ich bin nur hier, weil ich nirgendwo sonst hin kann.“
„Soll ich dir einen heißen Kakao machen?“
„Nein, danke.“
„Was zu essen … Süßigkeiten?“
„Nein. Was soll der Scheiß? Alles, was ich will, ist pennen. Also verzieh dich“, schreit er und zieht sich die Decke über die Ohren.
Keine Ahnung, ob es die Anspannung ist, oder dass er mich anbrüllt oder dass er bei mir ist und ich ihn nicht küssen kann, aber ich fange peinlicherweise an zu flennen. Ich kann nichts dagegen tun.
„Heulst du etwa?“, stöhnt er genervt. „Ey, was bist du? ’Ne kleine Pussy, oder was?“
„Leck mich, Blödarsch“, schniefe ich.
„Tut weh, mh? Genauso hab ich mich gefühlt. Jedes Mal, wenn du wieder zu deinem Italiener gelaufen bist.“
Ja, gib’s mir, ich hab’s verdient!
„Es tut mir leid, was soll ich denn noch sagen? Die Sache mit Nico war ein Fehler, ich weiß jetzt, dass ich dich liebe und …“
„Hör endlich auf zu heulen, Schwachkopf“, murmelt er, rappelt sich lautstark von der Couch und stellt sich dicht vor mich hin. „Das ist deine allerletzte Chance, Feli.“
Wahhhh… ich glaub, ich hör nicht richtig.
„Heißt das …?“
„Eigentlich hatte ich mir fürs neue Jahr vorgenommen, nicht noch mal auf dich reinzufallen, aber der Vorsatz war ja wohl komplett für’n Arsch. Tränen ziehen irgendwie immer“, schüttelt er den Kopf und umarmt mich.
„Ich lieb dich, Silas“, schluchze ich und küsse ihn.
Ungefähr so lange, bis er mich wegschiebt, als ich gerade dabei bin, an den Knöpfen seiner Jeans zu fummeln.
„Warte mal … du kriegst heute keinen Sex.“
„Mann, das ist mir doch egal.“
Silas blickt mich skeptisch an.
„Na ja, nicht egal, aber …“
„Lass uns einfach ’n bisschen den Ball flach halten, okay? Zusammen sein und so, ich finde, das ist erst mal wichtiger. Dass es im Bett gut läuft, wissen wir.“
„Schläfst du trotzdem heute Nacht bei mir?“
„Meinetwegen. Deine Couch ist eh höllisch unbequem.“
Es hat einige Zeit gedauert. Silas war tierisch misstrauisch und vorsichtig. Ich war und bin tierisch verliebt und wollte ihn am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag küssen. Bestimmt hab ich ihn damit manches Mal überfordert, aber ich bin halt verrückt nach ihm. Na ja, und er konnte sich irgendwann auch nicht mehr dagegen wehren.
Nico hat sich zum Glück nie wieder bei mir gemeldet, aber Silas sieht in ab und zu im Wohnheim … zusammen mit der dürren Haxe.
Meine Prüfung hab ich inzwischen bestanden und Pia hat klammheimlich Silas’ vorherigen Platz bei mir eingenommen. Unnötig zu erwähnen, dass die beiden sich ebenfalls total mögen.
Happy End? Auf jeden Fall. Wobei … ein Ende steht bei Silas und mir definitiv nicht zur Debatte. Vierundzwanzig Stunden am Tag küssen, will er jetzt übrigens auch. Und zwar nur mich!
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