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DSDMB

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Ferdi

Für einen Moment weiß ich überhaupt nicht, wo ich bin. Im Krankenhaus? Nein, kann ja gar nicht sein. Ich bin in Berlin, und der Arm unter meinem Kopf gehört dem grünhaarigen Wassermann, der es irgendwie tatsächlich fertig gebracht hat, dass ich eingeschlafen bin. Ich war aber auch echt fertig, nach dem Tag gestern. Mein Magen knurrt so laut, dass ich zusammenzucke. Ein Blick auf die Uhr verrät mir allerdings, dass es noch eine Weile dauern wird, bis es Frühstück gibt. Naja, es ist sowieso mal wieder Zeit für ein bisschen Sport. Ich hab an der Rezeption etwas von Fitnessraum gelesen. Vermutlich nicht mehr als ein Laufband und ein paar Hanteln, aber dabei muss ich wenigstens nicht darüber nachgrübeln, wie es dazu kommen konnte, dass ich Schröder so nah an mich herangelassen habe. Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Das ist alles so kompliziert, ich geh lieber Gewichte stemmen.

Gegen sieben komme ich eklig verschwitzt ins Zimmer zurück. Schröder schläft immer noch selig in meinem Bett. Er hat sich das Kissen zurechtgeknautscht und gibt ab und an wohlige Laute von sich. Ich schau mir das ein paar Minuten an, weil ich schon seit einer Ewigkeit niemanden mehr so entspannt hab schlafen sehen. Die langsamen, gleichmäßigen Atemzüge und die Wärme, die von seinem Körper ausgeht, laden fast dazu ein, sich noch mal hinzulegen. Aber in einer Stunde geht es los zum Flughafen. Ich muss jetzt erst mal duschen.

„Morgen.“

Schröder steht plötzlich im Badezimmer und trottet seelenruhig rüber zur Toilette, um sich zu erleichtern.

„Ähm? Hättest du damit nicht warten können, bis ich hier drin fertig bin?“, frage ich ihn aus der Dusche.

Zur Antwort gähnt er nur.

„Wärst du dann so freundlich, mir ein Handtuch zu geben? Aber bitte erst NACH dem Händewaschen …“

„Hygienefetisch, sag ich doch“, murmelt er sehr verschlafen vor sich hin und führt den Befehl aus.

Ich hab das Gefühl, der plant so früh am Morgen noch gar nix. Schon ist er wieder verschwunden.

Bald darauf, ich rasiere mich gerade, hör ich Gitarrenmusik und Gesang, der nicht von Schröder stammt. Ich finde Paolo neben ihm auf dem Bett. SEHR nah.

„Morgen“, mache ich wenig begeistert, weil ich eigentlich gehofft hatte, in Ruhe telefonieren zu können.

Paolo bequemt sich nicht mal, sein Geträllere zu unterbrechen, geschweige denn den Blick von unserem Nepomuk abzuwenden. Na gut, telefoniere ich halt woanders. Die beiden wollen vermutlich sowieso lieber allein sein. Schröder kann mir nämlich nicht erzählen, dass er den Kleinen nicht auch anschmachtet. Das sieht man.

Als ich von der Stationsschwester wieder vertröstet werde, beschließe ich, mein Ass auszuspielen und klopfe bei Sophie, die mir frisch und fröhlich die Tür öffnet. Der Grund dafür sitzt hinter ihr auf dem Bett. Leon. Ich will gar nicht wissen, wie der es ins Hotel geschafft hat. Ich trage ihr mein Anliegen vor und drei Minuten später ist es plötzlich doch möglich, dass ich kurz mit Michi telefoniere. Sowas aber auch!

„Alles klar bei Michi?“, fragt Sophie mich in einem seltsam einfühlsamen Tonfall, den ich in den letzten Monaten viel zu oft gehört habe und echt nicht ausstehen kann.

„Japp. Ich geh dann mal zusammenpacken.“

Irgendwie bin ich wohl noch zu sehr mit den Gedanken bei Michi, denn ich vergesse, anzuklopfen ... und finde Paolo jetzt noch näher bei Schröder, und zwar gänzlich ohne Gitarre, dafür mit Knutschen und Fummeln.

„Oh, sorry.“

„Scheiße, Ferdi!“

Schröder springt auf, als hätte ihn was gestochen und scheint dem Kleinen dabei versehentlich eins auf die Nase zu geben. Paolo ist wohl nicht von der Sorte Emo, die auf Schmerzen steht, denn er beschwert sich lautstark und zieht ein Schmollgesicht, das ihn gleich noch mal um Jahre jünger wirken lässt.

„Ich brauch nur kurz mein Zeug, dann gehört das Zimmer ganz euch.“

„Ach du Scheiße, wie spät?!“, kreischt Schröder merkwürdig dramatisch. „Ich muss jetzt dringend packen.“

Er schiebt Paolo zur Tür hinaus, ohne auf dessen Aufmerksamkeitsheischerei zu achten und sperrt sogar ab.

Statt zu packen, knallt er sich wieder aufs Bett und massiert sich theatralisch die Schläfen.

„Der Kleine ist vielleicht anhänglich, sag ich dir!“

„Naja, hat nicht ausgeschaut, als würd dich das stören“, grinse ich, bin aber irgendwie etwas mitgenommen von dem Anblick gerade eben.

Ich sehe nicht so oft knutschende Kerle ...

„Er ist nicht mein Typ“, erklärt Schröder sofort.

„Na dann hättest du nicht mit ihm knutschen sollen, oder? So, ich bring mein Zeug in die Lobby und dann geh ich frühstücken. Kommst du mit, oder musst du dich noch von der Aktion gerade erholen?“

„Und du? Hast du deinen Liebsten jetzt endlich erreicht? Wie macht ihr das eigentlich die nächsten Wochen? Telefonsex ist auf Dauer nicht befriedigend. Glaub‘s mir, ich hab’s versucht.“

„Kannst du mir einen Gefallen tun, Schröder?“

„Was’n?“

„Kannst du bitte aufhören mit deinen Sprüchen über Michi?“

„So schlimm?“

Ich nicke nur und er scheint das zu akzeptieren.

„Na gut, frühstücken tust du also? Ich könnt auch was vertragen. Wollen wir?“

„Jo.“

Wir stellen die Taschen zu einem großen Gepäckberg in der Lobby und suchen uns einen Tisch im Hotelrestaurant, nicht zu weit vom Frühstücksbuffet weg. O-Saft, ich brauche jetzt dringend O-Saft. Schröder scheint genau so dringend Kaffee zu brauchen, verbrennt sich erst mal die Zunge dran und ext meinen Saft zur Kühlung gleich hinterher. Als er sich dann auch noch panisch hinter mir versteckt, weil Paolo das Restaurant betritt, kann ich mir das Lachen nicht mehr länger verkneifen. Der Typ spinnt einfach! Der wirbelt ständig durch die Gegend und stellt sich dabei selbst ein Bein. Planung ist wohl nicht gerade seine Stärke … dafür scheint er sich nicht wirklich einen Kopf drüber zu machen, was andere von ihm halten. Wenn Michi so sein könnte … naja, das hätte in der Vergangenheit einiges einfacher gemacht.

„Meereskind! Weisheit!“, brüllt er plötzlich durch den Raum und meint damit scheinbar Sophie und ihren neuen asiatischen Schatten.

Paolo steuert auf unseren Tisch zu, als ich gerade meinen Obstsalat aufgegessen habe. Um diese Farce nicht weiter mitansehen zu müssen, beschließe ich, lieber in der Lobby zu warten. Dort lädt das Personal gerade Gepäck in den Bus, der uns zum Flughafen bringen soll. Langsam werde ich nervös. Wo es wohl hingeht?

Schröder

Ich könnt mir selber in den Arsch treten. Mehrfach und aus verschiedenen Gründen. Erstens hab ich Ferdi im Schlaf geküsst… also er hat geschlafen und ich war wach… zweitens hab ich deswegen irgendwie ein schlechtes Gewissen, obwohl ich eigentlich gar nichts Schlimmes getan habe, ich meine, es war ein Kuss… äh…ein paar kleine, gehauchte Küsse… was drittens dazu führte, dass ich es jetzt kaum erwarten kann, bis Ferdi mal wieder auf meinem Arm einschläft. Und was viertens sollte, ist mir wirklich absolut und vollkommen schleierhaft. Ich war noch so verpennt als Paolo plötzlich ins Zimmer kam, ein bisschen rumträllerte und dann kann ich mich bloß noch dran erinnern, dass Ferdi uns beim Knutschen erwischt hat. Jetzt denkt Ferdi, dass ich auf Paolo stehe, was nicht der Fall ist. Und Paolo denkt auch, dass ich auf ihn stehe, was nicht der Fall ist. Scheiße, scheiße, scheiße!!

„Hey, Süßer“, quietscht der kleine Emo aufgeregt.

„Mein Name ist Schröder. Tut mir übrigens leid, das mit deiner Nase“, erkläre ich freundlich, aber kühl, während sich Sophie und Yoko zu mir setzen. Pech, für Paolo ist leider kein Platz mehr. Ein bisschen traurig bleibt er zuerst neben meinem Stuhl stehen, wie ein Köter, der was vom Tisch abhaben will, dann trottet er zu seinen DSDMB-Freunden zurück.

„Scheint, als hättest du deinen kleinen Fan vergrault“, zwinkert Sophie.

Ich lasse einen Schwall Honig auf meine Brötchenhälfte fließen und zucke die Schultern.

„Für den Moment schon. Ich befürchte allerdings, dass das nicht lange anhalten wird.“

„Haha, ein schwules Pärchen bei DSDMB…“, grinst Yoko, „kommt bestimmt gut, wenn der Fernsehsender die Geschichte ausschlachtet.“

„Ich bin kein Beziehungstyp.“

„Dann eben ein schwuler Herzensbrecher bei DSDMB“, entgegnet sie.

„Ich fänd’s gut, wenn ich durch mein Talent bestechen würde und nicht durch schwule Sexgeschichten.“

„Ey, das war nur Spaß. Und wenn du willst… ich würde mich jederzeit als deine Alibifreundin zur Verfügung stellen.“

„Ich auch“, nickt Sophie, „wenn Leon nicht wäre.“

„Danke, Mädels. Ich liebe euch.“

Nach dem Frühstück begeben wir uns in die Lobby, wo bereits fast sämtliche Kandidaten versammelt sind. Von Ferdis Anschmiegsamkeit der letzten Nacht ist nix mehr zu spüren. Wie ein Eiszapfen steht er da. Paolo tut so, als würde er mich ignorieren. Aber immer, wenn er denkt, dass ich’s nicht mitkriege, schmachtet er. Und zwar mich an. Du meine Güte!!

Als die letzten Kandidaten endlich eingetrudelt sind, gibt sich B! höchstpersönlich die Ehre.

„Zuhören, Leute! Ich habe eine wichtige Nachricht für euch. Ihr werdet jetzt zum Flughafen gefahren und dann… geht es…“, er blickt in die Runde und macht eine total albern wirkende Spannungspause, „geht es… naaaaach… FLORIDA!“

Alles jubelt und kreischt und freut sich. Wie viel echt ist und wie viel gespielt, vermag ich nicht zu beurteilen. Jedenfalls werden wir schon wieder von einem Kamerateam gefilmt.

„Florida, mh?“, wispere ich Ferdi zu. „Da ist es wenigstens warm, oder?“

„Keine Ahnung.“

„Du scheinst ein bisschen Wärme bitter nötig zu haben.“

„Ich wünsche euch einen angenehmen Flug“, labert B!, „alles Weitere vor Ort. Viel Glück, Leute, wir sehen uns zur ersten Entscheidungsshow.“

Am Flughafen Tegel fällt mir kurz ein, dass ich noch nie geflogen bin, weil man andauernd in den Nachrichten sieht, dass Menschen abstürzen und sterben. Oder Flugzeuge entführt werden. Okay, jetzt bloß keine Panikattacke! Wir kommen sicher heil in Florida an. Bestimmt. Das Wetter ist ja momentan auch noch nicht so schlecht, also weder Orkane, noch Schneegestöber, eigentlich scheint sogar ein wenig die Sonne. Oh Gott ... und wenn es doch ... Turbulenzen während des Flugs gibt? Und wenn man die Sauerstoffmasken anlegen muss und meine ist zufällig kaputt? Wenn wir abstürzen und die Hälfte von uns auf einer unbewohnten Insel strandet, wo wir uns irgendwann gezwungenermaßen gegenseitig aufessen müssen, weil natürlich keiner in der Lage ist, mit bloßen Händen Fische aus dem Meer zu fangen? Und wieso zum Teufel werde ich hier noch hundertmal gründlicher durchsucht als bei Paps im Knast? Klar, an Flughäfen wird Sicherheit immer sehr groß geschrieben ... aber SO groß?!

Denken die Securityleute vielleicht, ich hätte Kokainkondome verschluckt oder würde unter meinen Klamotten einen Sprengstoffgürtel tragen? Sehe ich aus wie ein gottverdammter Terrorist??

Ich hab mal mit Linda den Reichstag besichtigt, wo Sicherheit bekanntlich ebenfalls groß geschrieben wird, da hatte ich ein Teppichmesser im Rucksack, das beim Durchleuchten nicht gefunden wurde. Lustig, oder? Ich hätte alle möglichen Leute abstechen können.

Nach gefühlten dreißig Stunden sitzen wir im Flieger und meine Innereien fahren Achterbahn.

„Du kannst dich jetzt abschnallen.“

„Auf keinen Fall“, schüttele ich den Kopf.

„Doch, auf jeden Fall“, kichert Ferdi und löst einfach meinen Gurt.

„Versprechen wir uns bitte, uns nicht aufzuessen, sollten wir abstürzen und auf einer unbewohnten Insel stranden?“

„Schröder, jetzt geht es erst mal nach Düsseldorf ... auf dem Weg dahin gibt’s keine unbewohnten Inseln.“

„Das beruhigt mich nicht.“

Ferdi tätschelt meine Hand. „Ganz ruhig und gleichmäßig atmen, ja? Entspann dich. Es ist alles in Ordnung.“

„Wenn wir gelandet sind, küsse ich sofort den Boden.“

„Okay, Papst Nepomuk“, lacht er sich kaputt.

Ferdi

Irgendwas ist zwischen Schröder und mir heute anders, aber ich weiß nicht, was. Ich meine, klar, wir haben im selben Bett geschlafen, das hab ich außer mit meinen Geschwistern und Michi noch nie gemacht. Aber das ist nicht alles. Ich muss ständig den Impuls niederkämpfen, ihn Nepomuk zu nennen. Nicht weil ich den Namen besonders toll finde, im Gegenteil. Sondern weil ihn beim Nachnamen zu nennen, irgendwie so viel Distanz ausdrückt ... Distanz, die ich nicht mehr spüre. Ich erwische mich auch ständig dabei, dass ich ihn berühre. Nur flüchtig und freundschaftlich. Aber sowas ist gewöhnlich überhaupt nicht meine Art. Und dann auch noch der kleine Anfall von Flugangst! Am liebsten würde ich meinen Arm um ihn legen und beruhigend seine Haare kraulen ... Aber was denk ich da eigentlich?! Ich sollte wirklich etwas mehr auf Abstand gehen und mich auf das Wesentliche konzentrieren: Die Musik!

Deshalb habe ich während unseres Zwischenstopps in Düsseldorf auch die ganze Zeit meine Headphones in den Ohren und werde tatsächlich in Ruhe gelassen. Ich bekomme am Rande mit, dass Nepomuk sich zu Sophie und Yoko flüchtet, während Paolo der Rasta-Frau sein Herz auszuschütten scheint. Zumindest wirft die Ökotussi Schröder immer wieder böse Blicke zu.

Es ist schon eins, als wir endlich Boarden können. Wir werden angewiesen, ganz nach hinten durchzugehen, wo die letzten fünf Reihen uns gehören. Ich erinnere mich kurz an den Flug mit Michi nach Griechenland ... das ist jetzt ein gutes Jahr her, genau wie mein Abi ... Damals dachte ich, genau zu wissen, wie mein Leben weitergehen wird. Und jetzt? Jetzt steige ich in ein Flugzeug nach Florida, um in eine Castingband zu kommen, weil ich nicht weiß, was ich sonst mit meinem Leben anfangen soll ... Drei Sitze in der Fensterreihe. Perfekt. Yoko hat sich einen Fensterplatz gesichert, Sophie setzt sich gerade neben sie und ich nehme den letzen freien Platz. Schröder sieht kurz so aus, als wolle er mich fragen, was das soll, dann überlegt er es sich aber anders und setzt sich auf den Platz auf der anderen Seite des kleinen Gangs, was ja auch keinen Meter von mir entfernt ist. Und schon drängt sich Paolo neben ihn, dicht gefolgt von Mutter Erde und Dennis Rodman. Ich sehe genau, wie es in Nepomuks Kopf arbeitet. Er wägt wohl ab, ob es ihm wert ist, während des ganzen Fluges Paolos Annäherungsversuche abwehren zu müssen, um in meiner Nähe zu sitzen. Und er entscheidet sich für: Nein. Er steht auf und geht nach hinten weg, taucht im anderen Gang wieder auf und sucht sich da irgendwo einen Platz ... Hmmm. Irgendwie wollte ich das so auch wieder nicht, aber gut, mach ich halt das Beste draus ... wie auch immer.

Beim Start ruckelt es gewaltig. Ich hoffe, Nepomuk geht’s gut ... Kaum ist die Reiseflughöhe erreicht, gibt es auch schon Essen, das ich nicht anrühre und das komisch riecht. Der Captain erzählt uns in nicht ganz akzentfreiem Deutsch, dass wir etwas über zehn Stunden unterwegs sein werden, bis wir in Fort Myers landen. Wo bitte? Noch nie gehört ...

Wir sehen irgendeine Liebeskomödie, dabei vergeht wenigstens die Zeit. Sophie unterhält sich viel mit Yoko und versucht auch immer wieder, mich ins Gespräch einzubinden, aber mir ist nicht so danach ... dieser ganze Flugzeugkram erinnert mich zu sehr an den Urlaub mit Michi. Ich wünschte, ich könnte wieder dahin zurück. Ich erinnere mich noch, dass ich bald nach dem Start eingeschlafen bin, während Michi irgendeinen Krimi verschlungen hat. Nach denen war er immer total süchtig. Ich sollte ihm mal wieder ein Buch mitbringen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe ... Wann das wohl sein wird? Ich bekomme Gänsehaut und kann irgendwie nicht mehr sitzen bleiben. Vielleicht schau ich mal, was Schröder so treibt?

An den Toiletten vorbei, durch den Quergang, wo einer dieser Roll-Servierwägen mit Spirituosen drauf parkt, in den anderen Gang rüber. Da diskutiert eine gequält lächelnde Flugbegleiterin gerade mit jemandem.

„Tut mir leid, aber ich kann wirklich nicht mehr für sie tun“, verkündet sie bestimmt und schiebt ihr Wägelein weiter nach vorne durch.

„Scheiß Service“, motzt Schröder und winkt ihr mit seinem Mittelfinger hinterher.

Oh Mann, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für ein Prachtexemplar eines Asozialen halten, aber ich weiß es besser, oder? Jedenfalls wundert es mich nicht, dass der Platz neben ihm frei ist und die Tussi am Fenster sich sichtlich unwohl fühlt, weil sie keine Fluchtmöglichkeit an ihm vorbei hat.

„Rutsch mal rüber, du Stewardessen-Schreck.“

„Ja Fuchseder, was führt sie in meine bescheidene Stube?“, lallt er irgendwie.

„Hast du schon wieder gesoffen?“

„Die Claudia hier hat mir ihren Gratis-Baileys überlassen“, er rutscht zu ihr rüber und klopft der Armen kumpelhaft auf die Schulter. „Und mit meinem waren‘s dann schon zwei und dann hab ich noch so ein Zwergenwiskeyfläschen geleert. Die wollt da vier Euro dafür, voll die Abzocke! Aber ich bin ja nicht so. Ich wollt dann halt noch einen, aber plötzlich erklärt die Zahnpastawerbungsfresse, dass sie findet, ich hätt schon genug! Glaubst du das? Ich bin ja wohl sehr trinkfest und überhaupt! Die soll froh sein, dass sie sich an mir bereichern kann, diese Hure des Kapitalismus! Jawoll!“, findet er zum Glück nur in gedämpftem Tonfall, aber Claudia sieht trotzdem sehr verunsichert aus.

Ich lasse mich auf Nepomuks vorgewärmten Sitz sinken.

„Mir hat gar niemand einen Gratis-Drink angeboten. Den hätt ich auch brauchen können. Vielleicht hätte ich dann ein bisschen schlafen können.“

„Ich erzähl dir eine Geschichte!“, bietet er sofort an.

„Ich hab eine bessere Idee. Folge mir unauffällig.“

Er schleicht alles andere als unauffällig hinter mir her, wie einem Comic entsprungen. Sehr schön, der Spirituosenwagen steht noch immer in dem verlassenen Zwischengang. Ich kralle mir ein paar Minifläschchen mit brauner Flüssigkeit drin und deute dem kleinen Wassermann an, es mir gleichzutun. Dann verschwinde ich in einer Toilettenkabine, Nepomuk immer dicht hinter mir. Scheinbar hat echt niemand was mitbekommen. Zur Sicherheit verharren wir ein paar Sekunden lauschend in dem engen Raum. Dann fängt Nepomuk an, mit den Papierhandtüchern über das kleine, edelstahlerne Waschbecken und die Abstellfläche daneben zu wischen. Er klappt den Toilettensitz runter.

„Setz dich doch. Darf ich dir was zu trinken anbieten?“

Ich kauere mich so lässig wie möglich hin und stelle fest, dass die Schnalle seines Nietengürtels genau vor meiner Nase ist.

„Ich nehm so einen Braunen.“

„Gute Wahl. Willst du Eis dazu?“

„Wie willst du das denn bewerkstelligen?“

„Na ich geh raus und hol welches.“

„Und wie kriegst du das in die Flasche?“

„Sei still und trink!“

Ich exe das kleine Plastikteil und sauge scharf Luft ein. Das brennt! Und mich dreht es sofort ein bisschen. Aber ich denke nicht mehr nach. Moment, wenn ich noch drüber nachdenken kann, ob ich nachdenke, dann sollte ich mir wohl besser noch einen genehmigen, oder?

„Mehr“, hechle ich.

„Gern doch. Zum Wohl.“

Nepomuk reiht die leeren Fläschchen ordentlich auf der kleinen Abstellfläche auf. Vier Stück. Er reicht mir gleich noch eine.

„Ich muss dir was sagen, Fuchseder.“

„Was’n, Schröder?“, frage ich, nachdem ich ihm eine leere Flasche zum aufreihen zurückgegeben habe.

„Also letzte Nacht ... als du geschlafen hast ...“

„Ja? Danke übrigens! Ich hab echt gut geschlafen.“

„Ja, und auch echt tief. So tief, dass du gar nicht mitbekommen hast, ehm ...“

Er streckt sich ein bisschen, um irgendwelche Rückenverspannungen zu lösen oder sowas, jedenfalls rutscht sein Shirt ein Stück nach oben und ich sehe meiner Hand dabei zu, wie sie die Haut, die zum Vorschein kommt, betastet.

„Ist das warm. Und so weich“, stelle ich fest.

Nepomuk zieht mich auf die Beine, dabei würde ich doch so gern mal sehen, wie die warme weiche Haut schmeckt.

„Also was ich sagen wollte ... gestern als du geschlafen hast, da hab ich ungefähr das gemacht:“

Scheinbar will er jetzt sehen, wie meine Lippen schmecken.

„Und?“, frage ich interessiert.

„Das macht dir nix aus?“

„Äh?“

„Okay ...“, stammelt er etwas verwirrt.

„Ich glaub ja, dass meine Lippen genau so schmecken wie deine Zunge. Zumindest jetzt gerade. Zeig mal.“

Mir ist schon bewusst, was ich da mache, aber ich will das jetzt einfach. Deshalb versenke ich meine Finger in den grünen Haaren und küsse saugend an Nepomuks Lippen rum, bis ich seine Zunge schmecke.

„Mmmmmmh.“

Er schiebt mich ein Stück zurück.

„Ich glaub’s nicht, dass ich das jetzt sage, aber ... das ist eine Scheiß-Idee. Ich will nicht, dass unser erster Kuss so ist. So ... besoffen.“

„Ich bin nich besoffen!“, empöre ich mich.

„Ich schon.“

„Ich will dich jetzt schmecken, kleiner Wassermann.“

„Glaub mir, ich will grad noch ganz andere Sachen mit dir anstellen, aber das ... das wäre einfach nur total bescheuert.“

Er meint das ja wohl nicht ernst? Scheinbar doch, denn er steckt die leeren Flaschen ein und schiebt sich Richtung Tür. So ein Arschloch! Was bildet der sich eigentlich ein?! Lässt mich einfach so stehen! Boah! Ich könnte ihn echt erwürgen. Aber da steht eine Flugbegleiterin vor der Tür und starrt mich böse an. Schröder ist schon auf und davon.

„Dürfte ich mal vorbei?“, frage ich eher unhöflich.

Nach einer seeeehr langen Sekunde tritt sie beiseite, nuschelt aber noch etwas von „warmen Brüdern“. So hat Michis Vater Schwule immer genannt. Ich erinnere mich noch genau dran, wie Michi und ich uns dann heimlich Blicke zugeworfen haben. Ihn hat das immer sehr getroffen ... und ich hätte ihn am liebsten immer an Ort und Stelle in den Arm genommen und geküsst. Ich hab damals, als Herr Kolber vor fünf Jahren gestorben ist, gedacht, das würde es für Michi leichter machen, mit mir zusammen zu sein. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Ab da war es, als würde er jede Sekunde die wir zusammen waren, denken, sein Vater würde uns von oben beobachten. Wie oft hat er mich zurückgewiesen wenn ich ihn küssen wollte? Genau wie Schröder gerade. Der Gedanke behagt mir überhaupt nicht. Hatte Nepomuk ähnliche Gründe? Ist er mit seiner Sexualität doch nicht so im Einklang wie ich dachte? Hat er sich auch Paolo gegenüber deshalb so seltsam verhalten? Wenn das stimmt ... wenn Schröder sich gerade vor sich selbst ekelt, wie Michi immer, dann muss ich doch ... STOPP. Schröder ist nicht Michi. Und er ist nicht mein Freund. Ich bin nicht für ihn verantwortlich. Und ich hätte gerade auch gar nicht die Kraft, für irgendjemanden außer mich selbst und Michi verantwortlich zu sein. Ich setze mich jetzt, höre Musik und denke an gar nichts. So wird’s gemacht!

„Meine Damen und Herren, wie der Captain uns soeben informiert hat, haben wir den Landeanflug auf Fort Myers RSW begonnen und werden planmäßig um 18:10 Ortszeit landen. Bitte nehmen sie ihre Sitzplätze ein, schließen sie ihre Sicherheitsgurte und bringen ihre Lehnen in eine aufrechte Position. Danke, dass sie sich für Air Berlin entschieden haben. Im Namen des ganzen Teams wünsche ich ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Fort Myers.“

Einige Minuten später setzen wir quietschend und bremsend auf die Rollbahn auf. Die Sonne scheint, ich sehe Palmen. Die Leute reden aufgeregt durcheinander. Mir ist irgendwie schlecht. Ich schalte auf Standby und warte, bis wir am Gate andocken und die Leute aussteigen. Das dauert eine ganze Weile, und dass wir ganz hinten sitzen, sorgt dafür, dass es schon dämmert, als wir endlich aus dem Flugzeug in einen mit Teppichböden ausgelegten Flughafen treten. Ich trotte einfach der Masse hinterher und das führt mich an das Ende einer SEHR, SEHR langen Schlange. ‚Immigration‘ steht da. Und an den Schaltern ganz vorne sehe ich, dass Fingerabdrücke genommen und Fotos geschossen werden. Bin ich hier im Knast, oder was? Ein Stück weiter vorne sehe ich auch Schröder. Der unterhält sich angeregt mit seinem kleinen Paolo. Daher weht der Wind. Alles klar. Sophie erzählt irgendwas von ihrem letzten Urlaub. Ich höre kaum zu, bin irgendwie ziemlich geschlaucht. Ein bisschen Laufen wäre jetzt genau das Richtige zum munterwerden, stattdessen muss ich hier in dieser blöden Schlange stehen. Über eine Stunde lang!

Es ist dunkel und warm draußen. Ein Bus, in den unser Gepäck schon geladen wurde, wartet direkt vor dem Ausgang. Zum Haus ist es ein gutes Stück, meint ein Kerl in DSDMB-Shirt, dem alle hinterherlatschen. Ich wünschte, ich könnte schlafen ...

Schröder

Ich wünschte, ich könnte tot gehen! Das Paolo-Gör quasselt mich voll, man nimmt meine Fingerabdrücke und schießt ein Foto, wobei mich das Gefühl beschleicht, die Leute hier wissen genau, dass ich der Sohn eines Mörders bin, und ich hab mit Ferdi in ’nem Flugzeugklo geknutscht. Okay, Letzteres ist nicht nur meine Schuld gewesen. Also ... eigentlich ging das total von ihm aus, weil er angefangen hat, mich zu befummeln, was an sich schon irritierend genug war, aber dann küsst er so wahnsinnig süß und nennt mich „kleiner Wassermann“ und ... verdammt ... ich hätte ihm die Klamotten vom Leib reißen können. Wollte ich allerdings nicht. Das heißt, ich wollte schon, aber doch nicht so. Das ist scheiße, ich darf mich nicht in ihn verlieben, denn wenn das hier alles irgendwann mal zu Ende ist, wird er schwuppdiwupp zu seinem Michi eilen und ich kann sehen, wie ich mein kaputtes Herz gekittet kriege.

Für die Schönheit Floridas hab ich momentan keinen Nerv. Die Gegend rauscht am Busfenster vorbei und Paolo labert immer noch, weil er blöderweise neben mir sitzt.

„Kuck mal, Schröder, Palmen“, quietscht er mir direkt ins Ohr.

„Junge, halt doch mal fünf Minuten den Rand, ja?“, zische ich, woraufhin der Kleine aussieht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Mir ist grad kotzschlecht“, füge ich hinzu.

„Sorry. Willst du dich vielleicht an mich lehnen?“

„Nein, danke.“

Mann, ja, es tut mir volle Kanne leid, dass ich Paolo andauernd so auflaufen lasse, aber was soll ich sonst machen? Aus Mitleid mit ihm ficken? Eben.

Aus dem Bus geht’s in eine Villa, wo die Verteilung der Zimmer endlos dauert. Ich geselle mich zu Sophie, Yoko und Ferdi. Zusammen sind wir vier und damit ist das Zimmer belegt. Ist ja zum Glück nicht so Klassenfahrt-mäßig, wo Jungs und Mädchen getrennt schlafen müssen.

„Hast du dich vertan oder so?“, fragt Ferdi.

„Hä?“

„Willst du nicht lieber mit Paolo schlafen? Also ... in einem Zimmer?“

„Tust du mir einen Gefallen, Fuchseder?“

„Was’n, Schröder?“

Bilde ich mir das nur ein, oder säuselt der? Ey, wie soll man dabei einen klaren Kopf bewahren? Wenn der so weiter macht, lege ich ihn vor den Mädels flach.

„Würdest du bitte mit deinen Sprüchen über Paolo aufhören?“

„Keine Zickereien, sonst schmeißen wir euch raus“, verkündet Sophie.

„Okay“, murmelt Ferdi.

Weiß nicht, ob das mir galt oder Sophie.

„Wir sollen alle ins Wohnzimmer“, erklärt irgendein Kandidat und knallt die Tür wieder zu.

„Was war das denn für ein Typ?“, schüttelt Yoko den Kopf.

„Gehen wir“, zuckt Sophie die Schultern.

Im riesigen Wohnzimmer drängeln sich die DSDMB-Teilnehmer um den Plattenfuzzi.

„Willkommen in Florida, willkommen im Trainingscamp, willkommen ... in der Hölle“,

lächelt er breit. „Wahrscheinlich möchtet ihr gerne wissen, was die nächsten Wochen so passieren wird ... also ab morgen werdet ihr in Gruppen eingeteilt, es gibt ein bisschen Gesangs-Coaching, Tanztraining, Fitness-Training, wie-verhalte-ich-mich-in-Interviews-Training und zwischendurch lasse ich mir eventuell noch ein paar gemeine, kleine Aufgaben für euch einfallen. Strengt euch an, Leute, euer Traum ist zum Greifen nah, aber wir werden noch einige von euch nach Hause schicken müssen.“

Gut, dass er so früh mit der Sprache rausrückt, ich habe mich nämlich soeben entschieden, morgen nach Hause zu fliegen. Tanztraining ... ich bin doch keine verfickte Boyband!

„Und jetzt genießt den Abend, ab morgen wird’s hart. Gute Nacht“, wünscht der Fuzzi und verpisst sich.

„Packst du gar nicht aus?“, will Yoko wissen, als wir wieder in unserem Zimmer sind.

„Lohnt nicht. Ich steig aus.“

Ferdis Föhn poltert zu Boden.

„Wie bitte?“, fragt Sophie entgeistert.

„Aus mir macht keiner einen hüpfenden Vollidioten. Ich tauge nicht zum Backstreet Boy.“

Sophie zuppelt an ihrem Ohr herum. „Entschuldige, ich glaub, ich hab was im Gehörgang.“

„Dann nimm ein Ohrenstäbchen und pul es raus.“

„Ferdi, jetzt sag doch auch mal was!“, kreischt sie hysterisch.

„Wenn er sich lieber feige aus dem Staub machen will, anstatt eine Sache durchzuziehen ... ist das sein Problem.“

Kann sein, dass ich völlig daneben liege, aber ich glaube, er redet gerade nicht von meinem geplanten Ausstieg.

„Was hat es mit Feigheit zu tun, wenn ich mich nicht verbiegen lasse?“

„Warte doch erst mal ab“, rät Yoko, „vielleicht wird’s gar nicht so schlimm. Oder denkst du vielleicht, ich hätte große Lust drauf, beim Fitness-Training gefilmt zu werden? Damit sich die Leute vorm Fernseher über das dicke, schnaufende Mädchen amüsieren können?“

„Meine Güte, so dick bist du auch nicht“, findet Sophie. „Und du, Schröder, mach hier nicht auf Diva, ja? Wir sind verflucht noch eins in Florida, das ist dir klar, oder? Wir dürfen in einer Luxusvilla wohnen, im Garten gibt’s einen Pool und der Strand ist sozusagen gleich vor der Tür. Hast du so was vielleicht zu Hause in Deutschland? Du bleibst. Diskussion beendet.“

Wow ... offenbar brauche ich auch diesen Gouvernantenton, denn ich ziehe es in Erwägung, zu bleiben. Schon allein um rauszufinden, ob Ferdi mich geküsst hat, weil er angeschickert war, oder weil er mich tatsächlich ... ein bisschen ... gern hat.

Den Rest des Abends verbringen wir nach einem super leckeren Abendessen in kleinen Grüppchen irgendwo im Haus oder im Garten. Also ich meistens im Garten, weil rauchen im Haus geht natürlich gar nicht. Paolo und seine Adoptiv-Eltern sind grad wieder reingegangen und Ferdi kommt raus.

„Zigarette?“

„Es gibt genügend andere Arten, sich umzubringen.“

„Ein einfaches ’Nein, danke’ hätte gereicht.“

„Nein, danke. Das vorhin war bloß Gerede, oder?“

„Geht so. Kannst du dir vorstellen, dass ich wie die No Angels über eine Bühne tanze?“

„Ich konnte mir schon nicht vorstellen, dass jemand wie du an einem Casting teilnimmt.“

„Und es bis hierher schafft.“

„Schröder, du bist toll. Also ... gesangstechnisch.“

„Ach, und sonst nicht?“

„Ein einfaches ’Danke für das Kompliment’ hätte gereicht“, grinst er.

„Danke für das Kompliment.“

„Du musst mir jetzt sagen, dass du mich auch toll findest ... gesangstechnisch.“

„Hör auf, mit mir zu flirten, Fuchseder.“

„Wieso? Gefällt’s dir etwa nicht?“

„Mir schon. Deinem Freund sicher nicht.“

„Michi“, seufzt er, „ist ... weit weg.“

„Genau. Und ich will nicht nur so’ne Art Ersatzbefriedigung sein. Nacht, Ferdi.“

Mh, unser Zimmer ist dunkel, die Mädels pennen schon. Ich hau mich ebenfalls aufs Ohr. Für das, was morgen wahrscheinlich auf mich zukommt, muss ich ausgeschlafen sein.

Irgendwann gegen zwei Uhr wache ich auf. Ferdis Bett ist unbenutzt. Na toll, der geistert doch mit Sicherheit im Haus umher. Eigentlich sollte mir das egal sein ... ist es aber natürlich nicht, deshalb stehe ich auf, hänge mir eine flauschige Decke über und suche ihn. Das dauert nicht lange, er hockt im Wohnzimmer auf der überdimensionalen Couch.

„Du solltest dir dringend Diazepam verschreiben lassen, du Nachtgespenst.“

„Wozu?“

„Zum Einschlafen. Diazepam wirkt muskelrelaxierend, angstlösend und sedierend.“

„Scheinst dich ja gut auszukennen.“

„Meine Mutter hat das Zeug eine Zeit lang wie Bonbons gefressen. Mit dem Ergebnis, dass sie tagsüber gar nicht mehr in die Gänge kam und ... na ja, egal. Vielleicht hilft bei dir auch Baldrian oder Passionsblume. Oder ... wir legen uns zusammen auf dieses kuschelige Riesensofa und ...“

„Du erzählst mir, wie der kleine Wassermann seinen Prinzen erobert?“

„Das ist der Plan“, nicke ich.

Ferdi streckt sich, wartet, bis ich eine bequeme Position eingenommen habe, und kuschelt sich unter der Decke an mich.

„Hoffentlich kannst du dich noch erinnern, was bisher geschah, hab nämlich keinen Bock, den ganzen Scheiß noch mal zu erzählen.“

„Der kleine Wassermann hat den Zaubertrank getrunken.“

„Sehr richtig. Und er fiel in einen tiefen Schlaf. Fuchseder, was zum Teufel treibst du da?“

„Dein Herz klopft total schnell“, giggelt er.

„Um das festzustellen hättest du deine Hand nicht gleich UNTER mein T-Shirt schieben müssen. Bist du immer noch besoffen?“

„Bin ich nicht und war ich nicht.“

„Okay“, antworte ich ein bisschen hilflos, „der kleine Wassermann fiel also in einen tiefen Schlaf und ...“

„Beneidenswert, wie lange der pennt“, kichert er mir ins Ohr.

„Wenn du mich noch einmal unterbrichst, gehe ich ins Bett.“

„Entschuldige.“

„Blödmann. Also ... der kleine Wassermann erwachte am Strand. Das Meer schlug in wilden Wellen gegen die Felsen, fast als wäre es wütend. Der kleine Wassermann wusste, dass sein Vater das Meer so toben ließ. Als seine Schwestern an Land gegangen waren, war er genauso erbost gewesen. Vorsichtig erhob sich der kleine Wassermann, marschierte Richtung Schloss und schaute sich neugierig seine neue Welt an. Er pflückte ein paar Blumen und erfreute sich am lieblichen Duft, aß eine Hand voll Brombeeren, bestaunte die großen Pferde, die mit ihren Reitern an ihm vorbei trabten und stand schließlich vor dem Schlosstor. Leider konnte ein in Lumpen gehüllter kleiner Wassermann nicht so einfach mirnichtsdirnichts zum Prinzen spazieren. Die Wachen, die ihn abwiesen, wussten ja nicht, dass sie ebenfalls einen Prinzen vor sich hatten. Sie dachten, er wollte betteln. Deshalb landete der kleine Wassermann zunächst mal in der Schlossküche, wo er zum Kartoffelschälen und Gänserupfen verdonnert wurde. In der Zwischenzeit hatte der König seinen Sohn dermaßen unter Druck gesetzt, dass er eine Prinzessin ausgewählt hatte. Und zwar die Prinzessin des ... Glitzerglitzergebirges.

„Was für’n Gebirge?“

„Glitzerglitzer.“

„Aha.“

„Eigentlich hatte der König auf sie als Schwiegertochter bestanden, denn sie war mit Abstand die reichste unter den Bewerberinnen. In ihrem Gebirge wimmelte es von Gold-, Silber- und Diamantminen. Außerdem war sie unwahrscheinlich schön. Das war dem Prinzen jedoch alles einerlei. Er wollte nicht heiraten. Weder sie noch sonst eine. Da die Sache aber feststand, versuchte er, das Beste daraus zu machen und sich wenigstens mit seiner Gemahlin anzufreunden. Schnell fanden sie eine Gemeinsamkeit. Das Meer. Der Prinz liebte das Meer. Wenn es stürmisch war, die Wellen hoch peitschten und weißer Meeresschaum den Strand berührte. Und wenn es ganz still war und die untergehende Sonne das Wasser blutrot färbte. Stundenlang standen die beiden am Strand und glotzten schweigend aufs Meer. Zu sagen hatten sie sich nicht sehr viel, denn die Prinzessin war zwar lieb, aber eher etwas einfacher im Kopf. Sie glaubte, dass Nixen und böse Wassermänner auf dem Meeresgrund lebten. Der Prinz war zu realistisch für solch einen Unfug. Und auch zu realistisch für eine nebulöse Schwärmerei. Manchmal träumte er nämlich von einem hübschen Jungen, der auf einem Felsen saß und seine grünen Haare in der Sonne trocknen ließ. Dieser Junge, dachte der Prinz heimlich, hätte eine kleine Nixe sein können, wenn er ein Mädchen gewesen wäre.“

Ich muss kurz unterbrechen, weil Ferdi einen Lachkrampf kriegt. „Der Prinz ist auch nicht so die Leuchte, oder?“

„Prinzen müssen nicht schlau sein, sondern hübsch. Das reicht völlig.“

„Aber der kleine Wassermann will doch keinen dummen Prinzen.“

„Der Prinz ist ja nicht wirklich dumm. Bloß total verwirrt. Weil er von einem Jungen träumt, von dem er nicht einmal weiß, ob es ihn tatsächlich gibt. An dem Tag, an dem er ihn am Strand gesehen hat, war der Prinz voll wie ’n Eimer.“

„Dann hat er vielleicht sogar zwei Jungs gesehen ...“

„Wie auch immer ... es gab für den kleinen Wassermann keine Möglichkeit, in die Nähe des Prinzen zu kommen. Bedröppelt musste er bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen und zermarterte sich das Hirn, wie er die verdammte Trauung verhindern konnte. Seine Finger waren von der ungewohnten Arbeit schon ganz rau und jeder einzelne Muskel tat ihm weh. Nachts schlief er in einer engen Kammer auf einer harten Pritsche und weinte leise. Aber eines Nachts erschien ein spindeldürres Männlein mit einer leuchtend roten Kugelnase. Der kleine Wassermann erschrak natürlich furchtbar, aber das Männlein sprach sehr freundlich zu ihm. Es stellte sich als Gottlieb Jericho Paulus vor und als Gehilfe einer mächtigen Hexe, deren Name er nicht verraten durfte. Die Hexe hatte anscheinend vom Schicksal des kleinen Wassermanns gehört und da sie einmal im Jahr eine gute Tat vollbringen musste, wollte sie ihm helfen.

Wie, fragte der kleine Wassermann.

Gottlieb Jericho Paulus kramte unter seinem Umhang eine Laute hervor.

Das ist eine Zauberlaute, erklärte er, wenn du es schaffst, die richtige Melodie zu spielen, wird sie den Prinzen so betören, dass er alles tut, was du von ihm verlangst.

Nein, sagte der kleine Wassermann bestimmt, ich will, dass er mich ohne Zauberei liebt.

Und wie soll das funktionieren, wenn du ihn noch nicht mal zu Gesicht kriegst, gab Gottlieb Jericho Paulus zu bedenken. Spiel die Melodie, dann wird er zu dir kommen und er kann sich gescheit in dich verlieben ... oder lass es bleiben und schufte dich zu Tode ... mir persönlich ist das wurscht.

Es puffte und das Zaubermännlein war verschwunden. Die Laute lag verlockend auf der Pritsche. Der kleine Wassermann strich zaghaft über das Holz und zupfte eine Saite. Das schnarrende, quietschende Geräusch bescherte ihm ein schmerzhaftes Klingeln in den Ohren. Dem kleinen Wassermann wurde speiübel davon. Etwa zur gleichen Zeit lag der Prinz in seinem Bett, krümmte sich zusammen und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Einige Tage vergingen, der kleine Wassermann übte fleißig auf seiner Zauberlaute, aber es mochte ihm die richtige Melodie nicht gelingen. Er machte nämlich einen entscheidenden Fehler: er schlug die übelkeiterzeugende Saite gar nicht mehr an. Wie hätte er auch wissen sollen, dass er sie an einer bestimmten Stelle der Melodie ein einziges Mal ganz leise zupfen musste? Ey ... bist du eingeschlafen?“, frage ich, weil Ferdi verdächtig ruhig und gleichmäßig atmet.

Seine Hand, die die ganze Zeit über auf meiner Brust lag, setzt sich langsam in Bewegung und streichelt meinen Bauch.

„Weißt du, im Flugzeug ... also da wollte ich unbedingt was wissen“, murmelt er.

„Ach ja?“

„Hm-hm.“

„Und was?“

Er sieht mich einen Moment an, dann verschwindet sein Kopf plötzlich unter der Decke und seine Lippen gesellen sich zu seinen Fingern. Woah ... vor meinen geschlossenen Augen tanzen bunte Sternchen und ich muss nach Luft schnappen. Leider hört er viel zu schnell wieder auf. Dafür beugt er sich allerdings über mich und drückt meine Handgelenke aufs Sofa.

„Wahnsinn, das ist echt umwerfend, dich mal sprachlos ... wehrlos zu erleben. Mmmhhh ...“, schnurrt er, stupst kurz mit seiner Nasenspitze gegen meine und küsst mich auf den Mund. Seine Zunge schlängelt sich durch meine geöffneten Lippen.

„Das war ...“

„Der perfekte erste Kuss“, lächelt er.

„Hör zu, Fuchseder, dir sollte absolut klar sein, was du tust. Ich hab jedenfalls nicht vor, mich feige aus dem Staub zu machen, anstatt die Sache durchzuziehen. Wie sieht’s bei dir aus?“

Ferdi

„Ich ... was willst du denn von mir hören?“, frage ich und setze mich auf.

Bevor er antworten kann, sprudelt es schon aus mir heraus:

„Komplizierte Scheiße habe ich schon genug in meinem Leben. Dabei steh ich eigentlich echt auf Ordnung und klare Verhältnisse, weißt du? Dass ich dich so toll finde, gibt eigentlich überhaupt keinen Sinn, weil ich noch nie so einen chaotischen Menschen wie dich getroffen hab. Aber ich fühl mich gut, wenn ich mit dir zusammen bin und will das ausbauen ... also nicht nur kurzfristig, meine ich ... aber ... das hier ist ne Castingsendung, die ist auch irgendwann zu Ende ... meine Gedanken kreisen schon die ganze Nacht darum, was ich hier eigentlich mache ... und ich komm nur zu einem Ergebnis: Diesmal folge ich meinem Bauch und nicht meinem Kopf. Und mein Bauch sagt: Küssen. Viel Küssen.“

Ich seh ihm an, dass er mit der Antwort nicht wirklich zufrieden ist. Aber er zieht mich trotzdem zu sich, mit einem resignierenden Gesichtsausdruck, aber ohne zu zögern.

Ich wache in der Dämmerung auf. Irgendwas hat mich geweckt. Mein Handy vibriert. Keine Nummer auf dem Display.

„Hallo?“

„Ferdinand? Hans, jetzt ist er dran“, höre ich meine Mutter nuscheln.

Nepomuk liegt ganz dicht neben mir. Seine nackte Schulter ist ganz kalt.

„Ja Bua!“, poltert mein Vater „bist scho auf?“

„Äh, ja, klar ... was gibt’s?“

„Wos gibt, fragt er! Na ois Guade wünsch ma da! Von da Mama ah.“

Was ist los? Geburtstag?! Heute? Ich hab im Januar Geburtstag.

„Ah, danke ...“

„Und, wos machst na heit no? Duast feiern a?“

„Ja sicher ... heute Abend“, fantasiere ich mir zusammen und will eigentlich nur, dass er möglichst schnell auflegt.

„Schee. Na dann no fui Spaß! Pfia di!“

„Ja, ciao ...“

„Geburtstag, hm?“, säuselt Nepomuk, als ich aufgelegt habe.

„Vergiss es. Meine Schwester hat heute Geburtstag. Manchmal kommen die Eltern durcheinander ...“

„Ernsthaft?!“

„War schon immer so. Wo is‘n dein Shirt?“

„Das müsstest du ja wohl besser wissen als ich.“

„Ah, hier. Lass uns ins Zimmer gehen, hm? Bevor hier die ersten Leute auftauchen.“

„Krieg ich einen Gutenmorgenkuss?“

„Ich will erst mal Zähne putzen.“

„Hygienefatischist“, nuschelt er.

„Und was bitte ist ein Fatischist?“, muss ich grinsen.

„Sowas wie du. Wie spät?“

„Halb eins, also halb sieben. In eineinhalb Stunden gibt’s Frühstück und dann wird getanzt.“

„Kannst du sowas von knicken!“

„Ich finde, du solltest es echt versuchen. Ich hab nämlich keinen Bock, mich heute Abend von dir verabschieden zu müssen ...“

Ich streiche über seine stopplige Wange und lasse mich von ein paar grünen Strähnen kitzeln.

„Ich brauch einen Kosenamen für dich. Nepomuk ist ... zu lang.“

„Zu scheiße wolltest du wohl sagen, hm?“

„Also der Kater Nepomuk wird Mucky gerufen ...“

„Michis Kater“, fügt er hinzu.

„Japp ...“

„Ferdi ... du weißt schon, dass ich hier echt was dabei fühle und so, oder?“

„Du bist nicht bloß ne Ersatzbefriedigung, Schröder“, erkläre ich und fühle mich bei der Unterhaltung zunehmend ... unwohl. „Lass uns von hier verschwinden, okay? Gleich tauchen bestimmt tausend Leute auf, und Kameras und so ...“

„Dann gäb’s endlich mal was zu sehen“, säuselt er und versucht, mich zu küssen.

Aber allein der Gedanke, dass ich demnächst in der quotenstärksten Samstagabendshow Deutschlands geoutet werden könnte, verursacht mir Übelkeit. Ich schiebe mich also runter von der Couch und murmle irgendwas von Zähneputzen. Schröder folgt mir mit hängenden Schultern auf unser Zimmer. Was hat der denn erwartet? Dass ich mich händchenhaltend mit ihm vor die Kamera stelle und ganz herzlich alle grüße, die mich kennen?

Sophie und Yoko schlafen natürlich noch. Ich erlaube mir trotzdem, das Lamellenrollo ein klein wenig zu öffnen. Draußen geht nämlich gerade die Sonne auf. Schröder schmeißt sich auf sein Bett, ich verzieh mich erst mal ins Badezimmer. Mein eigenes Spiegelbild mustert mich vorwurfsvoll. Was ist bloß mit mir los? Wieso hab ich diesen ganzen Kram heute Nacht mit Schröder angestellt? Ihn zu küssen, war einfach viel zu toll. Und zu sehen, wie er sich entspannt, wenn ich ihn streichle ... Schluss jetzt! Ich muss meinen Kopf klar kriegen. Was ist jetzt wichtig? DSDMB. Ich will verdammt noch mal in diese Band! Also muss ich mich jetzt auf die Aufgaben des Tages konzentrieren. Das wird anstrengend genug werden. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, putze Zähne und dusche dann doch, auch wenn ich viel lieber noch länger nach Nepomuk riechen würde ... aber das würde mich nur zu sehr ablenken.

Ich suche mir ein paar Klamotten aus meinem Schubfach. Schröder liegt, fest in die dünne Leinendecke eingerollt auf seinem Bett und tut, als würde er schlafen. Was ist jetzt wichtig? Mir ist wichtig, dass es ihm gut geht. Ich kann ja auch nachvollziehen, dass er Schiss davor hat, sich auf mich einzulassen. Ich hab ja auch Schiss davor, mich auf ihn einzulassen ... aber ... er hat Schiss aus den falschen Gründen. Ich muss ihm wohl einiges erklären wenn ich will, dass er sich wohl dabei fühlt, mit mir ... Dinge anzustellen.

„Hey“, hauche ich ihm ins Ohr. „Ich glaube, wir sollten mal in Ruhe reden. Heute Abend, ja?“

Er nickt, ohne sich zu mir zu drehen.

„Okay ... ich schau mich dann mal ein bisschen in der Gegend um. Wir sehen uns beim Frühstück.“

Ich streiche noch kurz über seine erstaunlich weichen Haare und gehe ins Wohnzimmer zurück.

Inzwischen ist alles taghell und die Sonnenstrahlen glitzern im Pool. Ob das Glitzerglitzergebirge seinen Namen daher hat? Weil die Sonne die hohen, immer schneebedeckten Gipfel zum glitzern bringt? Das muss ich den kleinen Wassermann unbedingt mal fragen ... Es dauert ein paar Sekunden, bis ich den Öffnungsmechanismus der Glastüre durchstiegen habe. Es ist noch frisch draußen, vielleicht fünfzehn Grad und es weht ein leichter Wind. Aber das rote Tuffsteinpflaster ist erstaunlich warm. Ich kremple meine Jeans ein wenig hoch und patsche mit dem Fuß in das doch sehr frische Poolwasser. Salziger, leicht fischiger Geruch steigt mir in die Nase und mir fallen auch einige Seevögel auf, die durch die Luft kreischen. Weit kann es nicht sein zum Meer. Der Golf von Mexiko, hoffentlich bekommen wir bald die Gelegenheit, uns ein wenig umzusehen.

„Guten Morgen“, erklingt es hinter mir.

Ein großer, schlanker Mann Mitte dreißig tritt durch die Glastür. Er trägt ein dunkelblaues Shirt mit Mickey Mouse drauf. Irgendwie passt das nicht zu seinem geradezu vornehmen Auftreten. Er reicht mir irgendwie galant die Hand:

„Stephano Arrio. Ich bin einer eurer Vocalcoaches“, erklärt er mit schlecht zuordenbarem Dialekt.

„Ah, echt? Hallo. Ferdi.“

„Schön dich kennenzulernen. Du bist früh auf.“

„Ich wollte mich hier noch ein bisschen umsehen, bevor der Trubel losgeht.“

„Ist wie Venedig hier, findest du nicht?“

„Ehm, nein, wieso?“

„Warst du noch nicht am Kanal?“

„Ich wollte nicht so weit vom Haus weg, nicht dass ich was verpasse ...“

„Ist gleich da vorne, komm!“

Wir müssen tatsächlich nur am Pool vorbei, durch einen Palmenhain und schon sind wir am Wasser. Und es erinnert tatsächlich an Venedig, weil der Kanal aussieht wie eine Straße. Vor den Häusern parken sogar kleine Boote, allerdings motorisierte.

„Wahnsinn! Das ist ja mal cool.“

„Das ist hier überall so, und je näher man zum Strand kommt, desto größer werden die Boote.“

„Wie weit ist es zum Meer?“

„Luftlinie vielleicht zwei Kilometer. Aber über die Straße ist es länger, weil man an den ganzen Kanälen vorbei muss.“

Das Gras unter meinen nackten Füßen ist viel strohiger als bei uns und ein paar rote Ameisen wuseln schon über meine Haut.

„Kannst du mir eigentlich sagen, was heute auf uns zukommt?“

„Bien sur.“

„Bist du Franzose?“

Er lacht.

„Non, aber ich finde die Sprache tres jolie. Ich stamme aus Sizilien, aber meine Mutter ist Deutsche. Aufgewachsen bin ich größtenteils in den Staaten. Ich bin also viel, aber kein Franzose“, grinst er. „Und zu deiner ersten Frage: Beim Frühstück wird es zwar erklärt, aber es wird so laufen, dass ihr in vier Gruppen aufgeteilt werdet. Fitness, Tanzen, Singen, Schauspielworkshop. Ihr rotiert durch, du solltest versuchen, in Gruppe Nummer drei zu kommen, die erwischt es am besten. Heute Vormittag Fitness, am Nachmittag bei mir Gesangsworkshop, morgen Vormittag Tanzen und am Nachmittag dann den Improvisations-und Emotionskurs.“

„Und warum ist die Aufteilung so günstig?“

„Weil du dann gleich heute Vormittag die Gegend beim Laufen erkunden kannst und nicht am Nachmittag in der Hitze trainieren musst. Und du hast einen Tag länger Zeit, um an deinem Entscheidungssong zu feilen.“

„Das ist allerdings günstig. Danke für den Tipp.“

Langsam trudeln noch weitere Kandidaten ein und es geht ans Frühstück vorbereiten. Scheinbar sind wir für alles selbst verantwortlich, was allerdings nicht wirklich schlimm ist, denn Kühlschrank und Vorratsraum sind gut gefüllt. Ich mache mich dran, eine Ananas zu zerkleinern, während einige andere Speck und Eier braten, was irgendwie eklig riecht, so früh am Morgen. Kaffee und Tee wird gekocht und meine Zimmergenossen tauchen dann auch mal auf. Schröder hat noch nasse Haare, was irgendwie echt süß aussieht ... also so straßenkötersüß. Wir suchen uns einen Platz in einer Ecke.

„Ananas soll Sperma süß machen“, grinst er, als ich mir gerade ein saftiges Stück davon in den Mund schiebe.

„Leon und ich haben das erforscht. Ich konnte keinen Unterschied feststellen“, fachsimpelt Sophie.

Yoko wird etwas rot und ich steige demonstrativ auf Banane um.

„Wusstet ihr, dass der öffentliche Verzehr von Bananen früher ein geheimer Code unter Schwulen war, um ...“

„Ne-po-muk!“, warne ich ihn mit vollem Mund.

„Was denn? Hier, iss Physalis“, grinst er und steckt mir eine der Beeren in den Mund.

„Die nennt man übrigens auch Liebesperlen“, meint Sophie zu wissen.

„Liebesperlen sind die bunten Traubenzuckerküglein“, erklärt Yoko.

„Näääh! Liebesperlen sind die Teile, die Frauen sich reinstecken für die Beckenbodengymnastik. Meine Schwägerin macht das, weil die ist schwanger“, tönt Schröder.

„Was hat‘n das mit schwanger zu tun?“, frage ich blöde, bereue das aber im nächsten Moment schon, als Sophie zu einem Vortrag über die weibliche Anatomie ansetzt.

Zum Glück wird sie von Markus Liebherr unterbrochen, der um Aufmerksamkeit bittet, uns noch mal willkommen heißt und uns neben Stephano auch noch eine kleine Blondine mit strengen Gesichtszügen und Bizeps so dick wie meiner als unsere Fitnesstrainerin Corinne irgendwas vorstellt. Ein junger Latino erhebt sich ebenfalls. Frankie Esposito, Profitänzer und Lehrer. Zur Gruppeneinteilung müssen alle einfach nur die Hand heben und als Markus erwähnt, dass Gruppe drei zuerst bei der Militär-Blondine trainieren „darf“, will da keiner hin. Als ich meine Hand hebe und erkläre, dass wir alle vier in die Gruppe wollen, kann Sophie Schröder gerade noch davon abhalten, sich auf mich zu stürzen.

„Bist du bescheuert?!“, zischt er mir zu.

„Vertrau mir, ich weiß was ich tue“, töne ich in bester Filmmanier.

„Du hast nen Schatten!“

„Du hast sowas von nen Schatten“, wiederholt er sich, als wir über eine nicht enden wollende Brücke joggen, und dank der trillerpfeifenden Sklaventreiberin überhaupt nicht dazu kommen, die Aussicht zu genießen. Über buntes Kopfsteinpflaster geht es an Stelzenbauten und Souvenirshops vorbei an den Strand.

„Wooooooow!“, hechelt Schröder.

Sophie, die erstaunlich gut mithält, findet, dass es schönere Strände gibt. Yoko läuft weit abgeschlagen neben Muttererde her, Paolo, Dennis Rodman und ein paar andere Kandidaten, die zwangseingeteilt wurden, bilden das Mittelfeld. Nepomuk schnauft auch schon gefährlich, aber will wohl durchhalten, um Paolo aus dem Weg gehen zu können.

„So, vier Kilometer Sand-Rundlauf, wer zuerst wieder hier ist, darf sich im Vocaltraining den ersten Song aussuchen.“

Sophie und ich schauen uns nur kurz an und ziehen ab.

„Am Ende des Strands eine Runde durch den Park und denselben Weg wieder zurück!“, befielt Corinne.

Dennis Rodman schließt zu uns auf. Bald sind alle anderen außer Sicht.

Schröder

Mal ehrlich, ich halte mich selber für relativ fit. Schließlich stehe ich pogende Punkkonzerte mehrmals die Woche durch und in meiner Freizeit spiele ich gerne Fußball ... als Kind war ich sogar im Verein. Aber was diese bemuskelte Mannfrau von uns verlangt, ist Sadismus pur. Vier Kilometer durch Sand laufen, mh? Ohne mich. Ich setze mich lieber in den Sand.

„Hab ich’s nicht gesagt?“, hechelt Yoko und knallt sich neben mich. „Dickes, schnaufendes Mädchen. Wenn so was gesendet wird ... erschieße ich mich doppelt und dreifach.“

„Wart mal ab, bis ich tanzen muss“, beruhige ich sie, krame aus meiner abgeschnittenen Jogginghose eine Schachtel Luckies und stecke mir eine Kippe an.

„Was ist denn mit euch? Wollt ihr nicht laufen?“, fragt die Sadistin.

„Äh ... nein“, entgegne ich.

Yoko fächelt sich mit der Hand Luft zu. „Wadenkrampf.“

„Weißt du überhaupt, wie schädlich das ist?“, sie deutet auf meine Zigarette. „Und du, Mädchen, solltest dringend ein bisschen was für deine Figur tun.“

„Ich persönlich stehe auf weibliche Formen“, nehme ich mein Meereskind in Schutz.

„Das ist ja schön für dich, aber gar nicht der Punkt. Solltet ihr in die Band kommen, könnt ihr euch während eines Auftritts auch nicht einfach hinsetzen und Kaffeepause machen. Aber am ersten Tag will ich mal nicht so sein. Wir werden uns langsam steigern.“

„Ich freue mir ein zusätzliches Loch in den Hintern“, erklärt Yoko, als die Mannfrau außer Hörweite ist. „Sag mal, Schröder ...“, beginnt sie und lässt Sand durch ihre Finger rinnen, „du und Ferdi ... wo seid ihr letzte Nacht gewesen?“

Shit! „Äh ... wieso?“

„Ich bin ein paar Mal wach geworden und ... eure Betten waren jedes Mal leer.“

„Ferdi konnte irgendwie nicht pennen und ich hab ihm halt Gesellschaft geleistet.“

„Verstehe“, nickt sie. „Wer hätte das gedacht.“

„Was?“

„Du und Ferdi. Also, dass du auf Jungs stehst, daraus hast du ja kein Geheimnis gemacht, aber der Ferdi ...“

„Auch auf die Gefahr hin, deine romantische Phantasie zu zerstören ...“

„Schröder, dein Grinsen sagt alles“, unterbricht sie mich.

„Verdammt!“

„Hey, ich sag schon nichts, okay?“

„Ja, ich glaube, Ferdi wäre es nicht so Recht, wenn’s jeder wüsste.“

„Alles klar. Ich schweige. Aber nur wenn du nicht sagst ...“, sie klaut mir die Kippe, zieht zweimal dran und gibt sie mir zurück, „dass ich heimlich geraucht habe. Eigentlich hab ich nämlich aufgehört.“

Nach einer Weile trudeln die übrigen Kandidaten ein. Ich glaub, Sophie und Ferdi haben gewonnen. Die Mannfrau schenkt ihnen ein besonders anerkennendes Lächeln. Paolos Shirt ist ziemlich durchgeschwitzt, seine Adoptiv-Eltern kriechen auf dem Zahnfleisch. Der kleine Emo lässt sich neben mich in den Sand fallen.

„Waahhh ... ich sehe Farben ... unglaubliche Farben ... bunte Sterne ... eine Supernova ...“

„Das kommt von den Drogen“, grinse ich.

„Nee“, japst er, „ich muss nur dreißig Stunden unter ein Sauerstoffzelt.“

„So, Leute, jetzt gehen wir stramm zum Haus zurück und im Garten nimmt sich jeder eine Matte. Wir machen noch ein bisschen Yoga zur Entspannung“, behauptet die sadistische Trainerin.

„Au, fein“, freut sich Yoko aus mir unbegreiflichen Gründen.

Im Garten lernen wir den Sonnengruß (für Anfänger), der aus zwölf Übungen besteht und hervorragend geeignet ist, um neue Lebensenergie zu bekommen, blockierte Energien freizusetzen, den Kreislauf anzuregen und ... sich sämtliche Gliedmaßen zu verrenken.

Für Yoko scheint das alles nicht neu zu sein, denn ihr Sonnengruß sieht nicht so abgehackt und dilettantisch aus wie bei mir oder den anderen.

„Du kleiner Schleicher hast das schon mal gemacht, oder?“, zische ich.

„Jeden Tag, seit ein paar Jahren. Als ich mit Bauchtanz anfing. Eigentlich ist der Sonnengruß für mich nur eine kleine Aufwärmung.“

„Sehr schön, Yoko“, findet die Trainerin, „du machst das sehr gut.“

„Haha ... auf einmal kennt sie sogar meinen Namen.“

„Ich fürchte, das werde ich bei ihr nicht schaffen. I break together!“

„Hey, fürs erste Mal hast du dich echt geschickt angestellt. Kuck mal, wie lustig Ferdi beispielsweise da rumhampelt. Oder Paolos dunkelhäutiger Freund.“

„Na ja, der kann wahrscheinlich bloß Kraftsport.“

„Yoga ist Kraftsport. Versuch mal, dein gesamtes Körpergewicht nur mit den Ellenbogen zu stemmen. Das macht man beim Skorpion. Hat natürlich auch viel mit Balance und Konzentration zu tun. Leider bin ich so fortgeschritten auch noch nicht.“

Am Nachmittag steht Gesangsunterricht auf dem Plan. Der Gesangslehrer, Stephano schlagmichtot, sieht aus wie eine Witzfigur. Wobei das Micky-Maus-T-Shirt schon fast lustig ist. Allerdings ist sein Akzent noch sehr viel lustiger. Ich verstehe den Mann kaum.

Anfangs sollen wir irgendwelche Atemübungen machen, die Arme in die Luft strecken und so’n Scheiß. Dann kommt das Lalalalalanininininununu, das ich bereits von Sophie aus’m Casting kenne. Und weil Sophie tatsächlich den Strandlauf gewonnen hat, darf sie sich aussuchen, was und mit wem sie in der ersten Entscheidungsshow singen will. Natürlich ist Yoko ihre Partnerin. Bevor Paolo auf seltsame Ideen kommt, stelle ich mich schnell neben Ferdi. Nicht nur, weil es mit uns schon mal so gut geklappt hat, sondern auch, weil ich mich grad davon überzeugen konnte, dass Paolo genauso quietschig singt wie er spricht. Ich frag mich, wie der hier landen konnte.

„Das ist normalerweise für Mädchen und Junge“, erklärt Stephano und überreicht mir einen Zettel, „aber es ist sicher interessant, wenn das mal zwei Jungs versuchen.“

Nick Cave & Kylie Minogue – Where The Wild Roses Grow ... lese ich.

Ferdi wirft einen Blick auf den Zettel. „Immer noch besser als dein kleiner Verehrer und die Ökotante. Die haben Something Stupid.“

„Darf ich bitte Elisa Day sein?“, frage ich und ignoriere seinen offensichtlichen Anfall von Eifersucht.

„Wenn du gerne das Mädchen spielen möchtest, das umgebracht wird“, zuckt er die Schultern.

„Das Lied ist okay. Über Kylie kann man geteilter Meinung sein, aber Nick Cave ist cool.“

Wir fangen also an, ein bisschen zu üben und werden sehr fix von Stephano unterbrochen.

„Schröder, ja? Also, ich hab wohl bemerkt, dass du das Einsingen und die Atemübungen eher als blöden Jux empfunden hast. Allerdings ist das gerade für dich ungeheuer wichtig. Wenn du nämlich weiter so stümperhaft herumgrölst, kannst du dich in ein paar Jahren, oder auch schon Monaten, an den Stimmbändern operieren lassen.“

Oha, das hab ich sofort verstanden ... trotz seines Akzents.

„Weißt du, es gibt beim Singen normalerweise eine richtige Technik und eine falsche ... aber du hast überhaupt keine. Daran musst du unbedingt arbeiten, denn deine Stimme ist gar nicht so übel. Ferdi, du bist viel zu verkrampft. Das hat zur Folge, dass sich deine Töne ein bisschen knödelig anhören. Locker, ja? Und atmen.“

Und schon eilt er zum nächsten Duett.

„Ich will nach Hause“, grummelt Ferdi. „Knödelig. Ich singe knödelig.“

„Ich will dich küssen.“

„Sei bloß still. Muss nicht gleich jeder hier mitkriegen ...“

„Die Micky Maus hat Recht. Du bist viel zu verkrampft.“

„Und du hast keine Technik.“

„Ich könnte dich mit meiner Technik augenblicklich in den Wahnsinn treiben, Fuchseder“, grinse ich und stoße mit meiner Zunge ein paar Mal gegen die Innenseite meiner Wange.

„Das ist ekelhaft“, behauptet er.

„Ja? Ich glaube, du stehst auf anzügliche Bemerkungen.“

„Sing das verdammte Lied, Schröder! Und gröl nicht wieder so herum, ja? Denk an deine Stimmbänder.“

Beim Abendessen werden wir unfreiwillig Zeuge eines bösen Streits zwischen Paolo und seiner Adoptiv-Mutter, die übrigens Irma heißt.

„Ich quietsche überhaupt nicht, du völlig talentfreies Stück“, quietscht er, noch schriller als sonst.

„Junge ... kennst du diese gelben Gummienten, die man mit in die Badewanne nimmt? Wenn du den Mund aufmachst, klingt das genauso wie wenn man eine Gummiente knautscht.“

„Wie wenn ... lern erst mal, dich gescheit auszudrücken.“

„Und bewerb du dich noch mal, wenn du aus dem Stimmbruch bist.“

„Das heißt bewirb, Arschloch.“

„Verbesser mich nicht dauernd, Klugscheißer.“

„Werden wir gerade gefilmt?“, will Sophie wissen, „ich meine, das ist doch genau das, was die Leute vor der Glotze sehen wollen.“

„Dein Englisch ist auch nicht so pralle. Mit deinem Phantasie-Text kannst du bei der Jury bestimmt nicht punkten.“

„Und dich haben sie bloß aus Mitleid weiter gelassen. Damit du nicht anfängst zu heulen oder dir die Pulsadern aufschneidest“, kontert Irma, relativ gelassen.

„Geh und strick dir einen Jute-Pulli. Oder tanz meinetwegen bei Vollmond nackt ums Feuer“, plärrt der Kleine und stürmt davon.

„Kinder“, zuckt Irma die Schultern.

„Der geht sicher bald freiwillig“, vermutet Sophie.

Irgendwie tut Paolo mir leid. „Ich werd mal kucken, dass der keine Dummheiten macht.“

In seinem Zimmer hockt er wie ein Häuflein Elend auf dem Bett und schnieft gefährlich.

„Hör auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen, mh?“, sage ich leise und setze mich zu ihm.

Sofort wirft er sich in meine Arme. Au weia!!

„Seit wann magst du mich überhaupt wieder?“

„Hä?“

„Na, erst knutschst du mit mir, dann kuckst du mich mit dem Arsch nicht mehr an und jetzt tröstest du mich. Wenn du nur mit mir spielen willst, Schröder, das ertrag ich nicht.“

Himmel, geht’s vielleicht noch pathetischer?!

„Ich hatte Spaß beim Knutschen. Das heißt allerdings nicht, dass ich dich liebe. Ich bin hier, um was zu lernen und in die Band zu kommen. Nicht, um einen Ehemann zu finden.“

„Du bist gemein.“

„Ja, aber wenigstens weißt du jetzt, was Sache ist.“

„Hättest du nicht lügen können?“, lächelt er bedröppelt. „Ich hab mich voll in dich verknallt.“

„Sorry, aber ich stehe generell nicht auf feste Beziehungen. Außerdem bin ich ein asozialer Penner. Saufe, kiffe, schmeiße Pillen ein ... ich bin eine männliche Amy Winehouse, wenn ich mich abgeschminkt habe, sehe ich wie Kotze aus.“

„Du bist süß“, erklärt er mit Dackelblick.

„Okay, ich geh dann wieder zu den anderen.“

Wow ... Ferdis Blick ... unbeschreiblich. Kaum hab ich mich an den Tisch gesetzt, steht er auf und verschwindet nach draußen.

Sophies Blick ist ebenso einfach zu deuten. Sie überlegt, kriegt aber nicht raus, was das soll.

„Hab ich was verpasst? Zickt ihr euch jetzt doch wieder an?“

„Stephano hat ihm gesagt, dass er knödelig singt“, antworte ich.

„Na und? Mir hat er gesagt, dass meine Gesangslehrerin eine Niete ist. Ich sag euch, der Kerl ist eine tickende Zeitbombe. Der hat so viel Aggression aufgestaut, dass ich nicht in der Nähe sein möchte, wenn der mal ausflippt.“

„Also mich fand er gut.“

„Halt die Klappe, Yoko.“

„Zickenkrieg“, jubele ich.

„Das sag ich alles Leon und der verprügelt euch dann ganz schlimm“, verspricht sie. „Und wenn ich eines Tages reich und berühmt bin, kenne ich euch nicht mehr.“

So, ich denke, ich kann jetzt zu Ferdi raus, ohne dass es irgendwie komisch auffällt.

Er sitzt allein am Pool.

„Ist das Wasser warm?“

„Ich tunk deinen Schädel rein, dann weißt du’s“, schlägt er vor.

„Danke, so dringend muss die Frage nicht beantwortet werden. Kann es übrigens sein, dass du eifersüchtig bist?“

Ferdi schnauft bloß spöttisch.

„Komm mal kurz mit.“

Ich ziehe ihn hoch und dränge ihn in eine Ecke, wo uns niemand sehen kann. Dann küsse ich ihn. Er wehrt sich zunächst ein bisschen, aber es dauert nicht lange und er schlingt seine Arme um mich.

„Paolo hat mir leid getan, das ist alles.“

„Dafür bist du aber verdammt schnell hinter ihm her. Bei mir hast du ewig gebraucht.“

„Warum wohl? Weil du ein Problem mit ... uns hast.“

Seine Hände streichen über meine Hüften und schieben sich ein Stück unter mein Shirt. „Treffen wir uns trotzdem heute Nacht im Wohnzimmer?“

Ich kann ihm keine Vorwürfe machen, wenn er mich SO anschaut. Ich kann ihn auch nicht fragen, ob er daran denkt, mit Michi Schluss zu machen, oder ob er mich zukünftig als heimliche Affäre halten will. Und erst Recht kann ich ihm nicht sagen, dass Yoko Bescheid weiß. Ich kann ihn nur küssen.

Ferdi

Nepomuk geht relativ zeitig schlafen, genau wie die Mädels und die meisten anderen Kandidaten. Wenn auch nur der Hauch einer Chance bestünde, dass ich mich hinlegen und wenigstens ein bisschen vor mich hin dämmern könnte, dann würde ich das tun. Aber nach dieser ganzen Geschichte geht das unter Garantie nicht mehr. Also schwimme ich noch ein paar Runden im Pool und versuche dann, die Yogaübungen vom Nachmittag etwas zu verfeinern. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich etwas nicht richtig hinkriege. Genau wie der Wettlauf, da hat Sophie einen Endspurt hingelegt, dass selbst der Sklaventreiberin die Spucke weggeblieben ist, und ich wurde nur Zweiter. Sowas fuchst mich! Und Schröder. Irgendwie ... traue ich ihm nicht. Ich glaube, er handelt einfach viel zu oft, ohne das vorher durchdacht zu haben. Würde mich nicht wundern, wenn er plötzlich doch mit Paolo anbandelt. Und würde mich auch nicht wundern, wenn er bei den Mädels was durchsickern ließe von uns beiden. Was Sophie dann wohl von mir denkt? Schließlich kennt sie Michi und ahnt vermutlich schon längst, dass er nicht nur mein bester Freund ist ...

Yoga wirkt wirklich sehr entspannend. Ich gähne so vor mich hin, vielleicht könnte ich ja sogar schlafen?

„Ach hier bist du ... was machst du denn da?“, lacht Nepomuk.

„Das Krokodil. Siehst du doch.“

„Wieso liegst du hier im Gras und verrenkst dich? Also nicht dass ich mich beschweren will ...“

„Naja, das relaxiert und es war ja keiner da, der mir eine Einschlafgeschichte erzählt ... bis jetzt.“

„Also erstens werden Einschlafgeschichten nur auf kuschligen Couchen oder Betten erzählt, nicht in strohigem Gras. Und zweitens bist du heute dran mit Geschichte erzählen.“

Irgendwie hatte ich gehofft, er würde nicht drauf bestehen, aber andererseits, ich hab es ja selbst angeboten.

„Ja, du hast recht, wir sollten wohl mal reden ...“

„Die Couch ist allerdings besetzt. Die Leute sehen nicht so aus, als würden sie bald schlafen gehen ...“

Ich rapple mich hoch:

„Komm, ich zeig dir Venedig.“

„Hä?“

Der Mond spiegelt sich auf der unruhigen Wasseroberfläche und erinnert mich wieder an das Glitzerglitzergebirge.

„Schön hier ...“, meint Nepomuk halbherzig.

„Setz dich“, bitte ich und breite meine Yogamatte am Betonrand des Kanals aus.

Unsere Beine baumeln einen knappen Meter über der Wasseroberfläche. Nepomuk wartet scheinbar drauf, dass ich den ersten Schritt mache.

„Also ... wie ist das mit den Glitzerglitzerbergen ...?“, will ich wissen, aber Schröder schüttelt energisch den Kopf.

„Jetzt nicht, Fuchseder. Jetzt will ich wissen, wie du dir das mit uns weiter vorstellst.“

„Ganz normal halt ...“

„Ferdi ...“, warnt er mich.

„Was??“, gebe ich gereizt zurück.

„Vergiss es!“, zischt er und will aufstehen.

„Warte ...“, bitte ich und streiche ihm besänftigend über den Arm.

Das ist die erste Berührung seit ... ich weiß nicht, ein paar Stunden. Jedenfalls ist das ziemlich elektrisierend. Mein Herz pocht sofort total und ich kann schon wieder fast nur noch an Küssen denken.

„Ich schätze, ich hab mich sehr schlimm in dich verknallt“, nuschle ich.

„Wie bitte?“

Schröder fuchtelt an seinem Ohr rum und tut als hätte er mich nicht verstanden. Ich verdrehe die Augen und sage nochmal deutlicher:

„Ich hab mich ganz schön schlimm in dich verknallt ...“

Sein Grinsen verzieht sich augenblicklich zu einem verklärten Lächeln.

„Du hast so ein Glück, dass du so eine unwiderstehlich süße Visage ziehen kannst“, findet Schröder und will mich küssen.

„Warte ...“

„Hm?“, macht er mit den Lippen bereits an meinem Hals.

„Schröder, wir wollten doch .... ein klärendes Gespräch führen, weißt du noch?“

„Mhm ...“

„Schröder, komm schon. Ich muss dir das jetzt gleich erzählen, sonst geht mir wieder der Mut dazu verloren ...“

Er seufzt und lässt mit einem Ploppgeräusch von mir ab. Ich hoffe da bleibt nichts zurück ...

„Also, Michi und du ... wie lange seid ihr schon zusammen?“, will er wissen.

„Schon immer ... ich meine ... wir sind seit dem Kindergarten befreundet und sobald wir in so ein Alter kamen, wo man anfängt, an Dinge zu denken, war irgendwie klar, dass wir die Dinge miteinander tun wollen ...“

„Scheiße ...“, flüstert mein kleiner Wassermann und schaut wirklich sehr geknickt drein.

„Aber im letzten Jahr ... sind die Dinge kompliziert geworden ...“, erkläre ich deshalb schnell.

„Ja, schon klar. Ihr habt euch auseinandergelebt und vereinbart, dass ein bisschen frischer Wind in eurer Beziehung nicht schaden könnte und um das Ganze mal wieder etwas aufzupeppen, habt ihr beschlossen, dass es okay ist, wenn ihr das ein oder andere Mal andere Kerle aufreißt. Lieg ich damit ungefähr richtig?“, fragt er ziemlich angriffslustig.

„Nee, damit liegst du sowas von falsch ... Vielleicht zeig ich dir am besten ein paar Fotos.“

Ich klicke kurz auf meinem Handy rum und finde ziemlich schnell ein passendes Bild. Es zeigt Michi kurz vor Weihnachten beim Plätzchen backen mit seinem kleinen Bruder. Die rotweiß-karierte Kochschürze seiner Mutter über dem Designerhemd und die halblangen Haare mit einem Band zurückgestriffen, nascht er gerade vom Schokoteig und grinst ertappt in die Kamera. Man sieht sogar noch den Mehlfingerabdruck, den ich ein paar Sekunden vorher auf seine Nasenspitze hinterlassen hatte, als Strafe für’s ständige Naschen.

„Fast so hübsch wie du. Aber was soll mir das Foto sagen, außer dass ich mal absolut nicht dein Typ bin?“, grummelt Schröder.

Ich klicke kommentarlos weiter.

„Das ist Michi vor vier Wochen.“

Nepomuk starrt auf das Display und scheint sprachlos zu sein, während ich mir plötzlich nichts mehr wünsche, als dass er einen von seinen albernen Redeschwällen über irgendeinen Scheiß loslässt und wir einfach vergessen, dass ich ihm dieses Foto gezeigt habe. Es hätte auch weniger schlimme Bilder gegeben, aber ich wollte, dass ihm sofort klar ist, warum das mit Michi und mir ... kompliziert ist. Wenn man ihn von rechts anschaut, dann sieht man eben die richtig schlimmen Narben und vor allem erkennt man, dass die Schädelplatten etwas gegeneinander verschoben sind. Ich bin den Anblick inzwischen gewöhnt, aber jetzt wo ich das Bild mit Schröders Augen betrachte ... es sieht schon ziemlich verstörend aus. Dagegen fallen die Schläuche, die in seine Nase und unter die Kopfhaut führen, kaum noch auf. Schlimm sind auch seine Augen, weil die immer so seltsam aufgerissen sind und sich nie wirklich auf irgendwas fixieren, sondern ruhelos herumgeistern ... man sieht einfach auf den ersten Blick, dass die Verletzungen nicht nur körperlich sind ...

„Was ... was ist mit ihm passiert?“

„Autounfall ... im Januar.“

„Er ... ich meine, ist er ... im Kopf okay? Kann er reden und so?“

„Ungefähr wie ein zweijähriges Kind ... also nicht nur Reden, alles halt ... wie ein kleines Kind ...“

„Das ... Gott Ferdi, das tut mir so leid ...“

An seiner Stimme merke ich deutlich, dass er weint. Ich nehme ihn in den Arm, er umkrallt mich sofort ganz fest, als würde ich sonst ins Wasser fallen oder so.

„Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen ... wie das sein muss, für dich. Ich will es mir eigentlich nicht mal vorstellen müssen ... das tut mir einfach nur so leid ...“

„Ich hab dir das nicht erzählt, damit ich dir leid tue. Ich wollte nur, dass du weißt, worauf du dich bei mir einlässt.“

Er nickt, die Wange an meinen Hals gedrückt.

„Okay, ich reiß mich schon zusammen. Bei drei ... oder vier vielleicht .... Eins.“

Er verharrt reglos ...

„Zwei?“, helfe ich ihm weiter.

Er atmet tief durch, löst sich, wischt sich übers Gesicht und lächelt tapfer:

„Drei und Vier.“

Schröder

Ich heule für gewöhnlich nicht. Nicht, weil ich Weinen als ein Zeichen von Schwäche ansehe, sondern ... keine Ahnung. Es geht halt nicht. Als ich kleiner war und nicht mehr mit den anderen Kindern ausm Verein spielen durfte, als ich ein paar Tage später auch nicht mehr im Verein spielen durfte und die in der Schule „Mörderkind“ hinter mir hergerufen haben ... da ging das auch schon nicht. Aber gerade ... das Foto ... ach du Scheiße! Und ich weiß verdammt noch mal nicht, was ich sagen soll. Außer, dass es mir leid tut. Zusammenreißen soll ich mich. Wie denn bitte, nachdem ich so etwas erfahren habe?! Okay, vielleicht kann Ferdi mit seinem Freund nicht die Dinge machen, die normale Leute machen, wenn sie verliebt sind, oder befreundet. Aber es dürfte klar sein, dass Michi bis in alle Ewigkeit ein wichtiger Teil seines Leben bleiben wird. Genauso klar ist es, dass, hätte Michi diesen Unfall nicht gehabt, Ferdi niemals was mit mir angefangen hätte. Und vielleicht, ganz sicher, würde er jetzt lieber mit Michi hier sitzen anstatt mit mir ... auch wenn er noch so oft behauptet, dass ich keine Ersatzbefriedigung bin. Woher soll ich wissen, dass er tatsächlich in mich verliebt ist? Vielleicht will er mich nur, weil aus seiner großen Liebe ein sabberndes Kleinkind geworden ist und ich eben verfügbar bin.

„Sagst du jetzt nichts mehr?“, reißt Ferdi mich aus meinen Gedanken.

„Ich weiß nicht, wie ich umgehen soll ... mit uns ... mit dir.“

„Willkommen im Club“, lächelt er schief.

„Lass uns mal langsam zurück gehen, oder?“

„Ja“, antwortet er zögernd, „ist in Ordnung.“

Den Weg über reden wir nicht. Aber ich greife irgendwann nach seiner Hand ... mehr krieg ich heute nicht hin. Als wir am Haus ankommen, lasse ich seine Hand natürlich los, obwohl die nachtschwärmenden Kandidaten aus dem Wohnzimmer verschwunden sind.

„Kommst du mit ins Zimmer?“

Ferdi schüttelt den Kopf. „Nee, ich bleib noch ein paar Minuten hier.“

„Okay. Ich hoffe, es ist ... also, ich bin momentan nicht so in Stimmung, um kleine Wassermann-Geschichten zu erzählen. Nacht.“

„Nepomuk“, ruft er leise hinter mir her und als ich mich umdrehe, sieht er so traurig aus, dass ich fast noch mal anfangen könnte zu heulen.

Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn sanft auf den Mund. „Versuch ein bisschen zu schlafen, ja?“

„Wow ... ihr beide seht aus wie Zombies“, verkündet Sophie beim Frühstück. „Mal ’n bisschen weniger Party und früher ins Bett, oder?“

Ich ertränke meine Cornflakes in einem halben Liter Milch und schaufele mir ordentlich Zucker drüber.

„Na ja, bei so viel Zucker wäre ich wahrscheinlich auch hyperaktiv und würd die ganze Nacht durchmachen.“

Ferdi verspeist müde seinen Fruchtsalat und sieht mich kaum an. Möglicherweise hat er letzte Nacht drauf gewartet, dass ich doch noch mal zu ihm komme ... ehrlich gesagt, ich war kurz davor, aber irgendwie konnte ich es nicht. Dabei hat es mir total gefehlt, ihn im Arm zu halten.

„Und, Schröder, hast du dich schon seelisch aufs Tanzen vorbereitet“, zwinkert Yoko.

„Mit ein paar Flaschen Schnaps würd’s mir leichter fallen“, gebe ich zurück.

„Schluckspecht.“

„Ich finde es viel ätzender, dass wir nachmittags schauspielern sollen“, erklärt Sophie. „Das wird bestimmt voll peinlich.“

„Morgen zusammen ... guten Morgen, Schröder“, strahlt Paolo, setzt sich und löffelt in meinen Cornflakes rum. „Mhhh ... ich stehe auf süße Sachen.“

Ferdi vergisst aus Versehen, seinen Löffel voll Obstsalat in den Mund zu befördern. Die Früchte klatschen in die Schale zurück.

„Dann mach dir doch eine Schüssel ganz für dich alleine“, schlage ich vor.

„Wozu?“, mampft er.

„Ich finde es eklig, fremden Speichel in den Mund zu bekommen.“

„Beim Knutschen hat’s dir gefallen.“

Also langsam geht mir der Kleine extrem auf die Eier! „Hab ich mich gestern irgendwie unklar ausgedrückt?“

„Nein, aber ich dachte ...“

Was er dachte, ist mir kackegal und das Frühstück für mich beendet.

Das Tanzen mit Frankie Esposito ist genauso schrecklich wie ich’s erwartet habe. Oder ... eigentlich übersteigt es meine Erwartungen sogar noch. Hüften schwingen und DJ Bobo-mäßige Verrenkungen sind halt nicht so meins. Bei Ferdi schaut’s ganz gut aus, Sophie strengt sich an und Yoko hat keine Mühe, sich die Schrittfolge zu merken. Glücklicherweise ist der Spuk nach zwei Stunden vorbei. Bis zum Schauspielworkshop haben wir Mittagessen und Freizeit.

Ferdi und ich verziehen uns ins Zimmer, um unseren Song zu üben. Schließlich haben wir beide keine Lust, nächste Woche nach Hause zu fliegen. Neben dem ganzen Gefühlschaos nimmt er DSDMB ja ziemlich ernst und ich ... mh, ich möchte einfach nur so lange wie möglich mit ihm hier sein.

Kaum sitzen wir nebeneinander aufm Bett, geht meine Konzentration flöten. Er ist viel zu nah und er riecht viel zu gut.

„Vielleicht war das keine so gute Idee, das zusammen zu machen“, überlege ich.

„Kannst ja Irma fragen, was sie von einem Partnertausch hält. Sie kriegt mich und du ... deinen Paolo.“

„Was soll’n der Scheiß?“

Ferdi zuckt die Schultern. „Du hast doch mit dem Scheiß angefangen.“

„Ich find’s halt schwierig mit dir.“

„Ja, und zwar seit gestern.“

„Erstens stimmt das nicht und zweitens würde es dich doch wohl nicht wundern, wenn es so wäre.“

„Können wir bitte einfach nur das Lied üben?“

„Nein.“

„Nein?“, fragt er und sieht ganz süß verwirrt aus.

„Die Gelegenheit ist zu günstig“, grinse ich und werfe mich auf ihn.

„Bist du verrückt? Wenn die Mädels reinkommen ...“

„Die sind draußen.“

„Ich werd echt nicht schlau aus dir, Schröder. Vor zwei Sekunden fandst du’s noch schwierig mit mir und jetzt willst du mich plötzlich küssen.“

„Wer hat’n was von Küssen gesagt?“

„Na ja ... äh ... du liegst halb auf mir, also würde es sich doch irgendwie anbieten.“

„Okay, wenn du unbedingt geküsst werden willst, dann ...“ Weiter komme ich nicht, weil seine Hände meinen Nacken streicheln und er seine Lippen auf meine drückt.

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