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DSDMB
Teil 7
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Informationen
Inhaltsverzeichnis
Ferdi
Jetzt, da ich mich entschieden habe, zu Hause einiges zu ändern, fällt es mir gar nicht mehr so schwer, von hier wegzugehen. Einzig den kleinen Wassermann werde ich vermissen, aber ich habe vor, nicht locker zu lassen. Er MUSS mich einfach bald besuchen kommen. Wir verabschieden uns von den Coaches, die Jury ist schon am Vormittag weg. Ein paar Tränen fließen, die von der Kamera gierig aufgefangen werden. Bin ich froh, dass ich mir DAS nicht mehr antun muss. Stephano wünscht mir viel Erfolg auf meinem Weg und hofft, dass ich meine Meinung doch noch ändere. Er wird die Kandidaten nämlich auch für die Liveshows trainieren.
Im Bus sitze ich neben Paolo, der wehmütig den Palmen dabei zusieht, wie sie in regelmäßigen Abständen am Busfenster vorbeiziehen.
„Ich fand es hier echt toll. Aber … Schnee mag ich auch ...“
„Ja, ich auch“, pflichte ich ihm bei.
„Ich glaub, wir haben in vielen Dingen den gleichen Geschmack.“
Er klingt nicht provokativ, sondern stellt das nur ganz nüchtern fest. Ich antworte nicht, sondern greife mir sein I-Phone und durchforste seine MP3s. The Bates? Noch nie gehört. Mal sehen … Ich finde erstaunlich viel interessantes Zeug, notiere mir Songtitel und Bands und frage mich, wie ich an denen bisher vorbeikommen konnte. Muse zum Beispiel und Monster Magnet, Placebo …
Wir bekommen unsere Tickets und unsere Gepäckstücke werden aufgegeben. Der Metalldetektor schlägt aus als Schröder durchgeht, woraufhin er grinst:
„Intimpiercing.“
„Kann ich bezeugen“, gluckst Yoko.
Naja, ICH kann das nicht bezeugen.
Bei den Sicherheitskontrollen wird Schröder daraufhin ganz besonders genau gefilzt und macht das nicht gerade besser, als er den grimmig dreinschauenden Zollbeamten bittet, doch noch ein bisschen genauer da zu suchen, wo die Sonne niemals hinscheint … Oh Mann, ich glaube, Schröder wird mich noch so manches Mal arg in Verlegenheit bringen. Aber andererseits … ist das doch auch lustig und den Zollheini sehen wir eh nie wieder. Yoko bietet an, dass sie da für ihn suchen könnte … hahaha, langsam ist es nicht mehr lustig, vor allem, weil die Schlange immer länger wird und die Leute schon genervt schauen.
„Also Fuchseder, magst du neben mir sitzen?“
„Ist da nicht schon besetzt?“, frage ich, zu Yoko schielend.
„Du darfst zu meiner Rechten sitzen, Yoko zur Linken. Jetzt zick nicht rum, Ferdi. Nach dem Flug weiß der Teufel, wann wir uns wiedersehen.“
„Naja, wir haben ja auch noch den Düsseldorf-München-Flug.“
„Ehm nö, nicht wirklich. Ich fahr von Düsseldorf aus mit dem Zug weiter zu meinem Bruder …“
„Oh …“
„Und Yoko fliegt heim nach Berlin, deshalb würd ich gern neben euch beiden sitzen, kriegen wir das hin? Mann, wie im Kindergarten hier“, murmelt er.
„Schon gut, ich will ja auch neben dir sitzen. Irgendwer muss doch drauf achten, dass du nicht zu viele Freigetränke abstaubst und unbescholtene Bürger auf der Flugzeugtoilette verführst.“
„Ich verführ bloß dich, Fuchseder. Versprochen.“
„Erklärst du mir gerade, dass wir eine spießbürgerlich-monogame Beziehung führen sollten?“
„Ehm … ist das für dich ein Problem oder so?“, fragt er so verunsichert, dass ich lachen muss.
„Bin ich hier der Punk, oder du, hm?“
„Ich. Und du bist der Blödmann.“
„Nicht beleidigt sein, hm? Ah schau, das Boarding geht los.“
Dieses Mal belegen wir nicht mal ganz die letzten drei Reihen. Ganz schön reduziert inzwischen. Ich meine, jetzt sind nur noch zwanzig Kandidaten im Rennen, also streng genommen nur neunzehn, ohne mich. Und das sind hauptsächlich Frauen. Wenn man also davon ausgeht, dass mindestens zwei Männer in die Band kommen … dann haben Paolo, Cristian und Schröder gute Chancen. Krass … ich meine … was, wenn Schröder in diese Band kommt? Dann können wir uns bestimmt kaum sehen und wenn, nur heimlich … aber andererseits wollte ich ja mein Leben erst mal alleine in den Griff bekommen. Vielleicht wäre es also gar nicht so schlecht, wenn wir eher sowas wie eine Fernbeziehung führen? Ich würde ihn zwar schrecklich vermissen, aber das vernünftigste wäre es ja schon …
Haha, Schröder will unbedingt neben uns beiden sitzen, jaja. Und dann pennt er, kaum dass seine Start-Panik vorbei ist, ein und wacht den halben Flug lang nicht mehr auf. Yoko und ich ziehen uns aus Mangel an Alternativen also die seichte Komödie rein, danach liest sie irgendein Vampir-Buch und ich höre Schröders Musik durch, bis mir die Ohren weh tun.
Pünktlich für die Gratisdrinks wacht er erstaunlicherweise auf und stößt mit Yoko an. Mir verbietet er, etwas zu trinken und zerrt mich, als er auch meinen Baileys geleert hat, auf die Toilette.
„Boah, ich muss dringend pissen.“
„Schön. Dazu hätte ich aber nicht mitkommen müssen …“
„Geduld, Fuchseder. Gleich blas ich dir einen, dass dir die Lichter ausgehen.“
Schröder klopft zwar gern Sprüche, aber diesbezüglich verspricht er nichts, was er nicht halten kann. Dementsprechend blöde grinsend und eigentlich in Kuschelstimmung komme ich danach an meinem Gang-Platz an. Meine Knie sind so weich, dass ich mich sowieso wundere, dass ich die paar Meter geschafft habe. Schröder lächelt selbstzufrieden, wickelt mir seine Polyester-Flugzeugdecke um und streichelt darunter heimlich mein Knie.
„Ich liebe dich“, wispere ich ihm zu.
„Mist, zwei zu null! Wieso verpenn ich immer den richtigen Moment, um’s dir zu sagen?“
„Weil du da den Mund voll hattest?“, schlage ich vor und er lacht sich tot.
„Ich glaube, ich könnte jetzt ganz gut schlafen“, erkläre ich, als er sich beruhigt hat.
„Ist dir bequem? Willst du noch mein Kissen?“
„Perfekt. Alles ist perfekt.“
Wir landen erst am nächsten Vormittag in Düsseldorf, wegen der Zeitverschiebung. Die Nacht war definitiv zu kurz, genau wie die Nacht davor. Schnee, tatsächlich. Gut, dass ich meinen Mantel im Handgepäck habe. Und Weihnachtsdeko. Logisch, in zwei Wochen ist es schon so weit. Noch einmal Pässe vorzeigen und dann führen uns die Schilder in verschiedene Richtungen.
„Ich muss zur Gepäckausgabe …“
„Wir da zu den Anschlussflügen“, meint Yoko traurig.
Auch Sophie, Cristian und Paolo stehen bei uns.
„Wir sehen uns ja alle im neuen Jahr wieder …“
Ein Kamerateam bereitet sich gerade darauf vor, den Abschied zu filmen. Wah, das kann ich gerade überhaupt nicht brauchen.
„Also Schröder … ich steh auf kurz und schmerzlos“, erkläre ich. „Ich meld mich, wenn ich ein neues Handy habe. Pass auf dich auf.“
„Du auch …“
Ich umarme ihn kurz und nehme dann Reißaus, warte aber an der nächsten Wegkreuzung auf die anderen, von denen ich mich schließlich auch noch verabschieden muss. Von allen außer Sophie, die ja mit mir nach München weiterfliegen wird.
Schröder
Es ist sehr eigenartig, wenn man eben noch Sommer, Palmen, Sonnenschein hatte und drei Sekunden später dem Kackwetter in Deutschland ausgesetzt ist. Es liegt Schnee! Und es ist arschkalt! Ich hasse kalt, weil ich immer sofort Ohrenschmerzen kriege. Außerdem pisst es mich an, dass ich Yoko zum Abschied auf den Mund küssen musste und der Fuchseder mich bloß kurz umarmen durfte. Jetzt ist er grad fünf Minuten weg und ich vermisse ihn schon. Zum Kotzen, ey! Ich mache meine Lederjacke bis zum Anschlag zu, schlinge mir mein Halstuch um und mache mich auf den Weg zu Timo. Au, vielleicht sollte ich mich da erst mal telefonisch anmelden. Nicht, dass Juliane aus allen Wolken fällt, wenn der nichtsnutzige Punkschwager auftaucht…
„Kleiner“, strahlt Timo, als ich nachmittags vor der Tür stehe.
„Hey. Wo ist die kleine Nichte?“
„Im Kinderzimmer. Juliane gibt ihr die Brust“, erklärt er stolz, während ich meine Jacke ausziehe.
„Timo… geht’s noch ein bisschen ekelhafter?“
„Meine Alte gibt dem Balg was zu fressen… besser so?“
„Hallo, Schröder“, erklingt eine eisige Stimme.
„Hi, Mami“, lächele ich und hab sie damit.
„Magst du deine Nichte kennen lernen?“, lächelt sie genauso stolz wie Timo eben die Brustgeschichte erzählte.
Juliane hat Anna günstigerweise grad auf dem Arm.
„Klar, gibt mal her!“
„Schröder, lass sie bloß nicht fallen“, warnt Timo.
„Mann, du hast total meinen Plan durchschaut“, entgegne ich genervt, halte das Baby vorschriftsmäßig fest und klopfe ihm leicht den Rücken, weil Juliane das auch gemacht hat.
Die kleine Nichte rülpst und pennt wenig später an meiner Schulter ein.
„Cool“, grinse ich, „die wird bestimmt mal Punk!“
„Legen wir sie lieber hin“, schlägt Juliane vor.
Danach muss ich natürlich ausführlich von DSDMB und Florida berichten.
„Du bist unter den letzten Zwanzig?“, fragt Timo ungläubig.
„Wer hätte das gedacht, mh?“
„Allerdings“, nickt Juliane. „Wer hätte gedacht, dass du mal was einigermaßen vernünftiges machen würdest?!“
„Kann ich vielleicht ein paar Tage hier pennen? Auf der Couch?“
Mein Bruder wirft seiner Frau einen fragenden Blick zu.
„Ja, sicher“, ist sie einverstanden.
Ich hau mich gleich mal hin, weil die letzten Tage und Nächte wirklich anstrengend gewesen sind. Das bisschen, was man im Flieger schlafen konnte, war auch nicht unbedingt erholsam. Oh Mann, im Flieger… da war der Fuchseder bei mir und… hat schon wieder gesagt, dass er mich liebt. Hoffentlich krieg ich mal die Gelegenheit, ihm so was zu sagen.
Der nächste Morgen läutet den tristen Alltag ein. Frühstück mit Juliane allein, weil Timo schon bei der Arbeit ist. Er sitzt bei einer Versicherung im Büro, Schadensregulierung… so Stromberg-mäßig, aber wahrscheinlich weniger lustig.
„Schwer, dich wieder einzugewöhnen?“, fragt die Schwägerin und nippt an ihrem Tee.
„Na ja, irgendwie warte ich schon drauf, dass irgendein Training losgeht, oder ich einen Song zu üben habe.“
„Ich kann mir dich gar nicht beim Tanzen und Singen vorstellen…“
„Die Castings müssten bald anfangen, ich lauf da sicher mal durchs Bild.“
„Und, was hast du vor, bis es weitergeht?“
„Keine Angst, ich bleib nicht die ganze Zeit hier.“
„So war das echt nicht gemeint, Schröder.“
„Ich werd ein paar Leute besuchen, die ich kennen gelernt habe, vielleicht zu Mom fahren, Paps besuchen, wenn ich einen Termin kriege.“
„Und… wenn das nicht klappt mit der Band?“
„Das klappt eh nicht. Wer weiß, vielleicht studiere ich ja nach DSDMB doch noch.“
„Du hast dich verändert“, findet sie.
„Nicht wirklich“, lache ich. „Heute Abend gehe ich zu Eddie und wo ich danach lande… keine Ahnung.“
In Eddies Kneipe ist alles wie immer. Es ist laut, dreckig, verraucht und voll von bunten und dunklen Gestalten.
Sandro, ein hübscher Gothicjunge, kommt angerannt und knutscht mich auf den Mund.
„Wo hast du gesteckt? Wir dachten schon, du wärst irgendwo verreckt.“
Eddie stellt mir ein Bier hin. „Geht aufs Haus, weil der verlorene Dings heimgekehrt ist… der Sohn.“
„Also…“, drängelt Sandro und hat immer noch seinen Arm auf meiner Schulter liegen, „wo bist du gewesen?“
Ich nehme seinen Arm weg. „In Florida.“
„Haha.“
„Ehrlich. Fort Myers. Wenn du zu Hause bist, kannste es ja mal googlen.“
„Und wie bist du da hin gekommen?“
„Geflogen.“
„Mit wem?“
„Ich hab mir so ’nen reichen Sack aufgerissen, der hat mich mitgenommen.“
„Du kleiner Stricher“, säuselt er und steckt unaufgefordert seine Hand in meine Hose.
Normalerweise würde ich jetzt mit ihm verschwinden, aber…
„Ich hab einen Freund.“
„Wie bitte?“, fragt er und reißt entsetzt seine Kajalaugen auf.
„Rumficken is nich mehr.“
„Ach, komm, Schröder…“
„Echt, ich bin verliebt. Und treu.“
„Eddie“, krakeelt er, „gib mir einen Schnaps!“
„Machst du dann auch das vollgekotzte Klo sauber?“, brummelt er und reicht ihm ein Glas Cola.
Sandro ist echt süß, der verträgt absolut gar keinen Alkohol. Noch schlimmer als der Fuchseder.
Im Laufe des Abends kommen noch ein paar andere Leute vorbei, die wissen wollen, wo ich mich rumgetrieben hab. Ich erzähle jedes Mal die Reicher-Sack-Geschichte und denke unweigerlich an Ferdi. So unterschiedlich sind wir nicht. Ich muss auch lügen, weil die Menschen in meinem Umfeld die Wahrheit nicht akzeptieren würden. Dabei nehme ich den DSDMB-Kack immer noch nicht ernst und habe auf keinen Fall vor, in die Band zu kommen.
Aber man kann prima Zeit totschlagen und der großen Liebe begegnen! Und einem Meereskind, das nach wenigen Wochen bereits mehr über mich weiß, als die Punks nach Jahren. Na ja, irgendwie hab ich’s ja auch so gewollt. Richtige Freunde sind anstrengend, so was brauche ich nicht… dachte ich mal. Weiß der Teufel wieso.
Eine Woche später hab ich mich wieder ziemlich eingelebt. Es ist doch so, dass man sich recht schnell an irgendwas gewöhnen kann. Ich telefoniere viel mit Yoko, Ferdi hat sich noch nicht gemeldet, obwohl der bestimmt schon ein neues Handy hat. Na ja, wahrscheinlich will er jetzt erst mal Zeit mit Michi verbringen… und sein Leben in den Griff kriegen, was auch immer er damit gemeint hat.
Damit ich nicht vor Sehnsucht völlig den Verstand verliere, besuche ich John in seinem Tattoo-Shop. Ich hab Bock, mich verschönern zu lassen.
„Hey, Schröder“, grüßt er.
„Hast du grad zu tun?“
„Der nächste Termin ist erst in einer Stunde. Wieso?“
„Lust, mich zu stechen?“
„Meinst du tätowieren oder ficken?“
„Wenn ich ficken meine, sage ich ficken.“
„Okay, haste Kohle?“
„Nee.“
„Süß. Na, meinetwegen. Aber nur, wenn’s nicht zu groß wird, ja? Komm mit nach hinten.“
Wir gehen in einen gekachelten Raum, wo er sorgfältig Papier über die Lederliege legt.
„Was willst’n haben?“
Ich reiche ihm eine gezeichnete Vorlage. Einen Halbmond mit flammenartigen Sonnenstrahlen drumherum.
„Einfacher Scheiß“, ist Johns Kommentar, „aber zeitlos chic. Wohin?“
„Genau…“, ich öffne meine Hose, ziehe eine Seite etwas runter und deute neben meinen Hüftknochen, „da.“
Das Teil ist keine große Herausforderung für John, er ist ziemlich schnell fertig und ich find’s richtig, richtig cool.
„Kauf dir eine anständige Wundsalbe und schmier’s die ersten Tage gut damit ein. Und nicht an den Krusten knibbeln.“
„Danke, John.“
„Ja, schon okay.“
Weil das immer noch nicht reicht, lasse ich mir danach von Sandro die Haare schneiden. Einen Iro. Also… einen angedeuteten. Die Seiten ein paar Millimeter kurz, nicht gänzlich rasiert, der Pony bleibt lang. Und die längeren Haare bekommen ihr sumpfiges Grün zurück. So, jetzt fühle ich mich wieder wohl!
Allerdings halte ich es bei Timo und Juliane nicht mehr aus, weshalb ich beschließe, nach Berlin zu Yoko zu fahren.
Sie freut sich wie Hulle, als sie mich vom Bahnhof abholt.
„Der B! wird dich fertig machen, sobald er dich sieht“, prophezeit sie und strubbelt durch meine Haare.
„Ey, sag mal… fehlt dir der ganze Scheiß auch so?“
„Total“, nickt sie. „Krass, oder?“
„Mal was von Sophie gehört?“
„Ja, die hatte voll Stress mit Leon, aber ich glaub, jetzt ist wieder alles in Ordnung.“
Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie höflich vergisst, nach Ferdi zu fragen.
Yoko lebt in einer Mini-Wohnung in Prenzlauer Berg. Ein Wohn-Schlafzimmer mit angrenzender Küche, Bad, Balkon.
„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, mit mir in einem Bett zu schlafen“, lächelt sie.
„He, wir sind doch so gut wie verheiratet.“
„Ich meinte auch eher, ob es… Ferdi…“
Ich muss schlucken.
„Au je, so schlimm?“
„Es reicht“, bestätige ich.
„Warum besuchst du dann mich, anstatt ihn?“
„Weil er sich seit Düsseldorf nicht gemeldet hat. Vielleicht will er mich gar nicht sehen.“
„Ist doch Quatsch“, schüttelt sie den Kopf.
„Woher weißt du das? Was, wenn ich zu ihm fahre und ihm passt es nicht, dass ich schon wieder so unaufgefordert in sein Leben platze?“
Sie zuckt die Schultern. „Jedenfalls kannst du bleiben, solange du magst.“
„Was machst du eigentlich, wenn du rausfliegst?“
„Weiterstudieren halt. Und nebenbei irgendwie Musik.“
Es ist total frustrierend, dass alle Leute anscheinend Pläne haben, während ich eher orientierungslos umherirre. Wenn ich nicht aufpasse, wird aus mir ein vierzigjähriger, obdachloser Penner, der’s nicht auf die Reihe gekriegt hat. Keine schöne Vorstellung.
Als wir gerade beim Pizzaessen sind, klingelt mein Handy.
„Guten Tag?“
„Hey, Schröder…“
Mir wird kribblig.
„Hey, Fuchseder…“
Ferdi
Kaum sind wir in Düsseldorf abgehoben, habe ich das Gefühl, tausend Kilometer weit von Schröder weg zu sein. Sophie sitzt neben mir und sieht ebenfalls nicht besonders glücklich aus.
„Sophie?“
„Ja?“
„Wenn ich dir sage, was mit mir los ist, sagst du mir dann, was mit dir los ist?“
„Du fängst an.“
„Okay … ich hab dir ja erzählt, dass ich mich in jemanden verliebt habe … und, naja, das ist Schröder. Und …“
„Was?! Schröder Schröder?!“
„Ja, Schröder Schröder. Und irgendwie … naja, das ist alles so verdammt kompliziert, ich meine, er hat ja nicht mal einen festen Wohnsitz und er ist so planlos. Ich steh echt auf planen können. Nein, sogar mehr als das: Ich MUSS mein Leben planen und organisieren können, sonst krieg ich gar nicht alles unter, was ich zu tun habe. Und ich weiß einfach überhaupt nicht, wie Schröder da unterzubringen ist, aber ich weiß, dass er mir verdammt wichtig ist und ich es irgendwie schaffen muss, ihn ganz oft bei mir zu haben. Nur hab ich keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Soh. Du bist dran“, erkläre ich und muss erstmal Luft holen.
„Uff … na gut. Also Leon … er … naja, das was er beruflich macht, ist oft … riskant. Wir streiten oft darüber. Naja, er wollte eigentlich nicht, dass ich zu DSDMB gehe, aber da ich mich nicht in sein Berufsleben einmischen darf, gilt dasselbe halt auch anders rum. Irgendwie … hat er es dann etwas übertrieben mit dem Risiko, um mir eins auszuwischen. Und das hatte prompt sehr negative Folgen für ihn. Naja, ich hoffe, jetzt wo ich nicht mehr dabei bin, lässt er solche Scheiße sein und …“
„Moment mal?! Du bist absichtlich rausgeflogen?!“
„Naja, nicht total absichtlich, ich konnte mich nur nicht mehr so wirklich anstrengen, weil ich eigentlich viel lieber zu Hause für Leon da sein wollte. Du musst das doch verstehen, immerhin bist du auch freiwillig ausgestiegen …“
„Ja, aber nicht für jemand anderen, sondern nur für mich!“
„Ja, naja … ich liebe Leon. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich fragen wird, ob ich ihn heiraten will. Das ist mir wichtiger als vielleicht in die Band zu kommen …“
Ich sage zwar, dass ich das verstehe, aber insgeheim erinnert sie mich viel zu sehr an mich selbst und daran, wie ich immer getan habe, was für Michi das beste war, statt für mich selbst. Irgendwann wird sie das sicher bereuen …
Leon holt sie vom Flughafen ab und bietet auch an, mich nach Hause zu fahren, aber … die zwei sollten erst mal alleine einiges klären, hab ich das Gefühl. Also nehme ich die S-Bahn und die Tram und bin um halb drei zu Hause. Allerdings hab ich kaum Zeit meine Koffer abzustellen und zu duschen, da klingelt es schon und Herr Kolber verkündet, noch bevor er mich zu Hause willkommen heißt, dass Michi gerade allein ist, weil er einen Notfall in der Arbeit hatte. Und er macht mich auch gleich noch darauf aufmerksam, dass die Heizungsnachzahlung fällig ist. Michis Onkel ist mein Vermieter und nebenberuflich der Hausverwalter hier. Er lässt mich mietfrei wohnen, weil ich neben dem Studium und Michis Pflege beim besten Willen keine Zeit habe, mir einen Job zu suchen. So lange ich also brav jeden Tag ins Krankenhaus renne, hocke ich hier mal wieder im für Michi gemachten Nest. Dabei wollte ich eigentlich viel lieber in Regensburg studieren, wie mein großer Bruder. So hätte ich eventuell auch öfter nach den Eltern schauen können. Aber nachdem Frau Kolber verkündet hatte, dass sie nicht in der Lage ist, sich um Michi zu kümmern, offiziell weil im Geschäft so viel los sei, inoffiziell weil sie es nicht erträgt, ihren Sohn so zu sehen und daran erinnert zu werden, dass er versucht hat, sich das Leben zu nehmen, denn davon geht sie fest aus, nachdem sie den Polizeibericht gelesen hat, wurde Michi nach München verlegt, wo sein Onkel die Vormundschaft übernommen hat. Und ich durfte mein Leben komplett danach ausrichten … Aber damit ist jetzt Schluss!
„Wir haben dringend etwas zu besprechen, Herr Kolber. Haben sie heute Abend Zeit?“
„Wenn es wichtig ist?“
„Ist es.“
Großmütigerweise erklärt er sich bereit dazu, um acht auf ein Bier vorbeizukommen. Großartig, jetzt darf ich auch noch Bier besorgen!
Ich bin etwas aufgeregt. Immerhin habe ich Michi wochenlang nicht gesehen. Was, wenn er mich gar nicht mehr erkennt? Ich klopfe und trete ein. Zwei Betten?! Seit wann hat Michi bitteschön kein Einzelzimmer mehr? Im rechten Bett sabbert ein älterer Schlaganfallpatient vor sich hin. Er reagiert nicht mal auf mich. Links am Fenster liegt Michi ebenfalls im Bett und starrt gelangweilt an die Decke. Was soll denn das, bitte?!
„Michi?“
Er richtet sich ein kleines bisschen auf, so gut es geht. Dann fängt er an zu grinsen.
„Ferwiewuchs.“
Ferdi Fuchs. Seit wir im Supermarkt mal diese Comicfigur auf einer Wurstpackung entdeckt haben, nennt er mich so.
„Hey, mein Schatz“, lächle ich, weil ich verdammt froh bin, dass er mich erkennt. „Krieg ich ein Bussi?“
Er schmatzt ein paar Mal in die Luft, bis meine Wange vor seinem Mund ist.
„Na, hast du mich vermisst?“
„Wa! Deseng?“
„Soso, ein Geschenk willst du also? Hast du nicht vergessen, dass ich dir das versprochen hab, was? Na dann schau mal.“
Ich gebe ihn den muschelförmigen Magneten und die Postkarte, die ich am Strand gekauft habe und natürlich das Fort Myers-T-Shirt.
„Soll ich das für dich aufhängen? Wart mal, siehst du, das haftet hier an deinem Nachttisch. Cool, hm? Und wenn mein Handy wieder funktioniert, dann zeig ich dir ein paar Fotos von mir und dem B!. Kennst du den noch? Der Mann, der immer so gemeine Sprüche reißt.“
„Wii!“
„Genau. Sollen wir das Shirt gleich mal anprobieren? Zeig mal, was haben sie dir denn angezogen?“
Ich schlage seine Decke zurück und stelle fest, dass er nur einen Kittel und eine Windel trägt. Nicht mal Socken!
„Ohjeh, das ist ja viel zu kalt! Armer Schatz. Ich hol mal was aus dem Schrank.“
Leider muss ich feststellen, dass kaum noch saubere Klamotten da sind, nur zwei große Tüten mit Wäsche drin. Super.
„Hat der Onkel eigentlich auch mal Wäsche gewaschen?“, schnaufe ich und finde zum Glück noch eine Trainingshose, die zwar recht dünn ist, aber besser als nichts. Socken gibt es leider keine mehr, also krame ich aus der miefenden Wäschetüte welche raus, das muss es bis morgen tun. Zur Bestätigung niest Michi auch gleich mal und verlangt nach einem Taschentuch, weil ihm der Rotz bis zum Kinn hängt. Yammie. Während des Anziehens klopft es und eine Mittvierzigerin und ein kleiner Junge betreten das Zimmer.
„Oh, hallo. Sollen wir kurz draußen warten?“
„Nein, schon fertig, nur noch die Socken. Linker Fuß, Michi.“
„Sind sie der Bruder?“
„Nein, nur ein Freund.“
„Und da kümmern sie sich so? Das ist ja nett. Machen sie das beruflich?“
„Ich bin Student.“
„Achso“, macht sie leicht irritiert, weil sie das dann offenbar nicht einordnen kann.
Boah, auf Smalltalk hab ich wirklich keine Lust, wenn ich bei Michi bin! Er braucht dringend wieder ein Einzelzimmer! Wofür ist er denn privat versichert?!
Ich mache mich auf den Weg zum Schwesternzimmer, weil ich das geklärt haben will, bevor es ans Abendessenverteilen geht. Leider sind da nicht gerade meine Lieblingspflegerinnen anwesend. Und eine kenne ich überhaupt noch nicht.
„Ah, Herr Fuchseder, wieder im Lande.“
„Ja, seit heute Vormittag.“
„Willkommen zurück. Der Michi hat oft nach ihnen gefragt.“
„Kann ich mir vorstellen … Sagen Sie, seit wann hat er eigentlich kein Einzelzimmer mehr?“
„Ach, hat Herr Kolber das nicht mit ihnen besprochen? Die Zimmer waren etwas knapp. Und da es auch aus therapeutischer Sicht Sinn macht, dass er jemanden hat, mit dem er interagieren kann, hat sein Onkel sich bereit erklärt …“
„Entschuldigung, aber inwiefern kann er denn mit seinem total apathischen Zimmernachbarn interagieren? Und vor allem: Wie soll das gehen, wenn er nicht mal im Rollstuhl sitzt, sondern im Bett liegt und die Decke anstarrt?“
„Wir sind heute unterbesetzt …“
„Klar, aber wann sind Sie das nicht? Und Klamotten hatte er auch nicht an, jetzt niest er rum …“
„Die Kollegin hat keine saubere Wäsche mehr gefunden.“
„Komisch, ich schon.“
„Ich kann verstehen, dass Sie darüber nicht erfreut sind, aber Sie wissen doch inzwischen, wie es hier abläuft. Wenn sich die Angehörigen nicht kümmern …“
„Sein Onkel war doch jeden Tag hier!“
„Ja, eine halbe Stunde lang und da hat er aus der Zeitung vorgelesen. Wäsche hat er genau einmal in vier Wochen mitgebracht und ständig ist er in die Therapien geplatzt und hat Michi abgelenkt. Bei allem Respekt, wenn Sie sich bei jemandem beschweren wollen, dann bei ihm. Und jetzt muss ich mich um die Medikamentenvergabe kümmern.“
Sie lässt mich einfach stehen. Uff. Wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich nie von hier weggegangen. Und jetzt? Weiter nach Plan? Ja. In Regensburg kann ich mich genauso um ihn kümmern, ich muss mir nur überlegen, wie ich da eine Wohnung finanzieren soll. Und jetzt habe ich auch gute Argumente, um Herrn Kolber zu überzeugen, denn wenn seine Schwägerin erfährt, wie lausig er sich um ihren Sohn gekümmert hat … oder ist ihr das egal? Und ist der Sinn der ganzen Sache nicht eigentlich, dass ich mich weniger um Michi kümmern muss? Aber wer sollte mir das abnehmen?
Am Abend, während die Waschmaschine auf Hochtouren läuft, erkläre ich Herrn Kolber jedenfalls, dass ich es für das beste halte, wenn Michi näher bei seinem Bruder und seiner Mutter liegt. Und dass ich zum nächsten Semester gerne nach Regensburg wechseln würde. Er ist ziemlich verärgert und uneinsichtig und natürlich endet alles damit, dass ich ihm seine ganzen Versäumnisse vorwerfe, er mir, dass ich überhaupt weggegangen bin und er am Ende findet, ich solle ruhig mal Miete zahlen. Darauf gibt es nur eine mögliche Antwort:
„Gerne, aber sicher nicht an Sie. Ich ziehe aus.“
Wutentbrannt stürmt er aus der Wohnung und mir dämmert langsam, dass ich mich da in eine verdammt dumme Situation gebracht habe. Was, wenn Michi nicht so schnell verlegt werden kann oder ich den Studienort nicht mehr so schnell wechseln kann? Und wo soll ich in Regensburg wohnen? Bei meinen Eltern? Auf keinen Fall!
Gleich am nächsten Tag gehe ich zur Studentenkanzlei, bekomme nach fast zwei Stunden Wartezeit ein paar Anträge und Fristen und so weiter, muss am übernächsten Tag nach Regensburg fahren, um das da abzuklären, weil das telefonisch ein Witz ist und über die Post zu lange dauern würde und ich die Fristen eigentlich eh schon verpasst habe, muss dann am Montag wieder in die Münchner Studentenkanzlei und zu einigen Profs, um zu bestätigen, dass ich gewisse Leistungen erbracht habe, die ich aber eigentlich gar nicht erbracht habe, denen erklären, warum ich aber trotzdem dringend wechseln muss und dabei raus kommt dann, dass ich die Einführungskurse, die es nur im Wintersemester gibt, in Regensburg wiederholen muss, aber ausnahmsweise solange dort schon mal die weiterführenden Veranstaltungen besuchen darf. Das wird allerdings auch noch mal ein Papierkrieg werden. Zwischendurch hatte ich einige anstrengende Telefonate mit der Versicherung, die aber eigentlich nur mit Herrn Kolber Vereinbarungen treffen dürfen, der leider auf stur geschalten hat. Ich werd noch irre!! Immerhin weiß die Krankenhausleitung jetzt, dass Michi gerne nach Regensburg verlegt werden soll und hat uns dort schon mal auf die Warteliste setzen lassen. Im alten Jahr wird da sowieso nichts mehr passieren und im Januar muss man dann eben weitersehen. Zumindest kann ich mir dann jetzt die Uni sparen und suche mir für vormittags einen Job als Verkäufer, das hab ich während der Schule immer gemacht, also sollte sich da was finden lassen …
Ach du Scheiße, Nepomuk! Ich hätte ihn schon längst anrufen müssen! Bei einem zwielichtigen Second-Handy-Laden kaufe ich mir für einen Zehner ein altes Siemens. Für mehr reicht es gerade nicht, weil ich wirklich sparen muss, wenn ich ab Februar Miete zahlen muss. Überhaupt zeigt mir Herr Kolber deutlich, dass es ihm lieber wäre, ich zöge gestern aus statt morgen. Ich schätze, ich werde bald nach Regensburg aufbrechen, was allerdings dann aus Michi wird … keine Ahnung. Aber vielleicht überzeugt das Herrn Kolber ja, der Verlegung zuzustimmen. Dann hätte er immerhin seine Ruhe. Aber erstmal ist das egal. Ich will jetzt dringend Nepomuks Stimme hören.
„Guten Tag?“
„Hey, Schröder…“
Für einen Moment ist es still in der Leitung, dann:
„Hey, Fuchseder…“
Ich höre genau, dass er lächelt.
„Hast du vielleicht einen Festnetzanschluss in der Nähe? Das wäre billiger …“
„Wart mal. Meereskind, hast du hier Festnetz?“
„Nö, nur Handy.“
„Scheiße. Sorry, kann nicht dienen.“
„Du bist bei Yoko?“
„Ja, seit heute“, erklärt er lauernd.
Aber ich werde das Fass jetzt nicht aufmachen.
„Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Hier war zu viel los. Ich sag’s dir, dagegen war das Trainingscamp wie Urlaub.“
„Ich hab mich schon etwas gewundert … und ich hab dich vermisst.“
„Wenn ich Zeit gehabt hätte, irgendwas zu vermissen, dann wärst das auch auf jeden Fall du gewesen …“
„Nett …“
„Sorry. Mein Leben ist nur leider immer noch wahnsinnig kompliziert. Aber ich ruf nicht an, um dich vollzujammern.“
„Rufst du mich an, um zu fragen, wann wir uns sehen können?“
„Eigentlich … also … ich würde dich echt wahnsinnig gerne sehen, mein kleiner Wassermann …“
„Aber?“, fragt er offenkundig angepisst.
„Aber ich weiß selber noch nicht so genau, was in den nächsten Wochen so ansteht. Ich werde wohl die Tage erst mal zu meinen Eltern fahren und da Weihnachten verbringen. Dann wieder zurück nach München, wegen … du weißt schon …“
„Du kannst ruhig über Michi reden, Fuchseder.“
„Ja … also … ich hab nur leider bald keine Wohnung mehr und kann dich deshalb auch nicht einladen, bei mir zu wohnen. Aber wenn alles läuft wie geplant, dann ziehe ich im Februar nach Regensburg zurück. Da könnten wir uns ja dann vielleicht …“
„Da bin ich dann aber wohl im Bandhaus, weißt du noch?“
„Oh, richtig … ja … ich weiß auch nicht so recht.“
„Willst du mich wirklich sehen?“
„Klar. Wenn ich könnte …“
„Alles klar. Dann sehen wir uns. Und jetzt solltest du an die Rechnung denken. Bis bald, Fuchseder.“
„Ich hoffe es. Ciao …“
Schröder
Na, das war doch mal so richtig für die Tonne.
„Keine guten Nachrichten?“, fragt Yoko als sie mein finsteres Gesicht sieht.
„Er hatte keine Zeit, mich zu vermissen.“
„Oh…“
„Ja, was soll man denn bitte davon halten? Ich krepiere vor Sehnsucht und er…“
„Sorry, Schröder, aber… ähem… hast du vielleicht mal überlegt, dass du einfach ein bisschen zu viel Freizeit hast?“
Treffer, versenkt!
„Wie bitte?“, frage ich trotzdem genervt.
„Na ja, nicht jeder hat so ein laues Leben wie du. Wenn Ferdi studiert und sich nebenbei noch um seinen Freund…“
„Ich bin sein Freund.“
„… Michi kümmert und ich weiß ja nicht, was sonst so bei ihm los ist, aber das muss schon was gravierendes sein, wenn er freiwillig auf DSDMB verzichtet.“
„Du bist irgendwie ätzend.“
„Äh…“
„Wie kannst du den Nagel immer so auf den Kopf treffen und dafür sorgen, dass ich ein schlechtes Gewissen kriege?“
„Dafür sind Freunde da“, grinst sie.
„Bad Abbach also“, überlege ich, „da bin ich schon ein paar Mal durchgefahren. Ich frage mich, wie viele Fuchseders es da wohl gibt?!“
„Sorry, aber das entzieht sich nun wirklich total meiner Kenntnis.“
Drei Tage besichtige ich mit Yoko Berlin, schaue kurz bei Linda vorbei und trampe dann nach Regensburg. Uaaahhhh… Heilig Abend mit Mom und ihrem Stecher zu verbringen, ist nicht grad das schönste, was ich mir vorstellen kann, aber was soll’s?! Sie tut wenigstens so, als würde sie sich freuen, mich zu sehen. Rainer, der Stecher, muss natürlich gleich die Fresse aufreißen… weil ich in der chicen Wohngegend wie ein Penner rumlaufe und was sollen denn die Leute sagen. Und überhaupt würde ich ja eh immer nur zu Besuch kommen, wenn ich Geld bräuchte. Er wüsste ganz genau, dass Mom mir immer was zustecken würde und ich soll doch verdammt nochmal selber arbeiten gehen, anstatt mich überall ins gemachte Nest zu setzen. Zum Schluss behauptet er noch, ich würde wie mein Erzeuger enden. Das alles im Schatten der festlich geschmückten Nordmanntanne. Meine spießigen Stiefgeschwister Deborah und Cornelius versuchen gar nicht erst, ihre Freude darüber, dass Papa mal wieder ein ernstes Wörtchen mit mir geredet hat, zu verbergen.
„Hast du deine Enkelin eigentlich schon besucht?“, frage ich Mom.
„Dein Bruder weiß, wo ich wohne.“
„Ja, und? Soll er jetzt mit einem Baby unterm Arm achthundert Kilometer hierher fahren?“
„Er hat es ja nicht einmal für nötig gehalten, mich sofort nach der Geburt zu informieren“, erklärt sie, „da hat er lieber zuerst seine Schwiegereltern angerufen.“
„Verstehe. Was für eine Schändlichkeit.“
„Ich werde nicht mit dir diskutieren, Nepomuk. Du bist nun wirklich nicht in der Position, mir irgendetwas vorzuwerfen. Rainer und ich, wir haben alles für euch getan. Und was ist der Dank? Timo erzählt mir Tage später nebenbei, dass er Vater geworden ist und du…“, sie schüttelt den Kopf.
Ich würde sie jetzt gerne an die Zeit vor Rainer erinnern, als sie auf Pillen war und Timo neben der Schule den Haushalt schmeißen und sich um seinen kleinen Bruder kümmern musste, aber… ich will die heimelige Weihnachtsstimmung nicht kaputt machen.
„Kann ich morgen vielleicht das Auto haben?“
„Meinetwegen“, nickt sie.
Cool, oder? Die ist immer froh, wenn ich weg bin. Nur deshalb steckt sie mir Geld zu oder leiht mir ihr Auto, damit ich ja bald verschwinde und ihre perfekte neue Familie nicht mit meiner Anwesenheit belästige.
„Danke, Mom“, lächele ich höflich und begebe mich die Treppe rauf ins Gästezimmer… mein ehemaliges Kinderzimmer. Als ich mit sechzehn zu Timo abgehauen bin, da haben die bestimmt keine fünf Minuten später angefangen zu renovieren. Deborah und Cornelius haben selbstverständlich noch ihre eigenen Zimmer, obwohl die auch schon nicht mehr hier wohnen.
Timo und ich sind eben so ’ne Art Aschenputtel.
Mein Blick fällt auf den Mistelzweig, den ich in Berlin gekauft habe. Mann, ich bin echt auf Ferdis Gesicht gespannt…
Die Adresse rauszukriegen war nicht schwer. Laut Telefonbuch gibt’s bloß einen Fuchseder in Bad Abbach und das wird dann ja wohl Ferdis Vater sein. Ich fahre gleich nach dem Mittagessen los. Zum Glück sind die Straßen nicht mehr allzu verschneit oder glatt, trotzdem erreiche ich den Fuchseder-Hof erst nachmittags, weil eben alles ländlich unübersichtlich ist und ich mich eh hier null auskenne. Als ich endlich da bin, finde ich erst mal, dass ich mich sicher verfahren habe. Ich meine, das Haus macht nicht den Eindruck, als würde jemand darin leben können. Heruntergekommene Bruchbude ist noch freundlich ausgedrückt. Allerdings steht auf dem verschmockten Klingelschild etwas, das Fuchseder heißen könnte, also klingele ich.
Jemand kommt zur Tür und öffnet sie einen winzigen Spalt.
„Hey, Ferdi… Überraschuuuung…“, grinse ich.
Ferdi schiebt sich durch den Türspalt. „Was willst du denn hier?“
Ich halte den Mistelzweig über uns. „Mir einen Kuss abholen“, schlage ich vor.
„Bist du irre? Du musst gehen. Und zwar sofort.“
Was für eine tolle Begrüßung!
„Nee“, sage ich, „du lässt mich jetzt rein, damit ich mich aufwärmen kann.“
„Weißt du, Schröder… du willst es anscheinend nicht anders“, entgegnet er kryptisch und stößt die Tür auf.
Uiuiui, mein lieber Schwan!!
Das Haus hält drinnen, was es von außen verspricht. Heruntergekommen, dreckig, siffig, Staub, Spinnweben, die Farbe am Geländer der Treppe, die nach oben geht, ist stark abgeblättert. Die Farbe an den Wänden vergilbt, an manchen Stellen bröckelt der Putz ab.
Das Haus ist ein abgehalfterter Penner! Die sechshundert leeren Pfandflaschen fügen sich prächtig ins Bild ein.
Da Ferdi anscheinend nicht gewillt ist, mich irgendwohin zu führen, latsche ich einfach dahin, wo ich so was wie ein Wohnzimmer vermute, die gute Stube, sozusagen. Allerdings… gut ist was anderes. Klobige Bauernmöbel, die ungefähr eintausend Jahre alt sind und genauso lange nicht geputzt wurden. Gegenüber vom „Wohnbereich“ mit reichlich abgeschmackten Polstersitzgelegenheiten sind an der Wand drei erstaunlich neu aussehende PCs aufgereiht.
Vor einem davon hockt ein dürres Mädel in Schwarz, dessen Haltung die pure Langeweile ausdrückt. Vor dem zweiten sitzt eine zweihundert-Kilo-Frau. In der Ecke steht verzweifelt ein hässlich geschmückter Weihnachtsbaum.
„Guten Tag… äh… frohe Weihnachten“, höre ich mich sagen und muss fast lachen. Das hier ist alles total und vollkommen skurril, surreal und einfach gar nicht in Worte zu fassen.
„Ich dachte, der Johann wär gekommen“, behauptet Frau Fuchseder und dreht sich schnaufend auf ihrem Stuhl.
„Ja“, antwortet Ferdi, „ist er aber nicht.“
Wortlos widmet sie sich wieder ihrem Monitor.
Wie ein Geist erscheint auf einmal ein Mann (Ferdis Vater, nehme ich an) in der Stube, wartet, bis Ferdi erklärt, dass ich ein Bekannter bin und lässt sich vor dem dritten PC nieder. Der Vater sagt auch irgendwas, aber ich verstehe ihn nicht, weil er stark bayrisch redet. Also… sehr stark.
„Hast du genug gesehen?“, raunt Ferdi mir zu.
Ich nicke tranceartig und bin froh, dass wir jetzt offenbar nach oben in sein Zimmer gehen.
Und das ist übrigens ein Erlebnis wie bei Alice im Wunderland. Man kommt aus diesem düsteren Müll in einen hell gestrichenen, sauberen Raum. Es riecht sogar frisch.
Immerhin verstehe ich jetzt, warum Ferdi oft so verkrampft und unlocker ist. Wer in dieser Umgebung mit diesen Leuten aufwachsen musste und nicht völlig plemplem geworden ist, der verdient eigentlich einen Orden. Trostlos ist für diese Location noch ein viel zu positives Wort!
Ferdi sagt keinen Ton. Vermutlich würde er gerne vor Peinlichkeit sterben oder so. Dabei kann er ja nix für sein Elternhaus. Deshalb umarme ich ihn erst mal ganz doll, aber er schiebt mich weg.
„Ich lieb dich, Fuchseder.“
„Mann, Schröder…“, lächelt er verstohlen.
Ferdi
Okay, jetzt kennt Schröder also auch die Fuchsederschen Zustände. Ich hatte zwar gehofft, dass es nie so weit kommen würde, aber … naja, immerhin ist er als Punk bestimmt einiges gewöhnt … Und wo er schon mal hier ist …
„Du hast nicht zufällig ein Auto?“
„Doch.“
„Sehr unpunkig. Aber nützlich. Ich hab heute Vormittag drei Säcke voll Altglas zusammengesammelt.“
„An Sonn- und Feiertagen darf man nichts in die Container werfen“, erklärt er musterbürgerlich.
„Dann stellen wir‘s halt daneben“, grinse ich.
„Du kleiner Anarchist!“
„Da stehst du doch drauf. Und nachher will ich noch die Tiere versorgen. Da darfst du mir auch gerne helfen.“
„Sag mal, willst du jetzt auch noch das Chaos deiner Eltern beseitigen? Ich dachte, du kommst mit deinem eigenen schon nicht klar?“
„Keine Sorge, das mach ich nur, weil Weihnachten ist. Nächste Woche können sie an ihrem Dreck von mir aus wieder ersticken.“
„Schön, dass wir uns da einig sind.“
„Schicke Karre“, pfeife ich beim Anblick des neuen Audis.
„Mama hat reich geheiratet.“
„Hoffentlich machen die Säcke nichts dreckig.“
„Und wenn schon? Ist auch bloß ein Auto.“
… das Schröder sogar recht annehmbar fahren kann. Ich fühl mich echt sicher. Sogar als wir an der Kurve vorbeikommen, wo man an einem dicken Laubbaum immer noch das hellere Holz unter der Rinde sieht, wo Michi …
„Also, was hast du jetzt weiter vor, Fuchseder?“
„Heute? Oder generell?“
„Beides.“
„Heute Abend gibt’s Familienessen bei meiner ältesten Schwester. Und generell … werd ich hier studieren und … mir eine Wohnung und einen Nebenjob suchen …“
„Und wie willst du das alles auf einmal schaffen?“
„Weiß ich noch nicht …“
„Und was ist mit mir?“
„Du bist mein kleiner Wassermann und das soll auch so bleiben.“
„Du hast noch gar nichts zu meiner neuen Frisur gesagt“, schmollt er.
„Tja, wenn man nichts nettes sagen kann, soll man lieber still sein, hab ich gelernt.“
Er streckt mir die Zunge raus. Mmh, würde ich ihn jetzt gerne küssen. Aber das würde ihn vermutlich zu sehr vom Fahren ablenken …
Als wir nach Hause kommen, steht schon ein alter FIAT im Hof.
„Johann ist da!“, freue ich mich.
„Und das ist?“
„Mein großer Bruder!“
„Ui, noch ein Fuchseder. Vielversprechend“, zuckt er mit den Augenbrauen.
Ich breche in Gelächter aus.
„Glaub mir, Johann ist nicht dein Typ. Obwohl er mir sehr ähnlich sieht.“
„Na also! Nur zwei Fuchseders sind besser als einer!“
„Wiiiiiiiiiiie du meinst.“
Wie nicht anders zu erwarten, sitzen meine Eltern und meine Schwester in der Stube. Johann ist vermutlich oben.
„Komm, dann stell ich dich mal vor. Bin gespannt, wer von euch beiden eher einen Herzinfarkt bekommt.“
Mein Bruder packt in unserem Zimmer gerade ein paar Sachen in den Schrank. Schröder ist noch nicht mal durch die Tür, als ich Johann freudig umarme. Wie immer riecht er ein klein wenig nach Weihrauch und wie immer kommt es mir so vor, als würde er sich nicht wohl dabei fühlen, berührt zu werden. Trotzdem strahlt er mich an und behauptet, ich sei doch noch mal gewachsen. Dann lenke ich seine Aufmerksamkeit auf Nepomuk.
„Darf ich dir einen guten Freund von mir vorstellen? Das ist Schröder.“
Mein Bruder mustert ihn sichtlich überrascht, versucht aber zu lächeln und hält ihm die Hand hin. Leider ist Nepomuk viel zu geschockt, um irgendwie zu reagieren.
„Ist das … das da …?“
Er deutet auf Johanns Kollar.
„Japp. Schröder, das ist Hochwürden Johann Fuchseder. Seit einem Jahr zumindest.“
„Ist das krass, verdammt-äh … tschuldigung. Äh … schön, dich … Sie … Euch kennenzulernen, Hochwürden …“
„Gleichfalls … denke ich.“
„Warum läufst du eigentlich in Uniform rum?“, will ich wissen.
„Weil ich gerade erst angekommen bin. Gleich will ich aber nach den Tieren sehen. Hilfst du mir?“
„Klar und Schröder auch, stimmt’s?“
„Äh sicher, klar.“
Johann fängt an, sein schwarzes Hemd aufzuknöpfen, wartet dann aber, bis wir aus dem Zimmer verschwunden sind.
„Ein Priester?! Verdammt, hättest du mich nicht vorwarnen können?!“
„Nö, dann hätte ich ja deinen abgefahrenen Gesichtsausdruck verpasst“, lache ich mich schlapp.
Ich stelle Schröder die fünf Hühner, die drei Ziegen und den Hund, Bello, vor und stelle gleichzeitig fest, dass alles so dermaßen verdreckt ist, dass ich in meinen Alltagsklamotten gar nicht erst anzufangen brauche. Auch Schröder verzieht die Nase.
„Hier können die Viecher doch nicht hausen! Und was macht der Hund eigentlich im Stall?“
„Im Haus hat er zu viel Chaos angerichtet.“
„Was soll er da schon noch groß schlimmer machen?“
„PC-Kabel anbeißen. Das ist hier eine Todsünde.“
„Mit dem Begriff solltest du nicht so leichtfertig umgehen, Ferdi“, erklärt Johann, der inzwischen Jeans und ein einfaches Shirt trägt.
„Tut mir leid. Jedenfalls wäre es schon längst für alle Beteiligten das beste, sie würden den Hof endlich aufgeben und …“
„Das ist unsere Heimat!“, empört sich mein Bruder mal wieder.
„Du wohnst seit acht Jahren nicht mehr hier!“
„Aber so lange Margarete noch hier wohnt …“
„Das Gretchen würde in zehn Jahren noch hier hocken, weil sie ja sonst Miete bezahlen und sich einen Job suchen müsste.“
„Ich habe eventuell eine Stelle als meine Sekretärin für sie“, erklärt er triumphierend.
„Ha-ha-ha, genau, den Bock zum Gärtner machen und die Satanistin zur Pfarrersgehilfin. Noch mehr so gute Ideen?“
„Sprich nicht so von unserer Schwester! Denn wer ohne Sünde ist, soll den ersten Stein werfen.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“, frage ich angriffslustig, weiß aber eigentlich schon, was gleich kommt.
Er grinst gemein:
„Wie geht es Michael?“
„Du blödes Arschloch!“, brülle ich ihn an und trete eine Ladung Dreck in seine Richtung.
„Der Stachel der Wahrheit, was?“, zischt er und wischt an seiner Hose rum.
„Sehr christlich geht’s hier zu, muss ich schon sagen“, mischt sich Schröder ein. „Lass uns zu mir fahren, hm?“
„Sehr gern.“
Schröder
Okay, Ferdi hatte seinen Spaß. Jaja, ich hätte auch gerne meinen blöden Gesichtsausdruck gesehen, als ich Hochwürden vorgestellt wurde. Mal ehrlich, ich hab immer gedacht, meine Familie wär komisch, aber… die Fuchseders gehören echt ins Panoptikum. Und natürlich kann man sich jetzt auch denken, warum Ferdi das Höllenfeuer fürchtet, wenn er Kerle bumst… mit einem Priester in der Familie. Übrigens weiß Pater Johann, dass sein Bruder schwul ist… sonst hätte er nicht SO nach Michi gefragt.
Es könnte Einbildung sein, aber ich habe irgendwie den Eindruck, dass es heller und freundlicher wird, je weiter wir vom Hof wegfahren.
„Verdammte Scheiße“, fluche ich, weil Johann nicht mehr in der Nähe ist, und schlage kurz aufs Lenkrad, „Fuck, Fuck, Fuck!“
„Hast du das Tourette-Syndrom?“
„Es ist Weihnachten und… Mann, Fuchseder, ich hab gar kein Geschenk für dich.“
„Ach du meine Güte“, verdreht er die Augen.
„Mh, ich könnte kurz irgendwo halten und dir einen blasen…“
„Als Weihnachtsgeschenk? Lass mal.“
„Ach so, wir sind anspruchsvoll und wollen mehr, was?“
„Ja und zwar essen… ich hab voll Hunger.“
„Na ja, die Weihnachtsgans haste leider verpasst, aber sicher bietet dir Mama zwei, drei Stückchen Schwarzwälderkirsch an. Übrigens hätte ich dich nicht so spontan besucht, wenn ich gewusst hätte, wie voll dein Terminkalender ist. Wir konnten noch nicht mal gescheit knutschen…. von anderen Sachen will ich lieber nicht reden, sonst kann ich nicht mehr fahren.“
Als ich mit Ferdi vor der Haustür stehe, sind mir nicht einmal mehr die beleuchtete Tanne im Vorgarten und der Nikolausgartenzwerg daneben peinlich. Nicht nach dem Höllenhaus eben.
„Mom, ich bin wieder da“, brülle ich, ziehe meine Jacke aus und deute Ferdi an, selbiges zu tun.
„Wieso brüllt dein Sohn schon wieder das ganze Haus zusammen?“, krakeelt Rainer. „Der ist doch wohl nicht sternhagelvoll mit deinem Auto gefahren, Ulrike?!“
Ich zerre Ferdi ins Esszimmer, wo Stiefvater und Stiefschwester bereits am Kaffeetisch sitzen. Mom kommt grad aus der Küche und steht genau vor uns.
„Ich hab einen Freund mitgebracht. Mom, das ist Ferdi. Ferdi, das ist Mom.“
Er streckt seine Hand aus. „Guten Tag, Frau… äh… Schröd…“
„Gerlach.“
„Ferdi?“, ruft die spießige Stiefschwester.
Er guckt zu ihr rüber und ist offensichtlich genauso überrascht wie alle Anwesenden.
„Hallo, Deborah.“
„Wieso kennt ihr euch?“, will ich wissen.
„Schule“, antwortet er.
„Ich hole noch ein Gedeck“, flötet Mom, die den Fuchseder ab sofort für eine gute Partie hält, weil Deborah natürlich nur solche tollen Jungs kennt.
„Das ist ja witzig“, behauptet die Stiefschwester. „Was hast du denn mit dem Freak zu tun?“
Ich bin wirklich so kurz davor, ihr zu sagen, dass Ferdi mich bumst, wann immer er die Gelegenheit dazu kriegt, aber… na ja.
„Wir sind befreundet. Lange, uninteressante Geschichte“, sage ich stattdessen.
Mom stellt Ferdi und mir Teller, Tassen und so hin und verteilt Sahnetortenstücke.
„Ach, entschuldigen Sie, Ferdi… mein Mann, Rainer.“
Der Stecher nickt bloß kurz. Ferdi lächelt höflich.
„Wie geht’s Michi?“
Sein Lächeln erstarrt. „Ähem...“
„Michael Kolber“, erklärt Deborah in die Runde.
„Kolber?“, überlegt Mom, „Möbelhaus Kolber? Hatte der Sohn nicht diesen schlimmen Unfall? Der soll doch immer noch…“
„Milch?“, biete ich Ferdi an. „Zucker?“
Deborah glotzt dämlich zu mir rüber. „Wieso ist denn bei dir plötzlich die Höflichkeit ausgebrochen?“
„Wieso hältst du nicht einfach die Klappe und isst deine verdammte Torte?“, zische ich.
„Wie geht es Michi denn nun?“, lässt die verhasste Stiefschwester nicht locker.
„Den Umständen entsprechend“, murmelt Ferdi.
„Frau Kolber redet ja gar nicht darüber“, weiß Mom, „aber das ist ja verständlich, das muss doch schrecklich für sie sein… wenn der eigene Sohn praktisch zum Pflegefall…“
„Mutter!“, unterbreche ich ihr penetrantes Gefasel.
„Ja, Nepomuk?“
„Es ist Zeit, das Thema zu wechseln.“
„Und das entscheidest du?“, ätzt Deborah.
Ey, mir platzt gleich echt der Kragen.
„Vielleicht macht es euch ja Spaß, über irgendwelche Leute zu tratschen, ich kann darauf total verzichten.“
Meine Stiefschwester grinst gemein… und holt zum Schlag aus. „Wie ist das eigentlich, Nepomuk? Kriegt dein Vater an Weihnachten Ausgang oder darfst du ihn besuchen? Ich meine, ich weiß ja nicht, wie das so läuft im Kn…“
„Deborah!“
Rainer haut so kräftig auf den Tisch, dass alle zusammenzucken. Mom ist unter ihrem Make-up reichlich blass geworden. Normalerweise darf hier niemand über ihren Exmann sprechen. Niemals. Und eigentlich sollten die Stiefgeschwister auch nicht wissen, was passiert ist, aber seit es bei einem Streit zwischen Rainer, Mom und mir herausposaunt wurde, wissen sie es eben doch. Kurz danach bin ich dann zu Timo gezogen.
So, also die Stimmung ist zwar völlig im Arsch, aber wenigstens ist auch das Michi-Thema vergessen. Dem Fuchseder werde ich aber vermutlich sehr bald etwas erklären müssen. Er hat so einen fragenden Blick drauf. Möglicherweise lässt er sich einstweilen durch die geschmückte Nordmanntanne im Wohnzimmer ablenken, die ich ihm grad zeige, während sich die Kaffeeklatschrunde zerstreut.
„Was hat deine Schwester vorhin gemeint?“
Schade!
„Stiefschwester. Gefällt dir der Baum?“
„Total“, nickt er. „Das ist was anderes als…“
„Das nadelnde Ungeheuer, das bei deinen Eltern traurig in der Ecke kauert, mh?“
„Ja“, bestätigt er lächelnd und seine Augen strahlen im Licht der elektrischen Kerzen.
Mann, würd ich ihn jetzt gerne küssen!
„Aber du lenkst ab, Schröder.“
„Nicht jetzt. Und nicht hier. Scheiße, ey, wenn ich geahnt hätte, dass meine Mutter… tut mir leid, dass sie das über Michi gesagt hat.“
„Nicht jetzt, okay?“
„Familie ist echt zum Kotzen.“
Kaum erwähnt man den Teufel, schleicht er auch schon wieder um einen herum und drängt einem Glühwein auf.
„Ich muss noch fahren“, lehne ich ab. „Und Ferdi verträgt keinen Alkohol.“
„Nicht mal ein Gläschen Glühwein?“, fragt Mom.
„Nein, danke.“
Mom setzt sich mit ihrem Gläschen neben den Stecher.
„Das ist ganz neu für uns, dass Nepomuk Freunde mit nach Hause bringt“, faselt sie.
„Ihr habt mir verboten, Freunde mit nach Hause zu bringen“, bemerke ich.
„Du weißt warum, Nepomuk. Und das müssen wir nicht grad jetzt diskutieren.“
„Wieso nicht? Ich hab eine Party gefeiert, die Musik einen Tick zu laut aufgedreht und die Nachbarn haben die Bullen gerufen… das war alles.“
„Niedliche Umschreibung für das, was du in meinem Haus veranstaltet hast“, meldet sich Rainer zu Wort.
„Das ist doch jetzt ganz egal“, findet Mom, die offenbar nicht noch mehr schmutzige Wäsche vor einem Fremden gewaschen haben möchte.
„Wir sollten eh langsam mal los. Fuchseder, was meinst du?“
„Was hast’n du mit dem Haus angestellt?“, grinst Ferdi als wir im Auto sitzen.
„Mit dem Haus eigentlich nichts. Aber als die Bullen wegen der lauten Musik aufgekreuzt sind, zusammen mit Mom und Rainer, die drei Häuser weiter bei Bekannten waren… da war ich oben in meinem Zimmer und hab mir vom Sohn der Bekannten einen blasen lassen. Hätte Rainer angeklopft, anstatt einfach die Tür aufzureißen… Dominik, der blöde Arsch, hat hinterher einfach behauptet, ich hätte ihn gezwungen, mit Alkohol gefügig gemacht und so.“
„Als hättest du das nötig.“
„Genau. Aber einem Spießersohn glaubt man natürlich eher als einem verzottelten Punk. Nebenbei, es war umgekehrt. Wenn Dominik mir nicht diesen Pfirsichschnaps eingeflößt hätte, dann hätte ich den Schwachmaten gar nicht an meine Hose gelassen. Und erst recht nicht in meine Hose. Sag mal eben, wo wir jetzt lang müssen…“
Ferdi
„Da hinten links …“, deute ich über meine Schulter zurück.
„Fuchseder!“, schnauft er genervt.
„Ja hey, wenn du mir Geschichten über das Innere deiner Hose erzählst …“
„Gut, das kann ich als Ausrede gelten lassen. Ich würde dir das Innere meiner Hose heute übrigens auch gerne noch zeigen.“
„Wenn du willst, könnte ich bei dir übernachten? Ich meine … wenn deine Eltern dann nicht ausrasten oder so …“
„Nein, ist gebongt.“
„Eines noch … also wegen deiner Stiefschwester …“
Er knurrt genervt. Ich fahre unbeirrt fort:
„Deborah macht alles kompliziert. Ich meine, wenn sie rausfindet, dass wir zusammen sind, dann ist es selbst für sie kein Problem mehr, den Rückschluss auf Michi und mich zu ziehen …“
„Ich hasse die Schlampe!“
„Ne-Po-Muk“, warne ich ihn.
„Is doch wahr. Na schön, aber wie stellst du dir das dann weiter vor? Wo sollen wir zum Beispiel poppen?“
„Arg … Schröder, ist das deine einzige Sorge?!“
„Das und ob wir heute noch bei deiner Schwester ankommen …“
„Oh … schon wieder verpasst. Aber nicht schlimm, nimm einfach die nächste rechts, das dürfte auch funktionieren …“
„Grrrrrrrrrrrrrrr!“
Als wir endlich vor dem Reihenhaus mit dem gepflegten Vorgarten und dem BMW in der Auffahrt parken, will ich Schröder gerade mitteilen, dass ich verdammt gerne mit meiner Schwester tauschen würde, als er Würgegeräusche macht und fragt:
„Kannst du dir vorstellen, so zu leben?!“
„Ääääh … hab ich erzählt, dass meine Schwester früher auch so rumgelaufen ist wie du?“
„Du meinst …“
„So punkig, ja. Vielleicht blickst du also gerade in deine eigene Zukunft“, ziehe ich ihn auf.
Aber das findet er wohl ganz und gar nicht witzig.
„Also ich hätte gern irgendwann mal ein eigenes Haus …“, versuche ich, mich vorzutasten.
„Wozu? Um dann dein restliches Leben lang an einen Ort gebunden zu sein? Das ist doch dämlich …“
„Nein, um endlich ein Zuhause zu haben, zu dem ich gerne heim komme. Ich meine, ich kann natürlich verstehen, dass jemand wie du, der in Stiefpapas Luxusvilla aufwachsen durfte, mal Bock auf Hausbesetzungsabenteuer und so nen Müll hat, aber …“
„Aber du hast null Ahnung, wie ich aufgewachsen bin, genau. Du hast mir mal einen guten Rat gegeben, Fuchseder: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten.“
„Naja, vielleicht erleuchtest du mich dann bei Gelegenheit mal. DU weißt seit heute schließlich so ziemlich alles über mich …“
„Vergiss es, Fuchseder. So nicht. Wenn ich dir irgendwas erzähle, dann weil ich es will und nicht, weil ich mich dazu verpflichtet fühle.“
„Okay … du hast recht, tut mir leid. Es ist nur … dass du heute bei mir zu Hause warst … ich hab das Gefühl, dass … ich weiß auch nicht, du mich jetzt bestimmt anders siehst als vorher …“
„Stimmt. Jetzt bewundere ich noch viel mehr, wie toll du trotz der ganzen Scheiße geworden bist.“
„Ach Schröder …“
Mein Schwager Bernd öffnet die Tür.
„Ah Ferdi. Schön, dass du da bist. Und …“, er stutzt.
„Das ist Schröder, ein Freund von mir. Ich hoffe, das ist okay?“
„Klar, sicher, für einen mehr ist immer Platz. Barbara ist noch unterwegs, eure Eltern abholen …“
„Oh, sind wir zu früh?“
„Nein, die anderen verspäten sich. Vermutlich dauert es etwas länger, eure Mutter ins Auto zu bringen“, erklärt er betont feinfühlig.
„Heute Vormittag hat sie sich aufgeregt, warum ihr nicht einfach zu uns kommt. Das wäre doch bequemer für alle …“
Ein Schatten huscht über Bernds Gesicht, dann entschließt er sich aber, höflich zu bleiben:
„Nächstes Jahr vielleicht. Darf ich eure Mäntel nehmen?“
Bereitwillig trennt sich Schröder von seinem Bundeswehrparka und schnüffelt:
„Riecht gut hier.“
„Putenbraten. Ich muss mal schnell nach dem Blaukraut sehen. Macht’s euch gemütlich. Achso, die Kinder sind oben, falls ihr hallo sagen wollt.“
Und ob ich das will! Ich habe meine fünfjährige Nichte und den dreijährigen Neffen seit September nicht mehr gesehen! Aber erst muss ich noch etwas anderes erledigen:
„Sicher, gleich. Aber könnte ich zuvor noch was mit dir besprechen?“
„Sicher, wenn’s auch über dem Blaukraut geht?“
„Kein Problem. … Schröder, willst du …“
„Den Kindern schon mal allein hallo sagen? Klar.“
Ich erzähle Bernd also, während er rührt und würzt und abschmeckt, von meinen Plänen, Michi nach Regensburg verlegen zu lassen. Da er Oberarzt im Bezirksklinikum ist, verspricht er auch sofort, mit ein paar Leuten zu telefonieren und beglückwünscht mich zu meiner Entscheidung. Er bietet mir sogar an, dass er übergangsweise ein Zimmer im Schwesternwohnheim besorgen könnte, und wenn ich will, könnte ich sicher in der Küche oder beim Hausmeister aushelfen, was zwar nicht die tollsten Jobs sind, aber so könnte ich schließlich immer nach Michi schauen. Und die Uni ist auch gleich neben dem Klinikgelände. Nervige Rumfahrerei könnte ich mir also auch sparen.
„Das wäre echt alles ideal. Warum hab ich nicht eher auf dich gehört?“
„Weil die Familie Kolber dem bisher nicht zugestimmt hat.“
„Naja, bald schon, hoffentlich ...“
„Wenn du sonst noch irgendwie Hilfe brauchst, melde dich einfach.“
„Danke Bernd. Du bist wirklich mein Lieblingsschwager“, zwinkere ich.
„Ich bin ja auch dein einziger. Und jetzt schau nach meinen Kindern. Nicht dass dein Freund schon gefesselt im Schrank hängt und mit Pfeilen beschossen wird.“
Allerdings stellt sich mir ein ganz anderes Bild dar! Schröder sitzt am Boden, mein Neffe Noah auf seinem Schoß und die Nichte, Lisa, ganz dicht neben ihm, als würden sie ihn schon ewig kennen. Und gemeinsam singen sie „Alle Vöglein sind schon da“.
„Maaaaann, schade, dass mein neues Handy keine Kamera-Funktion hat.“
„Onkel Ferdiiiiiiiiii!“
Na immerhin können die zwei sich lange genug von ihrem neuen besten Freund losreißen, um mich ordentlich zu begrüßen.
„Danke für die Stofftiere aus Amerika!“
„Ah, ist das Paket angekommen?“
„Ich hab Nala.“
„Und ich Simba!“
Unten fällt die Haustüre ins Schloss.
„Ui, Oma und Opa sind da, glaub ich“, verkünde ich.
Aber die zwei scheinen mäßig begeistert zu sein.
„Die riechen immer so komisch …“
„Ja, nach verbrannten Holz, hm? Das liegt daran, dass ihr Haus keine so tolle Zentralheizung hat wie euers. Ihr habt echt Glück“, finde ich.
„Du riechst aber auch nicht komisch und Onkel Johann auch nicht.“
„Hm, danke.“
„Schröder riecht nach Zigaretten. Das soll man aber nicht“, erklärt Lisa.
„Da hörst du’s“, zwinkere ich ihm zu. „Na dann wollen wir mal runter gehen, nicht dass wir das Essen verpassen, was?“
Die beiden kreischen auf und stürmen davon.
„Süß“, lächle ich.
„Ja, die zwei scheinen ganz gut gelungen …“, gibt Schröder zu.
„Nicht die zwei. Du. Deine Nichte darf sich echt über dich als Onkel freuen.“
„Na mal sehen …“
Alle sitzen schon am Esstisch, meine Mutter wischt sich mit der teuren Stoffserviette im schwitzigen Gesicht rum. Ich versuche, mir davon nicht den Appetit verderben zu lassen. Das funktioniert, weil Bernd und Barbara wirklich gut kochen können. Sie sind da ein eingespieltes Team, das bewundere ich. Johann erzählt aus der Gemeinde, in der er als Kaplan arbeitet. Bernd erzählt vom Krankenhaus und Barbara ermuntert Lisa dazu, zu erzählen, wie es im Kindergarten so ist. Dann will natürlich irgendwer wissen, was ich so treibe und woher ich Schröder kenne. Zeit, von DSDMB zu erzählen. Fast eine halbe Stunde lang unterhalten Schröder und ich die überraschte und teils begeisterte Gesellschaft mit unseren Ausführungen, bis ich dann schließe mit:
„Aber am Ende musste ich mir dann doch eingestehen, dass ich das alles gar nicht durchziehen kann, neben Michi und dem Studium. Deshalb habe ich der Jury gesagt, dass ich freiwillig aussteige.“
„Was?!“, schallt es mir aus verschiedenen Richtungen entgegen.
„Naja, so schlimm ist das jetzt auch wieder nicht …“, versuche ich zu erklären.
„Nicht so schlimm?!“, hustet mein Vater. „weißt du, was du da an Schotter heimbringen könntest? Weißt du, was man damit aus dem Hof machen könnte?!“
„Äh … mit meinem Geld? Nur darum geht’s dir?“
„Da siehst du’s Hans. Den Jungen interessieren wir nicht. Das war schon immer so. Der denkt immer nur an sich. Was aus uns wird, ist dem doch egal“, predigt meine Mutter kauend.
„Wie bitte?“, frage ich ungläubig. „Das ist ja wohl nicht euer Ernst?“
„Mei, schon seit der Grundschule hast du nichts Gescheites mehr im Kopf gehabt. Nur noch Musik und der Michi, was anderes hast du doch gar nicht gekannt. Hauptsache dir ist es gut gegangen! Hast dir von denen ja sogar ein Jahr lang die Domspatzen finanzieren lassen!“
„Ja weil ihr mir keinen Pfennig dafür geben wolltet! Außerdem hab ich das alles abgearbeitet!“
Meine Mutter lacht auf.
„Ja, Ferdinand, wie du das abgearbeitet hast, wissen wir. Da kann dein Bruder noch so viele Rosenkränze für dich beten, dafür landest du im Fegefeuer. Und verdient hast du’s auch noch.“
„Schluss! Jetzt langt’s aber!“, findet Barbara sehr laut.
Ich hingegen sitze nur da und tue nichts. Meine Mutter nimmt sich Nachschlag und isst weiter, als wäre nichts gewesen. Auch mein Vater und das Gretchen verfahren so. Nur Johann stiert mich an, aber nicht wirklich aggressiv, eher … mitleidig. Bernd isst ebenfalls weiter, nachdem er meinen Eltern einen für seine Verhältnisse sehr bösen Blick zugeworfen hat. Erst da schaue ich zu Schröder neben mir, der sich krampfhaft an der Tischplatte festkrallt und sich wohl nur mit Mühe beherrschen kann.
„Was gibt’s zum Nachtisch?“, frage ich.
Nach dem Hauptgericht dürfen die Kinder ihre neuen CDs im Wohnzimmer spielen und tanzen. Alle außer Barbara, Schröder und mir bleiben trotzdem am Tisch sitzen. Während Barbara Fotos schießt, tanze ich mit Lisa und Schröder mit Noah. Oder viel mehr springen wir zu „In der Weihnachtsbäckerei“ und ähnlichem ausgelassen durch die Gegend.
„Kind und Erwachsener und Kind und Erwachsener tanzen.“
„Stimmt“, bestätige ich Lisas Aufzählung.
„Tauschen! Jetzt bin ich mal mit Schröder dran!“
„Soso, hast du schon genug von mir, was?“
„Der Schröder tanzt lustiger!“
Kein Wunder, der hat Noah nämlich auf dem Arm und wirbelt ihn tangomäßig durch die Gegend. Da kann ich wohl nicht mithalten.
„Und jetzt Kind und Kind und Erwachsener und Erwachsener“, schlägt Noah nach einer Weile vor, also tanzen Schröder und ich Rock’n Roll umeinander rum.
„Zeit für die Nachspeise“, verkündet Barbara und bewegt sich Richtung Esszimmer. Schwupps, sind auch die Kids verschwunden und wie auf Bestellung kommt ein Kinderschlaflied, zu dem man ganz langsam und nah tanzen muss. Ich schaue mich noch mal um, alle weg. Dann zieh ich Schröder zu mir:
„Du bist ein toller Tänzer.“
„Verrat das bloß keinem. Darf ich dich was fragen?“
„Sicher …“
„Woher weiß dein Bruder das mit Michi?“
„Was denkst du wohl? Ich hatte total das schlechte Gewissen nach dem Unfall. Ich meine, du hast es ja selbst mitbekommen, ich denke manchmal immer noch, dass ich Michi dazu getrieben habe.“ Er zieht mich ein Stück näher an sich. „Und im Christentum wächst man nun mal damit auf, dass alles vergeben wird, wenn man es beichtet und Buße tut …“
„Moment, du hast es also DEINEM BRUDER gebeichtet?!“
Ich nicke.
„Ob das klug war? Ich meine …“
„Schließlich schützt mich das Beichtgeheimnis. Er darf es niemandem sagen. Aber Johann ist der Meister in kalter Kriegsführung. Er weiß genau, welche Knöpfe er drücken muss, um mich zum explodieren zu bringen …“
„Verstehe … aber woher weiß es dann deine Mutter?“
Ich zucke die Schultern.
„Eigentlich liegt die Vermutung ja nahe, wo ich öfter bei Michi übernachtet habe, als zu Hause …“
„Oder dein Bruder hat es ihr gesteckt …“
„Das glaub ich nicht …“
„Ich hab da noch was im Inneren meiner Hose“, haucht er unvermittelt.
„Schröder, das ist nun wirklich nicht der richtige …“
„Nicht DAS. Das hier:“
Er holt einen kleinen Mistelzweig hervor und schaut mich fragend an. Ich sehe mich kurz um, dann nicke ich und küsse ihn, kaum dass er das Zweigchen über uns hält. Mmmmmh, wie ich das vermisst habe!
„Verliebt, verlobt, verheiratet!“, quietscht es freudig bei der Tür und Lisa hüpft singend davon.
Wir hören, wie die Kleine stolz im Esszimmer verkündet, dass Onkel Ferdi und Schröder knutschen und deshalb verliebt, verlobt, verheiratet sind. Schröder schaut mich schuldbewusst an.
„Wie schlimm ist das jetzt?“
Ich versuche, nicht zu lange zu zögern, bis ich sage:
„Überhaupt nicht. Mir egal, was die von mir halten. Den Kuss würde ich für nichts in der Welt eintauschen. … Aber vielleicht sollten wir uns jetzt besser verabschieden …“
Nepomuk nickt lächelnd, aber auch angespannt und geht Richtung Garderobe. Dazu muss man aber am Esszimmer vorbei, wobei er einfach versucht, schnell vorbeizuhuschen.
„Warte. Komm, wir sollten uns ordentlich verabschieden. Schließlich kommen wir beide aus gutem Hause, was?“, grinse ich schief.
Er zieht nur die Brauen nach oben und tritt neben mich in den Esszimmertürrahmen. Meine Familie starrt uns an.
„So, wir verabschieden uns dann mal“, erkläre ich und nehme Schröders Hand. „Noch einen schönen Abend zusammen.“
Nachdem keiner auch nur irgendwie reagiert, gehen wir also einfach.
„Warte!“, bittet Barbara, als wir schon fast beim Auto sind. Sie trägt ihre Hausschuhe und keine Jacke. Dafür winkt sie mit einem Geschenk.
„Das hier wollte ich dir unbedingt noch geben. Eigentlich schon letztes Weihnachten, dann hab ich mich doch nicht getraut.“
Sie drückt mir das golden umwickelte Etwas - vermutlich ein Buch - in die Hand. „Ich weiß, dass du das wahrscheinlich gar nicht wirklich brauchen kannst, oder doch, keine Ahnung. Pack schon aus! … Sieh’s als symbolisches Geschenk an, weil ich …“
Ich entferne das Papier und lese den Titel.
„… weil ich dir halt zeigen wollte, dass ich es okay finde …“
„Die Freuden der Schwulen – The Joy of gay Sex“, liest Schröder vor.
Ich bin so überrascht, dass ich loslache und so gerührt, dass ich losheule und … meine Schwester umarmt mich und flüstert mir zu, dass sie mich lieb hat und dass ich auf jeden Fall noch mal vorbeikommen soll, bevor ich zurück nach München fahre. Dann umarmt sie auch noch Schröder und lädt ihn ebenfalls ein, noch mal vorbeizukommen.
„Pass gut auf meinen kleinen Bruder auf, okay?“
„Auf jeden Fall. Und danke für das Buch“, grinst er.
Schröder
So, mal eben an Weihnachten vor der gesamten Familie quasi geoutet… wobei Hochwürden Fuchseder ja eh schon über die schwulen Machenschaften seines Bruders Bescheid wusste… geht der Ferdi zum Beichten ausgerechnet zu dem… unglaublich. Na ja und Mama Fuchseder… sagt man nicht immer, die Mutter würden es sowieso merken, dass ihr Kind homosexuell ist? Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass Ferdis Mama überhaupt irgendwas mitkriegt, was nichts mit Essen und PC zu tun hat. Bei Putenbraten und Blaukraut hätte ich die Horroreltern wahnsinnig gerne schlimm verprügelt. Besonders als Madame Fuchseder
das Fegefeuer ins Spiel brachte und anmerkte, dass sie genau wüsste, wie Ferdi den Domspatzenaufenthalt abgearbeitet hätte. Wahrscheinlich hätte sie ihre Fresse gehalten, wenn
er die drei PCs gleich noch mit abgearbeitet hätte… egal, auf welche Weise.
Allerdings machen mir seit heute noch ein paar andere Dinge zu schaffen. Ungefähr seit Ferdi mir verriet, dass er gerne ein Zuhause hätte. Allein von dem Wort krieg ich Pickel. Außerdem scheint er neuerdings zu glauben, ich sei ein gelangweilter Luxusbengel. Weil ich ja in einer tollen Villa aufgewachsen bin. Aber wenn du jeden Tag gesagt bekommst, was für ein undankbarer kleiner Scheißer du bist, dass du lediglich Gast bist und dich dementsprechend zu verhalten hast, weil du sonst im Heim landest und aus so einem wie dir eh nichts Anständiges werden kann… da nützt dir halt auch das schöne Haus nix.
„Du, Ferdi…“, sage ich als ich vor dem schönen Haus halte, „vergiss bitte, was ich auf der Hinfahrt gefaselt habe. Von wegen poppen und so.“
„Ach, willst du etwa nicht?“
„Doch, aber… du musst nicht auch noch vor meiner Familie mit mir Händchen halten, wenn du nicht willst, dass sich die bekloppte Stiefschwester irgendwas über dich und Michi zusammenreimt.“
„Es ging mir immer nur darum, dass Michis Familie nichts erfährt“, unterbricht er mich ein wenig trotzig. „Aber andererseits hat er mir auch versprochen, irgendwann zu mir zu stehen und… die Zeit ist jetzt eben da.“
„Okay, aber… Michi kann das doch momentan gar nicht, oder? Ich meine, er kann sich nicht mal entscheiden, ob er es will oder nicht.“
Er dreht seinen Kopf und starrt aus dem Fenster.
Supi… Schröder, der Gute-Laune-Killer!
Zum Glück ist die Stiefschwester grad nicht zu entdecken. Mom hockt einträchtig mit Rainer und Glühwein auf der Couch. Die Kerzen vom Adventskranz sind angezündet, der Christbaum glitzert und im Hintergrund dudelt leise Schmusemusik. Wow… das sieht wirklich total nach heile Welt aus. Und so sehr ich Rainer und meistens auch meine Mutter verabscheue… dass die beiden verliebt sind, hab ich nie bezweifelt.
„Mom…“
„Nepomuk“, seufzt sie.
„Ist es okay, wenn Ferdi hier übernachtet?“
„Aber sicher. Mach ihm Cornelius’ Zimmer zurecht. Der ist schon mit Jessika zu den Eltern gefahren.“
„Alles klar. Gute Nacht.“
Sie wünscht uns ebenfalls eine gute Nacht, während Rainer so tut, als wären wir überhaupt nicht da. Die Tatsache, dass Ferdi mit mir befreundet ist, hat ihn leider sofort schon disqualifiziert.
Logischerweise nehme ich den Fuchseder mit in mein… ins Gästezimmer. Kaum ist die Tür zu, werfe ich mich aufs Bett und würde am liebsten nie wieder aufstehen. Der ganze Tag war noch anstrengender als ein Hundert-Kilometer-Strandlauf mit Corinne, der Florida-Sadistin.
„Schröder?“
Ich klopfe bloß auf die Matratze, was Ferdi gleich versteht, denn er zieht seine Schuhe aus und legt sich neben mich.
Au Mann, ist das gut, ihn endlich wieder so nah bei mir zu haben. Trotzdem… als er seine Hand streichelnderweise unter mein Shirt schiebt, halte ich ihn davon ab und setze mich schwungvoll auf.
„Sag mal, Fuchseder, was hast du eigentlich vor mit mir?“
„Äh… war das nicht offensichtlich?“
Schnaufend rappele ich mich hoch, latsche durch den Raum und bleibe schließlich am Fenster stehen.
„Willst du mich zähmen oder was?“
Ferdi unterdrückt einen Kicheranfall. „Ich glaube, ich habe noch nie was dämlicheres aus deinem Mund gehört.“
Allerdings! Ich erschieß mich gleich vor Peinlichkeit.
„Ich hasse es zu planen.“
„Ja, ist mir bereits aufgefallen.“
„Ich kann es nirgendwo lange aushalten. Und eigentlich kann ich es auch mit keinem Typen lange aushalten. Schon gar nicht mit einem, der von einem Reihenhaus träumt. Der ein geregeltes Leben haben will, wie seine Schwester, mit Kindern, Hund und Garten.“
„Meine Schwester hat keinen Hund.“
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Eigentlich nicht“, gibt er zu. „Und wenn du grad vorhast, mit mir Schluss zu machen, weil du meinst, dass wir zu unterschiedliche Dinge wollen, Schröder, ist das ein verdammt schlechter Zeitpunkt.“
„Normalerweise würde ich mich jetzt besaufen und irgendwen zum Ficken suchen.“
„Okay, wenn es das ist, was dich glücklich macht…“
„Das ist es doch“, versuche ich verzweifelt, ihm begreiflich zu machen, was los ist, „so was macht mich nicht mehr glücklich, seit wir… zusammen sind. Du veränderst mich und ich kann nichts dagegen tun.“
„Dreh dich mal bitte kurz um“, fordert er.
„Hä?“
„Los.“
Ich drehe ihm also den Rücken zu und… bekomme einen leichten Tritt in den Hintern. Dann schlingt er seine Arme um mich.
„Was sollte das denn?“
„Du hast gesagt, ich soll das machen, wenn du dich noch mal so komisch benimmst“, flüstert er mir ins Ohr.
„Hab ich dir auch gesagt, dass du an meiner Hose rumfummeln sollst, Fuchseder?“
„Nee. Das hab ich mir selber ausgedacht“, antwortet er und schiebt seine Hand unter meinen Hosenbund.
„Kram da nicht so rum. Sei gefälligst vorsichtiger“, zische ich.
Schwupps lässt er mich los und sieht fast ängstlich aus, als hätte er mir weh getan oder sonst was.
„Mach mal meine Hose auf, ich muss dir was zeigen“, grinse ich.
„Und muss ich dann bestaunen, wie groß der ist?“
„Ich rede doch nicht von meinem Schwanz, Blödmann“, lache ich mich kaputt.
„Hast du noch einen Mistelzweig versteckt?“
Ich schiebe kopfschüttelnd mein Shirt rauf und die Hose ein Stück runter. „Tadaaaaaa…“
„Hübsch“, bemerkt er, „ein… C? Wofür steht’n das? Campino?“
„Das ist ein Halbmond mit Sonnenstrahlen.“
„Und was bedeutet das?“
„Nichts weiter. Ich fand das halt… chic.“
„Ach so.“
Na ja, was soll’s?! Hauptsache mir gefällt’s.
„Okay, also… wollen wir langsam schlafen gehen?“
„Meinetwegen.“
Als wir unter der Decke liegen und Ferdi an mir rumstreichelt, halte ich es nicht mehr aus.
„Ich war noch nie so verliebt wie in dich und das macht mir Angst und bringt mich durcheinander, weil ich mit dir zusammen sein will und fast krepiere, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen. Ich kenne so was halt nicht und deshalb ist es total schwer für mich, damit klar zu kommen. Und ich hab Angst davor, dass du irgendwann mit mir Schluss machst, weil du feststellst, dass wir zu unterschiedliche Dinge wollen. Und dieses Haus macht mich fertig, weil es nämlich absolut nicht toll war, hier aufzuwachsen, was du natürlich nicht verstehst, weil ich dir die ganzen schrecklichen Dinge nicht erzählt habe und das Schrecklichste von allem weißt du auch nicht, denn wenn du das erst mal weißt… willst du nichts mehr mit mir zu tun haben und das kann ich nicht riskieren und… ich hätte jetzt gerne diesen fiesen Pfirsichschnaps, dann müsste ich mein irres Gefasel wenigstens nicht nüchtern ertragen.“
„Den fiesen Pfirsichschnaps hätte ich heute auch in verschiedenen Momenten nötig gehabt“, entgegnet er. „Allerdings hatte ich dich und das war sehr viel besser.“
„Ich hab die Stimmung versaut, oder? Ich meine, ich hab echt den ganzen Tag darauf gewartet, endlich mit dir allein zu sein und auf einmal rede ich nur noch Müll, den ich selber kaum verstehe und…“
„Ich finde, du hast dir eine neckische Stelle für das Tattoo ausgesucht“, unterbricht er mich.
Seine Finger streichen über meinen Bauch und malen die schwarzen Linien nach. „Und ich hoffe, dass du irgendwann so viel Vertrauen hast, um mir die schrecklichen Dinge zu erzählen, damit du keine Angst mehr haben musst, dass ich weggehe, kleiner Wassermann.“
„Ich schwör dir, Fuchseder, wenn du mich jetzt auch noch zum Heulen bringst, kannst du was erleben.“
Aber er bringt mich nicht zum Heulen, sondern küsst mich und kuschelt sich in meine Arme.
„Das Haus und seine Bewohner schlagen mir irgendwie immer so eklig aufs Gemüt. Und ich glaube, es war heute auch einfach ein bisschen zu viel Familie für mich.“
„Hm.“
„Bist du müde?“
„Eher angestrengt.“
„Hey, Fuchseder, ich wüsste da was, das uns wahnsinnig entspannen würde…“
„Im Haus deiner Eltern?“, fragt er skeptisch.
„Höchste Zeit, um für ein paar gute Erinnerungen zu sorgen“, grinse ich und küsse ihn.
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