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Exsanguis
Teil 3
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Informationen
- Story: Exsanguis
- Autor: Chelsea
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
Sascha >> [jetzt]
Ich stelle die Tüte vom China-Imbiss auf den Küchentisch und bin eigentlich ganz zufrieden. Immerhin war ich heute in so nem nervigen Techno-Schuppen und bin eine Menge Pillen losgeworden. Techno-Leute lieben lustige Pillen, das ist kein Klischee, sondern eine Tatsache. Das Geld in meiner Tasche reicht ja wohl als Beweis. Und weil ich der dringenden Meinung bin, dass man sich am besten ganz normal verhalten sollte, hab ich chinesischen Fraß gekauft. Um Vico zu signalisieren, dass ich ihn verstehe und dass alles ganz normal ist. Außerdem ist mir gestern klar geworden, dass ich wohl reichlich daneben lag mit meiner Ansicht über Vicos Beziehung. Es scheint ihm was an Julia zu liegen, sehr viel sogar, wenn er die Sache mit Levin beendet, weil sie ein Problem damit hat. Ich verstehe das. Dass man einem geliebten Menschen so etwas nicht zumuten will, wenn man weiß, dass es ihn verletzt. In dem Punkt ist Vico mir um Lichtjahre voraus. Er tut alles, um seine Beziehung zu retten, ich hab meine gegen die Wand gefahren, weil ich nicht aufhören konnte, obwohl ich wusste, was ich Silvester damit antue. Es wäre einfach, wenn mans nur auf die Drogen schieben würde, dann hätte man wenigstens ein bisschen das Gefühl, vor sich selbst besser dastehen zu können. Aber das ist kompletter Blödsinn. Ich wollte nicht aufhören und dafür hab ich von Silvester die Quittung bekommen. Ich an seiner Stelle hätte mich schon viel eher abgeschossen. Einmal hätte man verzeihen können, Silvi hat mir, ich weiß nicht wie oft, verziehen.
„Vico?“, rufe ich, klopfe an die Tür und drücke die Klinke runter.
Es ist abgeschlossen. Vico ist gar nicht zu Hause. Diese Türabschließerei geht mir echt aufn Sack! Der könnte sich seine fucking Paranoia wenigstens bei mir so langsam mal abgewöhnen, finde ich. Wovor hat er denn Angst? Dass ich sein Zimmer nach verschreibungspflichtigen Medikamenten durchsuche? Wir hatten Sex, er hat mein Blut getrunken, da sollte er mir doch ein bisschen vertrauen.
Ich gehe in die Küche zurück, schnappe mir aus der Tüte irgendein Gericht, packe den Rest in den Kühlschrank und stochere lustlos im Reis herum. Der Zettel, auf dem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich nicht lange weg sein würde, ist nicht mehr da. Genau wie Vico. Was hab ich denn gedacht? Dass er auf mich wartet? Um mit mir zusammen zu essen? Unnötig zu erwähnen, wie lachhaft ich mir grad vorkomme. Vico hat eine Freundin, klar, dass er seine Zeit nicht mit seinem Mitbewohner verbringen will.
Es war ein Fehler. Ich hätte auf mein anfängliches Gefühl hören sollen. Ich hätte bei Linda nachdrücklicher auf ein Mädchen bestehen sollen. Ich hätte mich nicht so schnell an Vico gewöhnen dürfen. Aber es war halt cool, dass plötzlich jemand da war, mit dem man reden konnte. Allein zu sein, macht auf die Dauer keinen Spaß. Logisch wollte ich mit den Knalltüten, die vor Vico hier ein- und ausgegangen sind, nichts zu tun haben, aber selbst wenn, das hätte gar nicht funktioniert, weil die ja immer schnell wieder weg waren. Kaum bleibt einer für länger, merkt man, dass man gar nicht so ein Einzelgänger ist, wie man gedacht hat. Und dass wir beide dieses schreckliche Geheimnis teilen, spielt auch eine Rolle. Er versteht nun mal genau, was bei mir abgeht, wenn die Spinner mit Blut hantieren. Das hat mich vielleicht ein bisschen zu sehr berauscht. Das hat mich auf Ideen gebracht, die man sich doch besser gespart hätte. Andererseits hat Vico schon auch gerne mitgemacht. Okay, haken wir es ab als einmalige Sache und vergessen es. Ich denke, damit macht man nichts verkehrt. Schließlich war es ja wirklich bloß Sex. Und Blut.
Zwei oder drei Tage später steht das chinesische Essen immer noch im Kühlschrank. Vico hab ich überhaupt nicht mehr gesehen. Er scheint nur noch zum Schlafen hier zu sein. Oder vielleicht nicht mal das. Kann gut möglich sein, dass er sich vorübergehend bei Julia einquartiert hat. Keine Ahnung, ist mir auch latte. Hab eh noch was zu tun. Meine Bestände checken und danach ein kleiner Snack im Schwulenclub. Während ich in meiner Schublade sorgfältig die Tütchen, Päckchen und so weiter zähle und kurz überschlage, wie viel Kohle mir das Zeug einbringt, bleiben meine Finger aus Versehen an einem Tütchen kleben. Oh Mann, ich hätte echt mal wieder Lust. Nee, das war der Anfang vom Ende. Na und? Ich muss auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, was schadet es also? Ich krame mich durch die zweite Schublade und finde schnell das silberne Schnupfröhrchen, einen kleinen, quadratisch-praktischen Spiegel und eine Packung Rasierklingen, einzeln verpackt. Mit dem ganzen Zeug setze ich mich aufs Bett, kippe etwas aus dem Tütchen auf den Spiegel und ziehe mit der Rasierklinge zwei gerade, saubere Linien, die ich, ohne weiter nachzudenken, schnupfe. Es dauert nicht lange, dann setzt die Wirkung ein. Und die ist echt nicht übel. Klar, ich verticke nur Erstklassiges!
Allein auf Koks sein, ist natürlich scheiße, also überlege ich Solveig anzurufen. Mit Solveig kann man nämlich irre viel Spaß haben, wenn man die richtigen Drogen konsumiert hat. Dann fällt mir ein, dass Solveig momentan gar nicht in der Stadt ist, weil sie mit irgendwelchen Freunden irgendwo herumreist. Okay, muss ich mir halt wen anders suchen, deshalb nehme ich das Tütchen, verstaue es zusammen mit den anderen Utensilien in meiner Tasche und mache mich auf den Weg zum Club.
Leider dauert der Weg dahin so lange, dass ich aufm Klo noch ne Line ziehen muss, um den Abend über Spaß zu haben.
Fuck ey, ich hab mich lange nicht mehr so gut gefühlt. Der Typ, mit dem ich grad tanze, wirkt auch alles andere als clean, was mir total gelegen kommt. Ich fasse ihn ein bisschen an, küsse ihn und verschwinde mit ihm im hinteren Bereich, wo es privater ist. Hübsch ist er, mit nem Brauenpiercing, Kajalaugen und schwarzem Strubbelschopf. Komisch, dass der ausgerechnet hier in dieser schmierigen Lokalität rumspringt. Er ist, glaub ich, jünger als ich, vielleicht weiß er noch nicht, wo Jungs wie er sonst rumhängen. Und es ist mal wieder geradezu erstaunlich einfach. Ich meine, er geht vor mir auf die Knie, öffnet meine Hose und hat direkt neben mir sein Glas abgestellt. Er schließt die Augen und fängt an, mir einen zu blasen. Sollte man nicht tun, also das mit den Augen. Mit der einen Hand wuschle ich ihm durch die Haare, mit der anderen Hand schütte ich ein paar Tropfen in seinen Drink. Lange dauert es nicht, bis ich komme, er bläst wirklich verdammt gut.
Lächelnd greife ich nach seiner Hand, ziehe ihn zu mir auf das Polstermöbel und küsse ihn. Meine Hand streichelt seinen Oberschenkel rauf, er seufzt leise, was mich bekloppterweise an Vico erinnert. Scheiße, den kann ich hier jetzt echt nicht gebrauchen. Also halte ich ihm sein Glas an die Lippen. Er leert, was auch immer neben meinen Tropfen da drin ist, auf ex.
Die Dosierung haut ihn schneller um, als ich erwartet hatte. Mag vielleicht an der Droge liegen, die er vorher schon konsumiert hat. Ist mir grad egal. Ich setze meinen Ring auf, streiche seinen Hals entlang, drücke die Spitze in seine Haut irgendwo in der Nähe des Schlüsselbeins und sauge augenblicklich an der kleinen Wunde. Es ist in der Tat nur eine kleine Wunde, unauffällig genug, dass er sich nichts weiter dabei denken wird, wenn er sie morgen oder wann auch immer bemerken sollte. Als ich mit ihm fertig bin, gebe ich ihm einen letzten Kuss auf die Wange, lege seinen Kopf so, dass er es weich hat, und gehe. Aber nicht nach Hause. Dafür ist es noch zu früh. Außerdem ist allein runterzukommen noch schlimmer als allein drauf zu sein. Ich rufe Nele an und frage, ob man sich treffen kann. Sie schlägt vor, zum Hof zu fahren. Von mir aus.
Levin hockt im Wohnzimmer. Meine Güte, wohnt der hier oder was? Janis und Timo hab ich beim Reingehen kurz gesehen. Haben die alle kein Zuhause?? Immerhin, Stefan scheint nicht da zu sein. Vico und Julia ebenfalls nicht. Ich lasse mich neben Levin auf die Couch fallen, schnappe mir eine Flasche Rotwein und trinke hastig. Durst hab ich nicht, aber der Wein verhindert, dass man allzu tief fällt. Jedenfalls tut er das bei mir. Was Levin sagt, kriege ich kaum mit, ich kann mich heute schlecht konzentrieren. Irgendwas von Abi hab ich aber gehört. Levin ist echt süß, und der Gedanke, was der so alles mit seinem Schmollmund anstellen könnte, beschert mir ein bisschen Herzklopfen. Andererseits ist Sex im Moment nicht dringend. Aber vielleicht krieg ich was anderes. Der Typ im Club war jetzt nicht so wahnsinnig ergiebig.
„Wie siehts aus? Lässt du mich heute noch ran?“, frage ich und ernte sehr eigenartige Blicke. Von Levin und von Nele. Halleluja, das war zu direkt und echt unelegant ausgedrückt. Alles nur, weil ich mich nicht konzentrieren kann.
„Entschuldigung, das macht der Wein“, versuche ich die Situation irgendwie zu retten, „den vertrag ich nicht.“
„Warum säufst du ihn dann wie ein alter Straßenpenner?“, will Nele wissen.
Ich zucke die Schultern und stelle die Flasche auf den Tisch. Danach rücke ich Levin auf die Pelle und streichle ihm mit dem Zeigefinger über die Wange.
„Ich würde echt gerne …“
Levin blinzelt unsicher ins Licht der hässlichen Wohnzimmerlampe.
„Du meinst … ähem, was genau meinst du? Also, ich hab nämlich eine Freundin und …“
„Ich rede nicht von Sex“, unterbreche ich ihn.
„Oh, gut“, sagt er erleichtert.
„Ich glaube, ihr braucht mich nicht. Weder für das eine noch für das andere“, behauptet Nele und ihr Tonfall lässt darauf schließen, dass sie wegen irgendwas angepisst ist. Egal. Sie verschwindet jedenfalls.
„Trotzdem ist es … äh …“
„Du hast doch gesagt, ich soll mich wie zu Hause fühlen“, erinnere ich ihn grinsend.
„Klar, okay. Du scheinst es ja wirklich … sehr zu wollen.“
Ich nicke eifrig. Levin kramt auf dem Tisch herum und findet eine verpackte Rasierklinge. Die Teile liegen hier offenbar überall. Dann setzt er sich mit gekreuzten Beinen mir gegenüber und reicht mir die Klinge. Okay, da er jetzt eine Freundin hat, sollte ich wohl eine neutrale Stelle nehmen. Den Arm, nahe der Armbeuge, kommt man gut dran, kann man hinterher gut verdecken. Andererseits hat er eh schon ein paar feine Narben, also was solls?!
Ich ritze seine Haut an, er schließt die Augen, ich starre auf die kleinen, roten Tropfen, die aus dem Schnitt perlen. Hübsch sieht das aus, sehr hübsch. Und außerordentlich verlockend. Bei Levin muss man ja auch nicht so schnell machen wie bei irgendeinem fremden Typen, da kann man sich zusammenreißen und sich Zeit nehmen. Deshalb schaue ich fasziniert dabei zu, wie die kleinen, roten Tropfen zu einer dünnen Linie werden, wie die Linie sich über seinen blassen Unterarm bewegt. Das reicht. Ich lecke über seinen Arm und sauge anschließend an der feuchten Wunde. Levins Atem wird schneller, hörbarer. Das hier ist so viel besser als meine übliche Blutbeschaffung. Erstens kriegt Levin es mit und zweitens scheint es ihn echt anzumachen.
Nach einer Weile lehne ich mich zurück.
„Wow, das war … irre cool“, sage ich und bin tatsächlich etwas überwältigt.
„Finde ich auch“, lächelt er schüchtern und wird ein bisschen rot an den Wangen, hat sich allerdings kurz danach schon wieder so weit im Griff, dass er fachmännisch seinen Schnitt versorgen kann. Es wird getupft, desinfiziert und ein Pflaster draufgeklebt. Tja, das sind hier eben ganz vernünftige Spinner!
Ich nehme noch einen Schluck Wein, bedanke mich bei Levin und beschließe, Nele zu suchen, um sie zu fragen, was sie so angepisst hat. Durch den Türspalt sehe ich erst mal Janis in der Küche stehen, die offenbar jemandem ihren Arm hinhält.
„Das ist doch nicht mehr normal“, zischt sie aufgebracht, „das kann man dem doch nicht durchgehen lassen. Eigentlich.“
„Ich finde sowieso“, entgegnet eine männliche Stimme, die ich Timo zuordnen kann, „der nimmt sich zu viel raus.“
„Von Anfang an“, bestätigt Janis. „Ich wüsste auch nicht, dass irgendjemand Vico zum Chef ernannt hätte.“
„Benehmen tut er sich aber so“, gibt Timo zurück.
Interessant.
„Aber“, redet er weiter, „wart mal ab. Der kriegt noch …“
Was Vico eventuell noch kriegt, höre ich nicht mehr, weil Nele anfängt zu reden. Und zwar mit mir.
„Alles erledigt mit Levin?“
„Äh … ja.“
„Fein. Dann kann man sich jetzt hoffentlich wieder normal mit dir unterhalten.“
„Nele, was ist los?“, frage ich.
„Lustige Frage, wollte ich dir auch stellen. Du verhältst dich heute sehr merkwürdig. Hast du dir irgendwas reingezogen oder was?“
„Wäre möglich“, sage ich, obwohl mein breites Grinsen Antwort genug gewesen wäre.
„Schön, das ist deine Sache, aber … ruf mich nicht noch mal an, wenn du so drauf bist. Ich fahre nach Hause. Du kannst mitkommen oder hier pennen. Ist mir egal.“
Ich entscheide mich fürs Mitkommen.
Am nächsten Abend habe ich eigentlich vor, zu Hause zu bleiben und mich zu entspannen. Aber irgendwie macht mich das Tütchen in meiner Tasche nervös. Es ist ja nicht so, dass ichs unbedingt brauche, aber verkaufen kann ich ein angebrochenes Tütchen halt auch nicht mehr. Und im Klo runterspülen wäre die totale Verschwendung. Also schnupfe ich noch ein bisschen was und überlege, vielleicht doch noch auszugehen. Entspannen kann man sich morgen oder übermorgen noch.
In der Küche treffe ich auf meinen Mitbewohner. Was machtn der hier?
„Was machstn du hier?“, frage ich Vico, und mich heimlich, was ich eigentlich in der Küche wollte. Grad wusste ichs noch.
„Ich wohne hier“, entgegnet er.
Ist ja was ganz Neues.
„Aha. Hast du Hunger oder so? Im Kühlschrank steht noch was vom Chinesen. Bedien dich ruhig. Ich bin grad aufm Sprung.“
Kopfschüttelnd öffnet Vico den Kühlschrank, verzieht leicht angeekelt das Gesicht, nimmt ein Schälchen heraus und schnüffelt kurz daran.
„Wie lange steht das denn schon rum?“
„Keine Ahnung.“
Vico kramt den Chinafraß zusammen und wirft ihn weg.
„So was müsstest du nicht fragen, wenn du ausnahmsweise mal nach Hause kommen würdest. Ist doch kein beschissenes Hotel hier.“
„Echt jetzt, Alexander?“
Sein behämmert mitleidiges Grinsen geht mir echt jetzt aufn Sack!
„Leck mich!“
„Ja, sehr geistreich“, bemerkt er und ist schon auf dem Weg in den Flur.
„Genau“, schreie ich ihm hinterher, „hau doch ab, Blödmann. Zu deiner magersüchtigen Irren. Ich hoffe, sie besorgts dir ordentlich, nachdem du bei ihr das Messer geschwungen hast.“
Vico kommt zurück.
„Was war das?“, fragt er scharf.
„Du hast mich verstanden.“
Er sieht mich einen Moment konzentriert an.
„Sag mal, kann es sein, dass du ein bisschen was aus deiner Schublade genascht hast?“
„Und wenn schon, das geht dich doch einen verfickten Scheiß an.“
„Machs gut, Alexander“, sagt er und geht. Diesmal endgültig.
Ich hatte nicht vor, heute hier rumzuhängen. Nele hat mich überredet. Weiß der Teufel wieso. Ich wäre lieber im Bett geblieben und hätte mich allein besoffen, um nicht nachdenken zu müssen. Und ich hätte schrecklich gerne einen Filmriss gehabt, als ich abends aufgewacht bin.
Der Streit mit Vico gestern war dermaßen überflüssig, kein Wunder, dass er in den zwei Stunden, die wir hier sind, noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hat. Nicht mal ein harmloses Hallo. Ich hab überhaupt mit niemandem außer Nele geredet und wenn ich Levin sehe, fällt mir ein, wie peinlich ich mich an ihn rangeschmissen habe. Du lieber Himmel! Das ist der Nachteil, wenn man sich lustiges Pulver in die Nase haut, man will mehr, hauptsächlich, um den ganzen Scheiß zu vergessen, den man zugedröhnt angestellt hat. Das Stimmengewirr und die laute Musik bescheren mir zusätzlich Schädelschmerz vom Feinsten. Egal, da muss ich jetzt wohl durch. Bei Nele hab ich mich entschuldigt, was von Liebeskummer gefaselt und so, zum Glück hat sie mir das abgekauft. Wer hätte das gedacht, dass Nele absolut und überhaupt nicht auf Drogen steht?! Ich finde, wenn man sich als normaler Mensch Blut reinzieht, müssten da eine Menge Drogen im Spiel sein. Na ja.
Julia hat sich eben zu Janis gesetzt, Vico steht allein in der Gegend rum. Eine gute Gelegenheit.
„Hey“, sage ich und biete ihm die Flasche Jack Daniel’s an.
Vico sagt nichts. Die Flasche nimmt er auch nicht. Das wird anstrengend.
„Können wir kurz reden?“
„Eigentlich …“
„Bitte“, unterbreche ich ihn. „Irgendwo, wo es nicht so laut ist?“
„Meinetwegen.“
Wir gehen ins Wohnhaus rüber. Vor der Treppe bleibt Vico stehen, wartet zwei Sekunden und setzt sich dann auf eine der unteren Stufen. Ich setze mich neben ihn.
„Es tut mir leid“, beginne ich, „wegen gestern. Ich war …“
„Drauf?“, grinst er schief. „Auf was?“
Ich sehe ihn an, wische mir mit der Hand kurz über die Nase und schniefe einmal.
Vico nimmt die Flasche und trinkt einen Schluck.
„Hab ich mir gedacht.“
„Was ich da gesagt habe, über Julia, das war echt scheiße. Total drüber und … scheiße.“
„Exakt.“
„Ich hab das nicht so gemeint, Vico, ehrlich nicht.“
„Hör mal, ich bin wahrscheinlich die letzte Person, die dir ernsthaft raten könnte, keine Drogen zu nehmen, aber … vielleicht versuchst du einfach mal was anderes? Irgendwas. Das dich nicht in Mr. Hyde verwandelt.“
„Ja“, seufze ich und verdrehe die Augen, „ich hätte es wissen müssen. Ich meine, genau das war der Grund, weswegen Silvi sich getrennt hat.“
„Okay?“
„Na ja“, ich trinke einen ordentlichen Schluck Alkohol, „ich habs total zugekokst mit irgendwelchen Typen getrieben. Immer wieder. Eine ganze Zeit lang. Bis Silvi genug hatte. Ich hab ihm echt ganz gemein wehgetan damit.“
„Verstehe. Und aufhören stand weshalb nicht zur Debatte?“
„Ach komm schon“, grinse ich, „es ist manchmal verdammt schwer, bestimmte Sachen sein zu lassen.“
Er sieht mich nachdenklich an. Zu lange. Ich merke, dass ich schon wieder dabei bin, ihm zu verfallen. Aber das geht nicht. Wegkucken geht auch nicht. Nichts geht. Nur … ihn zu küssen.
Fuck! Das war bestimmt keine gute Idee. Wäre ich Vico, würd ich mir spätestens jetzt eine reinhauen. Das macht er allerdings nicht. Er beißt sich auf die Unterlippe, schließt für eine Sekunde die Augen und sieht mich wieder an.
„Ich … äh …“
Jaaa, sehr guter Anfang, mich für den Blödsinn zu entschuldigen, den ich sogar im halbwegs nüchternen Zustand verzapfe. Wie gehts weiter, Sascha, hm?
Plötzlich steht Vico auf, hakt seinen Finger unter mein Halsband und zieht mich hoch. Wir gehen die Stufen rauf, den Flur entlang ins letzte Zimmer. Das Zimmer mit dem Bett. Und Vico schließt die Tür ab. Und ich bin so scharf auf ihn, dass ich kaum noch atmen kann. Nachdem er die Whiskeyflasche auf dem gammeligen Nachtschränkchen abgestellt hat, zieht er mich zu sich heran und küsst mich. Keine drei Sekunden später liegen wir knutschend auf dem Bett. Meine Finger gleiten durch seine weichen Haare, seine Hände zerren an meinem Pullover, wandern weiter runter und öffnen die Knöpfe meiner Jeans. Ich glaube, auf ausgedehntes, raffiniertes Verführen können wir beide ganz gut verzichten. Vico zeigt mir ziemlich schnell und ziemlich deutlich, was er will, und das macht mich nur noch mehr an.
Als wir gerade mittendrin sind, fühle ich meinen Ring unter meiner Hand. Vicos Augen sind halb geschlossen, er sieht irre hübsch aus. Und aufregend in Anspruch genommen. Langsam setze ich die Ringspitze an meinen Hals und drücke sie in meine Haut. Ich bemerke das Blut, das herausperlt, und drehe den Kopf leicht zur Seite. Vico leckt sich über die Lippen, dann saugt er an meinem Hals. Dringlich und gierig und … fuck, das kickt total. Mein Herz rast, mein Hirn ist komplett lahmgelegt. Ich spüre seine Zunge an der Wunde, seinen schnellen Atem an meinem Hals. Wir kommen fast gleichzeitig. Und es dauert eine Weile, bis sich mein Puls auf eine halbwegs gesunde Frequenz runtergefahren hat.
Vicos Gesicht über mir ist leicht gerötet, ich streiche ihm einige lange Haarsträhnen hinters Ohr und will ihn küssen, aber irgendwie ist er abgelenkt und dreht sich weg.
„Was?“
„Da ist noch …“, sagt er und schließt gequält die Augen.
Gleich darauf spüre ich etwas Feuchtes an meinem Hals.
„Oh, ach so“, lächle ich und lasse ihn den kleinen Rest Blut ablecken.
Vico >> [jetzt]
Sex ist keine Lösung, denke ich, auf keinen Fall, für nichts, es sei denn, er führt zu etwas, dann natürlich schon, aber hier, muss man sagen, liegen die Dinge leider so, dass sie zu überhaupt nichts führen, außer zu weiteren Verstrickungen. Das wäre mir bloß mal besser eine halbe Stunde früher eingefallen.
„Hey“, sage ich, ziehe die Decke fester um mich und sehe Sascha an, wie er so daliegt mit den zerzausten Haaren, der ganzen unanständig weichen Haut und dem erfreulichen, kleinen Kratzer am Hals, „das war ganz schön scheiße.“
„Okay“, erwidert er und verzieht den Mund, „das hätte man jetzt auch charmanter ausdrücken können.“
„Ja“, ich richte mich ein Stück weit auf und lehne mich halb gegen die Wand, „nein, ich meine: jetzt echt. Das war jetzt echt mal richtige scheiße.“
Er wischt sich ein paar Ponyfransen aus dem Gesicht und blickt zu mir auf.
„Du hast eben sofort abgeschlossen“, erinnert er mich, „nicht ich.“
„Hm“, mache ich.
Er stützt sich auf die Ellbogen, dreht sich herum und lehnt sich ebenfalls gegen die Wand.
„Tja“, sagt er, es klingt etwas resigniert.
„Ich wollte ja etwas Ordnung schaffen“, seufze ich, „so insgesamt.“
„Und?“, fragt er, „wie ist es noch so gelaufen?“
„So mittel“, antworte ich, „nachdem ich das mit Levin erledigt hatte, bist du jetzt irgendwie dazwischengekommen.“
„Tut mir leid“, entschuldigt er sich.
Mir wird bewusst, dass meine Finger mit seinen Haaren spielen, keine Ahnung, wie sie dahin gekommen sind. Ich sollte sie wegnehmen. Ich nehme sie nicht weg.
„Und auch sonst“, rede ich weiter, obwohl das eigentlich völlig überflüssig ist, ich sollte das lassen, ich sollte aus der Wohnung ausziehen und dann doch noch den Hof abbrennen, „war die letzte Woche irgendwie …“, ich überlege, was die Woche eigentlich war, außer kacke. „Ich hab ein bisschen gearbeitet, das war ganz gut, denk ich mal, und ich wollte das sein lassen mit dem Schnaps ständig, na ja, oder sagen wir mal, ich wollte es nicht mehr so übertreiben, aber irgendwie …“, ich greife mit der freien Hand, die nicht mit Saschas Haaren beschäftigt ist, über ihn hinweg nach der Whiskeyflasche, „ist es jetzt höchste Zeit, wieder damit anzufangen.“ Sascha nimmt mir die Flasche aus der Hand, öffnet sie, nimmt einen Schluck und gibt sie mir zurück.
„Das ist alles nicht so einfach“, halte ich fest.
„Ich weiß“, erwidert er etwas heiser, greift nach meinem Arm und löst meine Finger aus seinen Haaren. Er trägt immer noch seinen nützlichen Ring.
„Da wär noch was“, sage ich und ringe mir ein schiefes Lächeln ab, „sonst hast du nachher schon wieder was gut bei mir, das muss ja nicht sein.“
Es ist jetzt nämlich sowieso egal, und zwar komplett, man hätte ja nicht einmal aus eigener Kraft die Hand wegnehmen können. Das liegt alles nur an dieser beschissenen Gemeinsamkeit, überlege ich weiter, oder auch nicht, oder zumindest nicht nur, was dann aber ja mal ganz vertrackt wäre. Darüber will ich auf keinen Fall weiter nachdenken, also umfasse ich sacht Saschas Handgelenk und drücke den Finger mit dem Ring gegen meinen Unterarm. Das Ding ist wirklich spitz, Sascha hält für einen Moment die Luft an, als hätte er selbst den Stich gespürt, und blickt gebannt auf den Blutstropfen, der rasch erscheint. Damit sich die Sache auch lohnt, drücke ich fester und ziehe seine Hand ein Stück nach unten. Es tut weh, funktioniert aber immerhin, eine etwas größere Verletzung ist entstanden. Fein.
Ich halte immer noch seine Hand fest und führe sie an seine Lippen. Er schaut auf seine blutigen Finger, sieht mir dann direkt in die Augen, mit diesem verheerenden, halb verhangenen Blick, lange kann er sich aber nicht beherrschen, dann senkt er den Kopf über meinen Arm, leckt das Blut ab, ein paar Flecken sind schon auf der Decke, egal, er presst den Mund auf die Wunde und macht sich darüber her, nicht besonders behutsam übrigens, was mir recht ist, er kann meinetwegen alles von mir haben, wirklich alles, das denke ich in diesem Moment, obwohl es garantiert das Letzte ist, was ich zu denken vorhatte.
Obwohl es tatsächlich ziemlich weh tut, fühlt es sich schrecklich gut an, seine Lippen und seine Zunge und seine Finger, die sich mal hier, mal dort festhalten und hellrote Abdrücke hinterlassen, und ich habe schon wieder die Hand in seinen Haaren, ich kann mir wirklich nicht erklären, wie das immer kommt.
Irgendwann hat er genug, oder vielleicht auch nicht, aber einmal muss ja Schluss sein. Er wischt sich über den Mund und lehnt sich zurück, sein Atem beruhigt sich langsam, seine Lippen sind leicht geöffnet.
„Danke“, sagt er, mit halb erschöpfter und halb verruchter Stimme.
Verrucht, denke ich, verrucht, ich hab sie doch nicht alle!
Es hängen ihm schon wieder ein paar Strähnen im Gesicht, ich muss sie auf der Stelle wegschieben, nicht, dass sie mich stören würden, es ist einfach ein verdammter Reflex. Dann ziehe ich mit der Fingerspitze seine linke Braue nach und berühre ganz kurz seine Wimpern, woraufhin er blinzelt.
„Das war garantiert auch scheiße“, vermutet er und räuspert sich, „richtig?“
„Nee“, widerspreche ich, „das war was anderes.“
„Aha“, sagt er, „cool.“ Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich an. „Das wär dann wohl“, fährt er fort, „noch so ne Sache, die ich nicht gut sein lassen kann. Neben der anderen“, er grinst schräg, „eben.“
Was soll man dazu sagen, denke ich, eigentlich kann man nichts dazu sagen, man kann nicht ja und nicht nein sagen.
Stattdessen lege ich den Arm um ihn, das könnte jetzt auch schiefgehen, befürchte ich kurz, geht es aber nicht, er lehnt sich gleich gegen meine Brust und zieht unter der Decke die Beine an, ach ja, wie hübsch, und ich fahre mit dem Finger seine Ohrmuschel entlang, streiche einmal über seinen Hals und lande schon wieder in seinen Haaren, hier stimmt doch was nicht, denke ich, und zwar ganz gehörig, und mir wird klar, dass ich aus der Nummer so leicht nicht wieder rauskomme.
Unten steht die Tür zum Wohnzimmer auf und ich werfe einen Blick hinein, hauptsächlich weil ich dachte, dass alle vorn wären. Die Neuen sind wieder dabei, und dank Janis’ Mitteilungsbedürfnis wissen beide bereits länger als nötig Bescheid, was sich hier in den Privatgemächern gelegentlich so abspielt. Grundsätzlich wissen sie das natürlich sowieso, es handelt sich schließlich um überzeugte Vampyre, aber das ist ja kein Argument. Das etwas langwierige Auswahlprozedere hat damals auch Nele durchlaufen, sie war die Erste, die nach der offiziellen Zirkelgründung dazugekommen ist.
Ich ahne, dass ich besser nichts gegen die Meinung der Mehrheit einzuwenden haben werde, egal, wen sie aussuchen, denn ich habe schließlich unlängst erst Sascha im Schnellverfahren eingeschleust, mit Neles Hilfe. Und Levin war ursprünglich auch irgendwie meine Schuld. Also hoffe ich, dass sie eine gute Wahl treffen, was immer das heißen mag. Vielleicht schaue ich mir das mal an, denke ich, ich habe mich bisher nämlich wenig bis gar nicht für die aktuellen Kandidaten interessiert.
Im Wohnzimmer sitzt Julia und putzt sich die Nase.
„Hey“, sage ich und setze mich zu ihr, auf die Sessellehne, „was ist los?“
Sascha ist noch oben, es wäre gut, denke ich, wenn er nicht ausgerechnet jetzt runterkäme, ich muss mich erst mal wieder sammeln.
„Alles okay“, sagt Julia, „vielleicht krieg ich eine Erkältung.“ Sie schnieft noch einmal und wirft das Taschentuch in den Müll.
Einen Augenblick lang frage ich mich, ob sie geweint hat, aber ich bin mir nicht sicher. Sie ist nicht der Typ für Dramen oder Klagen.
„Wirklich?“, hake ich nach.
„Ja“, bekräftigt sie und nickt, „alles okay. Ich wollte bloß mal kurz aus dem ganzen Trubel raus.“
Sie schaut mich an, ein bisschen müde sieht sie aus, vielleicht ist sie wirklich erkältet. Sie zieht die Füße auf die Sitzfläche und umarmt ihre Beine.
„Okay“, sage ich, „wie läufts denn so?“
Ich drücke mir die Daumen, dass nicht irgendwo noch Blut an mir klebt, oder, falls doch, dass Julia es für das Blut von jemand anderem hält, denn meins ist ja ungenießbar, außer für Sascha. Und es sollte auch nichts anderes an mir kleben, nirgendwo.
„Ach, keine Ahnung“, erwidert sie und legt das Kinn auf ihre Knie, „Stefan spricht gerade mit einer von denen.“
Normalerweise ist sie nicht so desinteressiert, was die Gruppe angeht. Sie zieht die Enden ihrer Ärmel weiter über ihre Hände, als würde sie frieren, obwohl es nicht kalt ist. Dann greift sie nach der offenen Weinflasche auf dem Tisch und trinkt. Anschließend bin ich dran, Wein ist zwar scheiße, aber dringend nötig, den Whiskey hat Sascha nämlich behalten.
„Ich weiß gar nicht, ob das so gut ist, wenn es immer mehr Leute werden“, sage ich, streiche Julia langsam über den Kopf und greife nach ihren Fingern, schon wieder habe ich das Gefühl, ich müsste mich vergewissern, dass sie auch wirklich anwesend ist.
„Wieso?“, fragt sie, „das war doch deine Idee, mit Sascha?“
„Ja“, bestätige ich, „schon, aber …“
Für einen Moment kann ich nicht weitersprechen, weil Sascha in der Tür steht. Ich lasse Julias Hand los.
„Hi“, sagt Julia, „ist dir das auch zu voll vorne?“
„Ja“, sagt Sascha und lehnt sich lässig gegen den Türrahmen, „genau.“
„Setz dich doch“, lädt Julia ihn ein, „hier ist sogar noch Wein, ich dachte erst, die andern hätten alles mit nach vorne genommen.“
Sascha schlendert auf das Sofa zu und setzt sich, uns gegenüber. Wir sehen im gleichen Moment auf.
Das ist nicht gut, denke ich, das ist alles nicht gut, das ist genau das, was man überhaupt nicht gebrauchen kann. Gerade hatte ich noch eine offene Beziehung, jetzt eine heimliche Affäre, oder was? Yeah. Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe sehr, dass auch an Sascha nichts klebt.
„Und?“, fragt Sascha betont harmlos, „bleibt ihr noch länger?“
Er hängt ein Bein über die Sofalehne, seine Gürtel klirren leise. Ihm ist nichts anzumerken.
„Das lässt sich wohl heute nicht vermeiden“, befürchte ich und trinke einen Schluck Wein.
„Ach“, sagt Sascha und hebt die Brauen, „nein?“
„Die Neuen“, erläutert Julia, „sind da, also, die, die vielleicht infrage kommen. Das wollten wir eigentlich noch mal unter uns besprechen, wenn alle weg sind.“
„Ah“, macht Sascha.
Wir sehen uns an, dann streckt er die Hand aus. Ich reiche ihm die Flasche.
Ganz kurz berühren sich unsere Finger. Dummerweise weiß ich genau, was er damit so alles tun kann. Ich sollte es besser nicht wissen, oder jedenfalls nicht so genau, und heimlich sollte es auch nicht sein, es gibt schon genug, was man zu verheimlichen hat.
„Ich –“, beginne ich und muss schlucken, „geh mal nach vorne, mal sehen, wie so der Stand der Dinge ist …“
Beim Aufstehen zieht es unangenehm an meinem Unterarm, der schwarze Wollstoff hat sich mit der Wunde verklebt, ich wusste doch, denke ich, dass da irgendwo was klebt, aber man sieht es wenigstens nicht. Ich beiße die Zähne zusammen und zupfe beiläufig an meinem Ärmel, damit der Stoff sich löst, das entgeht Sascha nicht, er beobachtet mich, seine Lippen sind schon wieder leicht geöffnet und er tippt kaum merklich mit der Zungenspitze gegen seine oberen Schneidezähne. Wenn einem das nicht so durchgehen würde, denke ich, von oben bis unten, dann wäre ja schon was gewonnen, doch so ist es leider nicht. Ich schlucke noch einmal.
„Ich bleib noch ein bisschen hier“, sagt Julia.
„Okay“, sage ich.
„Ich auch“, sagt Sascha und hebt die Weinflasche.
„Okay“, wiederhole ich und nicke etwas stumpfsinnig.
Kaum habe ich einen Fuß aus der Tür gesetzt, kommt mir Timo entgegen.
„Ah“, er hebt die Brauen, „ich hab euch gesucht.“
„Wen“, frage ich alarmiert, „euch?“
„Dich“, erwidert er, „und Julia.“
Ich bin erleichtert.
„Juli ist im Wohnzimmer“, erkläre ich, „Sascha auch.“
„Ach ja“, erinnert sich Timo, „Sascha. Stimmt.“
Aha, denke ich, er ist noch immer kein vollwertiges Gruppenmitglied in seinen Augen.
„Ich geh mal kurz nach vorne“, teile ich ihm mit.
„Wir entscheiden heute wohl erst mal noch nichts“, stellt er klar, dass er besser informiert ist als ich. Was mir vollkommen egal ist.
„Okay“, erwidere ich, „gut, dann bis später mal.“
Vico << [zweieinhalb Jahre zuvor]
„Oh, wow“, staunte Julia und sah sich um.
Der grob verputzte Raum war ein bisschen düster, ein bisschen heruntergekommen und roch nicht gut, aber Platzmangel herrschte hier nicht. An der Wand aufgereiht standen ein paar zerschlissene Möbel und kaputte Stühle.
„Nicht schlecht“, sagte Timo, „nicht schlecht.“
„Hinten geht es noch weiter“, erklärte ich.
Nicht alle Schlüssel, die ich von Peters Lebensgefährtin bekommen hatte, passten, und es dauerte etwas, bis ich die Tür zur alten Scheune öffnen konnte. Schneller fand ich den Lichtschalter und wunderte mich mal wieder über die nicht abreißen wollende Glückssträhne, der verrückte Schamane hatte doch tatsächlich die ganze Zeit über den Strom durchbezahlt, egal, wer hier gerade hauste oder nicht hauste.
„Hm“, bemerkte Stefan, „das wird aber schon etwas aufwändiger, hier was draus zu machen.“
Ich versuchte ihn mir schon den ganzen Abend über als Julias Freund vorzustellen. Es gelang mir nicht. Umso besser, dachte ich.
„Nein“, erläuterte ich, „das ist bloß der kürzere Weg, sonst müsste man außen rum gehen. Ich meine“, ich drehte mich zu ihm um, „das eigentliche Wohnhaus kommt noch.“
Stefan, Julia, Timo und seine Freundin Sabine, die sich idiotischerweise Janis nannte, folgten mir durch den stickigen, noch von der Sonne aufgeheizten Gebäudeteil. Die Eingangstür zum Wohnhaus war unverschlossen.
„Ach“, sagte Janis, „hier ist noch ein ganzes Haus dahinter? Wie krass ist das denn?“
Es sah alles so aus, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte, im ehemaligen Wohnzimmer stand sogar noch der schlimm gekachelte Tisch. Es ist gut, dachte ich, dass der irre Hippie ihn dagelassen hat, sonst hätte er bestimmt Ärger mit Lilo gekriegt.
„Oh“, machte Timo und trat hektisch einen Schritt zur Seite.
Quer durch den Raum verlief eine Ameisenstraße.
„Das sind doch nur Ameisen“, sagte Julia, ging in die Hocke und ließ ein paar davon über ihre Hand laufen.
„Die kriegt man schon weg“, gab Stefan sich zuversichtlich. Das schien so seine Art zu sein: zuversichtlich, besonnen, verbindlich.
„Denk ich auch“, Janis nickte, „das ist ja echt der Wahnsinn alles.“
„Und wir können hier“, fragte Julia, stand auf und wischte sich die Hände an ihrem kurzen, schwarzen Rock ab, „machen was wir wollen? Jetzt ehrlich?“
„Exakt.“ Ich grinste.
Es hatte nie eine Diskussion gegeben, ob ich überhaupt dazugehörte. Klar, da wären sie ja bekloppt gewesen, sich den Hof entgehen zu lassen, die alten Spinner.
„Ich hab dann gemerkt, dass das einfach nichts für mich ist“, erzählte Julia, „eigentlich komisch, oder? Weil …“, sie machte eine Pause und trank einen Schluck Absinth mit ziemlich viel Zucker, sie liebte das Zeug, na ja, warum auch nicht, „weil es für euch ja auch etwas ist“, sie lachte verlegen, „okay, das hört sich jetzt albern an. Aber weißt du, was ich meine? Ich hätte einfach gedacht, dass es was für mich ist.“
Wir saßen auf ihrem Sofa, die Duftkerzen dufteten und es lief leise ein Internetradiosender, der ausschließlich an Elfen, Feen, Trolle und das Mittelalter gemahnende Musik spielte. Es war insgesamt ziemlich warm. Strenggenommen saß eigentlich nur ich, Julia lag eher, mit dem Rücken gegen die Armlehne gestützt, und ihre nackten Füße hatte sie auf meinen Beinen abgesetzt, wo sie immerzu die Zehen bewegte. Bisher war ich nicht darauf eingegangen, weil ich es noch zu früh gefunden hatte, doch jetzt entschied ich mich, mit dem Finger über ihren Fußrücken zu streichen, gerade so fest, dass es nicht kitzelte. Sie sah auf und dann schnell wieder weg.
„Ja“, sagte ich.
„Wie war das denn bei dir, das Erwachen?“, fragte sie und blickte in ihr Glas, dessen Inhalt trüb im Kerzenschein leuchtete. „Also, hast du schon immer gewusst, dass Blut für dich … na ja, was Besonderes ist?“
„Nein“, erwiderte ich wahrheitsgemäß, „das kam erst später.“
„Ich weiß gar nicht“, fuhr sie so leise fort, dass es fast geflüstert klang, „ob es für mich was Besonderes ist. Das weiß ich eigentlich gar nicht.“
„Nein?“, fragte ich, „was dann?“ Es interessierte mich wirklich. Ich hatte keine Idee, was diesbezüglich in ihr vorgehen mochte.
Sie seufzte.
„Ich weiß nicht“, gab sie schließlich zurück, „vielleicht ist es eher was Besonderes, dass ihr das so … braucht.“ Bei dieser Formulierung fühlte ich mich beinahe ein bisschen ertappt, was natürlich Unsinn war. „Und dass es letztendlich etwas Gutes ist, für euch. Ich hab …“, sie zögerte einen Augenblick lang, „mich so lange geritzt, immer, wenn irgendwas war … Ich konnte einfach nicht damit aufhören. Aber so … hat es einen Sinn, irgendwie. Ich mach das auch gar nicht mehr so oft alleine.“ Sie blickte auf. „Das klingt jetzt total nach Dachschaden, oder?“
„Nein“, entgegnete ich wahrheitsgemäß, „tut es nicht.“
Sie ist, das glaube ich mittlerweile, auf die körperliche Schwäche aus, auf die daraus resultierende Entspannung, das könnte ich wiederum verstehen, das leuchtet mir ein. Wenn es so ist, dann haben wir da wohl eine Gemeinsamkeit, obwohl wir andere Mittel verwenden, und ich ahnte schon damals, dass es so sein könnte, man brauchte sich ja nur anzusehen, wie sie ging oder stand oder saß, oder wie sie so angestrengt ihre Zehen in Bewegung hielt. Julia ist insgesamt ziemlich schwer zu beruhigen, da braucht es schon andere Geschütze als ein bisschen Schnaps oder ein paar Drogen.
„Ich fand es jedenfalls widerlich“, sagte sie, „ich hab das mal mit Stefan probiert, aber es war einfach nur ekelhaft. Ich hätte beinahe gekotzt, als ich es im Mund hatte“, sie lachte wieder kurz auf, „da war dann wohl klar, dass das nichts für mich ist. Aber“, sie nippte an ihrem Glas, „das passte sowieso ganz gut, Stefan ist ja eigentlich kein Spender.“
„Aber ihr habt euch dann ja irgendwann getrennt?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja“, sie stellte das Glas ab, zog die Füße zurück und setzte sich neben mich, mit untergeschlagenen Beinen, „das hatte damit aber nichts zu tun. Es passte einfach sonst nicht, da fehlte was. Aber wir kommen gut aus.“
Ich spürte ihren Arm an meinem, so dicht saßen wir beieinander, ein gutes Zeichen. Man würde es allmählich drauf ankommen lassen können.
„Das ist doch toll“, sagte ich lahm, weil ich vermutete, dass sie etwas in dieser Art gern hören wollte, und weil es ja nun auch irgendwie stimmte.
„Ja“, bestätigte sie, „ist es. Stefan ist ein absolut korrekter Mensch, das wäre schon ein Verlust gewesen, wenn das schiefgelaufen wär.“
Jetzt, dachte ich. Behutsam legte ich meinen Arm um ihre Schultern, hob mit der freien Hand sachte ihr Kinn an und drehte ihr Gesicht zu mir. Sie wehrte sich nicht. Ich dachte, dass es schon klappen könnte mit uns, es würde schon gehen, mit etwas gutem Willen, sie war mir nicht unsympathisch, bloß ein bisschen rätselhaft mit ihren vielen Narben und dem ganzen Spenderquatsch, aber damit konnte ich leben, das war ja im Grunde der Sinn der Sache.
Und dann lächelte sie mich an, ein bisschen schüchtern und verlegen und auch ein bisschen betrunken, das ermutigte mich, ihr zuerst über die Wange zu streichen, was ziemlich kitschig war, andererseits hatte sie eine sehr helle, sehr feine Haut, über die man eben gern strich, und dann küsste ich sie.
„Das hätte sie mir aber echt mal erzählen können“, fand Levin und klang gekränkt, „wann hätte sie mir das denn erzählt?“
„Keine Ahnung“, sagte ich, stellte den Motor ab und stieg aus, „wenn du dir das gut überlegt hast.“
„Na, super“, erwiderte er, stieg ebenfalls aus und warf mit Schwung die Tür zu.
„Sie hat es nicht böse gemeint“, verteidigte ich Julia.
„Hallo?“, regte Levin sich auf, „ich bin achtzehn!“
„Eben“, sagte ich und grinste, „das kommt dir älter vor, als es ist.“
Wir gingen auf den Eingang zu, es war eine warme Nacht, der Wind rauschte in den Bäumen, die um den ungepflasterten Parkplatz herum standen.
„Und warum erzählst du mir das jetzt?“, fragte Levin.
„Weil“, ich suchte den richtigen Schlüssel, „ich jetzt nicht wüsste, was es da noch zu überlegen gibt. Ich meine …“, ich hielt inne und sah ihm ins Gesicht, „auf mich wirkte das jetzt nicht so, als müsstest du da noch, was weiß ich, länger in dich gehen.“
„Danke“, bedankte er sich, „das ist echt nett.“
„Ach“, sagte ich und schob die Tür auf, die etwas schwergängig war.
„Seid ihr jetzt eigentlich zusammen?“, fragte er.
Ich machte Licht.
„Na ja“, wich ich aus, „also, ob man das jetzt schon –“
„Ha“, unterbrach er mich und lachte, „das ging ja schnell. Find ich gut. Für Julia ist das nichts, zu lange alleine sein, die kommt dann komisch drauf. Woah“, machte er und drehte sich einmal um sich selbst, „das ist ja mal groß!“
Ich schob die Hände in die Taschen und lehnte mich gegen die Wand. Hoffentlich geht das gut, dachte ich, wenn alles so dermaßen perfekt läuft, muss es doch irgendwo einen Haken geben. Vielleicht steckt ein verdammter Trick dahinter, irgendein größerer Plan, der Julia und Levin und die restlichen Komiker mit einschließt, man weiß es ja nicht, man hat so einiges erlebt inzwischen, das hätte man alles nicht für möglich gehalten, da kann man es wirklich nicht wissen. In meinem Nacken kribbelte es unangenehm, jetzt nicht wieder in was reinsteigern, ermahnte ich mich, jetzt freu dich einfach mal, alle anderen freuen sich ja anscheinend auch. Und dass sie Levin da raushalten, kommt überhaupt nicht infrage, dafür sorg ich schon.
„Hinten geht es noch weiter“, sagte ich, „das zeig ich dir gleich.“
Levin schlenderte begeistert durch den Raum.
„Hast du Julias Ex eigentlich schon kennengelernt? Und die beiden andern?“, wollte er wissen.
„Ja“, antwortete ich, „vorgestern. Morgen Abend ist hier Besprechung.“
„Ah“, machte er, es klang enttäuscht.
„Du kommst auch“, beschloss ich.
Er blieb stehen und sah mich an.
„Und was sagen die andern dazu? Und Julia?“, fragte er.
„Ich mach das schon“, versprach ich.
„So ein Nachweis ist die absolute Voraussetzung“, erläuterte Stefan und setzte einen Haken hinter einen Stichpunkt in seinem Notizheft, „bei allen, die wir nicht kennen. Nicht, dass wir es auf einmal mit Leuten zu tun kriegen, die Hepatitis haben oder was auch immer. In Frankfurt haben wir das auch so gemacht, damit sind wir immer gut gefahren.“
Wir saßen im Wohnzimmer, um den schlimmen Tisch herum, auf den muffig riechenden, ziemlich beanspruchten Sesseln. Das ein oder andere Teil sollte ausgetauscht werden, Janis kannte da jemanden, der ein Secondhand-Möbellager hatte. Stefan hatte diesen Beschluss bereits festgehalten.
„Wir vier machen das ja sowieso regelmäßig“, sprach er weiter, „ihr müsstet euch dann am besten auch mal drum kümmern.“ Zuerst sah er Levin an, dann mich.
„Klar“, sagte ich, „kein Problem.“
Nix, dachte ich, das könnt ihr mal schön vergessen. Und wenn ihr es nicht vergesst, könnt ihr euch gern eine andere Bleibe für euren Geheimbund suchen.
„Super“, lobte Stefan und lächelte mich an. „Wir kommen außerdem nicht um Verträge herum“, schilderte er die weitere Sachlage, „sonst ist das nämlich Körperverletzung. Wenn sich da mal einer beschwert hinterher, oder behauptet, dass das ja gar nicht in seinem Sinne gewesen wäre, dann kann das schon Ärger geben.“
„Stimmt“, bestätigte Timo. Er hatte ein paar Semester Jura studiert, bis es ihm zu viel geworden war. Danach hatte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht und suchte nun nach einer Arbeit, die ihn interessieren könnte. Ihm schwebte etwas Aufsehenerregendes vor, wie DJ oder Tontechniker oder Tätowierer, aber richtig entschieden hatte er sich noch nicht. Das hatte mir Julia erzählt, am Tag mit dem Absinth und dem Kuss, ziemlich betrunken war sie da gewesen, später am Abend, ganz so leicht verfiel sie nämlich eigentlich nicht ins Tratschen, wie ich festgestellt hatte.
„Ja …“, Stefan zog die Brauen zusammen und las in seinen Notizen, „in Sachen Hygiene ist ja alles klar. Unter uns ist das ja was anderes, aber wenn mal von außerhalb jemand dazukommt … Wir sollten jedenfalls grundsätzlich keine unnötigen Risiken eingehen.“ Er sah auf. „Ach so, ich weiß nicht, ob es alle wissen: Janis ist gelernte Arzthelferin und kann ziemlich gut Blut abnehmen.“ Er grinste verschmitzt in die Runde. Timo und Julia lachten wissend. „Für Leute von außerhalb ist das auf jeden Fall am effizientesten. Und es macht keine Narben.“
„Wenn ihr da Bedarf habt“, sagte ich, „ich kann das wohl auch.“
Janis hörte sofort auf zu lachen. Sie wäre irrsinnig gern die Einzige gewesen, die das so gut konnte, ich ahnte es.
„Ja?“, fragte Julia, die neben mir saß, wie sich das gehörte.
„Ah“, sagte Stefan, „das ist ja schön. Falls Janis mal nicht kann …“
„Warum soll ich denn mal nicht können?“, fragte Janis.
„Ich hab da jetzt an nichts Bestimmtes gedacht“, entgegnete Stefan etwas irritiert, „ich meinte nur, falls du mal krank bist oder so …“
„Also, mir hat das bis jetzt nichts ausgemacht“, beharrte Janis, „aber ist ja egal, es ist ja gut, wenn das dann nicht immer von mir abhängt. Das ist ja gut.“
„Ich wollte es nur mal anmerken“, stellte ich klar, „nicht aufdrängen.“
„Das ist doch klar“, bekräftigte Julia und lächelte sehr freundlich.
Ich war froh, dass sie etwas in der Art gesagt hatte. Es war nett und loyal und ein bisschen rührend, wo sie mich doch erst seit ein paar Tagen kannte. Ich lächelte zurück und dachte, dass das schon in Ordnung gewesen war mit dem Küssen, und dass es recht gut noch etwas würde werden können mit uns, auch über Blut und Spinnerkram hinaus.
„Was auch noch wichtig wäre“, kam Stefan zum letzten Punkt, „und was wir in Frankfurt auch so ausgemacht haben: Die Vertraulichkeit innerhalb des Zirkels sollte oberste Priorität haben. Das ist hier ja so eine Art geschützter Raum, in dem jeder so sein kann, wie er ist, das heißt also, dass man sich für nichts rechtfertigen muss, ob man nun Blut trinkt oder Blut abgibt. Sinnvoll ist auch, wenn man klare Absprachen trifft. Wenn man also vorher genau ausmacht, wer wann von wem etwas bekommt oder nimmt. In Frankfurt haben wir das so gemacht und das war, ja … das hat die Sache noch mal bereichert.“
„Klingt gut“, fand Timo und nickte.
„Was da natürlich auch dazugehört“, konkretisierte Stefan, „ist Verschwiegenheit nach außen. Wenn wir im Vorfeld alles besprechen, können erst gar keine Missverständnisse aufkommen. Das heißt dann, dass nichts unabgesprochen nach außen dringt, dass wir nicht eigenmächtig irgendwelchen Gästen was erzählen, wenn wir das so machen, mit den Partys, wie geplant. Ihr konntet das ja jetzt vielleicht noch nicht wissen“, er sieht zuerst mich, dann Levin an, „aber in Zukunft wäre es gut, wenn wir das erst besprechen, bevor jemand neu dazukommt. Julia hatte ja schon von dir gesprochen, Vico, und das hier“, er breitete die Arme aus, „ist ja sowieso ganz großartig. Aber dass du direkt dabei bist heute“, er nickte Levin zu, „haben wir ja erst nachmittags von Julia erfahren.“
Levin blickte verlegen auf seine Knie.
„Das war aber auch eine Ausnahme“, versuchte Julia zu retten, was zu retten war, „und ich kenne Levin jetzt auch schon länger. Da wäre es ja vielleicht gar nicht nötig gewesen, noch zu warten.“ Man konnte meinen, dass es ihr ernst war mit dieser Aussage, und vielleicht war es das ja auch. Vielleicht hatte sie einfach noch mal drüber nachgedacht. „Und Vico fand das auch“, fügte sie hinzu.
„Ja“, pflichtete Stefan ihr bei, „das kann ja gut sein. Bloß in Zukunft besprechen wir besser zuerst alles, was die Gruppe betrifft, okay? Das tut der Sache echt gut.“
„Find ich auch“, sagte Timo.
Ich weiß schon, dachte ich, wer von euch mir in Zukunft am meisten auf die Nerven gehen wird.
Dabei wollte ich mich eigentlich gar nicht beklagen. Ich war in ein großes, verheißungsvolles Wunderland hineinkatapultiert worden, da arrangierte man sich mit den lästigen Randerscheinungen besser gleich. Immerhin fühlte ich mich insgesamt so gut wie schon ewig nicht mehr, vielleicht würde man es demnächst sogar ohne den ganzen Psychopillenquatsch aushalten, das hatte ich mir ganz schön angewöhnt. Anders wäre es aber auch wirklich nicht gegangen, oder wenigstens war mir nichts eingefallen, wie es anders hätte gehen können. Zumindest musste es ja nicht mehr so schlimm ausarten wie in den Nächten, in denen die Valeri-Besuche angestanden hatten.
„Wir sind jetzt eine Familie“, fasste Stefan die Sachlage zusammen, „das hat immer auch mit Verpflichtungen zu tun, deshalb will sich ja auch nicht jeder auf so was einlassen. Aber ich denke, ihr stimmt mir zu, wenn ich sage, dass die Vorteile überwiegen. Das Vertrauen und die Verbundenheit im Zirkel sind, ich sag es noch mal ganz deutlich, eine große Bereicherung.“
Und in Sachen Blut ist der Tisch immer schön gedeckt, dachte ich, yeah!
„Tja, dann“, Stefan seufzte, sichtlich erleichtert, dass der formale Teil abgehandelt war, „können wir zur Feier des Tages ja anstoßen.“ Geschickt öffnete er eine der beiden Weinflaschen, die auf dem Tisch standen.
Anstoßen ist gut, dachte ich, anstoßen geht immer, damit macht man nichts verkehrt.
Sascha >> [jetzt]
Mir ist etwas aufgefallen. Und zwar, dass ich nicht mit Vico tauschen möchte. Er scheint echt durcheinander zu sein, oder wieso hat er sonst Julias Hand losgelassen, als ich reinkam? Ich meine, es ist ja nicht so, dass er sie vor mir verheimlichen muss. Vielleicht ist er aber auch einfach nur betrunken genug, dass er da was verwechselt hat. Kann schon mal passieren.
Ansonsten ist Julia heute ausnahmsweise mal eher finster drauf, also nicht die übliche Spaßgranate, wer hätte gedacht, dass es ihr auch mal schlecht geht?! Ihre Augen sind ein bisschen rot und geschwollen, als hätte sie geweint, oder eine Allergie, oder eine Grippe. Ich traue mich nicht zu fragen, weil es mich irgendwie nichts angeht. Na ja, und interessieren tuts mich eigentlich auch nicht. Ich tippe sowieso darauf, dass sie wegen etwas geflennt hat. Wahrscheinlich mal wieder mit der Welt zerfallen, weil sie drei Minuten nicht im Mittelpunkt gestanden hat. Es kommt mir ein bisschen komisch vor, dass ich grad mit der Freundin meines Sexpartners von eben gemütlich bei Kerzenlicht und Rotwein zusammensitze. Ich möchte mal annehmen, dass Vico es nicht so toll fänd, wenn sie wüsste, dass er mir gerade noch den Verstand rausgefickt hat. Entschuldigung, aber ich kanns nicht anders ausdrücken. Und natürlich kann ichs ihr nicht sagen … andererseits hätte sie dann vielleicht endlich mal einen wirklichen Grund zum flennen. Ich muss unbedingt mit Vico reden, zu Hause, weil ich keine Ahnung habe, was das zwischen uns ist, also, was das für ihn ist. Er entscheidet sich ja gerne mal um. Erst hat er ein schlechtes Gewissen, weil wir rumgemacht haben und will das lassen, dann legt er es plötzlich darauf an und fummelt mir danach ständig in den Haaren und im Gesicht rum. Das macht einen doch irre. Nicht, dass mich seine Hände an mir stören würden, im Gegenteil, aber in seinem Verhalten passt so wenig zusammen. Genauso wenig passen Julia und Timo zusammen. Die Piercingvisage ist vor ein paar Sekunden aufgetaucht, hat sich wie selbstverständlich neben Julia gesetzt, wispert ihr grad was ins Ohr und streichelt behutsam ihr Knie. Das fänd Vico wahrscheinlich auch nicht so toll, wenn er das wüsste. Jedenfalls kämen mir derartige Vertraulichkeiten zwischen meiner Freundin und einem anderen Typen sonderbar vor. Allerdings kennen Julia und Timo sich ja auch schon länger und verstehen sich möglicherweise einfach dementsprechend gut. Was weiß ich.
„Okay“, sage ich und stehe auf, „ich geh dann mal wieder nach vorne.“
„Viel Spaß“, wünscht Julia und lächelt freundlich, was sie tatsächlich hübsch aussehen lässt.
Timo ignoriert mich total, das dämliche Sackgesicht.
Auf dem Weg zur Party kommt mir Janis in die Quere. Und auch bei ihr frage ich mich, ob sie es gut fänd, dass ihr Freund fremde Mädchenknie betatscht.
„Ach du“, murmelt sie und macht sich nicht die Mühe, ihre Geringschätzigkeit zu verschleiern.
„Hör mal“, beginne ich und bemühe mich, halbwegs freundlich zu klingen, was sie dazu veranlasst, stehenzubleiben, „wenn ich gewusst hätte, also vorher, wie das bei euch läuft, dann hätte ich mich nicht so … aufgedrängt.“
Haha, sie ist einen Augenblick irritiert.
„Vico hätte es dir erklären können. Oder Nele.“
„Ja, aber ich war halt so schrecklich gespannt und wollte unbedingt … ähem … einem Zirkel angehören. Eigentlich schon, seit ich … erwacht bin“, lüge ich und bedanke mich stumm bei Nele, weil sie so gerne aus dem Nähkästchen plaudert. Ich hätte mir so einen Schwachsinn wohl kaum selbst ausdenken können. Denn erfreulicherweise wird man heutzutage eben nicht mehr auf die althergebrachte Art und Weise in einen Vampyr verwandelt. Nein, man stellt offenbar irgendwann fest, dass man Appetit auf Blut hat und bildet sich ein, lichtempfindlicher zu sein als normal … man erwacht ganz einfach.
„Ist ja nicht so, dass man jeden Tag Leute wie euch trifft“, rede ich weiter. „Und ich finde euch echt cool. Wo hast du eigentlich gelernt, so gut mit Spritzen umzugehen?“, frage ich. Nele hat mir nämlich auch erzählt, dass Janis sich furchtbar was darauf einbildet.
Sie lächelt auch gleich etwas geschmeichelt.
„Ich war mal Arzthelferin.“
„Ah, deshalb sah das so professionell aus.“
„Tja, gelernt ist gelernt“, stellt sie fest und lächelt noch geschmeichelter. „Allerdings arbeite ich jetzt als Piercerin. Und was machst du so?“
Ich verkaufe Drogen … klingt irgendwie doof.
„Ich studiere Pharmazie.“
„Siehst nicht unbedingt danach aus“, bemerkt sie.
„Wie müsste man denn deiner Meinung nach dafür aussehen?“
„Wie ein langweiliges Mädchen mit blonder Zopffrisur und Brille“, erläutert sie grinsend.
„Ich war mal blond.“
„Es hätte mich mehr vom Hocker gerissen, wenn du mal ein Mädchen gewesen wärst.“
„Ich stehe auf Kerle, das ist verdammt nah dran“, entgegne ich achselzuckend, woraufhin sie anfängt zu lachen.
„Sorry noch mal“, sagt sie, „ich hatte nichts gegen dich persönlich. Nur die Art und Weise … wir müssen halt ein bisschen auf die Regeln achten, sonst geht irgendwann alles drunter und drüber.“
„Klar, verstehe ich.“
„Also, man sieht sich.“
So schnell brauche ich das zwar nicht, aber es ist auf jeden Fall von Vorteil, wenn man von allen Spinnern akzeptiert wird.
Vorne laufen immer noch eine Menge aufgebrezelter Leute herum. Der Dracula-Verschnitt von der letzten Party ist auch wieder da. Ich quatsche ein wenig mit Stefan, der mir erzählt, dass Graf Kontaktlinse sehr interessiert ist, aber seine Chancen eher niedrig sind.
„Das ist genau der Grund, weshalb ich das in Frankfurt aufgelöst habe. Das ist da mit der Zeit zu einem albernen Kostümfest verkommen. Das muss sich hier nicht wiederholen.“
„Vielleicht steckt hinter seinen Raubtieraugen ein netter Mensch“, gebe ich zu bedenken.
„Martin ist total nett, aber er hat eben keine Ahnung, wie ernst wir die ganze Sache nehmen. Ich wette mit dir, beim ersten Tropfen Blut fängt er an, sich zu übergeben“, lächelt Stafan.
Sofort muss ich an Vicos Blut denken und ein Schauer wandert über meinen Körper. Was er da gemacht hat mit meiner Hand und seinem Arm und so, das war nicht schlecht. Und davor … es wäre wirklich extrem schade, sollte er sich jetzt wieder entschließen, dass alles in Zukunft doch lieber bleiben zu lassen.
„Außerdem denkt Martin, dass es reicht, ein paar schlechte Vampirbücher gelesen zu haben“, bringt Stefan mich in die Realität zurück.
Fuck, jetzt tut mir Graf Martin fast leid. Was, wenn der überhaupt keine Freunde hat und völlig verzweifelt, wenn er merkt, dass er hier auch keine findet? Ich kann mich noch sehr gut an die Monate nach Silvi erinnern. Bevor Vico und die Spinner aufgetaucht sind. War keine schöne Zeit, und ich rede nicht nur vom Liebeskummer. Vico, stelle ich fest, ist so ziemlich das Beste, was mir passieren konnte. Und die Spinner … man fängt an, sie zu mögen, wenn sie nicht gerade dabei sind, alberne Rituale mit Blut und Wein abzuhalten. Na ja, alle außer Janis und Timo, das dämliche Sackgesicht.
„Und es gibt sowieso genügend Spinner unter den Vampyren“, fährt Stefan fort.
Allerdings!
„Und auch ein paar sinnlose Regeln.“
„Aber hier gibt es doch auch Regeln“, bemerke ich.
„Klar, die gelten aber nur für uns. Ich erwarte nicht, dass die ganze Szene danach handelt. Überhaupt sollte man selbst innerhalb einer Szene doch independent bleiben“, überlegt er grinsend, „sonst ist man ja wieder bloß Mainstream.“
Da ich keine Lust hab, mit Vico und Julia in einem Auto zu sitzen, lasse ich mich von Nele nach Hause fahren. Vico erscheint eine halbe Stunde nach mir. Eigentlich wollte ich noch mit ihm reden, aber dafür bin ich viel zu müde. Es wird auch eh bald hell, also gehe ich erst mal schlafen.
Am nächsten Abend will ich es aber wissen. Bloß … wie fängt man ein solches Gespräch an? Es wäre bestimmt einfacher, wenn mich sein Geruch nicht so betören würde. Oder wenn ich die Erinnerungen an letzte Nacht verdrängen könnte. Schon wie er so lässig auf dem Stuhl sitzt, die Beine ausgestreckt auf dem Stuhl gegenüber, wie er an seinem Kaffee nippt und ein bisschen fertig aussieht, so als hätte er die ganze Nacht gesoffen und es mit einem sehr willigen Typen getrieben … okay, es war nicht die ganze Nacht, aber, machen wir uns nichts vor, ich war so was von willig!
„Gehst du heute noch weg?“, fragt Vico.
„Eher nicht. Heute ist Sonntag, also wahrscheinlich nirgendwo besonders viel los.“
„Deine Kunden halten sich an Geschäftszeiten?“, grinst er leicht.
Wie aufs Stichwort klingelt mein Handy … das für Geschäfte.
„Offensichtlich nicht“, stelle ich seufzend fest und verabrede mich in einer Stunde. Man darf die Leute nicht zu lange warten lassen, sonst kaufen die woanders. „Übrigens sollten wir mal überlegen, was wir mit dem Zimmer machen.“
„Zimmer?“
„Das leere, beziehungsweise das unbenutzte“, erkläre ich und komme mir plötzlich irgendwie doof vor. „Ich meine nur, wenn kein Bett mehr drinsteht und so, kann Linda auch nicht auf die Idee kommen, es auf einmal doch wieder vermieten zu wollen. Oder möchtest du unbedingt Gesellschaft?“
Er schüttelt den Kopf.
„Linda ist da echt unberechenbar.“
„Ja, okay, von mir aus“, willigt er wenig enthusiastisch ein.
Klar, Vico ist jetzt sicher nicht der Typ, der total gerne seine Wohnung hübsch einrichten will. Von hübsch einrichten ist ja auch gar nicht die Rede, man sollte Linda einfach nur keine Gelegenheit bieten.
„Muss nicht sofort sein, ich wollte es nur mal gesagt haben“, sage ich und stehe auf. „Bis später dann.“
Nach der Arbeit trinke ich noch kurz was in der Bar unten, die hat nämlich immer auf. Alles, um nicht mit Vico über Wichtiges reden zu müssen. Alles, damit er mir nicht mitteilt, dass man Sachen wie auf der Party lieber lassen sollte. Wegen Julia. Immerhin hat er Levin abgeschossen, und den kennt er viel länger als mich, also hatte er vermutlich auch viel öfter was mit ihm als mit mir. Außerdem hat er es ja auch gesagt … ich bin dazwischengekommen und das war scheiße. Also der Kerl versteht es, Komplimente zu machen! Okay, nützt ja nichts, die ganze beschissene Nacht hier zu hocken.
Vico ist in seinem Zimmer, ich klopfe höflich und warte, bis er öffnet.
„Hast du die gesamte Stadt mit Drogen versorgt?“, will er wissen und grinst schief.
„Wieso? Hast du auf mich gewartet?“, frage ich und grinse zurück.
Haha, wie süß. Er wird ein bisschen rot, als hätte ihn jemand bei etwas Unanständigem ertappt. Fahrig streicht er sich die Haare hinters Ohr und lässt mich endlich rein. Ich setze mich aufs Bett. Vico nicht, er nimmt den Sessel. Ich bin auf das Schlimmste gefasst, und muss, wie es aussieht, auch noch den Anfang machen. Na supi!
„Ich hätte nichts dagegen, deine heimliche Affäre zu sein“, faselt es ohne Vorwarnung aus meinem Mund. Heiliger Strohsack, kann bitte jemand kommen und mir die Zunge abhacken?! Ey, was Blöderes ist mir doch selten eingefallen. Der denkt jetzt sicher, dass ichs total nötig hab. Wieso habe ich mich nicht gleich um die Stelle als sein persönlicher Sexsklave beworben? Vico lächelt gequält. Logisch, was soll man auf so einen Scheiß auch antworten? Ich schiele kurz zur Tür. Flucht ist auf alle Fälle eine Option, wenns nicht anders geht. „Oder“, plappere ich munter weiter, „wir machen so was wie auf der Party in Zukunft nicht mehr. Aber sollten wir noch mal so was wie auf der Party machen … also … das bräuchte dann ja niemand zu wissen … also, ich würde nicht gleich losrennen und es jedem erzählen.“ Erneut schiele ich zur Tür und die Fluchtoption erscheint mir immer attraktiver.
„Ja“, sagt Vico.
„Was?“
„Okay.“
„Okay, wir machen so was nicht mehr, oder okay, wir …“
„Ja“, unterbricht er mich, „das andere.“
„Oh … okay“, antworte ich reichlich durcheinander. „Dann, äh, dann haben wir ja alles besprochen, äh, dann gehe ich mal“, sage ich und gehe dann mal.
Mir ist so schwächlich, so duselig, ich will mich hinlegen, dringend, und den verdammten Schwindel loswerden.
Ich weiß gar nicht, weshalb ich so fix und fertig bin, das eben passte doch hervorragend zu Vicos widersprüchlichem Verhalten.
Mitten in der Nacht, also für normale Leute mitten am Tag, wache ich auf. Einige Sonnenstrahlen blitzen durch die oberen Ritzen der heruntergelassenen Jalousien, es ist ekelhaft. Müde schleppe ich mich zum Fenster und schließe die letzten Lamellen. Leider ist danach an Schlaf nicht mehr zu denken, weil ich an Vico denke. Und schon hab ich wieder eine hervorragende Idee.
In meinen ausgeleierten Schlafklamotten schleiche ich durch die Wohnung, klopfe an Vicos Zimmertür, drücke die Klinke herunter und bin ziemlich überrascht, dass er wohl vergessen hat, abzuschließen. Sehr gut! Leise bewege ich mich durch das dunkle Zimmer, hebe die Bettdecke vorsichtig an und lege mich neben die schlafende Schönheit, die sofort filmreif aufschreckt. Ach du meine Güte!
„Oh Gott“, stöhnt Vico, als hätte er den Leibhaftigen gesehen, und sinkt auf die Matratze zurück. „Mach das nie wieder.“ Seine Hand befühlt dramatisch seine Stirn. So eine kleine Diva!
„Was zum Teufel willst du hier?“, fragt er heiser.
Ich schmiege mich an seinen warmen Körper, reibe meine Wange an dem Stoff seines T-Shirts und lasse meine Hand zielstrebig zwischen seine Schenkel wandern.
„Sascha“, sagt er gedehnt und nimmt meine Hand weg, „ich bin noch nicht mal richtig wach.“
„Dann ist es am besten“, flüstere ich und küsse seinen Hals.
„Nee, echt, das geht grad gar nicht.“
„Okay, dann eben später“, entgegne ich und schmiege mich noch enger an ihn.
„Und was soll das jetzt werden?“
„Schlafen“, gähne ich und schließe die Augen.
„Ja, nein, das geht auch nicht.“
Ich öffne genervt die Augen und sehe ihn an.
„Was ist dein Problem, Vico?“
„Ich – schlafe einfach sehr unruhig und …“
„Das stört mich nicht“, unterbreche ich ihn seufzend und spiele träge mit einer langen weichen Haarsträhne.
Von mir aus kann der sagen, was er will, mich kriegt er heute jedenfalls nicht hier weg.
Vico >> [jetzt]
Sascha ist tatsächlich eingeschlafen. In meinem Bett.
Ich weiß genau, und das ist ja durchaus nicht immer so, was jetzt richtig wäre, beziehungsweise richtig gewesen wäre. Es ist eine dieser glasklaren Situationen, wo man nicht lange überlegen muss, wo es quasi auf der Hand liegt, was zu tun und was besser zu lassen ist. Ich hätte Sascha eindeutig besser daran gehindert, hier einzuschlafen. So schrecklich schwierig wäre das ja nun nicht gewesen.
Aber nein, er ist geblieben, wo er war, und ich habe nichts dagegen unternommen, im Gegenteil, ich habe mir eher noch Mühe gegeben, ihn nicht zu stören beim Einschlafen. Einerseits weil ich wissen wollte, ob er das wirklich tut, ob er wirklich hier liegenbleibt, und wenn ja, warum. Ich nehme mir vor, ihn bei Gelegenheit danach zu fragen, allein, wann soll sich so eine Gelegenheit ergeben, die ergibt sich doch im Leben nicht, das weiß ich doch jetzt schon. Es sei denn, man ist Sascha und fragt einfach ganz direkt munter alles drauflos, was einem so einfällt, aber ich bin ja nicht Sascha.
Und andererseits – andererseits ist die Sache mit dem gemeinsamen Einschlafen und dem gemeinsamen Aufwachen nicht das Schlechteste, wobei man sagen muss, dass sie mit Julia gründlich schiefgegangen ist, man kann nicht so wahnsinnig gut mit mir die ganze Nacht oder, besser gesagt, den ganzen Tag verbringen, zumindest nicht Julia, die selbst nicht den entspanntesten Schlaf hat.
Bei Sascha scheinen die Dinge in dieser Hinsicht jedoch anders zu liegen, er schläft tief und fest, als sei das völlig selbstverständlich, als würde er hierher gehören, als würde das irgendeinen Sinn ergeben, der sich mir nicht erschließt.
Im trüben, blassgrauen Licht, das durch die Rollos hereindringt, erschließt sich mir allerdings etwas anderes, und zwar Saschas halb unter der Decke verborgene Gestalt, vor allem sein Gesicht und seine Hand, die auf dem Kissen liegt, und die helle Haut, die sich sehr weiß von seinem dunklen T-Shirt abhebt. Ich sollte zusätzlich Vorhänge anbringen, denke ich.
Leise stütze ich mich auf einen Ellbogen und betrachte ihn, was auch sonst, rechtfertige ich mich innerlich, es gibt ja nur zwei Möglichkeiten, entweder wecken und rausschmeißen oder nicht wecken und schlafen lassen, und da ich mich offenkundig für nicht wecken und schlafen lassen entschieden habe, kann ich ihn mir auch ansehen, wenn mir danach ist. Und wenn ich ganz vorsichtig bin, überlege ich, kann ich sogar zum Beispiel seine Finger berühren, und das tue ich dann auch, ich streiche ganz sachte über seine Fingerkuppen und über seine Nägel, glatte, kurze, leicht gewölbte Nägel. Ach herrje, wenn es schon so weit ist, denke ich, dass man jemandem ständig in den Haaren und im Gesicht und an den Fingern herumfummeln will, dann steht es schlimm um einen, dann ist das nicht mehr zu erklären mit außergewöhnlichen Gemeinsamkeiten und verruchter Entschlossenheit und ein bisschen gegenseitiger Anziehungskraft. Solche Anwandlungen sind normalerweise Julia vorbehalten, natürlich nicht von Anfang an, aber mit der Zeit haben sie sich eingeschlichen, und das ist wohl auch ein gutes Zeichen, so wie das Sorgenmachen umeinander.
Was, denke ich, wenn Sascha jetzt aufwacht, er muss mich ja für völlig bescheuert halten, ich halte mich ja selber für völlig bescheuert, und dann bemerke ich, wie meine Hand ihm ganz von selbst die Haare aus der Stirn streicht, mit Haaren hab ichs aber auch im Moment, das macht einen alles fertig, denke ich, und es führt nirgends hin.
Am frühen Morgen hat es zu schneien begonnen, der Winter zieht sich hin dieses Jahr, und alle Straßengeräusche, die hier oben durch das einfach verglaste Fenster zu vernehmen sind, klingen gedämpft. An schlafen ist nicht zu denken, solange Sascha neben mir liegt, das ist ja schon ohne ihn kompliziert genug, aber gar nicht schlafen bringt es auch nicht, also helfe ich am besten ein bisschen nach, beschließe ich, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
So leise wie möglich setze ich mich auf, schiebe die Beine über die Bettkante und taste nach Jeans und Pullover, es ist wirklich ziemlich kalt. Sascha wird nicht wach, gut so.
Die Diazepam-Ampullen finde ich auf Anhieb, Spritzen und Kanülen auch, das ist eigentlich nur etwas für besondere Gelegenheiten, na gut, entscheide ich, heute ist dann eben eine. Ich gehe durch die abgedunkelte Wohnung ins Bad, schließe die Tür ab und setze mich auf den Badewannenrand. Sorgfältig ziehe ich die Flüssigkeit auf, eine Ampulle soll wohl reichen, hoffe ich. Zum Abbinden entdecke ich merkwürdigerweise einen Gürtel im Schrank unter dem Waschbecken, na ja, wird schon gehen, jetzt brauche ich nur noch eine Vene, ich mache eine Faust und klopfe ein paar Mal gegen die Armbeuge. Ich drücke einen Tropfen aus der Spritze, setze im flachen Winkel die Nadel an und ziehe. Alles in Ordnung.
Langsam injiziere ich die Lösung, oh Gott, ich merke noch was, wie schön, ich schnappe nach Luft, lege kurz den Kopf in den Nacken und presse ein Stück Klopapier gegen die Einstichstelle. Oh Gott. Ich merke tatsächlich noch was. Es dauert keine halbe Minute und der ganze Zauber ist vorbei, zurück bleibt eine gewisse Erleichterung. Ich stehe auf, ein bisschen wacklig, aber es geht, lasse alles liegen, nehme aus der Küche noch eine halbleere Flasche Whiskey mit, sicher ist sicher, und schaffe es, mich wieder neben Sascha zu legen, zwar angezogen, aber was solls. Er schläft immer noch. Er schläft und sieht aus und duftet schwach, was mich jetzt alles nicht mehr so sehr beunruhigt. Ich bin froh, dass er da ist, denke ich, ganz egal, warum oder für wie lange, nur der Moment zählt. Mein Herzschlag ist ganz ruhig und die üblichen Verspannungen lösen sich allmählich. Lange wird das wieder nicht halten, wie ich leider weiß, aber für den Augenblick ist alles gut.
Als ich aufwache, ist es später als sonst, es ist draußen bereits komplett dunkel und ich muss mich erst mal orientieren. Eindeutig bin ich allein, das ist nicht schwer festzustellen. Vielleicht war die Sache mit dem Sascha und den Haaren und den Fingern nur eine Wahnvorstellung. Vielleicht habe ich es übertrieben und bekomme es nun doch mit den Nebenwirkungen zu tun, wie jeder normale Mensch. Vielleicht ist es jetzt endlich da, das Ende von allem.
Ich stehe auf, mache Licht und öffne die Tür, die natürlich nicht abgeschlossen ist, warum um Gottes willen, frage ich mich, habe ich gestern eigentlich nicht abgeschlossen? Wenn das mal keine Zersetzungserscheinungen im Gehirn sind.
In der Küche sitzt Sascha und trinkt Kakao.
„Hey“, sage ich.
Zumindest habe ich mir nicht eingebildet, dass er hier wohnt, das ist ja schon mal was.
„Machst du das immer so“, fragt er und stellt seine Tasse ab, „dass du dich mitten in der Nacht anziehst und dann in deinen Klamotten pennst?“
Ich lehne mich gegen den Türrahmen, weil ich mich nicht entschließen kann, mich zu ihm zu setzen.
„Am Tag“, murmele ich, „mitten am Tag.“
Sascha überhört das.
„Oder“, spricht er einfach weiter, „wär dir sonst zu kalt gewesen, als du dir im Bad einen Schuss gesetzt hast?“
Ach ja. Man hätte vielleicht doch besser aufräumen sollen.
„Sehr lustig“, finde ich, „das muss man jetzt echt nicht dramatisieren.“
„Ja“, erwidert Sascha verächtlich und lacht einmal kurz auf, „genau.“
„Sag mal“, sage ich, „du hast nicht wirklich in meinem Bett geschlafen, nein?“
Er hebt die Brauen.
„Fandest du das so abartig oder was?“, fragt er.
Ich beiße mir auf die Lippe. Jetzt nichts Falsches sagen, denke ich.
„Ich geh mal aufräumen“, entscheide ich.
Auf dem Badewannenrand liegen die benutzte Spritze, die leere Ampulle und ein blutiges Stück Klopapier, na super, denke ich, das sieht ja aus, schlimm. Ich werfe alles in den Müll, gehe zurück in die Küche und setze ich mich an den Tisch, Sascha gegenüber. Draußen hat es aufgehört zu schneien.
„Nein“, sage ich, „ich fand das nicht abartig. Ich hab nur nicht damit gerechnet.“
Sascha atmet einmal tief ein und aus. Er sieht sehr jung aus in seinem weiten T-Shirt und ausnahmsweise noch ohne Kajal um die Augen.
„Ich hab auch nicht damit gerechnet“, erwidert er, „dass dich das so … erschüttert. Nach, na ja, nach allem, was wir so –“
„Ja, ja“, ich hebe beschwichtigend die Hand, um seinen Redefluss zu bremsen, „ich weiß, ich weiß!“ Ich mache eine Pause. „Aber da ist was dran“, gebe ich zu.
Sascha nimmt die Kakaotasse in beide Hände, pustet einmal hinein, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und schüttelt den Kopf.
„Also, ganz im Ernst“, sagt er, „manchmal fänd ich es echt einfacher …“
Da klingelt mein Handy.
„Ach, Scheiße“, ärgere ich mich, „warte mal.“
Ich stehe auf und kann gerade noch rechtzeitig rangehen.
„Hi“, meldet sich Timo, „Stefan hat dich vor ner halben Stunde schon angerufen, aber nicht erreicht. Wir wollen so um halb zehn noch mal quatschen, wegen den Neuen. Janis war heute länger im Studio, darum so kurzfristig.“
„Aha“, sage ich.
„Sonst sind schon alle da“, ergänzt er.
„Juli auch?“, frage ich.
„Ja“, bestätigt er, „ich mach dann jetzt mal Schluss. Bis gleich.“
Etwas verwundert lege ich das Handy auf den Tisch. Zwei entgangene Anrufe von Stefan. Keine Nachricht von Julia. Sascha sieht mich erwartungsvoll an.
„Timo“, sage ich, „sieht so aus, als müssten wir nachher zum Hof.“
„Ich auch?“, fragt er.
„Ja“, entgegne ich, „natürlich.“
„Okay“, sagt er und zuckt die Schultern.
Komisch, denke ich, dass Julia nicht Bescheid gesagt hat.
Sascha rückt mit dem Stuhl näher an den Tisch und sieht mich an.
„Sag mal“, beginnt er, „wie gut kennen sich Julia und Timo eigentlich?“
„Wieso?“, frage ich.
„Am Samstag“, führt er aus, „da saß ich doch kurz im Wohnzimmer mit Timo und Julia, nachdem du nach vorne gegangen bist.“
„Hm“, mache ich.
„Das wirkte irgendwie komisch … also, ziemlich vertraulich.“
„Was?“, frage ich verständnislos.
„Ja“, präzisiert er, „er hat ihr Knie gestreichelt. Das hätte ich fast vergessen … ich dachte, dass du das vielleicht wissen solltest.“
Ich öffne den Mund und will etwas sagen, doch dann fällt mir nichts mehr ein. Also nicke ich nur.
„Ja“, sage ich endlich, „danke.“
Timo, denke ich, habe ich möglicherweise auch unterschätzt.
„Verrätst du mir jetzt noch“, fragt Sascha, „warum du nachts im Badezimmer benutzte Spritzen verteilst?“
„Ach“, seufze ich und stütze das Gesicht in die Hände, „das ist doch egal, ob Spritzen oder nicht.“
„Ja“, bestätigt Sascha, „darum gehts ja auch nicht.“
Wir haben jetzt schon so einiges miteinander geteilt, fasse ich innerlich zusammen, und wir wohnen zusammen, und es gibt keinen, aber auch wirklich gar keinen Grund, vor Sascha Geheimnisse zu haben, die sowieso nichts mehr ändern, weil sie längst Vergangenheit sind. Bloß erzähle ich so ungern schlimme Geschichten.
Und dann berichte ich, zum zweiten Mal in meinem Leben und zum ersten Mal ohne Aussparungen, von Valeri und dem Keller und Wasja und Marie.
Vico << [zweieinhalb Jahre zuvor]
„Eben waren sie noch da“, erklärte Levin und sah sich suchend um.
„Und wo sind sie jetzt?“, fragte ich gereizt.
„Ich glaub …“, er kaute auf der Innenseite seiner Wange und blickte noch einmal angestrengt um sich, „ich hab – sie vielleicht weggeschmissen.“
„Weggeschmissen?“, wiederholte ich ungläubig, „das ist doch jetzt nicht wahr!“
„Ich hab zu Hause alles sortiert“, er klang beunruhigt, „ich glaub, ich hab die falschen weggeschmissen.“
Ich stöhnte auf und legte mir eine Hand über die Augen.
„Kuck noch mal nach“, forderte ich ihn auf, „das kann doch eigentlich nicht sein, so blöd bist du doch nicht, kuck doch noch mal in deiner Kiste da.“
Die allererste Spenderparty stand kurz bevor und Janis hatte zu diesem Zweck einen ganzen Haufen Kanülen mitgebracht, von denen ein Teil noch zu gebrauchen, der größere Teil hingegen nicht mehr steril war. Die schöne Aschenputtel-Aufgabe, den ganzen Mist auseinander zu sortieren, war Levin zugefallen. Und da stand er nun, hier in der Hofküche, und hatte zu Hause die falschen weggeworfen. Zum Glück waren wir wenigstens allein.
„Die sind alle abgelaufen …“, sagte er und schüttelte verzagt den Kopf, „Scheiße.“
„Herrgottnochmal“, regte ich mich auf, „Scheiße ist gar kein Ausdruck!“
Es ist wichtig, dachte ich, dass er nicht schlecht auffällt, nachher stimmen sie ab und schmeißen ihn noch raus, das wäre ärgerlich, wo man sich doch recht gut miteinander versteht und vernünftige Arrangements getroffen hat, die beide Seiten zufriedenstellen.
Ich sah mich innerlich schon wieder in Krankenhäusern oder beim DRK oder wo auch immer herumstreunen, auf der Suche nach Blutkonserven. Nix, dachte ich, das kommt alles nicht infrage.
„Das tut mir total leid“, klagte Levin, „ich versteh das, wenn du jetzt sauer bist …“
„Mir ist das doch egal“, rief ich, leider etwas laut, obwohl ich das gar nicht beabsichtigt hatte, „ob die steril sind oder nicht, aber wenn Stefan das mitkriegt, was meinst du, wie der das findet? Hm?“
Levin zog sein Handy aus der Hosentasche. Es war gerade erst dunkel geworden und mir brannten noch die Augen von der Fahrt im Dämmerlicht.
„Ist das wirklich egal“, fragte er und es schlich sich ein Funke Hoffnung in seinen Blick, „ob die steril sind oder nicht?“
„Was soll denn da passieren?“, fragte ich zurück. „Aber das geht jedenfalls nicht, das muss hier alles seine Ordnung haben. Hast du das verstanden?“
„Ich …“, begann er, entsperrte sein Handy und scrollte offenbar durch seine Kontakte, „mach das schon. Ich ruf Stefan an und erklär ihm, dass es meine –“
„Gar nichts machst du“, unterbrach ich ihn und umfasste sein Handgelenk.
Irritiert sah er auf.
„Wieso?“, fragte er, „ich erklär ihm das schon! Und jetzt lass mich mal los, das tut weh!“
Ich drückte fester zu und riss seine Hand ruckartig nach unten. Das Handy fiel auf den Boden und schlitterte ein Stück weit über die zerkratzten, gelblichweißen Fliesen.
„Ey, Vico“, stöhnte Levin, „gehts noch, oder was?“ Er beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn und hielt sich die linke Schulter.
Ich lehnte mich gegen den Kachelofen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Levin ging sehr langsam in die Knie, hob sein Handy auf und richtete sich ebenso langsam wieder auf. Das Display war gesprungen und zerkratzt.
„Scheiße, Mann“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Augen schimmerten verdächtig. Mit zitternden Fingern legte er das Handy auf den Tisch.
Ach, verdammt.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, er wich zurück, bis er an die Tischplatte stieß, und rieb sich weiter die Schulter. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und wischte ihm mit der Fingerspitze eine Träne von der Wange. Das ließ er sich gefallen, wenigstens etwas, dachte ich, das ist doch schon wieder alles scheiße.
„Schscht“, sagte ich.
Levin schniefte einmal. Es war nicht zum Aushalten. Das darf nicht wieder ausarten, dachte ich, man muss die Dinge unter Kontrolle behalten.
„Ich regel das schon“, versuchte ich ihn zu beruhigen, „ich besorg neue.“
Er starrte auf seine Füße und nickte bedächtig.
„Ich – das wollte ich so nicht, okay?“, fragte ich, „okay? Ich hab bloß … Das kommt nicht noch mal vor, ehrlich.“
Er nickte erneut. Ich strich ihm die Haare aus der Stirn.
„Jetzt kuck mich doch mal an“, bat ich.
Das tat er.
„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich, „okay?“
Ich bin so dermaßen schlecht in Entschuldigungen, das ist fast noch weniger zum Aushalten als Levins Geschniefe.
„Ja“, sagte er und schluckte, „okay.“
Ich dachte daran, dass er nach wie vor Ärger hatte mit seiner Familie und dass er hier war, so oft es ging. Und dass Julia so etwas wie seine beste Freundin sein musste und ich wahrscheinlich sein bester Freund, und dass er mir immer noch dankbar war, dass ich ihn mitgenommen hatte, schlimme Sache, dachte ich, wenn ich das alles ausnutze, das ist doch so ziemlich das Letzte, und es tat mir wirklich leid in diesem Moment, der ganze Levin tat mir leid.
Mein Blick fiel auf das kaputte Handy auf dem Tisch.
„Ich kauf dir ein neues“, sagte ich, „okay?“
Sascha >> [jetzt]
Ach du Scheiße. Was sagt man denn jetzt dazu? Dass man sich nicht mit kriminellen Russen einlassen sollte? Ich wette, das weiß Vico inzwischen. Überhaupt, kriminelle Russen, die sich als Vampire entpuppen … wo gibts denn so was? Reiß dich zusammen, Sascha, ein Lachkrampf ist grad nicht angesagt! Kriminelle Vampirrussen … Russenvampire … Fuck, jetzt verstehe ich natürlich auch die hässliche Narbe an seinem Bein. Die am Handgelenk nicht zu vergessen. Von wegen Glasscheibe! Na toll, und ich mit meiner romantischen Kitschgeschichte, obwohl, so romantisch war es gar nicht. Natürlich nicht ansatzweise so schlimm wie bei Vico, ich wurde immerhin gefragt und nicht so brutal behandelt. Aber wenn sich der Körper verändert, das Blut … ist das offenbar einfach unschön und schmerzhaft. Mist, ich sollte endlich mal was sagen. Irgendwas.
„Also, wenn ich gewusst hätte … ähem … also, dann hätte ich mich nicht so angeschlichen.“
„Ja“, entgegnet Vico, „ich hab wohl vergessen abzuschließen.“
„Ich finde, du könntest das sowieso langsam mal lassen. Ist ja nicht so, als müsstest du mir deinen Blutdurst verheimlichen oder so. Und hier gibts auch keine Russen.“
„Die Zeiten, in denen ich dachte, die Russen kommen, hab ich zum Glück hinter mir.“ Vico lächelt schief und ich kann leider nicht mehr an mich halten, so peinlich und unpassend es auch ist.
Anstatt aber zu denken, dass ich mich über seine schlimme Geschichte lustig mache, und beleidigt zu sein … lacht Vico einfach mit. Das hat etwas sehr Befreiendes.
„Das ist trotzdem scheiße“, sage ich, nachdem wir uns wieder halbwegs im Griff haben, „ich meine, so sollte es ja nun wirklich nicht ablaufen.“
Dann erzähle ich, wie es bei Silvester und mir abgelaufen ist. Bin mir dabei allerdings gar nicht mehr so sicher, ob der langsame Blutverlust so viel besser ist als das, was Vico erlebt hat. Ich kann nicht mal mehr sagen, obs nun Stunden oder Tage gedauert hat, weil ich immer schwächer wurde und erst wieder halbwegs bei Verstand war, als mein Körper anfing, sich umzustellen. Und das war ja, wie bei Vico, die Hölle.
„Ich finde die ganze Sache an sich schon reichlich unnötig“, behauptet Vico, „und wenn ich vorher gefragt worden wäre, hätte ich garantiert nein gesagt … obwohl das wahrscheinlich nichts geändert hätte.“
„Ich war halt verliebt“, erkläre ich achselzuckend.
„Ja, aber du hättest einfach so mit ihm zusammen sein können, oder?“
„Keine Ahnung, vermutlich. Ist jetzt auch egal.“
„Und er hat dir beigebracht, wie man an Blut kommt?“
Ich nicke.
„Und?“
„Das ist nicht besonders spannend“, versuche ich auszuweichen, „ich rede da auch nicht gern drüber.“
Vico lächelt leicht.
„Ich hab dir eben meine Russengeschichte erzählt, ja?“
Verdammt!
„Ich reiße fremde Kerle auf, kippe ihnen was ins Glas, warte, bis sie bewusstlos sind, und suche mir eine Stelle am Körper, die nicht so sehr auffällt“, teile ich ihm mit und ärgere mich über meinen etwas zu schrillen Ton. „Sollen wir mal los?“
„Oh“, erwidert er, „okay. Klar, können wir.“
Ich gehe in mein Zimmer, um mich umzuziehen, und hoffe, dass Vico mich jetzt nicht für einen totalen Drecksack hält. Ich würde mich dafür halten.
Kurze Zeit später treffen wir uns im Flur, wo Vico grad seinen Autoschlüssel aus der Tasche kramt. Nee, oder?
„Du weißt, dass man nach einer Diazepam-Injektion kein Kraftfahrzeug führen sollte?“
Vico verdreht bloß die Augen.
„Gib mir die Schlüssel, ich fahre.“
„Das ist jetzt aber wirklich albern“, findet er und lacht mich ein bisschen aus.
„Ich hab jedenfalls keine Lust, in irgendeinem fucking Graben zu landen, nur weil du dich zugedröhnt für Supermann hältst.“
„Wieso ziehst du nicht schnell noch eine Line, dann sind wir supermanntechnisch auf einem Level“, schlägt er vor. „Sag mal, Alexander, hast du eigentlich eine Ahnung, wie der ganze Kram wirkt, den du in deiner Schublade hast? Du solltest gelegentlich mal eins der Bücher lesen, die in deinem Regal verstauben.“
Hat der aus Versehen nicht mehr alle Latten am Zaun??
„Wie auch immer“, bemühe ich mich friedlich zu bleiben, „ich fahre“, stelle ich nochmals klar und greife nach seiner Hand, die den Schlüssel festhält.
„Meinetwegen“, lenkt er seufzend ein und lässt endlich den verfickten Schlüssel los, „wenns dir Spaß macht.“
Im runtergekommenen Wohnzimmer ist bereits der gesamte Spinnerzirkel versammelt. Stefan lehnt an der Wand, Nele und Levin sitzen auf der fiesen Zweiercouch und auf dem größeren Sofa hockt Julia neben Timo und Janis. Die anderen kriegen es vielleicht nicht mit, aber mir fällt auf, dass Timos Hand Julias Bein berührt. Vicos Augen verengen sich. Okay, schätze, er hat Timos Vertraulichkeit ebenfalls bemerkt. Julia erhebt sich und begrüßt Vico mit einem Kuss auf den Mund. Timos Hand bleibt verlassen auf dem Polster liegen, während sein Blick unverhohlene Verachtung ausdrückt.
„So, dann wären wir also vollzählig“, stellt Stefan fest.
Ich setze mich auf die niedrige, dunkelbraune Kommode und finde es echt interessant, was hier zwischen einigen Leuten abgeht. Julia steht immer noch bei Vico, er hat einen Arm um ihre Taille gelegt, nimmt ihr die Weinflasche ab und genehmigt sich einen Schluck.
„Also“, beginnt Janis und richtet sich wichtigtuerisch auf, „eigentlich brauchen wir doch sowieso nur noch über Maike und Leonie abzustimmen.“
„Finde ich auch.“ Stefan nickt und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich die Typen kennen sollte, was leider nicht der Fall ist. Andererseits wird hier wahrscheinlich noch nicht so viel Wert auf meine Meinung gelegt, schließlich bin ich der Neue.
„Die haben ja sogar auch schon ein bisschen Erfahrung, nur hat es in deren Zirkel aus irgendwelchen Gründen nicht so gut funktioniert.“
Stefan nickt erneut.
„Also nehmen wir beide auf?“, fragt er.
Nele, Levin, Julia und Timo sind einverstanden. Ich hab auch nichts dagegen. Mehr Leute, mehr Blut … kann nur von Vorteil sein.
„Ist mir egal“, sagt Vico.
„Wie immer“, murmelt Timo.
„Hast du ein Problem damit?“, fragt Vico gelassen.
„Nein“, antwortet die Piercingvisage und lächelt falsch.
„Das war doch gar nicht so ernst gemeint“, erklärt er, „alles super mit Maike und Leonie.“
„Es ist nicht nur uns beiden aufgefallen, dass dir mittlerweile relativ viel egal ist, was die Gruppe betrifft“, behauptet Janis.
„Ist das so, Sabine?“, stöhnt er gereizt.
„Allerdings, Vico.“
Haha, ich möchte wetten, sie ist im Augenblick total angepisst, dass Vico sich nicht auch einen beknackten Spitznamen gegeben hat, nur damit sie ihn jetzt mit seinem richtigen Namen hätte anreden können. Und ich dachte schon, der ganze Scheiß hier würde langweilig werden!
„Das war nicht ernst gemeint!“, wiederholt er.
„Meine Güte“, mischt Nele sich ein, „warum geht ihr nicht kurz vor die Tür und erledigt die Angelegenheit wie richtige Männer? Das Ergebnis ist doch eh eindeutig, deshalb kann es Vico egal sein, wie er lustig ist. Oder sehe ich das falsch?“
„Jetzt mal ohne Scheiß, das war wirklich nicht ernst gemeint“, beteuert er, „alles gut, ja?“
„Danke“, antwortet Stefan sichtlich genervt. „Maike und Leonie werden beide aufgenommen. Ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Ohne uns gegenseitig zu verprügeln.“
Wie, das wars schon? Dabei fing es so vielversprechend an. Na ja, vielleicht hat Nele wenigstens Lust, ein bisschen Blut zu spenden, dann hätte sich die Fahrt hierher doch noch gelohnt. Ich frage sie und hab Glück. Wir gehen nach oben. Vico wäre bestimmt nicht begeistert, wenn er uns dabei zusehen müsste.
Als wir eine Weile später zurück ins Wohnzimmer kommen, hängt Julia schon wieder verdächtig schwächlich auf der Couch. Janis reicht ihr eine Flasche Wasser. Levin und Vico sind nicht da.
„Wo sind denn alle?“, frage ich.
„Stefan muss noch arbeiten, der ist schon nach Hause gefahren. Vico treibt sich mit Levin wahrscheinlich irgendwo oben rum“, erklärt Janis.
Wie aufs Stichwort erscheinen die beiden. Levin ist noch dabei, das Pflaster an seinem Oberarm anzudrücken, rollt den Ärmel seines T-Shirts runter und zieht sich seine schwarze Kapuzenjacke an. Vico setzt sich zu seiner Freundin, die sich matt an ihn lehnt.
„Wollen wir fahren?“
Julia schüttelt den Kopf.
„Ich schlaf heute hier.“
„Bist du sicher?“
„Ja“, sagt sie, „Nele und Levin bleiben auch hier.“
„Okay“, entgegnet er und wirkt erleichtert.
„Ich muss los“, verkündet Janis, aber ich glaube nicht, dass das jemanden interessiert.
Während der Fahrt sagt Vico kaum ein Wort. Klar, ich an seiner Stelle würde mir auch Sorgen machen. Man muss nicht bis drei zählen können, um zu wissen, dass Julia vorhin entweder Janis oder Timo erlaubt hat, die Rasierklinge bei ihr anzusetzen. Ich tippe auf Timo. Und irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass das alte Sackgesicht scharf auf Vicos Freundin ist. Diese heimlichen Streicheleien immer, die haben doch was zu bedeuten.
Zu Hause verschwindet Vico sofort in seinem Zimmer. Ich warte ein paar Minuten und klopfe an seine Tür, die schon wieder nicht abgeschlossen ist, weshalb ich einfach reingehe.
„Hey, willst du gestört werden?“
Er zuckt die Schultern, also setze ich mich zu ihm aufs Bett.
„War ja ne coole Versammlung. Aber … wer zur Hölle sind Maike und Leonie?“
„Irgendwelche Spinner.“
„Hör mal, was ich dir da erzählt hab, bevor wir losgefahren sind …“
„Ja?“
Ich nehme die Whiskeyflasche vom Tisch und trinke einen Schluck.
„Ich bin da nicht stolz drauf, okay? Wenn ich eine andere Möglichkeit gehabt hätte …“
„Okay, vielleicht ist das nicht die eleganteste Lösung“, überlegt er, „aber wenn es nicht anders geht?“
„Aber es ist moralisch total verwerflich.“
„Und dein Drogenverkauf ist moralisch einwandfrei?“, grinst er.
„Auf jeden Fall“, grinse ich kurz zurück. „Immerhin entscheiden die Leute selbst. Bei der anderen Sache ist das schwierig, weil die Kerle nichts mehr mitkriegen.“
„Hm.“
„Scheiß Thema“, finde ich und kippe noch einen ordentlichen Schluck Alkohol, bevor Vico sich die Flasche schnappt.
„Du hast damit angefangen.“
Es sieht gut aus, wie er auf dem Bett sitzt. Es sieht gut aus, wie ihm die Haare über die Schultern fallen. Es sieht gut aus, wie er trinkt und seinen Kopf langsam in meine Richtung dreht. Es sieht einfach unfassbar gut aus.
„Ja“, behaupte ich, „und jetzt beende ich es.“
„Was immer du willst“, sagt er und … ich weiß plötzlich ganz genau, was ich will.
Ich setze mich auf seinen Schoß und ziehe meinen Pullover aus. Vico schaut mir interessiert dabei zu. Er nippt kurz an der Flasche und lächelt leicht, als er seine Hand mit den zwei schwarz lackierten Fingernägeln ausstreckt und träge über meine Brust streicht. Ich beuge mich zu ihm runter und küsse ihn. Seine Lippen schmecken nach Whiskey. Vicos Fingerspitzen berühren hauchzart meinen Bauch, was mich echt wahnsinnig macht. Ohne den Kuss zu unterbrechen, stellt er die Flasche weg und legt die jetzt freie Hand auf meinen Oberschenkel, bewegt sie weiter rauf und öffnet die Knöpfe meiner Jeans. Ich lege meine Arme um ihn und lasse meine Finger durch seine Haare gleiten. Vicos Hand schiebt sich in meine Hose und bringt mich völlig um den Verstand. Oh Mann, der weiß schon ganz genau, was zu tun ist, damit ich Sterne sehe!
Aber, hey, das krieg ich bei ihm auch hin! Sein leises Stöhnen, seine Finger, die sich versuchen in den Stoff meiner Jeans zu krallen, seine Lippen auf meinem Mund, seine Zungenspitze, die immer wieder gegen meine tippt, während er kommt … das alles sagt mir, dass ichs ziemlich gut mache.
Vico >> [jetzt]
Sascha schließt sehr leise die Tür und ich bleibe etwas ratlos zurück. So geht das alles nicht, denke ich, es geht aber auch nicht, dass ich das ständig denke, entweder, man entscheidet etwas oder man entscheidet es eben nicht.
Widerstrebend stehe ich auf und nehme mein Notebook mit ins Bett, eigentlich könnte man sich jetzt auch hinlegen, mir ging es echt schon mal schlechter, aber es ist noch zu früh, wenn ich jetzt schlafe, wird das später wieder nichts. Eigentlich, denke ich, wäre es gut, wenn Sascha noch da wäre, man hätte einfach eine Weile hier liegenbleiben können, auch wenn das natürlich erst recht nicht geht, das gehört nicht zum Lieferumfang einer handelsüblichen heimlichen Affäre. Oder doch?
Mir fällt auf, dass ich mich überhaupt nicht auskenne mit heimlichen Affären, ich war schon vor Julia kein ausgeprägter Fremdgänger, das sagte mir alles nichts und es reizte mich auch nicht, warum sollte man es sich komplizierter machen als nötig. Und Levin ist ja keine Affäre gewesen, mit ihm hatte ich allerdings auch nicht herumliegen wollen, nachdem man sich gemeinsam entspannt hatte.
Das war mal eine gute Sache mit dem Entspannen gerade, schon wieder, denke ich, es war schon wieder eine gute Sache, und Sascha ist in vielerlei Hinsicht sehr speziell. Er sollte sich nicht immer ausziehen, obwohl, korrigiere ich mich, wieso immer, immer ist ja Quatsch. Aber eben, nehme ich den Gedanken wieder auf, hat er sich einfach ausgezogen, obenrum, das muss ja nicht sein, da ist es ja vorprogrammiert, dass man die Fassung verliert. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf mir sitzt, und dann wie er in meinem Bett liegt, diese Bilder wechseln sich ab, und sie sind beide etwas gefährlich.
Juli darf davon nichts erfahren, nehme ich mir vor, auf gar keinen Fall, und eigentlich hätte ich mich gar nicht darauf einlassen sollen, doch dazu bin ich anscheinend nicht diszipliniert genug. Es wäre gut, denke ich, wenn man insgesamt etwas disziplinierter wäre, das zahlt sich aus, mit der Spritze hat es sich auch ausgezahlt, man darf es einfach nicht übertreiben, und schon merkt man wieder was, und dann kommt auch noch Sascha und zieht sich aus, und dann möchte man am liebsten miteinander herumliegen, was man aber wiederum nicht sollte und auch nicht wollen sollte. Na ja, Sascha würde es wohl auch nicht wollen, also alles in Ordnung, vermute ich, bis auf die Heimlichkeit an sich, die ist schon scheiße, das kann man sich nicht schönreden.
Um mich von diesen ziemlich sinnlosen Überlegungen abzulenken, klappe ich das Notebook auf und sehe gewohnheitsmäßig nach, wo Julia ist. Das ist natürlich genauso sinnlos, ich weiß ja, dass sie auf dem Hof schlafen will. Ich sehe trotzdem nach, immer habe ich das Gefühl, dass sie auf einmal verschwinden könnte, immer muss ich mich vergewissern, dass sie noch da ist, es ist eigenartig.
Ich muss zweimal hinschauen, bevor ich es verstehe. Sie ist nicht auf dem Hof. Sie ist auch nicht zu Hause. Sie ist – bei Timo.
Das kann doch nicht sein, denke ich. Und dann fällt mir ein, wie nah sie beisammen gesessen haben und was Sascha heute Abend gesagt hat. Verdammt. Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht. Nichts Gutes, so viel steht fest. Wenn sie sich wenigstens jemand anderen ausgesucht hätte, da könnte ich mich wohl kaum beklagen, nach Levin und, na ja, nach Sascha. Man muss aufpassen auf Julia, denke ich, weil sie das selbst nämlich nicht tut und auch nicht für notwendig hält.
Ich überprüfe Neles Handy. Sie ist auf dem Hof.
Am liebsten würde ich Sascha fragen, ob er noch etwas gesehen oder gehört hat und was er davon hält, dass Julia nicht die Wahrheit gesagt hat. Aber das geht auch wieder nicht, es käme mir komisch vor, ihn das zu fragen, weil es um Julia geht, und weil ich ihm erklären müsste, woher ich weiß, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat, und weil ich außerdem wohl gerade nicht in der Position bin, mich darüber zu beschweren, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat.
Ich erwäge, Julia anzurufen, oder ihr zumindest eine Nachricht zu schreiben, aber ich tue es nicht. Ich fürchte mich davor, dass sie nicht rangeht oder nicht antwortet, oder falls doch, was sie antwortet. Ich möchte kein weiteres Mal angelogen werden und ich möchte sie eigentlich auch nicht anlügen. Juli lügt mich an und ich betrüge sie, denke ich, wie konnte das bloß passieren. Zum Glück bin ich aktuell einigermaßen außerstande, mich in die Angelegenheit hineinzusteigern. Vielleicht doch erst mal ein bisschen schlafen, beschließe ich, und dann weitersehen.
„War das jetzt richtig?“, fragt Levin.
„Ja“, antworte ich, „die Ableitungsfunktion hat keine Definitionslücken.“
Ich tippe mit dem Stift auf den Zettel.
„Also kann das Vorzeichen nur bei den Nullstellen wechseln?“
„Genau“, sage ich und nicke.
Eigentlich hatte ich dem Hof heute fernbleiben wollen, aber ich habe Levin versprochen, ihm beim Lernen für seine Prüfungen zu helfen.
„Vielleicht krieg ichs ja doch noch hin“, seufzt er und reckt sich.
„Sieht so aus“, bestätige ich, „das war doch fast alles richtig. Willst du nicht mal Schluss machen für heute?“
„Eine Aufgabe mach ich noch“, gibt er zurück.
„Ich muss gleich zum Studio, Juli abholen“, erkläre ich, „kommst du klar?“
Er nickt.
„Ach ja“, erinnert er sich, „das Tattoo. Was kriegt sie noch mal? Einen Vogelkäfig?“
„Ja“, erwidere ich, „am Handgelenk.“
Ich würde ihn gern fragen, wie es gestern noch war, ob ich was verpasst habe oder irgendwas, aber das kommt mir wieder komisch vor, als hätte ich einen Verdacht oder wollte etwas herausfinden. Vielleicht sagt er ja von selbst etwas. Bitte, denke ich, bitte sag doch irgendwas über gestern.
„Lange bleib ich heute nicht mehr.“ Er gähnt. „Kommt ihr gleich noch mal wieder?“
„Nee“, ich schüttle den Kopf, „wohl nicht.“
„Nele kommt heut auch nicht“, fügt er hinzu.
Das wird nichts mehr, denke ich, wenn ich nicht direkt frage.
„Okay“, sage ich und stehe auf, „ich mach mich dann mal auf den Weg.“
„Grüß mal Sascha“, Levin grinst, „der ist echt … nett.“
„Aha“, sage ich, „ja, mach ich.“
„Also, jetzt echt“, er grinst immer noch. „Weißt du, woran mich das erinnert?“
„Was?“, will ich wissen und habe keine Ahnung, worauf er hinaus will.
„An dich.“ Er lehnt sich zurück und pustet sich ein paar Strähnen aus der Stirn.
„Aha“, wiederhole ich.
Was, denke ich, orakelt der hier rum?
„Sascha war letztens hier“, rückt er endlich mit einem Hinweis raus, „da hab ich ihm das erste Mal Blut gespendet. Mann“, grinst er noch breiter, „das war echt … Ihr macht das irgendwie, keine Ahnung, irgendwie anders.“
Ha!, denke ich, das kann ich mir vorstellen.
„Ah“, mache ich unbestimmt und nach wie vor etwas espritlos.
„Schade“, fährt er fort, „dass ihr das nicht mal gegenseitig … Wo ihr schon zusammen wohnt.“ Er lacht. „Aber das geht ja bei euch beiden nicht. Seid ihr vielleicht verwandt oder so?“ Er lacht noch einmal.
„Schwer zu sagen“, entgegne ich und muss nun auch lachen. „Tja, da kann ich leider wirklich nicht mitreden …“
Und wie ich da mitreden kann, denke ich, ich kann da aber so was von mitreden, ich weiß haargenau, was du meinst, ich sollte das jetzt allerdings nicht vertiefen, innerlich. Oh Gott! Saschas Lippen an der etwas unerfreulichen Wunde an meinem Arm, herrje, herrje. Meine Güte.
„Wenn du noch was wissen willst“, wechsele ich sicherheitshalber das Thema und drücke die Türklinke herunter, „ruf einfach an.“
„Okay“, nickt er, „danke“, und wendet sich wieder seinen Matheaufgaben zu.
Unten an der Treppe begegne ich Stefan und Timo mit den beiden Neuen. Kurz muss ich überlegen, was sie hier zu suchen haben.
„Ach, das ist ja gut, dass du gerade da bist“, scheint Stefan sich zu freuen, na, wenigstens einer, denke ich, der sich freut, wenn er mich sieht. „Das sind Maike und Leonie“, stellt er die beiden vor, „und das ist Vico, ich weiß gar nicht, ob ihr schon miteinander gesprochen habt.“
„Doch, kurz“, Maike streckt die Hand aus, Leonie ebenfalls. Leonie ist ziemlich groß und ziemlich blond und vielleicht Anfang zwanzig, Maike scheint in meinem oder Stefans Alter zu sein.
„Wir wollten ihnen ja schon mal sagen, wie wir uns entschieden haben“, erklärt Timo.
„Das weiß er doch“, sagt Stefan und schenkt Timo ein nachsichtiges Lächeln.
„Ich freu mich“, behaupte ich und drücke zuerst Leonies und dann Maikes Hand.
„Wir wollten uns gerade verabschieden.“ Timo sieht mich an.
Ich blicke zurück, direkt in seine graugrünen Augen. Jetzt ein paar telepathische Fähigkeiten, denke ich, das wär doch mal was.
„Ich mich auch“, entgegne ich und mache hoffentlich ein freundliches Gesicht, „ich hab nur kurz Levin beim Mathelernen geholfen.“
„Oh“, macht Leonie und dreht mit zwei Fingern an ihrem Zopf, „Mathe fand ich immer schwierig …“
„Vico muss das können“, bemerkt Stefan sehr nett, „er ist Informatiker, da kommt man um Mathe nicht herum.“
„Toll“, findet Maike, „Informatik kann man ja heutzutage immer gut gebrauchen.“
„Na ja“, relativiere ich, „passt schon.“
Das sind ja lustige neue Spinner, denke ich. Wenn das mal bloß nicht alles überhandnimmt.
„Fährst du jetzt zum Studio?“, erkundigt sich Timo und lehnt sich gegen das Treppengeländer.
„Exakt“, antworte ich knapp und setze mich in Bewegung.
„Dann pass aber auf, wenn du nicht alleine im Wagen bist“, ergänzt er halblaut, sodass die anderen unwillkürlich ein bisschen die Ohren spitzen müssen, wenn sie nichts verpassen wollen. Ich drehe mich um und sehe ihn fragend an. „Ich meine, wenn du was getrunken hast“, spricht er weiter. „Ich fand es gut, dass gestern Sascha gefahren ist, aber …“ Er sieht einmal nach rechts und einmal nach links, „heute ist er ja nicht da.“
Stefan zieht skeptisch die Brauen zusammen.
„Keine Sorge“, sage ich und lächle in die Runde, „ich bin nicht besonders risikofreudig.“
Vico << [wenige Wochen zuvor]
„Es ist nur für zwei Wochen“, erklärte ich, „dann kann ich das Zimmer haben.“
„Ich finds gar nicht schlimm“, strahlte Julia, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss.
Hoffentlich findest du das auch noch, wenn ich dir erst mal ein paar Tage auf den Sack gegangen bin, dachte ich und bekam sofort Kopfschmerzen.
Es ist nicht so, dass wir es nicht vorher schon mal versucht hätten mit dem gemeinsamen Einschlafen und Aufwachen, Julia ist ja sehr leidensfähig und hat sich nicht beschwert, aber besonders romantisch war das alles nicht.
Ich ließ mich auf ihr Bett fallen. Über dem Kopfende hing ein weißes, mit getrockneten Rosenblüten verziertes Moskitonetz. Sie hatte die Wände ihres mikroskopisch kleinen Schlafzimmers dunkellila gestrichen, es war deprimierend.
„Eigentlich find ich es sogar gut“, sagte sie und setzte sich neben mich.
„Echt?“, fragte ich.
„Ja, echt“, bekräftigte sie, „warum glaubst du mir das eigentlich nie?“
Sie sah mich an, sehr hübsch sah sie aus und sehr aufrichtig.
„Ach“, sagte ich.
Julia wusste so ziemlich alles über mich, mit einer wichtigen Ausnahme, versteht sich. Erschreckend, dachte ich, was da im Laufe der letzten zwei Jahre so zusammengekommen ist. Oder fast zweieinhalb, mittlerweile. Fast zweieinhalb Jahre, während der sie einigen Scheiß miterlebt und anderen Scheiß von mir persönlich erfahren hatte, und trotzdem war sie noch da. Das war das Verrückte: Sie war einfach geblieben. Sie kannte sogar fast die ganze Valeri-Geschichte und auch, wie es dazu gekommen war. Sie wusste sehr viel. Sie sollte vielleicht nicht so sehr viel wissen, dachte ich, aber jetzt kann man es nicht mehr ändern. Man hätte sie nicht unterschätzen dürfen, und verlieben dürfen hätte man sich auch nicht.
Ich zog die Füße auf die Matratze, rückte das Kissen unter dem Moskitonetz zurecht und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Julia rollte sich neben mir zusammen und fuhr mit dem Finger meinen Oberarm entlang, von der Schulter bis zum Ellbogen und wieder zurück.
„Ist das eigentlich dunkel genug?“, erkundigte sie sich.
Auf dem kleinen Nachttisch mit den geschwungenen Beinen brannten ein paar Windlichter, die schwarzen Vorhänge vor dem Fenster waren fest zugezogen. Ohne die Kerzen war es dunkel wie in einem verdammten Grab. Und die lila Wände konnten einen echt fertigmachen.
„Ja“, sagte ich und musste lachen, „auf jeden Fall.“
„Dann ist ja gut“, lachte sie mit.
Die Tageslichtunverträglichkeit war offiziell ein Symptom meiner rätselhaften und seltenen Autoimmunerkrankung, ich hatte lange Zeit gedacht, dass kein Mensch eine dermaßen dämliche Ausrede glauben würde, fadenscheinig und vorwandmäßig wie sie war, aber Julia hatte das nie infrage gestellt, nicht ein einziges Mal.
„Das Zimmer ist ganz in der Nähe“, erklärte ich, „fünf Minuten mit dem Auto.“
„Dann wird jetzt“, erwiderte sie, „alles gut, oder? Es wird alles viel besser. Ich geh bald auch wieder zur Uni, hab ich mir überlegt.“
Sie rückte näher an mich heran und schob ihre Hand unter mein T-Shirt, strich mit den Fingerspitzen über meinen Bauch und über meine Rippen, kehrte um und ließ zwei Finger unter meinen Gürtel wandern. Mein Atem beschleunigte sich. Sie wusste, was zu tun war, und manches Mal hatte ich schon gedacht, dass es in dieser Hinsicht nur wenig Steigerungsmöglichkeiten gab. Man sah es ihr nicht gleich an, weil sie schüchtern wirkte und verspannt und immer ein bisschen entrückt, doch das hatte alles nichts zu sagen, sie wusste Bescheid, und sie gefiel mir. Sie blickte auf und lächelte, man käme nicht auf die Idee in so einem Moment, dachte ich, dass sie meistens unglücklich ist, dass sie es wieder nicht schaffen wird mit der Uni und wahrscheinlich nicht einmal mit der Therapie, dass sie zu wenig isst und im Verhältnis dazu zu viel trinkt, und dass sie immer mehr Blut abgibt, als sie sollte. Ich legte den Arm um sie und tastete nach dem Reißverschluss ihres Kleides, ich wollte sie gern anschauen, ich wollte sehen, wie ihr die Haare auf die nackten Schultern fielen, und ihre schmale Taille betrachten und ihre durchscheinend helle Haut mit den vielen Narben. Ich will sie doch gar nicht ausnutzen, dachte ich, ich wollte auch Levin nicht ausnutzen, eigentlich, so hatte ich das nicht gemeint, nicht so ernst jedenfalls, es hatte sich bloß alles so ergeben, das war alles falsch. Sie hatte unrecht, es würde nichts gut und nicht einmal besser werden, im Gegenteil, zwei schlimme Wochen würden es werden, weil wir eben kein normales Leben führten, weil sie magersüchtig war und depressiv und sich die Zeit mit lauter irren Dingen vertrieb, die wahrscheinlich gar nichts für sie waren, weil sie keinen Spaß daran hatte, zumindest nicht so wie die anderen, und weil es um mich selbst nicht besser stand, nur mit dem Unterschied, dass die irren Dinge für mich unerlässlich waren, was die Sache natürlich nicht vereinfachte, im Gegenteil. Aber vielleicht konnte man sich retten, oder sogar einander, für eine begrenzte Zeit, für eine Stunde zum Beispiel oder einen Tag, und dann hatte ich sie aus ihrem Kleid befreit und sie machte sich an meinem Gürtel zu schaffen und man hätte meinen können, es würde doch noch alles gut.
Wurde es natürlich nicht. Es wurde allerdings auch nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte, wir vertrugen uns ganz gut, obwohl wir uns so oft sahen, das taten wir eigentlich schon die ganze Zeit, was mich immer noch ab und zu wunderte. Da sie keine Verpflichtungen hatte, war Julia passenderweise eine Spätaufsteherin vor dem Herrn, sodass sie ganz mühelos mit mir zusammen die Nacht zum Tag machte. Abends fuhren wir meistens zum Hof, damit man mal rauskam. Wenn ich arbeiten musste, zeichnete sie, sie zeichnete sehr schön, Landschaften und Blumen und Tiere und Entwürfe für Janis’ Tätowiererkollegen im Studio, dort hatten sie ihre Zeichnungen sogar schon ausgestellt.
Bloß mit dem Schlafen haute es nicht hin. Julia konnte gut einschlafen, wenn sie erschöpft genug war, aber sie wachte bei der leisesten Störung auf. Und die Störung war leider bevorzugt ich. Ich wurde ständig wach, weil es zu warm oder zu kalt war, weil ich Albträume gehabt hatte und daraufhin Schüttelfrost bekam, weil ich glaubte, ein Geräusch gehört zu haben oder keine Luft zu bekommen, oder weil sich einfach so, aus heiterem Himmel oder aus einem weiteren Albtraum heraus, Panik und Paranoia einstellten. Dann war es mir zu dunkel und ich machte Licht, wollte etwas zu trinken oder ein paar Pillen oder beides, und das ganze Elend ging von vorn los, in etwas weniger turbulenter Weise. Das war, man kann es nicht anders sagen, nicht zum Aushalten, für niemanden, aber Julia blieb tapfer. Manchmal beneidete ich sie um ihr Talent, sich willentlich in jede noch so schlimme Situation zu fügen, mir ging das völlig ab, ich konnte mich mit nichts abfinden, und noch dazu genierte ich mich ganz fürchterlich.
Eigenartigerweise war das alles erst richtig losgegangen, als ich schon eine Zeitlang von Valeri weg war, oder es war mir vorher einfach nicht aufgefallen, weil ich mich gründlich genug abgeschossen hatte, aber das ist auf die Dauer nichts, man will ja zwischendurch auch mal klar denken können.
Geändert hat sich daran jedenfalls nicht viel, ich bin am Tag also lieber mit mir selbst allein.
Vico >> [jetzt]
„Sieht schön aus“, finde ich und betrachte die feinen, schwarzen Linien, aus denen der verschnörkelte Käfig an Julias Handgelenk besteht. Darin hockt scheinbar singend ein winziges Vögelchen.
Die Stelle fällt dann ab sofort schon mal flach für weitere Ritzereien, denke ich, vielleicht sollte sie sich häufiger tätowieren lassen. Außerdem lenkt das Bild von den Narben ab.
„Find ich auch“, Julia strahlt, „das ist super geworden, noch mal dankeschön, Patrick!“
Patrick, einer der drei Tätowierer, Chef des Studios und neben Janis der Einzige, der noch da ist, weil beide mit Saubermachen dran sind, nickt erfreut.
„So kleine Sachen kann Patrick total gut“, erklärt Janis und wischt einen Tisch mit Desinfektionslösung ab. Das Studio ist groß, sauber und etwas überladen mit barocker Deko.
„Ich mach dir da jetzt noch einen Folienverband drauf“, erläutert Patrick und schneidet ein Stück Pflaster zurecht, „sonst hab ich ja schon alles erzählt. Steht auch alles noch mal auf dem Zettel.“
Julia streicht versonnen über den durchsichtigen Verband und nickt. „Dann halten wir euch jetzt mal nicht länger auf.“ Sie legt den Arm um meine Hüften und hakt den Zeigefinger in eine Gürtelschlaufe. Ich öffne die Tür.
„Wir besprechen das dann noch“, ruft Janis ihr nach.
„Ja“, ruft Julia zurück und winkt.
„Was“, frage ich sie draußen, „besprecht ihr noch?“
„Ach“, sagt Julia und steigt ins Auto, „Timo hatte die Idee, dass er doch mal fragen könnte, ob ich nicht vielleicht hier lernen könnte.“
„Was“, frage ich schon wieder, „tätowieren?“
Julia nickt. „Echt komisch, dass ich da nicht schon mal selbst drauf gekommen bin.“
Ich starte den Motor.
Jetzt, denke ich, könnte sie doch sagen, dass sie bei ihm zu Hause war.
Sie sieht mich an.
„Was meinst du dazu?“, fragt sie.
„Ja“, antworte ich, bin aber nicht ganz bei der Sache, „warum nicht?“
„Ich war gestern noch kurz bei Timo zu Hause“, sagt sie, „und der Patrick war auch kurz da.“
Oh Gott, denke ich, endlich. Sie hat es gesagt. Ich bin schrecklich erleichtert.
„Hm“, mache ich.
„Timo hat gemeint, dass ich das bestimmt könnte. Er hat mich ermutigt“, sagt sie und blickt auf den hübschen Vogelkäfig.
Irgendetwas stimmt trotzdem nicht, denke ich. Irgendwas stimmt nicht.
„Er will aber auch noch mal mit den andern sprechen“, fügt sie hinzu.
„Wer“, frage ich, „Patrick?“
„Nein“, widerspricht sie, „Timo. Ist doch nett, dass er sich dafür einsetzt, oder? Hätte ich gar nicht gedacht.“
Irgendetwas stimmt nicht, denke ich erneut.
„Ja“, sage ich.
Sie lässt sich gegen die Kopfstütze ihres Sitzes sinken und schließt die Augen.
„Ich glaub, ich geh heute mal früh schlafen“, erklärt sie.
„Ja“, stimme ich zu, „das ist bestimmt nicht verkehrt.“
Als ich sie vor ihrer Wohnung absetze, verabschiedet sie sich mit einem langen Kuss, wie immer. Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht in Ordnung ist, und zwar etwas Wesentliches. Ich komme bloß nicht dahinter, was das sein könnte.
„Hey“, begrüße ich Sascha, wir sehen uns heute zum ersten Mal, weil ich schon so früh mit Levin verabredet war. Er sitzt in der Küche und ist mit einem seiner Handys beschäftigt. Meistens ist er um diese Zeit unterwegs, ganz kurz, aber wirklich nur ganz, ganz kurz überlege ich, ob er gewartet hat. Ich hatte ihm eine Notiz hinterlassen, dass ich nicht lange weg sein würde.
„Ich hab was mitgebracht“, grinse ich und packe eine Tüte Weingummifledermäuse und eine Tüte Draculagebisse aus.
„Ha“, lacht Sascha, „coole Sache.“
„Mir war nach Zuckerflash“, erkläre ich, lehne mich gegen den Tisch und reiße die Fledermäusepackung auf.
Ich halte ihm die Tüte hin und er greift hinein. Es ist noch relativ früh, er trägt schon wieder keinen Kajal, auch kein Halsband und keine Gürtel, es sieht aus, als wollte er heute zu Hause bleiben.
„Man kann froh sein“, findet er, „dass man nicht mit so was in der Visage rumlaufen muss.“ Er tippt auf die rosaweißen Gebisse.
„Obwohl es wahrscheinlich Eindruck machen würde“, lache ich.
„Ja“, stimmt er zu und öffnet die Verpackung, „einen irren.“
„Aber ein paar übersinnliche Fähigkeiten wären schon nützlich“, werfe ich ein und setze mich auf die Tischplatte.
Trotz des schwer zu fassenden schlechten Gefühls wegen Julia bin ich immer noch erleichtert. Sie hat es immerhin gesagt, denke ich, sie hat gesagt, dass sie bei Timo war. Und dann fällt mir ein, was nicht stimmt. Sie hat nicht gesagt, wo sie geschlafen hat. Ist sie mit Timo noch mal zum Hof zurückgefahren? Oder hat er sie nach Hause gebracht? Oder eben – nicht?
„Gedankenlesen ist wahrscheinlich gar nicht mal so lustig, wie man meint“, spekuliert Sascha und verzehrt ein Gebiss, „ich meine, will man wissen, was alle so über einen denken?“
„Nee“, sage ich, „ich nicht. Da ist bestimmt nicht viel Schönes dabei.“
Sascha legt den Kopf schräg, lacht und sieht mich an. „Manchmal wär es aber vielleicht ganz hilfreich.“
Für einen Moment frage ich mich, ob er etwas Bestimmtes meint oder jemand Bestimmtes. Oder mich. Ich sehe weg und verdränge das schnell.
„Früher wollte ich das immer können“, er stützt sein Kinn in die Hand, während die andere gar nicht weit entfernt von meinem Bein auf dem Tisch liegt. „Gedankenlesen. In der Schule.“
Es ist angenehm, denke ich, dass man hier einfach so sitzen kann, nicht weit entfernt voneinander. In der Küche ist es warm und behaglich und es riecht nach Weingummi und Heizung und ein kleines bisschen auch nach Sascha. Ich bin froh, dass er nicht Gedankenlesen kann.
„Ah, Scheiße“, sage ich, „Schule war irgendwie nichts für mich.“
„Nee“, sagt er, „für mich auch nicht. Manche hatten ja Spaß dran.“
„Ach“, sage ich, „nee. Ich hab mal gewechselt, das war alles nicht so … glücklich. Zum Ende hin gings vielleicht“, ich denke an früher und schaue ihn an, „da hab ich auch ganz gerne gekokst ab und zu.“ Ich muss schon wieder lachen. „Aber auf die Dauer war das nichts. Das macht mich irgendwie nervös.“
„Verstehe“, grinst Sascha.
„Weißt du“, beginne ich, obwohl ich das gar nicht vorgehabt hatte, „ich bin froh, dass du hier wohnst. Und nicht irgendwer anders. Ich find das ganz gut so.“ Er sieht mich aufmerksam an und schweigt. „Das wollte ich bloß mal sagen.“
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