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Hinter dem Regenbogen

Weihnachtschallenge 2009

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Von Feen, Elfen, Gangster-Rappern und der ganz großen Liebe

„Autsch!“ Mühselig rappelte sie sich wieder vom Boden auf. „Scheiß Blitzeis!“

Vor Wut schäumend schmiss sie das Regal mit den Weihnachtskeksen um.

Mich immer noch vor Lachen krümmend, half ich der Fee vom Boden auf.

„Dir ist schon klar, dass es hier im Supermarkt kein Blitzeis gibt, ja?“

„Willst du jetzt anfangen, mit mir rumzublödeln?“, fauchte Rosalie und zog sich theatralisch an meiner Hand empor.

„Würd mir im Traum nicht einfallen. Hinterher hext du mir noch mein Glied weg, oder so.“

„Hast du wieder im Hexenhammer geschmökert?“, schüttelte sie den Kopf.

„Ja, aber nur, weil ich nicht schlafen konnte.“

„Aha“, schnaufte sie und warf eine Packung Spekulatius in meinen Einkaufskorb. Sie landete neben der Flasche Glühwein, die sie vor ihrem Sturz hineingestellt hatte. „Jedenfalls mache ich so was schon seit Jahren nicht mehr.“

„Puh, da bin ich aber erleichtert.“

„Obwohl es mir dein Glied sicher danken würde, wenn es mal eine Weile zur Ruhe käme“, erklärte sie schnippisch und stolzierte zur Kasse.

Rosalie war natürlich in echt gar keine Fee, obwohl sie es immer wieder behauptete. Aber erstens glaubte ich nicht an die reale Existenz irgendwelcher Märchengestalten und zweitens war an ihr nichts Feenhaftes. Sie hatte weder Flügel, noch Zauberstab, noch Benehmen. Nur lange, goldblonde Locken, doch das war für mich kein Beweis. Sie hatte sich vor ungefähr sechs Monaten auf meine Annonce gemeldet … ich suchte einen Mitbewohner … und gleich ihre gesamten Habseligkeiten im Schlepptau gehabt, also hatte ich ihr das Zimmer gegeben.

„Mein richtiger, echter Feenname ist Rosalinda Red“, pflegte sie zu sagen, wenn sie einige Schnäpse intus hatte, dann kamen meist alkoholumnebelte Geschichten aus einer anderen Welt. Na ja.

Sie war zwar verrückt, jedoch sicher nicht gefährlich, wie beispielsweise ein Serienkiller, mit dem man Tür an Tür haust. Ich mochte sie und sie bezahlte pünktlich ihren Anteil der Miete.

„Ich finde, was ich mit meinem Glied mache, geht dich überhaupt nichts an“, bemerkte ich grimmig.

Der nach-Hause-Bus hielt an, wir stiegen ein und quetschten uns auf einen freien Sitz.

„Das finde ich auch. Leider machst du es überall und ständig. Ich sag dir, Erik, das ist nicht normal.“

Du meine Güte … bloß weil sie mich einmal beim Wichsen unter der Dusche überrascht hatte. Was hatte sie aber auch so unangemeldet hereinplatzen müssen?! Außerdem redete sie schon wieder so laut, dass es der gesamte Bus mitbekam.

„Normal bist du ja wohl auch nicht.“

„Das ist was anderes. Ich meine es doch nur gut mit dir. Wenn du es jetzt mit der Onanie dermaßen übertreibst …“

Eine Dame mit Hut stierte uns mit weit aufgerissenen Augen an. Na supi!

„Kümmern Sie sich bitte um Ihren Kram“, forderte Rosalie sie höflich auf.

Die Dame zuckte zusammen und drehte den Kopf in die andere Richtung.

„Also, wenn du es dermaßen damit übertreibst, du, das gibt schlimme Folgeschäden.“

„Zum Beispiel?“

„Krumme Finger“, prustete sie und krümmte die Finger ihrer rechten Hand. „Irgendwann hast du so’ne Klaue, möchtest du das?“

Zum Glück mussten wir an der nächsten Haltestelle raus und waren einige Minuten später zu Hause.

Als ich die Tür aufschloss, merkte ich, dass irgendwas komisch war. Es roch anders. Und das Licht im Wohnzimmer war an.

„Wieso ist im Wohnzimmer Licht?“, wisperte ich und hielt Rosalie vorsorglich am Arm fest.

„Weil du vergessen hast, es auszumachen“, antwortete sie.

„Nein.“

„Nein?“

„Bestimmt nicht.“

„Oh …“ Eine Spur von Ängstlichkeit war in ihrem Gesicht zu erkennen. „Ich schleiche mich in die Küche und hole ein Messer. Du lenkst die Verbrecher ab“, flüsterte sie.

„Welche Verbrecher?“

„Die im Wohnzimmer.“

„Tolle Idee. Und wenn die mich erschießen?“

„Die haben doch längst gehört, dass jemand in die Wohnung gekommen ist, also wenn sie dich bis jetzt noch nicht erschossen haben … MAGNUS“, kreischte sie plötzlich los. Dann lief sie auf den Mann zu, der jetzt im Flur stand, und umarmte ihn stürmisch.

Der Mann sah aus wie Ice-T. Ich hielt’s im Kopf nicht aus!!

„Prinzessin“, lächelte er und knutschte meine Mitbewohnerin auf den Mund.

„Erik, das ist Magnus, mein Verlobter“, stellte sie ihn mir strahlend vor.

„Und wieso bricht er hier ein?“

„Weil niemand aufgemacht hat“, entgegnete er.

„Und warum weiß ich nix von einem Verlobten?“, fragte ich weiter. „Du hast nie einen erwähnt.“

„Wir führen momentan eine Art Fernbeziehung“, antwortete Rosalie.

„Ja und?“

„Du hast mir den Feenscheiß schon nicht geglaubt. Hättest du mir geglaubt, dass ich weit entfernt einen Verlobten sitzen habe, der aussieht wie Ice-T?“, grinste sie und kuschelte sich an den falschen Gangster-Rapper.

Wahrscheinlich nicht.

Da es draußen bereits dunkel war, zündete Rosalie zwei Kerzen des künstlichen Adventskranzes an, stellte einen Teller mit Spekulatius auf den Tisch und servierte Glühwein.

„Prinzessin“, begann Magnus ernst, „das hier ist kein Gemütlichkeitsbesuch. Es geht um deinen Bru…“

„Später“, zischte sie und schlürfte genüsslich ihr Getränk.

„Meinetwegen. Aber es ist wirklich wichtig. Du weißt ja nicht, was passiert ist, seit du weg bist.“

„Na, was schon? Mein Bruder steckt in Schwierigkeiten.“

„Ich fürchte, es ist alles noch viel, viel schlimmer.“

Von einem Bruder hatte Rosalie logischerweise ebenfalls nichts erzählt. Ob der Typ auch eine Fee war?

„Wie ist eigentlich die männliche Form von Fee?“, kicherte ich angeschickert. „Fee-herich?“

„Sehr witzig, Arschloch“, rülpste Rosalie.

Gegen halb zehn, die eingebildete Fee knutschte gerade nicht besonders jugendfrei mit dem falschen Gangster-Rapper, meldete sich mein Handy mit einer SMS von Kellox. Mein Puls beschleunigte sich sofort und ein angenehmes Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus.

Er wollte mich sehen.

„Ich muss noch mal weg“, sagte ich zu den Knutschenden auf dem Sofa.

„Es ist unnötig, die Flucht zu ergreifen … wir gehen eh gleich in mein Zimmer“, säuselte Rosalie.

Ich stand auf und zog Jacke und Schuhe an.

„Warte mal … Erik, du willst nicht zu diesem … du weißt schon …“

„Doch“, stöhnte ich.

„Hat sein Typ gerade anderweitig zu tun?“

„Gute Nacht!“

Das mit Kellox und mir ging jetzt ein paar Wochen. Wir hatten uns in einer Vorlesung über die „europäische Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit“ kennen gelernt. Ich studierte Geschichte, er zwar Kunstgeschichte, aber das Thema hatte ihn interessiert. Und ich hatte ihn interessiert. Mir gefiel er ebenfalls vom ersten Augenblick an, weil er süß war, schwarze Strubbelhaare hatte und irgendwie nach Independent aussah. Allerdings lastete ein ziemlich gewalttätiger Schatten auf unserer Beziehung … nämlich sein Freund. Aus irgendwelchen Gründen konnte Kellox sich von dem Kerl nicht trennen, obwohl er inzwischen in mich verliebt war. Sein Typ war nicht nur brutal, sondern auch wahnsinnig eifersüchtig, weswegen wir uns heimlich trafen. Selbst Rosalie wusste bloß, dass ich mit irgendwem zusammen war. Sie kannte nicht einmal seinen Namen.

Heute trafen wir uns im Park. Da gab es einen Pavillon, in dem er auf mich wartete. Ich hatte dieses Versteckspiel langsam satt, zumal es heftig zu schneien begonnen hatte.

„Erik!“ Kellox schnuffelte sich in seinen Schal.

„Hallo“, begrüßte ich ihn. „Bekomme ich keinen Kuss?“

Gehetzt drehte er sich nach allen Seiten um und küsste mich.

„Wir … es ist besser, wenn wir uns eine Zeit lang nicht mehr sehen. Ich glaube, er hat Verdacht geschöpft.“

Kellox nannte seinen Typen immer nur „er“.

„Wieso? Hat er was gesagt?“

„So ähnlich“, antwortete er, nahm seinen Pony zur Seite und präsentierte mir ein hübsches Veilchen.

„Ach du Scheiße“, rief ich bestürzt.

„Ja, und wenn er … also … ich will einfach nicht, dass dir … na ja, etwas passiert. Er ist echt zu allem fähig.“

Mir wurde erheblich unwohl. „Du musst zur Polizei“, fand ich.

„Du verstehst das nicht, Erik. Da hängt so viel mehr dran.“

„Was, verdammt? Was kann denn schlimmer sein, als das hier?“, fragte ich und berührte vorsichtig sein buntes Auge.

Kellox drehte sein Gesicht weg. „Du solltest jetzt gehen.“

„Du bestellst mich hierher, nur um mir zu sagen, dass ich gehen soll?“

„Es tut mir leid. Ich hab dich echt lieb und … wollte dich einfach noch mal küssen.“

Er schien so verzweifelt, dass es mir fast das Herz zerriss. Wir küssten uns minutenlang.

Dann steckte er mir einen Elektroschocker in die Jackentasche.

„Für alle Fälle“, lächelte er traurig und ging eilig davon.

Na, jetzt fühlte ich mich doch gleich sicherer … allein in einem einsamen Park, mitten im Schneegestöber.

Der Weg nach Hause war die Hölle. Alle paar Sekunden blickte ich mich um, darauf gefasst, dass mich irgendein fremder Kerl abmurksen würde, weil ich mich in seinen Freund verliebt hatte und er sich in mich. Die Straßen waren menschenleer, aber zum Glück war es durch die glitzernde Schneeschicht, die alles überzog, und die weihnachtliche Beleuchtung der Schaufenster nicht stockduster. Plötzlich hörte ich knirschende Schritte hinter mir und gleich darauf war eine Person neben mir.

„Erik“, lächelte der Mann ein wenig überrascht, „so ein Zufall.“

„Äh … Professor Reinhard … äh … guten Abend“, brabbelte ich.

Er war Geschichtsprofessor an der Uni, an der ich studierte.

„Deine Hausarbeit hat mir gut gefallen“, sagte er.

„Ja, äh, danke.“

Er blieb stehen und legte mir eine Hand auf die Schulter, sodass ich ebenfalls stoppen musste.

„Ich weiß Bescheid, Freundchen“, zischte er böse.

Ach ja? Ob der sich heimlich einen gezwitschert hatte?!

„Wie bitte?“

„Über dich und Kilian.“

Er meinte Kellox, das war nämlich sein richtiger Name. Allerdings, was zum Arsch ging es meinen Geschichtsprofessor an, mit wem ich …

„Seit Wochen treibt ihr es schon, mh?“

Das wurde ja immer schöner! War der komplett durchgeknallt??

Ich blickte kurz auf die Straße und das herannahende Auto, um mir eine passende Antwort für den Irren zu überlegen, als ich einen Aufprall spürte und alles dunkel wurde.


„Jungchen … alles in Ordnung mit dir?“, rief jemand.

Ich öffnete mühsam die Augen. Über mir schwebte ein Gesicht. Und noch eins. Und noch eins. Und dann ganz viele fremde Gesichter.

„Macht doch mal Platz“, forderte die erste Stimme.

„Das ist ja ein schöner Schlamassel. Ausgerechnet heute. Ist er hin?“

„Nein, Majestät, er atmet noch und hat die Augen geöffnet.“

„Dann soll er gefälligst aufstehen. The show must go on, nicht wahr, mein Sohn?!“

„Majestät, mit Verlaub, ich bin nicht Euer Sohn.”

Was zum Teufel …?

Ich wurde hochgezogen und auf die Füße gestellt. Der Mann, der mir half, sah aus wie ein bekannter Schlagersänger und trug einen silbernen Anzug. Neben ihm stand … ein König.

Wirklich. Er war bekleidet mit altmodischen Kniehosen aus schillerndem Bronzestoff, einem Brokatwams und Schnallenschuhen. Dazu hatte er einen roten Umhang um und eine goldene Krone auf dem Kopf. Sicher kamen die von einer Faschingsparty. Oder einem Kostümfest. Im Hintergrund stand ein Gefährt, das in groben Zügen an ein Raumschiff erinnerte. Die bunten Buchstaben, die daran angebracht waren, besagten „Suchard-Express“.

Ich bin vielleicht doch tot, dachte ich schnell, und das hier, das ist wahrscheinlich das Jenseits!

Au Backe!!

„Mein Sohn“, begann der König vergnügt, „tritt zur Seite, du behinderst die Feierlichkeiten.“

Ich trat zur Seite. Um mich herum hatten sich sehr viele Menschen hinter Absperrungen aufgestellt. Sie waren alle ähnlich gekleidet … Knickerbocker und dreiviertelärmlige Patchworkpullover. Sie schwenkten kleine bunte Fähnchen.

Es ertönte Musik, der Anzugträger schnappte sich ein Mikrofon und begann „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ zu schmettern. Hinter ihm wedelten Cheerleader-Mädchen mit ihren Puscheldingern. Die Menge klatschte begeistert.

„Köstlich, dieser Atari“, klatschte auch der König begeistert, „einfach köstlich.“

Ich lief weg.

Irgendwohin.

„He, du … warte mal!“

Die Stimme kannte ich.

„Rosalie!“

Meine Mitbewohnerin sah mich verdutzt an. „Du kommst nicht von hier, oder? Denn dann wüsstest du, dass man eine Prinzessin nicht einfach so vertraulich bei ihrem Kosenamen nennt.“

„Prinzessin?“, fragte ich blöd.

„Prinzessin Rosalinda Red“, nickte sie. „Dass du mich nicht kennst, ist noch ein Zeichen, dass du hier fremd bist.“

„Fremder geht’s nicht“, murmelte ich. „Was, bitte, ist hier los?“

„Wir feiern unseren Jahrestag, wie jedes Jahr um diese Zeit. Als Höhepunkt gibt sich der Entertainer Joshua Atari die Ehre. Du bist eben mit seinem Suchard-Express zusammengekracht. Pass bloß auf, dass er dich nicht für eventuelle Schäden haftbar machen will.“

„Ich verstehe kein Wort. WO bin ich? Und wer seid ihr?“

„Prinzessin Rosalin …“

„Ich meinte, ihr alle“, unterbrach ich sie.

„Hä? Wie, wer wir sind? Die Bewohner dieses Landes. Das da vorne ist mein Vater, der Feenkönig Mustafa.“

„Mustafa?“, wiederholte ich entgeistert. „Dein Vater heißt König Mustafa?“

„Ja, wie denn sonst? Sein Vater hieß genauso. Und sein Großvater, Urgroßvater … Mustafa ist der traditionelle Feenkönigname.“

„Wie heißt denn deine Mutter? Ayse?“

„Meine Mutter ist schon lange tot.“

„Das tut mir leid.“

„Kannst ja nix dafür. Paps hat dann die Frau da neben ihm geheiratet.“

Die Frau hatte langes, rotes Haar und trug ein grünes Gewand im Mittelalter-Style.

„Aha.“

„Ja. Das ist Königin Waldmeister.“

Ich bekam einen hysterischen Lachanfall.

„Du kommst wohl von sehr weit her, was?“, bemerkte Rosalinda schnippisch.

„Offensichtlich. Und ich habe nicht die geringste Ahnung … ich meine … ist das hier das Jenseits?“

„Äh … nein?“, schlug sie vor.

„Stimmt vermutlich, denn sonst wärst du ja auch tot. Gott, ich begreife das alles nicht.“

Verzweifelt rieb ich meine Stirn und raufte mir die Haare.

„Wahrscheinlich hat dich der Zusammenstoß mit dem Suchard-Express durcheinandergebracht. Warum gehen wir nicht in den Palast und du ruhst dich etwas aus?“

Eine gute Idee. Ausruhen schadete bestimmt nicht.

Der Palast war im Großen und Ganzen ein solides Märchenschloss mit Dienstpersonal und uniformierten Wachen überall. Die Korridore waren mit rotem Teppichboden ausgelegt, an den Wänden waren Seidentapeten. Das Interieur wirkte recht verschwenderisch. Sehr viel Gold und Kitsch. Die bunten, üppig verzierten Porzellanlüster unter den Decken erinnerten an den legendären Märchenkönig Ludwig II.

Rosalindas Zimmer war original das einer Prinzessin: rosa, pink, glitzernd und plüschig.

Mir taten schnell die Augen weh.

Sie verfrachtete mich auf ihr Himmelbett und klingelte mit einem Glöckchen. Ein Diener erschien augenblicklich.

„Etwas zu essen und zu trinken“, befahl sie freundlich, „etwas, das meinen Gast kräftigt.“

„Sehr wohl.“ Der Diener verbeugte sich und verschwand.

„Du hast eine Beule am Kopf“, stellte sie fest, „Momentchen …“ Sie lief ins angrenzende Badezimmer, kam zurück und legte mir einen feuchten, pinkfarbenen Waschlappen auf die Stirn.

Okay, also wenn ich nicht tot war, was zum Geier war dann passiert? Diese Frage beschäftigte mich ungemein während des Essens. By the way, man servierte mir ein schmackhaftes Hühnersüppchen, etwas Brot und ein großes Glas Himbeerbrause. Jedenfalls erzählte ich Rosalinda, woran ich mich erinnern konnte, bevor ich mit diesem Raketendings zusammengeprallt war.

Die Prinzessin runzelte die Stirn. „Wir werden den alten Coelestin befragen. Der weiß einfach alles. Gleich morgen gehen wir zu ihm.“

Schwungvoll wurde die Tür geöffnet und König Mustafa trat ins Zimmer.

„Die Wachen haben mir soeben mitgeteilt, dass du einen Fremden in dein Zimmer gebracht hast, mein Sohn.“

„Paps, also … ich bin nun wirklich nicht dein Sohn“, regte Rosalinda sich auf.

„Trotzdem erwarte ich zu erfahren, was es mit diesem Fremden auf sich hat.“

„Dazu werden wir morgen den alten Coelestin befragen.“

„Ach ja, wie wundervoll. Und bis dahin hat der Kerl uns alle umgebracht, weil er ein von Arkadius geschickter Spion und Totschläger ist, was? Der sieht doch schon aus wie der typische Brunnenvergifter. Die Verschlagenheit steht im praktisch ins Gesicht geschrieben.“

„Pillepalle.“

„Rosalinda, wir müssen vorsichtig sein“, warnte der König.

„Er ist aber kein Spion.“

„Sondern?“

„Das weiß ich auch nicht.“

„Ich werde auf alle Fälle eine Wache vor deiner Tür postieren. Nein, nicht Magnus. Da schnackselt ihr sonst wieder die ganze Nacht. Das schickt sich doch nicht, Mädchen.“

Magnus?! Das klang vertraut.

„Magnus und ich sind verlobt, Paps.“

Nachdem Mustafa gegangen war, hatte ich mehrere Fragen.

„Warum könnte ich ein Spion sein und wer ist Arkadius? Und warum nennt dein Vater alle Leute ’mein Sohn’?“

„Ist so eine Angewohnheit von ihm. Denk nicht weiter drüber nach“, entgegnete sie. „Alles Weitere später. Du solltest jetzt ein bisschen schlafen.“


Ich hatte erstaunlich gut geschlafen und war gerade dabei, aufzuwachen, als ich merkte, dass sich jemand über mich gebeugt hatte.

„Kellox“, murmelte ich überrascht.

„Möchtest du Cornflakes zum Frühstück?“, fragte der Junge.

Offensichtlich war ich noch immer nicht in die Realität zurückgekehrt, denn der Junge sah meinem Freund zwar ähnlich, aber es gab doch einige bizarre Unstimmigkeiten. Erstens hatte er rotorange Haare und zweitens lugten aus dem verstrubbelten Schopf zwei spitze Ohren. Außerdem trug er eine Art Peter Pan-Outfit, das mit silbernen Ketten, Sicherheitsnadeln und Buttons versehen war. Und er roch blumig.

„Der geheimnisvolle Fremde, nehme ich an.“

Ich nickte.

„Bist du ein Nihilist?“, fragte er mit hochgezogener Braue. Ein Hauch von Anzüglichkeit lag in seiner Stimme.

„Nicht wirklich.“

„Schade. Ich dachte schon, es würde mal was Aufregendes passieren.“

„Und wer bist du?“

„Mein Name ist Callisto. Ich bin Rosalindas Halbbruder.“

„Aha“, sagte ich und bekam einen Kuss auf den Mund.

Callisto grinste niedlich. „Das war schön“, behauptete er und küsste mich erneut. Diesmal allerdings länger.

Er schmeckte und fühlte sich an wie mein Kellox. Verrückt, dachte ich.

„Callisto“, rief Rosalinda aufgebracht, „hör um Himmels willen endlich auf, alle Leute zu küssen, die dir vor die Nase kommen!“

Schmollend zog er sich zurück, was ich sehr schade fand.

Rosalinda stellte ein Frühstückstablett ab und setzte sich zu mir.

„Beeil dich ein bisschen. Wir müssen gleich los.“

Ach ja, zum alten Coelestin … wer immer das auch sein mochte.

„Du hast also einen Bruder.“

„Halbbruder. Er ist der Sohn von Paps und Waldmeister. Sind dir die Ohren nicht aufgefallen? Callisto ist ein Elfenbastard.“

Ich verschluckte mich prompt an meinem Marmeladenbrötchen.

„Elfen sind hier nicht mehr gut angesehen, du verstehst?“

Ich verstand natürlich nicht.

„Früher, da war alles noch in Ordnung. Feen und Elfen kamen super miteinander aus, aber dann hat mein Vater Arkadius die Frau gestohlen. Das ist seine Version. In Wirklichkeit kann man Königin Waldmeister keinen Vorwurf machen, dass sie lieber bei Paps leben wollte. Arkadius ist böse und gemein. Ein alter Tyrann und Unterdrücker, der sein Volk gegen uns aufhetzt. Ehrlich, die totale Pottsau. Wir hassen ihn. Wir spucken auf ihn“, ereiferte sie sich und rotzte angedeutet auf den Boden. „Deswegen hat Paps ja auch gedacht, dass du ein Spion bist. So was macht Arkadius gerne mal. Seitdem haben wir hier überall Wachen und Militär und so. Bist du fertig? Dann zieh dich an.“

Ehrlich gesagt, ich war fix und fertig!

Außerhalb des Schlosses waren noch deutlich die Überreste der Jahrestagsfeierlichkeiten zu sehen. Auf der großen Wiese lagen Fähnchen, Wimpel und einige besoffene Feen, die ihren Rausch ausschliefen. Die Cheerleader hockten im Kreis und spielten Karten.

„Diese Space-Babes“, schüttelte Rosalinda den Kopf, „sind schon verrückte Hühner. Und wahnsinnig trinkfest. Haben ihren Meister mal wieder völlig unter den Tisch gesoffen.“

Der Meister hing auf den Stufen der Eingangsluke seines Raketengefährts und schnarchte. Jemand hatte ihm ein albernes Papphütchen aufgesetzt und „Esel“ drauf geschrieben.

Rosalinda führte mich über rote Schotterwege, an Bäumen und Wiesen mit blauen und gelben Blumen vorbei. Die Farben waren dermaßen aufdringlich, dass man sich an einen LSD-Trip erinnert fühlte. Wir kamen durch ein märchenhaftes Dorf, das locker als Kulisse für einen Tim-Burton-Film gedient haben konnte, dann gingen wir ein Stück durch den Wald, wo plötzlich ein kleines Haus mit schiefem Dach auftauchte. Aus dem Schornstein stieg Rauch. Eine Bank stand unter dem Fenster. Darauf lag eine Katze schnurrend in der Sonne.

Rosalinda klopfte an die Tür. Es dauerte eine Weile, bis ein alter Mann öffnete. Er war in eine schwarze Kutte gehüllt, trug einen weißen Bart im Gesicht, eine Baskenmütze auf dem Kopf und stützte sich auf einen Krückstock.

„Prinzessin“, röchelte er, „wie schön.“

„Wir brauchen deinen Rat, Onkel Coelestin“, trug Rosalinda ihr Anliegen vor.

„Ich habe euch erwartet“, nickte der alte Coelestin und ließ uns ins Haus.

Im Inneren war es düster und staubig. Über einer Feuerstelle baumelte ein Kessel. An der Wand daneben hing an einer Gardinenstange ein geklöppelter Teppich mit Troddeln. Gegenüber bimmelte gerade eine Kuckucksuhr. Des weiteren gab es ein Bett mit Nachttopf darunter und am Fenster stand ein Holztisch. Wir nahmen auf den Schemeln rundherum Platz. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, bei Heidis Alm-Öhi zu Gast zu sein.

„Tee?“, fragte der alte Coelestin. „Ich hab Fenchel.“

Wir lehnten dankend ab. Der alte Coelestin hingegen genehmigte sich ein Tässchen und schmauchte dabei sein Pfeifchen. Das Kraut, das er hineingestopft hatte, roch würzig, mir wurde beinahe schwumselig.

„Onkel Coelestin, das ist …“, Rosalinda blickte mich hilfesuchend an.

„Erik“, sagte ich.

„Erik. Er weiß nicht, warum er hier ist.“

Der alte Coelestin kam näher und beschnüffelte mich. Dann klatschte er lachend in die gichtigen Hände.

„Der Auserwählte ist da! Der Auserwählte ist da!“

Rosalinda schlug sich die Hand vor den Mund. „Bist du sicher, Onkel?“

„Aber ja, mein Kind. Er ist der Auserwählte. Er wird Arkadius besiegen und uns allen den Frieden schenken.“

Ich bekam es langsam mit der Angst. „Nein, nein“, erklärte ich höflich, „das muss eine Verwechslung sein. Ich bin kein Auserwählter, sondern Erik Wagner.“

„Moment“, ächzte der Alte und kramte aus einer Truhe ein vergilbtes, zerfleddertes Schriftstück. „Hier steht: ein Fremder wird kommen, den bösen Elfenkönig zu besiegen! Du bist ein Fremder. Und du bist hierher gekommen. Die Prophezeiung lügt nicht.“

„Ich bin ja nicht freiwillig hergekommen. Ich bin … aus versehen hier gelandet. Und ich will wieder zurück.“

„Das geht nur, wenn du den bösen Elfenkönig besiegst“, beschloss der alte Coelestin schmunzelnd. „Rumsbums aus die Maus!“

Der Greis hatte offenbar eine gehörige Schraube locker.

„Der Onkel hat Recht“, stieg Rosalinda in den Wahnsinn mit ein. „Wenn du wieder nach Haue willst, musst du zuerst Arkadius töten.“

„Ich töte niemanden“, regte ich mich auf.

„Dann wirst du als Spion verhaftet und selber sterben“, entgegnete der alte Coelestin.

Na gut, der war tatsächlich völlig beknackt, deshalb hielt ich es für klüger, sein Spiel mitzuspielen.

„Ich gehe aber nicht allein zu diesem Arkadius. Ich weiß nämlich nicht, wo der wohnt.“

„Magnus und ich kommen mit“, bot Rosalinda an.

„Eines noch“, hustete der Alte warnend, „bedenke, dass alles, was du tust, Einfluss auf die Ereignisse in der anderen Welt haben könnte.“

„Is gebongt“, zwinkerte ich und glaubte dem Irren nicht die Bohne.

„Und lass dich nicht von fremden Elfenjungs küssen“, rief er mir beim Verlassen des Hauses nach.

„Das wird ein waschechtes, hochgefährliches Abenteuer“, überlegte Rosalinda ernst. „Wir müssen es meinem Vater sagen. Er muss Magnus den Auftrag erteilen, uns zu begleiten.“

„Ja?“

„Natürlich. Meinst du etwa, hier könnte jeder tun und lassen, was er will?“

Zurück im Schloss hörte sich König Mustafa den Bericht seiner Tochter an. Er hockte im Audienzsaal auf seinem goldenen Thron, der teilweise mit dunkelblauem Samt überzogen war. Königin Waldmeister saß neben ihm und bestickte ein Taschentuch. Mustafa schwieg einen Moment, dann winkte er mich zu sich.

„Ich muss schon sagen, mein Sohn, so einen Auserwählten habe ich mir anders vorgestellt. Weniger … mickrig.“

„Entschuldigung, Majestät“, murmelte ich.

„Papperlapapp.“

„Vater, wie wäre es, wenn Magnus ihn begleiten würde?“, lächelte Rosalinda.

„Ja, sicher. Der kennt sich im Gelände aus. Nicht, dass uns der Auserwählte schon auf dem Weg zu Arkadius …“, er spuckte angedeutet auf den Boden, seine Frau tat es ihm nach, seine Tochter ebenfalls und ich schloss mich einfach mal an, „eingeht wie eine Primel.“

„Ist es denn weit zu Arkadius?“, fragte ich und vergaß auch das angedeutete Spucken nicht, was mir Sympathiepunkte einbrachte.

„Ein paar Tage.“

Verdammt, so lange wollte ich gar nicht bleiben. Aber vielleicht bot sich unterwegs die Möglichkeit zu türmen. Zumal ich ja eh nicht vorhatte, den bösen Elfenkönig zu besiegen und dem Feenvolk den Frieden zu schenken. Elfenkönig und Frieden waren mir doch scheißegal.

Leider ging es bereits am nächsten Tag los. Es wurde Proviant eingepackt, Magnus von König Mustafa höchstpersönlich für eine geheime Mission abkommandiert. Wobei, geheim … man wünschte mir verschiedentlich „viel Glück“ und zur Abfahrt hatte sich der Entertainer Joshua Atari mitsamt seinen Space-Babes eingefunden, um einige Liedchen zu trällern. „Junge, komm bald wieder“, sang er hoffnungsvoll zum Abschied. Die Soldaten der Feenarmee schunkelten und klatschten rhythmisch im Takt. Es wirkte alles sehr grotesk.

Magnus. Also Magnus sah aus wie Ice-T, was anderes hätte mich auch gewundert, jedoch trug er kein Gangster-Rapper-Outfit, sondern Bundeswehrklamotten.

„Magnus ist General der Feenarmee“, hatte mir Rosalinda erklärt. „Du brauchst aber nicht vor ihm salutieren, so was ist ihm nicht wichtig.“

In einem alten Unimog, der mit einem Tarnnetz versehen war, machten wir uns auf den Weg. Wobei, Tarnung … das Tarnnetz war glitzernd pink! Als wir ein gutes Stück hinter uns gelassen hatten, erfuhr ich auch, was es mit dem Gefährt auf sich hatte. Hinten auf der Ladefläche krabbelte Rosalinda unter einer Decke hervor und setzte sich fluchend ans Steuer.

„Dein Vater wird mir die Hölle heißmachen, Prinzessin“, grummelte Magnus.

„Wenn Erik die Sache erledigt hat, wird sich mein Vater vor Freude besaufen, dann ist ihm alles egal. Außerdem, nichts gegen dich, Magnus-Schatz, aber niemand außer mir fährt mein Baby. Übrigens haben wir einen blinden Passagier an Bord.“

Ich blickte mich neugierig um, da grinste mich Rosalindas Halbbruder an.

„Bin ich hier im Kindergarten?“, fauchte Magnus. „Ich hab dir gestern fünfmal gesagt, dass du nicht mitkommst, Callisto.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte wie ein kleiner Junge. „Ich will aber auch Abenteuer erleben.“

„Pah, von wegen Abenteuer“, ereiferte sich Rosalinda. „Du willst den Auserwählten küssen, Elfenflittchen.“

„Und du hast den“, er deutete auf Magnus, „bloß mitgenommen, damit er dich nachts im Zelt flachlegt, Feenschlampe.“

„Wir schlafen in einem Zelt?“, fragte ich bestürzt. Ich hasste zelten!

„Ja“, lachte Magnus, „das geht schneller, als mal eben eine feudale Villa zu bauen. Macht auch erheblich weniger Arbeit.“

Hoffentlich war das Zelt auch erheblich weniger auffällig als das Fahrzeug, mit dem wir uns bewegten. Gerade wenn wir in feindliches Gebiet vordrangen, hatte ich keine Lust, wie auf einem Präsentierteller zu nächtigen.

Gegen Abend erreichten wir den Feenstützpunkt an der Grenze zum Elfenreich. Ich hatte mich ein paar Kilometer vorher schon gefragt, was es mit den vielen Warnschildern und Stacheldrahtzäunen auf sich hatte.

„Das hat es früher alles nicht gegeben“, seufzte Magnus und grüßte den Wachposten, der uns sofort passieren ließ. „Scheiß Sperrgebiet. Siehst du da hinten den großen Turm? Da lauern Arkadius’ Schergen. Die haben absoluten Schießbefehl, wenn da einer rübermachen will. Keine Ahnung, wie viele arme Elfen schon am Stacheldraht ihr Leben verloren haben.“

Irgendwie kam mir das bekannt vor.

„Und wie sollen wir dann rüberkommen? Ich meine, wir können doch wohl nicht so einfach über die Grenze spazieren, oder?“

„Klar können wir das nicht. Allerdings existieren geheime Pläne von Schleusern, auf denen Fluchtwege eingezeichnet sind. Kein Wort darüber. Zu niemanden. Verstanden?“

Wir alle nickten.

Dann wandte sich Magnus an Callisto. „Du bleibst hier. Oder du fährst zurück. Mir egal. Auf jeden Fall kommst du nicht weiter mit uns mit.“

„Dann plaudere ich sämtliche Geheimnisse über Schleuser und Fluchtpläne aus.“

„Dann wirst du erschossen“, entgegnete der General.

„Ha, am Arsch! Ihr Feen seid Pazufisten.“

„Das heißt Pazifisten, Knallkopf.“

„Genau. Ihr seid gegen Gewalt und erschießen und so.“

„Für dich mache ich eine Ausnahme“, drohte Magnus.

„Lasst doch den Auserwählten entscheiden“, wälzte Rosalinda die Angelegenheit auf mich ab.

Vielen Dank auch!

Magnus schaute mich grimmig an.

Callisto blickte becircend.

Rosalinda kuckte neutral.

„Meinetwegen kann er mit.“

„Supi“, freute sich Callisto und umarmte mich.

„Ich sag ja … Kindergarten“, flüsterte der General.

„Ich sag ja … Elfenflittchen“, sagte Rosalinda laut.

Im Offizierkasino gab es wahlweise Erbsensuppe mit Mettenden oder Dickebohnen mit Speck. Mir verging der Appetit. Überhaupt war mir der ganze Ausflug zuwider. Einzig Callistos wunderschönes Elfengesicht konnte mir ein Lächeln entlocken. Allerdings quälte mich sogleich mein Gewissen. Ich liebte Kellox, da konnte ich mich unmöglich von diesem Jungen verzaubern lassen. Andererseits hatte ich ja immer noch die Hoffnung, das alles nur zu träumen, also würde mir Kellox daraus später wohl keinen Vorwurf machen können. Hey, Augenblick mal … wenn das hier ein Traum war, dann konnte mir doch auch gar nichts passieren, oder? Für den Fall, dass ich tatsächlich mit dem bösen Elfenkönig würde kämpfen müssen und ich verlor, würde ich danach einfach wieder in der Realität aufwachen. In einem Traum konnte man nicht in echt sterben oder so was. Dieser Theorie standen logischerweise ein paar kritische Argumente gegenüber. Wieso zum Beispiel hatte ich keine Superkräfte? Warum konnte ich nicht fliegen oder kilometerhoch springen? Und wieso spürte ich einen elendigen Schmerz, als ich mir gerade eben zum Test eine Gabel in den Handrücken gestochen hatte? Aua, verdammt!!

„Warum stichst du dir eine Gabel in den Handrücken, Auserwählter?“, fragte Rosalinda verständnislos.

„Ich wollte sehen, ob das weh tut.“

„Und?“

„Ja“, nickte ich und rieb meine Flosse.

„Wenn du solche Spirenzchen bei Arkadius machst, sehe ich für uns alle schwarz.“

Magnus erschien an unserem Tisch und blinzelte verschwörerisch. „Alles klar. Wir treffen den Schleuser um Null-Zweihundert. Ruht euch vorher noch ein wenig aus.“

Rosalinda zog eine Grimasse. „Lass doch dein blödes Militärgewäsch, alter Angeber.“

„Zieht euch festes Schuhwerk an, wir werden zu Fuß marschieren. Und kein unnötiges Gepäck.“

„Du meinst, ich muss meinen Schrankkoffer hier zurücklassen?“, tat die Fee bestürzt.

„Bis später“, schüttelte Magnus den Kopf und ging.

Um punkt Null-Zweihundert lungerten wir abholbereit in einem Gebüsch mitten in der Pampa. Keine Spur vom Schleuser. Callisto hatte sein Peter Pan-Outfit gegen Bundeswehrklamotten eingetauscht und sich zusätzlich noch, zwecks Tarnung, olivgrüne und schwarze Farbe ins Gesicht geschmiert. Er sah lustig aus, aber irgendwie auch süß.

„Der Schleuser ist ja reichlich unzuverlässig“, maulte er.

„Schnauze“, zischte Magnus angespannt.

Irgendein Nachtvogel schrie. Magnus imitierte den Ruf und gleich darauf knackte es hinter uns im Gestrüpp.

Der Schleuser war da.

„Jakob?!“, wisperte Rosalinda überrascht. „Du?“

„Tagchen, Prinzessin“, grüßte der Schleuser.

„Er ist staatlich geprüfter Diplom-Rausschmeißer und Türsteher“, raunte sie mir ins Ohr. „Stockschwul, der Jakob, aber furchtbar sympathisch. Sein Mann ist der berühmte Abenteurer Jean-Jacques Columbus.“

Jakob war ein Kerl mit großen Prankenhänden. Seine stämmigen Beine steckten in modischen schwarzen Cargohosen. Das Red Bull T-Shirt spannte über der trainierten Brust, am linken Arm hatte er eine Tätowierung wie George Clooney in „From Dusk Till Dawn“. Sein Schädel war kahl rasiert.

„Alle da? Dann los!“

Der Schleuser führte uns zunächst weg von der Grenze, querfeldein, über Stock und Stein sozusagen.

„Müssten wir nicht eigentlich in die andere Richtung?“, wollte ich wissen.

„Willst du dich abknallen lassen?“

Ich verneinte.

„Dann frag nicht so einen Scheiß.“

„Meine Schulter schmerzt“, jammerte Callisto. „Der Rucksack ist viel zu schwer.“

„Och, das zarte Elfchen schwächelt“, machte sich Rosalinda über ihren Halbbruder lustig.

Sie selbst hatte für eine Prinzessin einen wirklich strammen Schritt am Leib. Ich hatte Mühe, mitzuhalten. Mein Rucksack war nämlich ebenfalls schwer, außerdem hatte man die meiste Zeit geduckt zu laufen. Es war total anstrengend.

„Da vorne ist eine Höhle, da fängt der geheime Fluchttunnel an“, erklärte Jakob. „Ist ein bisschen eng da drinne, an manchen Stellen kann man sich bloß auf dem Bauch robbend fortbewegen. Aber keine Panik, das haben schon viele geschafft.“

„Ich hab Klaustrophobie“, gestand Callisto.

„Sorry, Kleiner“, lächelte Jakob, „aber dafür ist es jetzt zu spät. Sollte es dir einfallen, im Tunnel auszuflippen, polier ich dir die Fresse. Sohn des Königs hin oder her.“

Bevor wir uns in den dunklen Tunnel begaben, drückte Jakob allen, außer Callisto, zwei spitze Plastikohren, die wir über unsere eigenen echten Ohren stülpen sollten, in die Hand.

„Sicher ist sicher. Die andere Seite ist Feindesland.“

Ich setzte mir also die dämlichen Ohren auf, schaltete meine Mag Light ein und folgte Jakob. Hinter mir kam Rosalinda, dann Callisto und den Schluss bildete Magnus.

Zuerst konnte man noch relativ normal gehen, aber nach einigen Metern fingen die heiklen Stellen bereits an. Wir quetschten uns durch enge Spalten, krochen auf allen Vieren und robbten auf dem Bauch durch staubige Erde und Geröll. Die Rucksäcke schoben wir vor uns her. Hin und wieder vergewisserten wir uns, dass noch alle beisammen waren.

Nach gefühlten drei Stunden schnupperte ich frische Luft und spürte den kühlen Luftzug auch auf meinem Gesicht.

„Lampen aus!“, forderte Jakob.

Es wurde dunkel und wir kamen nach draußen. Wenn man zurückblickte, konnte man weit entfernt die Stacheldrahtgrenze ausmachen.

„Jetzt müsst ihr alleine klarkommen. Schlagt euch am Besten durch die Berge.“ Er überreichte Magnus eine zusammengerollte Karte. „Viel Glück, Männer, ich bin weg.“

Sprach’s und verschwand wieder im Tunnel.

„Guter Mann, dieser Jakob“, nickte Magnus anerkennend.

„Du siehst fast aus wie ein richtiger Elfenjunge“, wisperte Callisto mir ins Ohr und kuschelte sich an meine Seite.

Du lieber Himmel, für romantisches Geflirte war hier doch weder der passende Ort noch die passende Zeit.

„Wir gehen“, bellte der Feengerneral, also gingen wir.

Bis zum Morgengrauen waren wir im Gebirge unterwegs, dann fand Magnus, dass wir uns ausruhen sollten. Überhaupt beschloss er, am Tag zu schlafen und nachts zu laufen, weil das weniger auffiel. Ich hatte bereits jetzt die Schnauze gestrichen voll und sehnte mich nach meinem weichen Kuschelbett zu Hause. Zum Glück übernahm Magnus das Aufbauen der Zelte, was relativ fix passierte. Endlich konnten Callisto und ich in das eine, Rosalinda und ihr Verlobter in das andere kriechen und uns in die Schlafsäcke hauen.

„Ich wette mit dir um eine Schüssel Karamellpudding, dass die gleich ficken.“

Upsi! So ein obszönes Wort hatte ich von einem Elfenjungen nicht erwartet. Ansonsten hatte er den Karamellpudding ein paar Minuten später gewonnen.

„Darf ich dich was fragen?“

„Klar, mach mal“, grinste er.

„Küsst du echt immer alle Leute?“

„Nur, wenn sie mir gefallen.“

Mir wurde angenehm warm und kribblig. Ich versuchte, es zu ignorieren.

„Und warum ist deine Schwester so … äh … na ja, ihr versteht euch nicht so toll, oder?“

„Sie nimmt mir übel, dass ich mit Magnus geschlafen habe.“

Was??

„Okay, ich gebe zu, es war Zauberei im Spiel. Aber nur ein bisschen.“

„Du kannst … jemanden verzaubern?“

„Ja, wenn ich will.“ Er sah mich an. Mit diesen großen, dichtbewimperten Augen, die Kellox’ Augen so ähnlich waren. „Träum was Schönes“, flüsterte er und kuschelte sich in seinen Schlafsack.


Am nächsten Abend lag Callisto nicht mehr hübsch neben mir, sondern halb auf, beziehungsweise über mir. Und er war alles andere als leicht wie eine Feder. Natürlich war er auch nicht tonnenschwer, aber … na ja, er lag unbequem auf mir, also für mich unbequem.

„He“, stupste ich ihn an.

Der Elfenprinz hob den Kopf, öffnete die Augen und lächelte.

„Guten Morgen.“

„Es ist Abend.“

„Guten Abend.“

Dann hatte er ruckizucki meine Handgelenke auf den Boden gedrückt und küsste mich dermaßen leidenschaftlich, dass mir Hören und Sehen verging.

Das ist ein Traum, dachte ich, das ist ein Traum, du darfst alles tun, was du willst!

Der Traum war sehr realistisch, denn ich spürte, wie mein Körper heftig auf Callistos Geknutsche reagierte.

Und wenn es doch kein Traum war? Ich hatte schließlich „Der Zauberer von Oz“ mehrere Male gesehen und nie daran geglaubt, dass die kleine Dorothy ihren Ausflug bloß geträumt hatte.

„Wir … ähem, wir sollten das nicht tun“, japste ich.

„Wieso nicht? Elfensex ist toll.“

„Ich bin keine Elfe und ich bin hier nicht zu Hause.“

„Du hast einen Freund, mh?“, fragte er. „Das macht nichts. Ich kann Sex und Liebe trennen.“

„Und wie zur Hölle soll ich meinem Freund erklären, dass ich Sex mit einem Elfenjungen hatte?“

„Entschuldige, aber das ist dein Problem“, säuselte er und knutschte weiter.

„Der alte Coelestin hat gesagt, dass alles, was ich hier tue, Auswirkungen haben kann.“

Callisto verdreht die Augen. „Der alte Coelestin ist ungefähr hundertfünfzig Jahre alt und hat inzwischen … sagen wir mal … den Kopf in den Wolken. Ich denke nicht, dass der immer so genau weiß, was er redet.“

„Ah, dann stimmt die Prophezeiung vermutlich auch nicht. Ich bin gar nicht der Auserwählte.“

„Prophezeiungen stimmen immer.“

Anscheinend drehten es sich die Bewohner dieser eignartigen Welt gerne so, wie sie es grad brauchten. Verflucht, ich brauchte es. Aber volle Kanne.

Der Sex mit Callisto war unglaublich süß. Und versaut. Ein bisschen wie … ficken auf einer Blumenwiese. Ich war hingerissen. Aber ich musste dringend einen klaren Kopf bewahren, damit ich nicht aus Versehen hier bleiben wollte. Callisto machte es mir diesbezüglich nicht einfach. Er verführte mich nach allen Regeln der Kunst und das Verrückte an der Sache war, dass er sich genau wie Kellox anfühlte. Er sah ja auch so aus … wenn man sich die spitzen Ohren wegdachte. Und wie mein Freund hatte er neben dem Bauchnabel einen kleinen Leberfleck.

„Du arschgesichtiger Elfenblödkopp“, keifte Rosalinda und ballte energisch ihre Fäuste, als wir aus dem Zelt kamen.

Callisto grinste breit. „’Nabend, Schwesterherz.“

„Ich geb dir gleich Schwesterherz“, drohte sie. „Und für den Fall, dass du’s nicht weißt … der da“, sie deutete auf mich, „wird nicht hier bleiben. Er wird Arkadius töten, uns den Frieden schenken und dann ab in seine Welt zischen. Also spar dir deinen Elfenzauber, okay?“

„Ach ja? Ich hab aber gar nicht gezaubert“, entgegnete Callisto gelassen, „er hat freiwillig mit mir geschlafen. Und es hat ihm Spaß gemacht.“

Ich wurde rot.

„Auserwählter, du gehst mir langsam auf den Sack“, bemerkte Rosalinda angepisst.

„Ich hab mir den Auserwähltenscheiß nicht ausgesucht“, zuckte ich die Achseln, „das war eure Idee.“

„Wo ist eigentlich dein Stecher?“, fragte der Elfenprinz.

Kaum war von ihm die Rede, erschien Magnus.

„Leute, ich hab Neuigkeiten. Wie es aussieht, sind die Elfen reichlich unzufrieden. Gestern gab’s eine Demo gegen Arkadius’ Methoden. Nicht die erste und sicher auch nicht die letzte. Das kann uns helfen.“

„Wie?“

„Na, wenn wir das Volk auf unserer Seite haben, wird es leicht, den König zu stürzen. Möglicherweise muss ihn der Auserwählte gar nicht töten.“

„Und die Prophezeiung?“, wollte Rosalinda wissen.

„Da steht doch bloß drin, dass er Arkadius besiegt. Das biegen wir schon irgendwie so zurecht, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Packt zusammen! Wenn wir uns ranhalten, haben wir bald die Stadt erreicht. Mal sehen, was sich da tatsächlich tut.“

Mh, das waren doch wirklich verdammt gute Neuigkeiten.

Die Stadt war hässlich. Nicht auf den ersten Blick, da war alles sauber und aufgeräumt, aber wenn man genauer hinsah … verfallene Gebäude mit eingeschlagenen Fensterscheiben, verlotterte Häuser mit schmuddligen Gardinen, dreckige Fassaden.

Vor der Kirche hatte sich eine Menschenmenge … ähem … Elfenmenge eingefunden. Sie hielten brennende Fackeln hoch und Transparente, auf denen Sprüche gepinselt waren. „Freiheit für das Volk“, „Für Reformen und Reisefreiheit“, „Keine Gewalt“ und „Arkadius Go Home!“.

Die dicht aufgereihten Elfenpolizisten wirkten feindselig und brutal mit ihren Schlagstöcken.

Langsam marschierten sie auf die friedlichen Demonstranten zu.

„Ach du Scheiße“, brüllte Rosalinda, „hier geht’s gleich rund.“

„Das könnte gefährlich werden“, flüsterte Callisto. „Vielleicht möchtest du lieber meine Hand halten?“

Ich griff nach seinen Fingern und strullte mir fast in die Buxe.

Dann schlug die Polizei zu. Alles, was ihnen vor die Nase kam, wurde niedergeknüppelt. Glücklicherweise zog Magnus uns ein bisschen aus der Schusslinie. Er kämpfte Seite an Seite mit den Demonstranten wie ein Löwe gegen die bösen Elfen. Es sah nicht schlecht aus. Die bösen Elfen waren in der Unterzahl.

„Wir sind das Volk!“, brüllte Magnus auf einmal. „Die Mauer muss weg! Wir sind das Volk!“

Dann brüllten es alle. Die brennenden Fackeln wurden in die Luft gereckt. Die Polizisten merkten, dass sie verloren hatten. Oder sie hatten die Schnauze von ihrem Chef gestrichen voll. Jedenfalls krakeelten sie mit.

„Wir sind das Volk! Arkadius Go Home! Wir sind das Volk!“

So machten wir uns alle auf den Weg zum Palast.

Arkadius’ Palast war natürlich streng bewacht, aber Magnus behauptete, dass wir mit dem König verhandeln wollten, also ließ man uns herein. Der Feengeneral war schließlich ein bekannter Mann, ein wichtiger dazu. Er war sozusagen Mustafas rechte Hand. Und er machte den königstreuen Elfen schnell klar, dass sie auf verlorenem Posten standen. Unterstützt wurden seine Worte von der skandierenden Menge draußen. Die Elfen sahen ein, dass Arkadius’ Herrschaft wahrscheinlich vorbei war, und legten ihre Waffen nieder.

Der fast entmachtete Herrscher hingegen dachte nicht im Traum daran, irgendetwas einzusehen. Er hockte allein an einer riesigen Tafel und speiste. Ich fand seinen vergnügten Gesichtsausdruck irgendwie deplaziert.

„Dein Volk verlangt nach Freiheit, Arkadius. Dein Volk will es nicht länger hinnehmen, eingesperrt zu sein. Wenn du jetzt vernünftig bist und kooperierst, werde ich im Namen König Mustafas dafür sorgen, dass deine Untertanen den Palast nicht stürmen, um dich am nächsten Baum aufzuknüpfen“, erklärte Magnus.

„Dieser kleine Aufstand wird schneller beendet sein, als ihr kucken könnt“, lächelte Arkadius irre. „Meine Wachen haben den Befehl, alle Aufrührer zu erschießen.“

„Deine Wachen gehorchen dir längst nicht mehr. Ich habe hier ein Schriftstück von König Mustafa, das du unterzeichnen solltest. Es besagt, dass du als König zurücktrittst und alle Angelegenheiten zukünftig vom Feenkönig geregelt werden.“

Arkadius widmete sich demonstrativ seinem gebratenen Rebhuhn. „Den Wisch kann sich dein König hinten rein schieben. Du glaubst doch nicht, dass ich mir von einer dahergelaufenen Fee Befehle erteilen lasse.“

„Dann ist es meine Pflicht, dich festzunehmen und ins Feenreich zu bringen, wo dir der Prozess gemacht wird“, entgegnete Magnus unbeeindruckt.

„Ich werde dich höchstpersönlich aus dem Verkehr ziehen“, schrie Arkadius, sprang plötzlich auf und ging mit einem blitzenden Dolch auf den völlig überraschten (und leider unbewaffneten) General los.

Geistesgegenwärtig griff ich in meine Jackentasche und ertastete einen harten Gegenstand. Es war der Elektroschocker, den Kellox mir gegeben hatte. Ein Knopfdruck und der morddurstige Elfenkönig lag zuckend am Boden.

„Der Auserwählte hat uns gerettet“, schrie Rosalinda erleichtert und umarmte ihren unversehrten Verlobten.

„Du bist mein Held“, schwärmte Callisto und knutschte mich auf den Mund.

Magnus legte Arkadius Handschellen an und hielt ihm das Papier unter die Nase.

„Unterschreiben!“

„Was … was für eine elendige Teufelei war da am Werk?“, brabbelte Arkadius und glotze mich an. „Dieses mickrige Jüngelchen soll der Auserwählte sein? Dass ich nicht lache.“

„Er hat dich zur Strecke gebracht. Das reicht wohl als Antwort. Unterschreib jetzt das verdammte Papier“, drängelte Magnus.

Als das geschehen war, rief er die Wachposten an den Grenzübergängen an und teilte ihnen mit, dass ihre Aufgabe erledigt sei. Dann traten wir auf den Balkon. Die johlende Menge verstummte.

„Wir sind zu euch gekommen“, begann Magnus, „um euch mitzuteilen, dass Arkadius mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurückgetreten ist. Die Grenzen sind ab diesem Augenblick für alle …“

Die Elfen schrieen und klatschten begeistert.

„… geöffnet. Unser Dank gilt dem Auserwählten, der sich tapfer und unerschrocken dem bösen Tyrannen in den Weg stellte und somit den Frieden zwischen Feen und Elfen einläutete.“

Ich konnte irgendwie nicht fassen, wie einfach das gewesen war. Na ja, aber beschweren wollte ich mich logischerweise auch nicht, also genoss ich die Bravo-Rufe und winkte den Elfen zu.


Die Nachricht sprach sich rasch herum. Auf dem Weg ins Feenreich begegneten wir immer wieder Feen und Elfen, die sich weinend in den Armen lagen. Andere waren dabei, mit entsprechendem Werkzeug, den Stacheldraht zu zerschneiden.

Im Feenpalast herrschte Ausnahmezustand. König Mustafa und Königin Waldmeister hatten auf die Schnelle ein Wiedervereinigungsfest organisiert. Der Entertainer Joshua Atari war auch schon da. „I’ve been looking for freedom“, sang er aus Leibeskräften. Wein, Bier und Himbeerbrause flossen in Strömen.

„Du musst nicht gehen, weißt du?“, sagte Callisto und streichelte meine Wange. „Du könntest hier bleiben und mein Gemahl werden. Wir könnten uns immer, immer, immer küssen … das möchtest du doch, oder, Erik?“

Mir war schwumselig. Ich wusste nicht mehr, was ich wollte. Kellox, Callisto, gehen, bleiben … alles um mich herum drehte sich.

„Komm zurück“, hörte ich auf einmal eine Stimme in meinem Kopf. „Komm zurück, Erik!“

„Bleib bei mir“, rief Callisto verzweifelt.

„Komm zurück“, flüsterte die Stimme eindringlich.

Dann gingen sämtliche Lichter aus.


„Babe, mach schon … versuch, aufzuwachen.“

„Lass ihm Zeit, Vollidiot.“

„Seine Lider flattern.“

Ich öffnete die Augen. Über mir schwebte ein bekanntes Gesicht. Es war Callisto, bloß ohne spitze Elfenohren.

„Er ist wach“, schluchzte er, „Rosalie, hol den Arzt.“

„Ca… Kellox“, murmelte ich schwach.

„Hey, Süßer“, lächelte er.

„Wo bin ich? Was ist passiert?“

„Im Krankenhaus. Ein Streuwagen hat dich angefahren. Aber das ist jetzt unwichtig. Hauptsache, du bist wach. Hast du Schmerzen?“

Streuwagen?! Mh, ich war definitiv wieder zu Hause. Im Feenland hatte ich während meines Besuchs nicht eine einzige Schneeflocke gesehen. Geschweige denn einen Streuwagen.

Bevor ich noch mehr sagen konnte, wurde ich erstmal ausgiebig untersucht. Mir wurde in die Augen geleuchtet und mein gesamter Körper abgetastet.

„Es geht ihm gut“, versicherte der Onkel Doktor.

Na, der musste es ja wissen. Aber es stimmte. Ich fühlte mich zwar schwach, aber gut. Sehr eigenartig.

„Die Polizei wird Sie nachher vernehmen wollen“, sagte der Arzt.

„Polizei?“

„Der Fahrer behauptet, dass dich jemand gestoßen hat. Absichtlich“, klärte mich meine Mitbewohnerin auf.

Kaum hatte sie das gesagt, fiel mir alles wieder ein. Professor Reinhard … ach du Scheiße!!

Er war Kellox’ brutaler Freund. Ekelhaft. Der war doch mindestens dreißig Jahre älter. Oh Gott, der wollte mich umbringen!

„Ich muss mit dir reden, Kellox. Allein.“

„Ich wollte eh Magnus anrufen, um ihm mitzuteilen, dass du in Ordnung bist“, zuckte Rosalie die Achseln und verließ das Zimmer.

„Erik, ich bin so froh, dass …“

„Ich weiß, wer es war“, unterbrach ich ihn. „Und ich weiß, wer ER ist.“

Kellox’ Gesicht wurde ernst. „Erik, du … du darfst es der Polizei nicht sagen.“

„Wie bitte? Der Kerl hat versucht, mich umzubringen. Dafür landet er im Knast und wir sind ihn endlich los. Ist es nicht das, was du willst? Liebst du ihn doch, oder was?“

„Nein, aber wenn du die Wahrheit sagst, wird alles rauskommen. Das … das geht nicht, Erik. Bitte …“

„Glaubst du, ich warte darauf, dass der Kerl mich noch mal auf die Straße schubst?“

„Das wird er nicht.“

„Klar. Und dir wachsen plötzlich spitze Ohren.“

„Äh …?“

„Vergiss es“, seufzte ich.

„Gib mir wenigstens etwas Zeit, um … einige Dinge zu regeln“, bat er.

„Meinetwegen. Und dann wirst du mir deine sämtlichen Geheimnisse erzählen.“

Kellox gab mir einen Kuss auf die Stirn und ging. Ich fragte mich, ob Callisto wohl bereits einen anderen Jungen zum Küssen gefunden hatte und ob Feen und Elfen noch feierten. Möglicherweise sang der Entertainer Joshua Atari gerade eben „Wind of change“, während die Space-Babes hin und her hüpften.

Zwei Tage später konnte ich das Krankenhaus verlassen. Ich sollte mich allerdings noch sehr viel ausruhen, weshalb ich von der überbesorgten Rosalie gleich wieder ins Bett verfrachtet wurde. Den beiden netten Polizisten hatte ich übrigens erklärt, dass ich mich an nichts erinnern könnte, ihnen aber versichert, mich zu melden, falls mir doch noch was einfiel.

„Magnus kommt so schnell es geht her. Der will dich höchstpersönlich beschützen“, grinste sie.

„Er ist nicht zufällig bei der Bundeswehr?“, fragte ich.

„Nein, wieso? Er ist Bodyguard.“

„Verstehe.“

„Er arbeitet für meinen Vater.“

„König Mustafa“, giggelte ich.

„Was redest du da? Sind bestimmt die Nachwirkungen des Schädel-Hirn-Traumas.“

„Wie lange war ich bewusstlos?“

„Sechs Tage. Und ich bin nicht eine Minute von deinem Bett gewichen. Kellox übrigens auch nicht. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mit meinem Bruder zusammen bist?“

„Bruder?“

„Halbbruder, um genau zu sein. Gleicher Vater, andere Mutter. Ich war vielleicht überrascht, als der Penner im Krankenhaus auftauchte, das kannste mir glauben.“

„Ihr steht euch offenbar nicht wirklich nah, oder?“

„Weil er immer bloß Schwierigkeiten macht. Mit vierzehn ist er von zu Hause abgehauen. Keiner weiß, wieso und warum. Er hätte es echt gut haben können, eines Tages Paps’ … ähem … Firma übernehmen und so. Aber nein, er wollte lieber sein eigenes Ding durchziehen. Damit hat er verständlicherweise bei unserem Vater total verschissen.“

„Mein Kopf tut weh“, bemerkte ich.

Rosalie legte mir einen Eisbeutel auf die Stirn. „Brauchst du sonst noch was?“

„Nein, danke.“

Mann, wenn ich sechs Tage weggetreten war, dann musste bald Weihnachten sein … und ich hatte noch keine Geschenke gekauft. Und wie sollte ich weiterstudieren, mit meinem Fast-Mörder als Professor?? In was für eine verfluchte Scheiße war ich da hineingeraten, zum Teufel?!

Irgendwann abends kam zuerst der falsche Gangster-Rapper-Bodyguard und verkündete: „Wenn ich das Schwein erwische, mache ich Hackfleisch aus ihm!“

Danach kam Kellox und verkündete mir allein: „Er wird dir nichts mehr tun, dafür habe ich gesorgt!“

„Ich hoffe, du hast ihn vor einen Streuwagen geschubst.“

„Nein, aber ich hab ihm gesagt, dass du weißt, dass er es war, und dass du zur Polizei gehst, wenn er dich nicht in Ruhe lässt.“

Supi! Damit hatte Kellox meiner Meinung nach den Dämlichkeitswettbewerb gewonnen.

„Der Kerl ist ein Mörder“, stellte ich fest. „Der wird sich doch nicht von dir erpressen lassen, sondern bei nächster Gelegenheit versuchen, den lästigen Zeugen, also mich, zu beseitigen. Vielen Dank auch. Warum hast du ihn nicht gleich mitgebracht und ihm das Messer gereicht, das er mir mehrmals in den Brustkorb rammen kann?“

„Ich mache offensichtlich alles falsch“, seufzte er traurig. „Dabei will ich doch einfach nur in dich verliebt sein dürfen.“

Sein trauriger Blick piekste mir direkt ins Herz, weshalb ich ihn in mein Bett einlud, um mit mir zu kuscheln.

„Es tut mir leid, Erik. Ich hab nicht gewollt, dass so etwas Schreckliches passiert“, wisperte er zittrig.

„Warum kann ich nicht zur Polizei?“

„Weil dann alles rauskommen wird und ich bin erledigt.“

„Was denn? Bist du Drogendealer oder Waffenhändler oder verkaufst du kleine Mädchen?“

„Nein. Aber … es fing mit einer kleinen, harmlosen Erpressung an. Professor Reinhard hat irgendwie rausgekriegt, dass meine gesamten Unterlagen gefälscht sind, verstehst du?“

Nicht im Geringsten!

„Ich dürfte normalerweise gar nicht studieren“, rückte er endlich mit der Sprache raus, „ich hab weder Abitur, noch einen vernünftigen Schulabschluss. Das hat der Professor ausgenutzt, mich zum Sex gezwungen und so.“

„Ist das alles?“, fragte ich entgeistert. „Geh zur Abendschule und mach das nach … wie jeder normale Mensch.“

„Das ist logischerweise nicht alles. Wenn du Professor Reinhard anzeigst, wird das Schlagzeilen geben, dann wird mein Vater erfahren, dass ich … auf Typen stehe. Das wäre eine Katastrophe.“

„Hat er was gegen Schwule?“

„Keine Ahnung. Aber wenn bekannt wird, dass er einen schwulen Sohn hat, würde ihn niemand mehr ernst nehmen und Geschäfte mit ihm machen wollen.“

„Was für eine Firma hat denn dein Vater?“

„Firma?“

„Ja, Rosalie erwähnte so was.“

„Mein Vater …“, Kellox holte tief Luft, „also mein Vater ist eine Kiezgröße.“

„Du meinst, so St. Pauli-mäßig, mit Puffs und Peepshows und Zuhältereien?“

„Ja, ungefähr. Dazu wahrscheinlich noch Erpressung, Bestechung, Schutzgeld, illegale Boxwetten …“

„Wow.“

„Normalerweise hätte ich irgendwann einen Teil seiner Geschäfte übernehmen sollen. Deshalb bin ich doch weg von zu Hause. Der wird mich fertigmachen, wenn er mitkriegt, dass ich schwul bin. Der Sohn vom König ist eine Trine, ein Arschficker, ein Schwanzlutscher, ein …“

„Ich hab’s begriffen. Aber was hat es mit dem König auf sich?“

„So wird mein Vater von allen genannt.“

Mustafa, dachte ich und musste mir das Lachen verkneifen, Kiezkönig Mustafa.

„Und Rosalie weiß über all das bescheid?“

Kellox nickte.

„Ich muss mich ausruhen“, stöhnte ich. „Das ist echt zu viel für meinen Brummschädel.“

„Darf ich bei dir bleiben und du schläfst in meinen Armen ein?“, fragte er scheu.

Mann, ich liebte ihn so, so sehr!


Kellox wohnte die nächsten paar Tage bei uns. Mit Magnus in seiner Nähe fühlte er sich einigermaßen sicher. Professor Horror schickte Kellox nämlich andauernd fiese Nachrichten aufs Handy und drohte, dass er mich schon auch noch erwischen würde. Deswegen wollte sich eine weihnachtliche Stimmung nicht so wirklich einstellen und ich beschloss, dass es besser war, das Geschenkekaufen lieber auf irgendwann zu verschieben. Nach draußen wollte ich eh nicht, solange ein Verrückter hinter mir her war.

Als Kellox einen Tag vor Heilig Abend kurz in seine Wohnung musste und nach vier Stunden immer noch nicht zurück war, schwante mir Schreckliches. Zumal er auch nicht ans Handy ging. Was, wenn der Professor ihn heimlich verschleppt hatte? Ihn in einem dunklen Verlies gefangen hielt und folterte und vergewaltigte?

Ich fand, es war absolut an der Zeit, jemanden in die ganze Geschichte einzuweihen. Dieser Jemand war natürlich Magnus, dem ich, seit ich ihn als General erlebt hatte, irgendwie vertraute. Na ja, und weil Rosalie kaum von seiner Seite wich, bekam sie die Geschichte halt auch zu hören. Sie regte sich gleich furchtbar auf.

„So ein mieses Schwein“, zeterte sie, „anzeigen muss man den, in den Knast bringen, wo er jede Nacht von Brutalokerlen Besuch bekommt, die ihn richtig rannehmen.“

„Rosalie!“

„Ist doch wahr. Meinen kleinen Bruder zu erpressen, zu misshandeln und … Mann, ich will’s mir gar nicht vorstellen. Nicht zu vergessen, was er dir angetan hat.“

Magnus schüttelte den Kopf. „Das wird jetzt geregelt. Ein für alle Mal.“

„Was hast du vor, Schatz?“, wollte meine Mitbewohnerin wissen.

„Deinem Vater Bescheid sagen und die Jungs zusammentrommeln.“

„Nein!“, rief ich entsetzt. „Wenn Kellox’ Vater erfährt …“

„Halt den Rand!“, unterbrach er mich und hing bereits am Telefon.

Oh Gott, was hatte ich da angerichtet?!

Andererseits machte ich mir wirklich Sorgen um Kellox. Vielleicht war es so schlimm, dass tatsächlich jede Minute zählte!

Die zwei Jungs, die Magnus zusammengetrommelt hatte, sahen ungefähr aus wie ein Totschlägerkommando. Eben wie man sich so Kerle aus’m Rotlichtmilieu vorstellt: groß, breit und gemein.

„Okay“, sagte Magnus, „erstmal fahren wir in seine Wohnung. Wenn wir ihn da nicht finden, statten wir dem Professor einen kleinen Besuch ab.“

„Ich komme mit“, behauptete ich.

„Auf keinen Fall“, widersprach Magnus. „Das ist nichts für dich. Selbst wenn du nicht tagelang im Krankenhaus gelegen hättest …“

„Ich komme mit!“

„Ich auch“, mischte sich Rosalie ein.

„Bin ich hier im Kindergarten?“, schnauzte Magnus. „Du“, er deutete auf Rosalie, „bleibst hier, falls sich dein Bruder melden sollte. Und du“, er deutete auf mich und seufzte, „also schön, meinetwegen. Aber du tust bitte nichts Blödes, ja? Überlass uns die Sache.“

„Okay“, nickte ich und steckte vorsichtshalber den Elektroschocker in meine Tasche.

In seiner Wohnung war Kellox nicht. Und es gab auch keinerlei Anzeichen, die auf einen Kampf oder ungewolltes, überstürztes Verlassen hindeuteten.

„Weißt du, wo der Drecksack wohnt?“, fragte mich ein bulliges Mitglied des Totschlagkommandos, das auf den Namen Jakob hörte.

Zufälligerweise wusste ich das tatsächlich.

Professor Reinhard lebte in einem hübschen Haus in einer hübschen Gegend. Alles wirkte sauber und friedlich und wie im Bilderbuch.

Fachmännisch öffnete Jakob die Haustür mit einem Dietrich. Das Haus war dunkel und verlassen. Ich wusste aber bestimmt, dass Kellox in der Nähe war. Ich konnte es fühlen. Keine Ahnung, wieso.

„Vielleicht hat er sich mit ihm ins Ausland abgesetzt“, überlegte der zweite Schläger.

„Gut, dass du nicht fürs Denken bezahlt wirst, Ede“, antwortete Magnus und tätschelte ihm kurz den Kopf. „Trotzdem danke.“

„Oder er hat ihn im Keller. Da würde man eventuelle Schreie auch nicht so doll hören“, fühlte sich Ede provoziert, das mit dem Denken noch einmal zu versuchen.

„Das war jetzt aber wirklich gut“, verteidigte Jakob seinen Kumpan.

„Runter in den Keller“, befahl Magnus.

Mein Herz klopfte wie wild, meine Beine schwabbelten wie Wackelpudding, als wir die Treppe hinunter schlichen. Zuerst gelangten wir in des Professors Weindepot, dahinter lag eine Art Abstellraum. Fast hätte ich wegen des Krempels, der herumstand, einen schmalen Gang übersehen.

„Da geht’s noch weiter“, wisperte ich.

Ede räumte einige Kartons und anderes Zeug beiseite. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür. Plötzlich hörte ich ein gedämpftes „Grmpf“.

„Mach die scheiß Tür auf“, zischte Magnus hektisch.

Jakob öffnete die Tür, der Professor hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie abzuschließen.

Er stand mit heruntergelassener Hose mit dem Rücken zu uns und hielt dem mit Stricken an einem Rohr gefesselten Kellox ein Messer an die Kehle.

„Lass ihn los, du Sau!“, schrie ich völlig außer mir.

Der Professor drehte sich entsetzt um. Sein entblößter, halbaufgerichteter Penis schrumpelte augenblicklich zusammen. Ich musste beinahe kotzen.

„Das ist ja ekelhaft“, bemerkte Ede und schüttelte sich. „Ihhhhh.“

Auf Kellox’ nacktem Hintern waren deutliche Striemen zu erkennen. Auf dem Boden lag eine Reitgerte.

„Dich mach ich fertig, du altes Dreckschwein“, polterte Magnus los.

Professor Reinhard hob das Messer, ich griff in meine Jackentasche und kramte den Elektroschocker raus. Bevor ich ihn allerdings einsetzen konnte, hatte Ede dem Professor das Messer aus der Hand und Magnus dem Professor in die Fresse geschlagen. Reinhard taumelte, bekam noch einen Fausthieb verpasst und sackte zusammen.

Magnus nahm Kellox den Knebel ab und schnitt die beiden Stricke an seinen Handgelenken durch.

„Bist du halbwegs in Ordnung, Kleiner?“, fragte er leise und half ihm, seine Hose hochzuziehen.

„Ja“, röchelte Kellox.

„Hat er dich … du weißt schon?“

„Er wollte gerade.“

Ich brach in Tränen aus. Ein bisschen vor Erleichterung und ein bisschen wegen der Striemen … und wegen der Schrammen in seinem schönen Gesicht. Auf seiner Wange war eine Wunde, aus der noch ein dünner Streifen Blut lief. Der miese Kerl hatte Kellox mit seinem Siegelring geschlagen. Ganz vorsichtig betupfte ich sein Gesicht mit einem Taschentuch, nachdem Magnus mir Kellox behutsam in die Arme geschoben hatte.

„Wir bringen ihn jetzt nach Hause“, erklärte der falsche Gangster-Rapper seinen beiden Schlägern, „ihr wisst, was ihr zu tun habt.“

„Was … ähem … was machen die jetzt mit ihm?“, fragte ich mulmig.

„Das braucht dich nicht zu kümmern.“

„Nein, warte, Magnus. Ich will das nicht, okay?“

„Wie bitte?“

„Der Kerl ist zwar ein Schwein, aber ich kann nicht als Mitwisser eines Mordes leben.“

„Meinetwegen. Dürfen die zwei ihn wenigstens noch ein bisschen zusammenschlagen?“

„Das ja“, nickte ich. „Alles andere ist Sache der Polizei.“

„Keine Polizei …“, flüsterte Kellox verängstigt.

„Halt die Klappe, Schätzchen.“

„Bitte, Erik … mein Vater …“

„Dir ist es also lieber, dass ein Mensch umgebracht wird? Bloß damit dein Vater nicht mitkriegt, dass du auf Jungs stehst. Bist du irgendwie bescheuert?“

„Erik hat Recht“, kam Magnus mir zu Hilfe. „Benimm dich endlich wie ein Mann, du meine Güte!“

Zu Hause wartete Rosalie mit einem Fremden. Ich nahm an, dass es der König war.

Mir fiel eine gewisse Ähnlichkeit mit Mustafa auf … aber nur im Gesichtsbereich. Er trug einen teuren Anzug, anstelle von Kniehosen und Brokatwams.

Der König legte eine Hand an die Wange seines Sohnes und besah sich die Verletzungen.

„Ist die Sache erledigt?“

„Nicht ganz, Boss“, entgegnete Magnus.

„Soll heißen?“

„Erik will den legalen Weg.“

„Verstehe. Stellt sich nur die Frage, ob mein Sohn den Schneid hat, die Wahrheit zu sagen.“

„Paps …“, begann Kellox zitternd.

„Halt den Mund, sonst vergesse ich mich. Hast du eine Ahnung, was ich deinetwegen durchgemacht habe? Läufst einfach weg und ich höre jahrelang nichts von dir. Ich hab gedacht, mein Sohn läge vergewaltigt und tot irgendwo in einem gottverdammten Wald verscharrt“, brüllte er. „Bin ich so ein schlechter Vater gewesen, dass du lieber auf der Straße gelebt hast als bei mir? Dich von einem miesen Kerl hast ficken lassen, anstatt zu mir zu kommen und um Hilfe zu bitten? Rechts und links könnte ich dir eine runterhauen.“

„Danke, ich hab genug“, lächelte er traurig.

„Und ich erwarte eine Erklärung.“

„Kellox hatte Angst, dass Sie …“

Der König wandte sich an mich. „Das weiß ich inzwischen. Aber ich möchte, dass er es sagt.“

„Ich liebe Erik“, murmelte Kellox ultra leise.

„Weiter.“

„Die Leute hätten den Respekt vor dir verloren, wenn sie erfahren hätten, dass dein Sohn eine Schwuchtel ist.“

„Als würde sich irgendjemand trauen, mich deinetwegen anzugreifen“, antwortete er spöttisch. „Junge, ich werde nicht umsonst König genannt. Niemand wagt es, etwas gegen mich oder meine Familie zu sagen, weil er genau weiß, was dann mit ihm passiert.“

„Ich hatte Angst, dich zu enttäuschen.“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mich enttäuscht hast, Kilian. Nicht weil du Männer liebst, sondern weil du kein Vertrauen zu mir hattest.“

„Es tut mir leid“, heulte Kellox.

Der König nahm ihn in die Arme und strich ihm behutsam über den Rücken.

„Endlich“, stöhnte Rosalie. „Eine Sekunde länger und ich hätte euch beide mit bloßen Händen gekillt.“


Weihnachten war relativ unspektakulär über die Bühne gegangen, was mich ein wenig anpisste, weil ich Weihnachten eigentlich sehr mochte. Allerdings waren zu viele Dinge passiert, als dass einer von uns Lust drauf gehabt hätte, das Fest der Liebe gebührend zu feiern. Direkt nach Weihnachten ging Kellox zur Polizei und es dem sauberen Herrn Professor an den Kragen. Es stellte sich heraus, dass er noch mehr Leichen im Keller hatte. Also, dass er sich auch noch anderen Studenten aufgedrängt hatte. Nicht so extrem wie er das bei Kellox getan hatte, aber immerhin. Und meine Aussage brach ihm dann endgültig das Genick. Logischerweise sollte es im neuen Jahr eine Verhandlung geben, aber das war reine Formsache. Professor Reinhard würde keine Vorträge in Geschichte mehr halten … der Typ war Geschichte!

Kellox hatte sich dazu entschlossen, seine versäumten Schulabschlüsse nachzumachen, der König hatte sich um seine Geschäfte zu kümmern und Rosalie, Magnus, Kellox und ich feierten Silvester zusammen.

Rosalie hatte kurz vor Mitternacht bereits so dermaßen getankt, dass sie Magnus fast vor unseren Augen auf der Wohnzimmercouch vernaschte.

„Komm schon“, drängelte sie betrunken und hantierte zwischen Magnus’ Beinen herum, „mein kleiner Schololadenhase… Schokodalennase… Schokaho… Schokohase…“

Kellox schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. „Dass die immer so viel bechern muss.“

Magnus versuchte, die Hände seiner Verlobten abzuwehren. Und wenn er nicht von Natur aus einen dunkleren Teint gehabt hätte, hätte man sicher sehen können, dass er bei Rosalies gelalltem Kosenamen einen roten Kopf bekam. Ich fand es, ehrlich gesagt, sehr schade, dass sie die Schokahose nicht gescheit herausbekommen hatte, und giggelte mich dumm und dämlich. Dann fiel mir plötzlich Callisto ein.

„Sag mal“, begann ich leise, „hast du jemals mit Magnus geschlafen?“

Kellox stierte mich an, als wären mir auf die Schnelle ein paar zusätzliche Nasen gewachsen.

„Nein. Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?“

„Nur so“, lächelte ich geheimnisvoll.

„Solltest vielleicht auch nicht mehr so viel trinken, mh?“

„Kann sein“, antwortete ich und küsste ihn. Just in diesem Moment ging draußen das Feuerwerk los. Eine Silvesterrakete verabschiedete sich mit einem zischendem Fiepston in die Luft.

„Frohes …“


Ein nervtötendes Piepsen dringt an meine Ohren und sticht mir direkt ins Hirn. Meine Augen sind geschlossen. Zuerst spüre ich meine Beine, die Arme, dann meinen gesamten Körper. Ich liege auf dem Rücken. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel und Krankenhausluft strömt mir in die Nase und irgendwas steckt in meinem Hals. Als ich meine Augen langsam öffne, sehe ich in gleißendes Licht.

„Herzlich willkommen unter den Lebenden, Herr Wagner“, behauptet eine fremde Stimme.

Das Licht, das mir abwechselnd ins rechte und linke Auge leucht, erlischt. Der Schleier hebt sich. Ein Mann in einem grünen Kittel lächelt mich freundlich an.

Ich will sterben!

Offensichtlich bin ich aber selbst dafür zu blöde. Verarsche auf der ganzen Linie. Toll gemacht, Erik, echt! Mein Plan sollte sicher sein. Todsicher, sozusagen. Pillen und danach ein Sprung von der Brücke. Bei normalen Menschen geht da nichts schief, aber ich bin nun mal ich. Na ja, wenigstens wird endlich das ekelhafte Piepsen abgestellt.

„Ich ziehe jetzt den Beatmungsschlauch heraus“, erklärt der Doktor und zieht … und zieht … und ich muss fast kotzen. „So, schon vorbei.“

Vielleicht frage ich ihn, ob er mich mit dem Schlauch mal eben stranguliert?! Leider kommt aus meiner Kehle bloß ein Röcheln.

„Versuchen Sie lieber noch nicht zu sprechen.“

Danke für den Tipp, Klugscheißer!

Okay, also wie’s aussieht muss mich ja wohl irgendeine Pottsau „gerettet“ haben. Der reiße ich eigenhändig das Herz heraus und verspeise es zum Frühstück … sobald ich nicht mehr zu schwach bin, um meine Arme zu heben.

Mann, warum ausgerechnet jetzt? Grad eben hab ich noch meinen Freund … ich habe gar keinen Freund. Ich habe niemanden. Nichts. Nur eine ausgeprägte Phantasie oder die Neigung zu unglaublichen Komaträumen oder so was.

Glücklicherweise schlafe ich einige Minuten später wieder ein.

Unglücklicherweise wache ich soundsoviele Stunden später wieder auf. Das ist doch alles ein Witz! Ein ganz übler, denn da sitzt jemand an meinem Bett, den ich kenne. Aber eben auch doch nicht wirklich kenne. Was zum Teufel macht Kilian hier?

„Hey, wie geht’s dir?“, fragt er.

„Beschissen“, röchele ich. Oh, ich kann sprechen. Wunderbar! Jetzt würde ich nur noch gerne wissen, warum Kilian meine Hand hält?!

„Wieso … hast du das getan?“

Mh, wir stehen uns nicht so nah, dass ich mit ihm derart Intimes bequatschen müsste. Ich meine, da könnte er ja gleich fragen, ob ich beim Wichsen heimlich an ihn denke, seit ich ihn das erste Mal an der Uni gesehen habe. Oder ob ich rettungslos in ihn verknallt bin, obwohl wir kaum mehr als drei Sätze zueinander gesagt haben. Oh nein, mich beschleicht eine ganz fiese Ahnung. Kilian ist der, dessen Herz ich herausreißen und zum Frühstück verspeisen will.

„Hast … du … mich … aus dem Wasser gefischt?“

„Allerdings. Ich hab dich auf der Brücke gesehen und … bevor ich noch etwas machen konnte, bist du schon gesprungen. Du bist doch gesprungen, oder?“

„Kann mich … nicht erinnern“, behaupte ich.

„Ärzte und Polizei gehen nämlich davon aus, dass du gefallen bist. Wegen der Pillen, die du intus hattest.“

Das nächste Mal werfe ich mich vor einen Zug!

„Polizei?“

„Reine Routine. Die ermitteln halt, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Und es war ja nicht unbedingt klar, dass du wieder aufwachen würdest. Allerdings hab ich immer daran geglaubt.“

Aus mir unbegreiflichen Gründen scheint er sich darüber zu freuen, dass ich noch lebe. Na klar, jetzt wird er als der große Held gefeiert. Und ich bin der blöde Pillenjunkie, der völlig zugedröhnt gedacht haben muss, er könne fliegen. Ich war bis jetzt der Meinung, es könnte nicht schlimmer werden. Tja, irren ist menschlich.

„Ich hab jetzt ein paar Sachen zu erledigen, aber ich komme nachher noch mal vorbei, ja?“

„Danke, nicht nötig. Du hast mir bereits genug angetan.“

Kilian blickt mich entgeistert an. „Ich hab verdammt noch mal eine Lungenentzündung riskiert, das Wasser war nicht grad warm.“

„Ich hatte dich nicht drum gebeten, mir hinterher zu springen.“

„Erik, ich hab dir das Leben gerettet.“

„Glaubst du, ich hätte das alles getan, weil ich so wahnsinnig an meinem Leben hänge?“

„Vielleicht sollte ich den Ärzten die Wahrheit sagen. Du wärst in einer Klapse besser aufgehoben“, schüttelt er den Kopf und geht.

Der Penner weiß doch verdammt noch mal nichts über mich. Der soll sich bloß nicht so aufspielen.


Offenbar hat Kilian die Klappe gehalten, denn nachdem ich einige Tage auf ’ner normalen Station verbracht habe, werde ich entlassen. Meine Wohnung sieht noch genauso aus, wie ich sie verlassen habe. Kalt und dunkel, einsam und viel zu groß. Vermutlich werde ich mir bald was Anderes suchen müssen. Seit mich mein Ex-Mitbewohner auf vier Monatsmieten sitzen ließ und wie vom Erdboden verschluckt ist, kann ich mir das hier noch weniger leisten. Ist mal wieder meine Schuld. Ich hätte mit ihm einen Vertrag machen sollen, dann hätte ich jetzt immerhin was in der Hand. Aber so läuft der Mietvertrag natürlich nur auf meinen Namen und ich kann sehen, wie ich die Schulden bezahlt kriege. Zum Glück funktioniert die Heizung und der Strom ist noch nicht abgestellt … kann aber nicht mehr lange dauern, weil ich da auch schon in der Kreide stehe. Die Mahnung, die ich aus dem Briefkasten geangelt habe, mache ich gar nicht erst auf. Das Schreiben vom Anwalt des Vermieters lasse ich ebenfalls ungeöffnet. Mann, ich würde meine Schulden sofort bezahlen, echt, nur leider weiß ich nicht, wovon.

Der Anrufbeantworter zeigt null Nachrichten an. Die Pflanzen auf den Fensterbänken sind knüppeltrocken, aber wohl genauso unkaputtbar wie ich. Nicht eine verdorrte Stelle. Als wären die Mistviecher aus Plastik. Ich schnappe mir die Gieskanne und gebe ihnen zu trinken. Dann werfe ich einen Blick in den Kühlschrank und stelle fest, dass ich dringend einkaufen muss. Danach blättere ich den Apothekenkalender in der Küche um. Inzwischen ist nämlich November. Die leeren Tablettenschachteln liegen auf dem Wohnzimmertisch als wollten sie mich verhöhnen … ich hatte die Pillen aus den Blistern genommen, in einen Klarsichtbeutel gepackt, mir unterwegs eine Flasche Schnaps gekauft und war zur Brücke gestiefelt.

Nachdem ich die Schachteln entsorgt habe, setze ich mich an meine Hausarbeit über die „europäische Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit“. Irgendwie muss man ja funktionieren und seine gewohnten Sachen erledigen, bis man den nächsten Versuch startet.

Warum hab ich es nicht einfach hier getan, oder? Erstens wollte ich nicht monatelang unbemerkt verwesen und zweitens war mir die Gefahr viel zu groß, dass mein Ex-Mitbewohner doch noch mal auftaucht … im falschen Moment. Hat immer noch einen Schlüssel, der Sack.

Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Meine Gedanken schweifen ab. Das heißt, eigentlich schweifen sie nicht, ich denke eher an überhaupt nichts. Ich starre vor mich hin. Plötzlich klingelt es an der Tür. Und das ist in der Tat eigenartig. Es gibt überhaupt niemanden, der mich besuchen würde. Wahrscheinlich lauert draußen ein Schlägertrupp, angeheuert vom Vermieter, der meint, auf diese Art und Weise an sein Geld zu kommen. Von mir aus. Sollen die mich ruhig gehörig verprügeln. Macht doch auch nix mehr.

Schade, es ist kein Schlägertrupp, sondern Kilian, der die Treppe raufstapft.

„Was willst’n du hier?“, frage ich betont unfreundlich.

„Sehen, wie’s dir geht“, antwortet er scheißfreundlich und schiebt sich unaufgefordert an mir vorbei in die Wohnung.

„Ich lebe noch“, lächele ich horrorartig.

„Das ist nicht lustig.“

„Lache ich etwa?“

„Ich hab Kekse und Wintertee mitgebracht“, erklärt er, marschiert schnurstracks ins Wohnzimmer und hockt sich auf die Couch.

„Wie reizend.“

Als der Tee fertig ist, sitzen wie uns schweigend gegenüber. Ich hasse es, wenn Leute nicht wissen, wie sie mit dir umgehen sollen, bloß weil du versucht hast, dich umzubringen. Deshalb war ich zum ersten Mal froh darüber, keine Leute zu kennen. Na ja, bleibt nur die Hoffnung, dass Kilian sich verpisst, nachdem er seinen Tee getrunken hat.

„Vielleicht …“, beginnt er, „hast du schon mal dran gedacht, ob dir eine Therapie helfen könnte? Oder wenn du in eine Klinik … ich meine, da arbeiten doch Leute, die sich mit so was auskennen.“

So was, mh? Du liebe Güte. „Es ist unnötig, um den heißen Brei zu reden. Ich wollte sterben, kannst ruhig sagen, wie’s ist.“

„Aber warum?“

„Schon mal auf den Kalender gekuckt? Die Aussicht auf noch einen Heilig Abend allein mit Tiefkühlfraß und ’Ist das Leben nicht schön?’ hat mich nicht gekickt.“

„Das kann doch unmöglich der Grund sein“, entgegnet er. „Ich sitze Heilig Abend auch nicht friedlich mit meiner Familie unterm Tannenbaum, aber deshalb schlucke ich noch lange keine Tabletten.“

„Ich schon. Außerdem hab ich keine Familie.“

„Was ist denn mit deinen Eltern?“

„Keine Ahnung. Seit ich denken kann, hab ich im Heim gelebt. Und einmal kurz bei ’ner Pflegefamilie, die mich zurückbrachte, weil die mich für verhaltensgestört hielt.“

„Und du wolltest deine Eltern nie … äh … kennen lernen?“

„Nee. Die wollten mich ja auch nicht. Wahrscheinlich hat mich irgend so’ne Drogenschlampe geworfen, die sich lieber zugedröhnt hat, als sich um ein Baby zu kümmern. Würdest du so eine kennen lernen wollen?“

„Okay, also du hast vermutlich eine Menge Scheiße durchgemacht, aber …“

„Sag mal, was willst du eigentlich von mir?“, unterbreche ich ihn.

„Ich will dir helfen.“

„Damit du deinen Heiligenschein polieren kannst? Lass stecken.“

„Nein, du Idiot. Damit du’s nicht noch mal versuchst.“

„Heute bestimmt nicht. Also wenn du jetzt bitte gehen würdest … ich hab eine Hausarbeit zu schreiben.“

„Ruf mich an, wenn was ist, ja?“, bittet er und kritzelt mir seine Nummer auf einen Zettel, bevor er geht.


Kilian ist super hartnäckig. Und super nervig. Jeden Abend besucht er mich, obwohl ich ihn natürlich nicht ein einziges Mal angerufen habe. Vermutlich denkt er, wenn er vorgibt, mein Freund zu sein, kriege ich sofort wieder die totale Lust aufs Leben. Das ist nicht der Fall. Ich bin immer noch fest entschlossen, nur dass sich die Angelegenheit etwas verzögert.

„Dein Mitbewohner hat sich echt einfach aus dem Staub gemacht?“, fragt er.

„Sieht so aus.“

„Und jetzt? Suchst du einen neuen?“

„Wohl kaum. Würd sich ja eh nicht lohnen.“

Kilian verzieht das Gesicht. „Ja, aber wenn du nicht … ich meine, würdest du dann jemanden suchen?“

„Schon möglich. Wieso? Willst du hier einziehen?“

„Nee, aber meine Schwester hat Ärger mit den Nachbarn, weil die andauernd so laut sind, ständig Party machen und so weiter. Die sucht ganz dringend eine Wohnung. Oder ein WG-Zimmer.“

„Dann sag ihr, dass meine Wohnung bald frei wird.“

„Okay. Wann?“

„Wie bitte?“

„Rosalie wird wissen wollen, ab wann deine Wohnung frei wird.“

Nee, oder? „Deine Schwester heißt Rosalie?“

„Ja, hast du ein Problem damit?“

Ey, das ist doch unmöglich. Das geht doch gar nicht. Äh … hat der mich gerade übrigens gefragt, wann ich … wie unverschämt!

„Da du offenbar noch nicht so genau weißt, wann du dich vergiftest, vor einen Zug wirfst, erhängst oder dir die Pulsadern aufschneidest, schlage ich vor, dass ich Rosalie morgen einfach mal mitbringe.“

„Hat deine Schwester einen Freund, Verlobten oder so was? Ich hab nämlich keine Lust auf zwei Mitbewohner, die permanent rumknutschen.“

„Du bringst dich doch eh um, also kann’s dir egal sein.“

„Allerdings“, grummele ich und schmeiße Kilian raus.

Am nächsten Abend steht er wieder auf der Matte. Zusammen mit seiner Schwester, die eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner geträumten Rosalie hat. Ihre Haare sind vielleicht etwas kürzer. Und rot anstatt blond.

„Wenn du nichts dagegen hast, schaffe ich am Wochenende mein Zeug her“, erklärt sie bei der Zimmerbesichtigung.

„Kommst du denn so schnell aus deinem Mietvertrag raus?“

„Logisch. Und wenn nicht, drohe ich dem Vermieter eine fette Klage an. Weil’s im Badezimmer schimmelt, was er zwar weiß, wogegen er jedoch nichts unternimmt, der alte Penner.“

Verdammt. Na ja, ziehe ich eben mein As aus dem Ärmel. „Einverstanden. Da gibt’s bloß einen … Haken. Mein Ex-Mitbewohner hat mich total hängen lassen, die Stromrechnung ist fällig und ich hab kein Geld. Also müsstest du die übernehmen.“ Jetzt wird sie sicher ablehnen!

„Geht klar“, lächelt sie. „Wie viel brauchst du?“

„Zweihundertfünfundsiebzig Euro“, antworte ich, nachdem ich meine Kinnlade vom Boden aufgehoben habe. „Ist die Jahresabrechnung.“

„Gasheizung, mh? Teurer Spaß. Na gut, haue ich halt Paps an, der kann ruhig ein bisschen Kohle lockermachen.“

Wenn die mir gleich erzählen, dass ihr Vater König ist, setze ich mir ein Propellerhütchen auf und stecke mich selber in eine Zwangsjacke!!

Rosalie wendet sich an ihren Bruder. „Übrigens hat Paps schon wieder nach dir gefragt. Willst du dich nicht mal wieder bei ihm melden?“

„Du weißt, was los ist“, entgegnet er.

„Und du bist ein kleiner Feigling. Nur weil er irgendwann mal was Blödes gesagt hat …“

„Lass uns das nicht jetzt besprechen, ja?“, unterbricht er sie.

Sie glotzt ihn an, dann mich, dann grinst sie. „Oh … verstehe.“

Ich verstehe nicht, was aber wahrscheinlich auch besser ist, denn die beiden kommen mir vor wie Entsprungene.

„Was macht’n dein Vater so beruflich?“, frage ich als Rosalie weg ist und Kilian irgendwie nicht daran denkt, sich zu verabschieden.

„Der hat eine Waffelfabrik.“

„Was hat der?“

„Kennst du nicht Jasper-Waffeln? Oder Jasper-Schokoküsse? Gibt’s überall im Supermarkt zu kaufen.“

„Doch, kenne ich. Die sind lecker. Ach du Kacke … das seid ihr?“

„Yep.“

„Und? Übernimmst du später die Fabrik?“

„Ja, sicher“, verdreht er die Augen. „Deshalb studiere ich ja auch Kunstgeschichte.“

„Kunstgeschichte? Was hattest du dann in meiner Vorlesung zu suchen?“

„Das Thema hat mich interessiert. Außerdem ist Professor Reinhard …“

Ein vergewaltigender Folterknecht!

„… ein Freund von meinem Vater. Und ich überlege zu wechseln, weil … Kunstgeschichte studieren irgendwie nur Mädchen, und so spannend, wie ich’s mir vorgestellt hab, ist das auch nicht.“

Ich kann mir ungefähr vorstellen, warum der arme Professor in meinen Komaträumen so schlecht weggekommen ist. Es heißt doch, dass man in Träumen unangenehme Dinge verarbeitet. Ich hab bestimmt die letzte Hausarbeit verarbeitet, die er in der Luft zerrissen hat. Völlig zurecht, wenn ich ehrlich bin, ich hatte mir nicht wirklich viel Mühe gegeben.

„Hast du deswegen Stress mit deinem Vater? Weil du nicht in seine Fußstapfen trittst?“

Kilian blickt mich leicht irritiert an. „Wer behauptet, dass ich Stress … ach so, weil Rosalie so was gesagt hat. Ja, nee, da sind noch andere Sachen.“

„Was für Sachen?“

„Entschuldige, aber warum interessiert dich das?“

„Tut es nicht“, zucke ich die Schultern. „Wollte eben höflich sein.“

„Wenn du höflich sein willst, mach mir einen Tee.“

„Trink den lieber bei dir zu Hause. Ich hab keinen Bock mehr auf Gesellschaft.“

„Du bist genauso charmant, wie ich dachte“, lächelt er.

„Ach ja?“

„Ja“, antwortet er. „Du müsstest dich mal dabei beobachten, wie du durch die Uni rennst.“

„Wie denn?“

„Als hättest du unter deiner Jacke ein paar Handgranaten, die du jede Sekunde werfen wolltest. Du kuckst echt wie Frankensteins Monster.“

„Vielleicht habe ich keinen Grund, mit breitem Grinsen herumzulaufen.“

„Jaja, weil du im Heim aufgewachsen bist und dein Mitbewohner weg ist. Schon mal überlegt, dass es anderen Leuten viel schlechter geht als dir?“

„Nein. Was hätte ich auch davon? Erstens kenne ich die Leute nicht und zweitens ist es mir egal. Würde es mir oder den anderen Leuten dadurch besser gehen, dass ich an sie denke?“

„Ich denke an dich. Und du bist noch hier.“

„Weil du unbedingt den Helden spielen musstest“, rege ich mich auf. „Was hattest du überhaupt mitten in der Nacht an der Brücke verloren?“

„Ich bin spazieren gegangen.“

„Nachts?“

„Ist deine Erklärung irgendwie intelligenter?“

„Leck mich am Arsch.“

„Heute nicht mehr“, schüttelt er den Kopf. „Ich geh jetzt nach Hause und trinke einen Tee.“


Rosalie ist tatsächlich letztes Wochenende mit Sack und Pack eingezogen, die Stromrechnung inzwischen bezahlt und ein neues Türschloss eingebaut. Jetzt beschäftigt mich noch die Frage, ob Kilian seiner Schwester erzählt hat, dass ich „suizidgefährdet“ bin, denn … Rosalie rückt mir so eigenartig auf die Pelle. Bietet an, mit mir zusammen einkaufen zu gehen, oder fragt, ob sie mir was mitbringen soll, beispielsweise. Pascal, mein Ex-Mitbewohner, hat das nie gemacht. Der hat sich immer nur schön bedient, wenn was da war. Einen Adventskranz hat Rosalie auf den Wohnzimmertisch gestellt, eine Duftlampe, die nach Weihnachten riechen soll, dazu und Fensterbilder an die Scheiben gepappt … Engel und Eiskristalle. Ihre altmodische Stehlampe mit Fransen in Altrosa hat sie ebenfalls ins Wohnzimmer geschafft. Und eine Sternchendecke über die hässliche Couch geworfen.

„Vielleicht sollten wir im neuen Jahr mal streichen, Erik, was meinst du?“, überlegt sie. „Deine weißen Wände erinnern irgendwie an Klapsmühle.“

„Von mir aus.“ Soll die doch planen, ich habe nicht vor, das neue Jahr zu erleben.

„Wie wäre es mit einem freundlichen Gelb fürs Wohnzimmer?“

„Ja, ist mir egal.“

„Tu bitte wenigstens so, als würde dich das begeistern“, entgegnet sie schnippisch.

Haha, genauso kenne ich sie aus meinen Träumen!

„Yeah, Gelb … was für eine tolle Idee“, freue ich mich übertrieben.

„Ich hab schon Leute für weniger zusammengeschlagen“, droht sie.

„Echt? Du bist eine Schlägerbraut?“

„Nein, aber ich drohe gerne“, grinst sie. „Wenn man das gescheit drauf hat, erübrigt sich das Schlagen. Hast du noch was vor heute?“

„Du meinst außer meinem Treffen mit Obama, Merkel und der Königin von England?“

„Ich will Plätzchen backen. Kannst mir helfen. Kellox hab ich auch schon herbestellt.“

Oh nein, jetzt geht das wieder los. „Kellox?“

„Ich verrat’s dir, dann kannst du ihn damit aufziehen“, kichert sie. „Kilian liebte als Kind Cornflakes, der wollte nichts anderes essen. Und Paps erzählt immer, das erste Wort, das Kilian schreiben konnte, war nicht etwa sein Name oder so, nein, es war Kellogs. Allerdings mit ’x’, anstatt mit ’gs’ am Ende. Seitdem hat er seinen Spitznamen. Und er hasst ihn.“

„Süß“, sage ich aus Versehen und werde rot.

Kurze Zeit später klingelt es.

„Hey, Kellox“, begrüße ich ihn, fies lächelnd.

„Rosalie, du Arsch“, brüllt er und stürmt in die Küche.

Ich höre seine Schwester laut lachen und folge Kilian. Der Tisch ist vollgerümpelt mit Schüsseln, Zutatenpackungen und anderen Dingen, die ich in meiner Küche bisher noch nie gesehen habe.

„Scheiße, die hat das ernst gemeint“, flüstert Kilian entsetzt.

Rosalie ist schon dabei, Mehl, Zucker und so weiter abzumessen. Hin und wieder wirft sie, etwas konfus, einen Blick auf den Rezeptzettel.

„Okay, wir machen ganz normale Weihnachtskekse. Lebkuchenteig fürs Knusperhaus überfordert uns.“

„Äh …“, meldet sich Kilian zu Wort, „normale Weihnachtskekse überfordern uns auch schon.“

„Schnauze“, zischt sie. „Ich habe Magnus Kekse versprochen, also kriegt Magnus Kekse.“

Ich traue mich nicht zu fragen, wer Magnus ist, weil ich das bereits weiß, aber eigentlich gar nicht wissen dürfte.

„Meinst du nicht, Magnus fickt dich auch ohne Kekse?“, fragt Kilian.

„Ich ziehe dir gleich das Nudelholz über den Schädel“, erklärt Rosalie.

Als die Zutaten vermischt sind und der Mixer trotz anmontierter Knethaken beim besten Willen nicht mehr gegen die Klebrigkeit ankommt, streut Rosalie Mehl auf den Tisch und klatscht den Teigklumpen darauf.

„Das muss jetzt einer von euch machen. Ich breche mir sonst die Nägel ab. Erik, knete den Teig!“

Ich kremple also die Ärmel hoch und knete. Leider klappt das aus irgendwelchen Gründen nicht.

„Da muss mehr Mehl dran“, beschließt Kilian und streut mir was über die Flossen. Dann stellt er sich dicht hinter mich. „Gleichmäßig. Soll doch geschmeidig werden, damit man ihn ausrollen kann.“ Offensichtlich bin ich ihm zu ungeschickt, denn seine Hände gesellen sich zu meinen. Mann, was ist den jetzt los? Seine Nähe macht mich ganz kribblig. Nicht, dass mir dieses Kribbeln neu wäre, aber dass Kilian mir so nah ist, das ist tatsächlich ungeheuer neu.

Es wäre beim gemeinschaftlichen Kneten sicher auch nicht nötig, dass seine Wange ständig an meiner schubbert.

„Das reicht. Jetzt gib mir das Nudelholz und bestäub das mit Mehl.“

Fachmännisch rollt er sich einen dranlang, während meine Hände untätig auf dem Tisch liegen. Ich spüre seinen Atem an meinem Ohr und seinen Körper, der sich gegen meinen drückt. Langsam drehe ich mich um. Kilians Lippen sind total in Kussnähe. Und was soll sein schmusiger Blick? Mir wird flau. Dann zucken wir zusammen, weil Rosalie das Backblech auf den Tisch knallt.

„Nehmt euch ein Zimmer, du meine Güte!“

Das tun wir natürlich nicht, sondern backen Kekse für Magnus. Dass ich dabei ziemlich durcheinander bin, versteht sich von selbst. Ich meine … was war das? Es wirkte fast ein bisschen so, als hätte Kilian mich küssen wollen, was logischerweise nicht sein kann, weil wir nicht plötzlich im Wunderland leben. Kilian würde sich in einer Millionen Jahren nicht für einen wie mich interessieren. Warte mal, der alte Coelestin hat doch behauptet … nee, den alten Coelestin hab ich mir ja bloß ausgedacht. Also wollte Kilian mich entweder verarschen, oder er denkt, dass er besonders nett zu mir sein muss, damit ich nicht sofort wieder von der Brücke hopse. Oder meinen Kopf in den Gasherd stecke.

Beim Händewaschen weiß ich wahrscheinlich, warum Kilian seine Ärmel nicht hochgeschoben hat, als er mit dem Teig hantierte, wie es jeder halbwegs normale Mensch getan hätte. Seine Unterarme sind übersät mit feinen, weißen Narben und es scheint ihm peinlich zu sein, denn er zieht seine Ärmel ein wenig zu hektisch runter.

Nachdem die Plätzchen fertig sind und Rosalie zu ihrem wöchentlichen Yoga-Kurs gegangen ist, setzt sich Kilian zu mir auf die Couch.

„Okay, also … ich hab mir eine Zeit lang die Arme zerschnitten. Du hast die Narben gesehen, deshalb sag ich’s dir lieber, damit du keine blöden Fragen stellen musst.“

„Hätte ich sowieso nicht. Allerdings verstehe ich nicht, wieso man sich selber weh tut. Das ist mir unbegreiflich.“

„Sagt derjenige, der versucht hat, sich umzubringen.“

„Das ist was anderes“, finde ich. „Ich wollte, dass endlich Schluss ist. Du stehst drauf, dich zu quälen. Warum?“

„Masochismus?“, schlägt er vor.

„Ha Ha.“

„Du verlangst, Dinge zu erfahren, über die ich nicht mal so locker mit meinem Therapeuten spreche.“

„Du hast einen Therapeuten?“, frage ich überrascht.

„Na und? Ist das vielleicht was Schlimmes?“

„Nee.“

Seine Augen blitzen. „Klang aber so.“

„War aber nicht so gemeint.“

„Du wärst ja wohl auch der Letzte, der sich darüber ein Urteil erlauben sollte.“

„Erlaube ich mir doch gar nicht.“

„Du bräuchtest nämlich viel dringender einen.“

„Komm mal wieder runter.“

„Komm du mal lieber von deinem scheiß Todestrip runter“, schreit er mir ins Gesicht.

Na gut, das muss ich mir nicht geben. Ich stehe auf und verziehe mich in mein Zimmer.

Keine Minute später reißt Kilian die Tür auf.

„Das ist alles, was du kannst, ja? Dich verpissen, wenn’s unangenehm wird.“

„Du bist ja wohl der Letzte, der sich darüber ein Urteil erlauben sollte“, lächele ich horrorartig. „Wie ist das eigentlich? Benutzt du ein Messer oder eine Rasierklinge, um dich zu verstümmeln? Und wenn sich die Klinge ins Fleisch bohrt, spürst du dich dann wieder?“

„Ich krieg jedenfalls noch etwas mit. Du bist doch schon völlig weg. Wie ist das eigentlich? Sammelst du schon wieder heimlich Pillen? Dann friss doch beim nächsten Mal bitte so viele, dass du nicht mehr aufwachst.“

Fast hätte ich ihm reflexartig meine Faust in die Fresse gedonnert. „Es würde schon ausreichen, wenn du mir nicht wieder in die Quere kommen würdest.“

„Du bist so ein gottverdammtes Arschloch“, krakeelt er und schubst mich dermaßen hart gegen die Wand, dass mir beinahe die Luft wegbleibt.

„Willst du mir jetzt zeigen, wie toll Schmerzen sind?“, zische ich.

Seine Hände umfassen meinen Nacken. „Ich bin verliebt in dich“, flüstert er, ohne mich anzuschauen, „seit ich dich das erste Mal an der Uni gesehen habe.“

„Was?“

„Du hast mich verstanden, Erik.“

Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und bei mir fehlen vermutlich auch schon ein paar, denn mein Mund nähert sich seinem Ohr.

„Ich bin auch in dich verliebt … seit ich dich zum ersten Mal an der Uni gesehen habe.“

Kilian hebt den Kopf und küsst mich. Danach stiert er mich verwirrt an.

„Das …“, er leckt sich leicht die Lippen, „das fühlt sich an … als hätte ich dich schon hundertmal geküsst.“

„So langweilig?“

„Nein … so vertraut. Das ist … verrückt.“

Sehr richtig. Total verrückt. Oberverrückt.

Wir küssen uns einfach noch mal. Ziemlich lange. Ziemlich heftig. Mein Hirn stellt sich automatisch ab. Das hier ist zu schön, um es zu begreifen, um überhaupt darüber nachzudenken, was geschieht und warum gerade jetzt. Es spukt mir jedoch kurz die Frage, wieso wir plötzlich halbnackt auf meinem Bett liegen, durch den Kopf.

„Das ist jetzt möglicherweise etwas … schnell“, murmelt er an meinem Hals, „und du sollst auch nicht denken, dass ich nur mit dir ins Bett will, aber …“

„Ja“, unterbreche ich ihn.

„Ähem … jetzt?“

„Okay“, wispere ich und schlinge meine Arme um seinen Körper.

„Hast du Gummis?“

Mist!! „Ich … äh … ich glaub nicht. Weil, also bisher brauchte ich keine. Jedenfalls nicht für das, was ich … also geschlafen hab ich noch mit keinem.“ Mit wem auch? Als Teenie hab ich mich nicht getraut und mit den wenigen Typen, die sich danach für mich interessierten, wollte ich nicht schlafen. Hab wohl romantisch immer auf den Richtigen gewartet. Dass der Richtige dir dann allerdings so einen geschockten Blick zuwirft, macht’s irgendwie peinlich.

„Mh, vielleicht sollten wir dann doch lieber später … irgendwann …“

„Eben wolltest du noch.“

„Klar, aber dein erstes Mal …“, er sieht mich, scheint zu überlegen und grinst, „scheiß drauf!“

Nach einer weiteren Knutschattacke befreit er sich aus meinen Armen.

„Wart mal kurz. Nicht weggehen, ja?“

Er verlässt das Zimmer, kommt aber eine Minute später mit seiner Tasche zurück, kramt ein bisschen herum und zaubert Kondome und ein Gleitmittel hervor.

„Schleppst du so was ständig mit dir rum oder hast du geplant, mich heute ins Bett zu kriegen?“

„Es ist nicht verkehrt, vorbereitet zu sein“, entgegnet er achselzuckend.

Als wir miteinander schlafen ist das betörend und verstörend zugleich. Ich spüre Kilians Berührungen, seine Bewegungen und ich spüre, wie mein Körper darauf reagiert. Das ist alles so real und fassbar und direkt, als wäre ich die letzten Wochen und Monate vollkommen ausgeschaltet gewesen, zu überhaupt keiner Empfindung mehr in der Lage.

Ich bin so durcheinander, dass ich danach gar nichts sagen kann.

„Erik, bist du in Ordnung?“

Langsam drehe ich mich zu ihm um.

„Ich bin wieder daha …“, brüllt Rosalie durch die Wohnung und poltert im Flur herum.

Kilians Lächeln stirbt. „Fuck, wenn die mitkriegt, dass wir …“

„Weiß deine Schwester etwa nicht, dass du auf Männer stehst?“

„Doch“, stöhnt er, „aber wenn die mitkriegt, dass wir beide verknallt sind, macht die bestimmt andauernd dämlich Sprüche … wie vorhin mit dem Zimmer.“

Na, das kann ja heiter werden!

Wir ziehen uns an und gehen ins Wohnzimmer. Rosalie hockt auf der Couch und nippt an etwas Alkoholischem.

„Ich trink mir einen“, verkündet sie angeschickert.

„Hast du das nicht schon mit deinen Yoga-Mädels getan?“, fragt Kilian.

„Allerdings“, rülpst sie. „Und nur euretwegen. Schließlich wollte ich euch beim gegenseitigen Umwerben nicht stören. Und wie ich sehe, habt ihr die Zeit sinnvoll genutzt, was? Euch steht das Wörtchen ’dummunddämlichficken’ quasi auf der Stirn geschrieben.“

„Das sind eigentlich mehrere Wörtchen“, bemerke ich.

„Hey, ich hab schon einige hiervon“, sie hebt ihr Glas, „intus.“

„Wie hält Magnus es bloß mit dir aus?“, schüttelt Kilian den Kopf.

„Er liebt mich“, lächelt sie verträumt. „Ist das nicht toll? Gott, ich vermisse ihn. Immer lässt er mich allein.“

„Wieso legst du dich nicht hin und schläfst deinen Rausch aus?“, schlägt Kilian vor.

Rosalie zieht eine Grimasse. „Meinst du, wenn ich nüchtern bin, vermisse ich meinen Freund nicht, oder was? Gerade du solltest wissen, wie das ist.“

„Ja“, antwortet er, „trink noch was.“

„Hast du ihm die Geschichte erzählt? Hat er dir die Geschichte erzählt, Erik?“

„Äh … nee.“

„Rosalie, das ist jetzt echt unpassend.“

„Genau“, sagt sie und leert ihr Glas. „Immer alles schön unter den Teppich kehren. Bloß nicht über irgendwas reden. Ihr zwei kotzt mich an. Einer bekloppter als der andere. Kein Wunder, dass ihr zusammen im Bett gelandet seid. Aber ich hab’s satt, mir Sorgen zu machen, versteht ihr? Ihr könnt mich am Arsch lecken. Gute Nacht.“ Mühsam rappelt sie sich hoch und schwankt in ihr Zimmer.

„Was hatte das denn zu bedeuten?“

„Ich werd mal nach Hause gehen“, murmelt Kilian.


Rosalie hat sich für ihre alkoholbedingten Aussetzer entschuldigt. Und von Kilian hab ich seit drei Tagen nichts gehört. Das macht mich nervös. Normalerweise ist der jeden Abend da und auf einmal, wo er in mich verliebt ist, bleibt er weg. Was soll man davon halten? Rosalies Gefasel hängt mir auch noch nach. Was ist das für eine Geschichte, die Kilian mir hätte erzählen sollen? Aus seiner Schwester kriege ich nichts raus, das hab ich bereits versucht. Na ja, immerhin weiß ich jetzt, dass Magnus ungefähr vierhundert Kilometer entfernt wohnt und sich nicht entscheiden kann, hierher zu ziehen, weil er seinen Job nicht aufgeben möchte. Er ist Sozialarbeiter in einer betreuten WG und will die Kiddies halt nicht im Stich lassen oder so ähnlich. Ein Bild hat sie mir gezeigt. Von Magnus. Er sieht, mit etwas Phantasie, tatsächlich ein bisschen aus wie Ice-T. Vielleicht haben ja Pillen und Unterkühlung bei mir hellseherische Fähigkeiten aktiviert. Hab ich zwar noch nie gehört, aber es wäre zumindest eine halbwegs plausible Erklärung.

Eine Erklärung, was mit Kilian los ist, bekomme ich möglicherweise gleich geliefert, denn als Rosalie gerade zur Tür rausgeht, um sich mit Freundinnen zu treffen, kommt Kilian herein.

Er begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange. Ich nehme ihm seine Fake-Fröhlichkeit nicht wirklich ab und bleibe skeptisch.

„In den letzten Tagen viel zu tun gehabt?“

„Ziemlich“, ist seine knappe Antwort.

„Hör mal, wenn du doch nur Sex gewollt hast, hättest du mir das sagen können.“

„Wenn’s mir nur darum gegangen wäre hätte ich jetzt ungefähr hundert Probleme weniger“, lächelt er gequält. „Erik, ich kann das nicht. In dich verliebt zu sein und ständig Angst um dich haben zu müssen … das macht mich kaputt. Mein Therapeut hat mir auch davon abgeraten, was mit dir anzufangen.“

„Mal drüber nachgedacht, den Therapeuten zu wechseln?“

„Aber er hat Recht. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie’s mir geht, seit ich dich aus dem Wasser gefischt habe. Andauernd überlege ich, wann du den nächsten Versuch startest und dass ich dann möglicherweise nicht da bin. Dass ich zu spät komme und du …“

Ach du Scheiße! Heult der etwa? Meinetwegen??

„Ich war gestern so kurz davor …“, er ritzt sich angedeutet in den Arm.

„Was hat dich abgehalten?“

„Die Erfahrung, dass es dadurch auch nicht besser wird. Dass ich nur ein paar hässliche Narben mehr hätte.“

Und ganz plötzlich fühlt man sich, ohne es zu wollen, verantwortlich für einen Menschen. Weil man diesen Menschen gern hat und nicht der Auslöser für seine Schlitzereien sein möchte. Weil man diesem Menschen vielleicht auch irgendwie wichtig ist. Zaghaft greife ich nach seinen Händen.

„Danke.“

„Wofür?“

„Für mein Leben.“

Kilian zieht seine Hände weg und starrt mich an. „Warum sagst du mir das jetzt?“

„Mir war irgendwie danach.“

„Fragt sich nur, wie lange die Dankbarkeit anhält“, entgegnet er düster.

„Hör mal, ich bin weder depressiv, noch todessehnsüchtig oder akut suizidgefährdet.“

„Das wird dir wahrscheinlich jeder Depressive, Todessehnsüchtige oder akut Suizidgefährdete einreden.“

„Ich bin gesprungen, weil ich überhaupt keinen Sinn mehr in meinem Tun gesehen habe. Studium, nebenbei jobben … wofür? Wozu sich abkrampfen? Warum morgens aufstehen, wenn jeder Tag nur noch anstrengt und weh tut? Ich wollte, dass das endlich vorbei ist.“

„Klingt für mich nicht unbedingt lebensbejahend.“

„Ich versuche bloß, dir zu erklären, dass ich nicht bewusst sterben, sondern einfach nur dieser Situation entkommen wollte. Und die Gewissheit, dass man ganz alleine ist und niemand einen vermissen würde, hat mich in meinem Entschluss bestärkt. Es gab keinen einzigen Menschen, für den es einen Unterschied gemacht hätte. Das ist ungefähr die schlimmste Erkenntnis, zu der man gelangen, das brutalste Gefühl, das man haben kann.“

„Den Menschen gab es schon, aber er war halt zu feige, dich anzusprechen.“

„Klar, wer hat denn auch Lust, mit Frankensteins Monster zu reden?!“

„Entschuldige … du hast wirklich so gekuckt.“

„Wenn ich dir sage, dass ich inzwischen einen Grund gefunden habe, um weiterzumachen, glaubst du mir das?“

„Soll ich?“

„Ich will mit dir zusammen sein. Das ist alles, was ich im Augenblick weiß.“

Umständlich rückt Kilian näher, setzt sich auf meinen Schoß und küsst mich. Seine Hände schieben sich unter meinen Pullover und streicheln meine Haut.

„Guten Abend.“

Kilian und ich hören abrupt auf zu knutschen und glotzen Rosalie an, die im Wohnzimmer steht … Hände in die Hüften gestemmt.

„Hallo“, murmelt Kilian.

„Ihr haltet das hier für eine gute Idee, ja?“

„Du wohnst zwar hier, aber es geht dich verdammt noch mal nichts an, was zwischen uns läuft“, ärgere ich mich über ihre Einmischung.

„Schätzchen, wenn ihr es wie auf dem Präsentierteller treiben wollt, geht mich das sehr wohl etwas an. Stellt euch vor, ich wäre später gekommen und hätte Gäste mitgebracht. Das Erste, was die zu sehen kriegen, sollte ja wohl nicht unbedingt ein Schwulenporno sein.“

„Hast du denn Gäste mitgebracht?“, fragt Kilian.

„Nein. Aber ich will so was auch nicht sehen. Also jedenfalls nicht mit meinem Bruder in der Hauptrolle. Ich zwinge dich schließlich auch nicht zuzukucken, wenn ich ein Schäferstündchen mit Magnus veranstalte. Diskretion, mh?“

„Seit wann bist’n du so verklemmt?“

„Außerdem möchte ich keine Wichsflecke auf meiner Sternchendecke haben“, ignoriert sie die Frage ihres Bruders. „Was machen wir eigentlich Weihnachten?“

„Bist du Heilig Abend nicht zu Hause?“

Rosalie blickt Kilian finster an. „Und du?“

„Ich denke nicht, dass Paps großen Wert drauf legt.“

„Weil er keine Ahnung hat, warum du den Kontakt zu ihm abgebrochen hast. Ich finde dein Verhalten lächerlich, Kilian.“

„Du bist ja auch keine Schwuchtel, über die man Witze reißt.“

„Schwulenwitze sind natürlich genauso politisch unkorrekt wie Blondinenwitze, Dickenwitze, Ostfriesenwitze, aber nur weil man mal über Schwule, Blondinen, Dicke, Ostfriesen lacht, heißt das nicht, dass man generell was gegen diese Leute hat.“

„Wenn du lesbisch wärst und Paps ständig Lesbenwitze reißen würde, würdest du sicher anders darüber denken.“

„Wenn Paps wüsste, dass du auf Kerle stehst, würde er sich mit irgendwelchen Witzen sicher zurückhalten, weil ihm dann einfallen würde, dass dich das eventuell verletzen könnte. Hat er jemals ausdrücklich gesagt, dass er Homosexualität widerlich findet? Nein. Hat er jemals gesagt, dass er dich verstoßen würde, wenn du mit einem Freund ankämst? Nein. Du befürchtest dir einfach nur irgendwas zusammen. Was ist mit dir, Erik? Bist du Weihnachten bei deiner Familie?“

„Ich bin die Familie. Es gibt bloß mich.“

„Oh … okay, dann feiern wir zusammen. Es sei denn, du hast was gegen Weihnachten, aber da musst du dann leider durch“, zuckt sie die Schultern. „Ich will jedenfalls einen geschmückten Baum, Geschenke und schnulzige Weihnachtslieder im Hintergrund. Außer Last Christmas ist alles erlaubt.“

Mir kommen beinahe die Tränen, wenn ich mir vorstelle, dass ich zum ersten Mal seit vier Jahren die Feiertage nicht allein verbringen muss. Ich hoffe echt, dass ich nicht aus Versehen immer noch träume.

Als Kilian und ich später im Bett liegen ist er ziemlich still.

„Wenn man einmal angefangen hat, ist es schwer, damit aufzuhören“, flüstert er.

„Hä?“

„Weil es so einfach ist … der Ausweg aus einem unerträglichen Zustand. Aber hinterher ist es fast noch schlimmer, weil man sich so dumm vorkommt, kindisch. Deine Freunde verstehen das nicht, weil sie solche Zustände nicht kennen. Die denken vielleicht, du willst Aufmerksamkeit, oder bemitleidet werden oder so’n Scheiß. Darum geht’s aber nicht.“

„Das ist mir klar“, antworte ich. „Ich begreife allerdings auch nicht, warum du dir noch zusätzlich weh tust, wenn du eh schon mies drauf bist.“

„Mies drauf beschreibt nicht so ganz, was da in einem abgeht … es ist als würde man in einem Raum stehen, in dem nichts ist, keine Fenster, keine Türen, gar nichts und man versuchst, da irgendwie raus zu kommen. Aber es gibt keine Möglichkeit, man ist gefangen und kann nichts dagegen tun.“

„Und das Ritzen ist die Tür nach draußen“, mutmaße ich.

„Klingt ganz schön kaputt, mh?“

„Klingt als wäre es ganz gut, dass du in Behandlung bist.“

Dann erzählt Kilian von seiner letzten Beziehung. Dass er in einen Typen verliebt war, der ihn nach Lust und Laune runterputzte, unzählige Male fremdging und Kilian eigentlich immer nur dann brauchte, wenn grad kein anderer Kerl zur Verfügung stand. Fast zwei Jahre hat er das mitgemacht, weil er halt dachte, dass der Typ doch irgendwann mal merken müsste, wie sehr er ihn liebt und dass er sich Kilian gegenüber arschig verhält. Hat er natürlich nie gemerkt und über die Schnitte hat er bloß gelacht. Von wegen: Du benimmst dich wie ein dummer Teenie! Der Typ muss ein absoluter Psychopath gewesen sein, denn er hat Kilian oft auch noch unterstellt, dass er sich nur deshalb verletzt, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.

„Vielleicht verstehst du jetzt, dass ich’s mir nicht leisten kann, mich noch mal in eine kranke Beziehung zu stürzen.“

„Ich bin nicht krank. Und ich würde einen Menschen, den ich liebe, niemals so behandeln. Das wirst du feststellen, wenn du dich auf mich einlässt.“

„Hab ich doch schon längst … mich auf dich eingelassen, meine ich.“

„Ja, und nachdem wir unsere dunkelsten Momente voreinander ausgebreitet haben, sollten wir …“

„Nach vorne blicken, was?“, grinst er.

„So ähnlich … aber ohne abgedroschene Sätze.“

„Möglicherweise sollten wir jetzt überhaupt nicht mehr so viel reden.“

„Sondern?“

Er säuselt mir etwas sehr Unanständiges ins Ohr und setzt es anschließend auch gleich in die Tat um.


So, also Kilian und ich sind irre verliebt und haben ausgemacht, nicht mehr über Vergangenes zu reden. Das funktioniert relativ gut … ich untersuche bei gemeinsamen Kuschelstunden unauffällig seine Arme und er durchsucht unauffällig mein Zimmer, wenn ich aufm Klo bin, oder was zu essen hole oder Tee koche. Wahrscheinlich müssen wir ’vertrauen’ erst noch lernen. Mir ist immer noch schleierhaft, warum er gerade mich ausgesucht hat, warum ich nach all den schrecklichen Jahren endlich mal Glück habe.

Gestern hat er mich in einen Club mitgenommen, mir ein paar Freunde vorgestellt. Gesellig sein ist auch so eine Sache, die ich noch lernen muss. Eifersucht übrigens nicht, die stellte sich wie von selbst ein. Einige Typen da haben Kilian hinterher gesabbert, das war kaum auszuhalten. Okay, dieses schwarz-weiß geringelte Netzhemd-Pullover-Oberteil war verdammt sexy und ihn tanzen gesehen zu haben … Mann, allein dafür hat es sich gelohnt, dass ich mich von ihm hab retten lassen.

„Was zum Henker soll das sein?“, höre ich Rosalie im Wohnzimmer keifen.

„Der Baum“, antwortet eine mir unbekannte Stimme.

„Willst du mich verarschen? Du willst mich provozieren, oder?“

„Reg dich ab, Prinzessin. Wenn der zusammengesteckt …“

„Zusammengesteckt“, unterbricht sie die fremde Stimme hysterisch, „da haben wir den ersten Fehler. Weihnachtsbäume steckt man nicht zusammen. Man stellt sie auf.“

„Wenn der zusammengesteckt ist, kannst du ihn aufstellen, wie du lustig bist. Du wolltest einen Baum, du hast einen Baum. Und jetzt lass mich mit dem Scheiß in Ruhe.“

Neugierig begebe ich mich ins Wohnzimmer. Rosalie steht (Hände in die Hüften gestemmt) mitten im Raum und stiert angepisst auf einen länglichen Karton, der auf dem Boden liegt. Neben dem Karton steht ein Kerl, den ich sofort als Magnus identifiziere.

„Hallo“, grüße ich freundlich.

„Hey“, grüßt Magnus zurück und streckt mir seine Hand entgegen, die ich kurz schüttele, „du bist sicher Erik. Ich bin Magnus, Rosalies Exfreund.“

„Ex?“

„Sie wird bestimmt gleich mit mir Schluss machen, weil ich es gewagt habe, einen künstlichen Weihnachtsbaum mitzubringen“, erklärt er.

„Verstehe“, grinse ich.

„Hör auf zu grinsen, Vollidiot“, ranzt sie mich an. „Schaff mir lieber dieses Ding aus den Augen.“ Sie verpasst dem Karton einen gehörigen Tritt.

„Ich trete dir gleich in den Arsch, Prinzessin. Das Ding hat Geld gekostet, ja?“

„Vielleicht sieht der gar nicht so schlecht aus, wenn er geschmückt ist“, überlege ich.

„Ein unechter Baum … fehlt eigentlich nur noch, dass irgendwer Last Christmas dudelt.“

„Also das traue selbst ich mich nicht“, lacht Magnus und umarmt seine Freundin. „Kuck mal, das Teil ist total praktisch. Es nadelt nicht und du kannst es nächstes Jahr wieder benutzen. Und übernächstes Jahr. Und überübernächstes Jahr.“

„Halt den Rand, sonst mache ich doch noch Schluss mit dir“, warnt sie und knutscht ihn auf den Mund.

Danach stecken Magnus und ich den Baum zusammen und stellen ihn in die Ecke, wo normalerweise Rosalies altrosa Fransenschirm-Lampe steht.

„Da kann man nicht mal Lametta dranhängen“, beschwert sie sich während des Schmückens.

„Lametta ist eh scheiße“, zuckt Magnus die Achseln.

„Du hast doch keine Ahnung. Du bist’n Kerl. Stell dir mal vor, ich würde dir gleich unechte Kekse servieren. Stundenlang hab ich in der Küche gestanden für dich. Stundenlang.“

„Entschuldigung“, mische ich mich ein, „WIR haben in der Küche gestanden. WIR.“

„Verbrüdere dich ruhig mit dem gegen mich.“

„Ja, ich sag dann wohl lieber nichts mehr.“

„Eine gute Entscheidung“, grummelt sie, knallt den Stecker der Lichterkette in die Steckdose und bringt den unechten Baum zum Leuchten.

„Hübscher Baum“, wage ich zu sagen und summe leise Last Christmas.

„Und wenn man ihn mit Tannenduft besprüht, riecht er sogar gut“, behauptet Magnus.

Rosalie lässt sich auf die Couch fallen und lacht sich kaputt.

„Wo sind’n meine Kekse?“, fragt der falsche Gangster-Rapper, der in Wirklichkeit fast überhaupt nicht aussieht wie Ice-T.

„In meinem Zimmer“, antwortet Rosalie, greift nach seiner Hand und verschwindet mit ihm.

Ich mache die Lichterkette aus und warte auf Kilian, der längst da sein müsste.

Nichts zu tun zu haben ist gefährlich, weil man leicht ins Grübeln gerät. Allerdings sind meine Gedanken anders als vor meinem Suizidversuch, was natürlich logisch ist, weil mein Leben auf einmal anders ist. Das muss man auch erstmal verkraften. Vorher war mir alles egal, weil ich ja eine perfekte Lösung für meine Probleme hatte. Der Gedanke, dass man eben Schluss macht, wenn nichts mehr geht, war sozusagen mein einziger Rettungsanker und hat mich irgendwie durch den Tag gebracht. Jetzt gibt es Kilian. Jetzt kann ich nicht mehr einfach so verschwinden. Will ich auch gar nicht. Deswegen muss ich halt überlegen, wie alles weitergeht. Zum Beispiel brauche ich einen neuen Job, damit die restlichen Mietschulden gezahlt werden können. Rosalie hat einen Teil übernommen, was den Vermieter glücklich gemacht, mich aber beschämt hat. Immerhin hab ich ihr bereits die Stromrechnung aufs Auge gedrückt. Rosalie hat bloß gesagt, dass sich Freunde halt gegenseitig helfen und ihren Vater das bisschen Geld nicht arm macht und ich könnte es ja irgendwann zurückgeben.

Ich hab auch keine Ahnung, ob sich das Studieren überhaupt lohnt, und man nicht vielleicht doch besser eine andere Richtung einschlägt. Glücklicherweise brauche ich das nicht sofort zu entscheiden, weil es klingelt.

Kilian umarmt mich stürmisch und kickt mit dem Fuß die Tür zu.

„Du bist bei deinem Vater gewesen“, stelle ich fest.

„Wie kommst du darauf?“

„Du riechst nach Waffeln.“

„Ja, Paps überwacht immer noch gerne die Produktion. Hey“, er schiebt mich ein Stückchen von sich weg, „hör gefälligst auf, mich so abzuschnüffeln.“

„Und? Hast du dich mit ihm versöhnt?“

„Noch nicht ganz. Aber er hat sich echt gefreut, dass ich zu ihm gekommen bin … ist doch ein guter Anfang. Außerdem findet er, die Familie sollte morgen zusammen sein. Wo ist denn Rosalie? Ich muss ihr noch Bescheid sagen.“

„Die ist in ihrem Zimmer. Mit Magnus. Ich würde die jetzt nicht stören“, erkläre ich und merke, wie sich mein Hals zuschnürt. Morgen ist Heilig Abend!

„Dann eben später.“

Bedröppelt setze ich mich auf die Couch, Kilian kuschelt sich an mich.

„Scheiße, ist das ein unechter Baum? Wer hat sich das denn getraut?“

„Magnus.“

„Au weia“, kichert er.

Mir ist das Lachen vergangen, was Kilian bemerkt.

„Was ist los, Erik?“

„Nichts. Ich hab nur gedacht … aber, na ja, ist okay, wir können uns ja dann übermorgen treffen … oder nach Weihnachten … AUA, wieso machst du denn so was?“, frage ich irritiert, weil er mir grad mit der Hand gegen die Stirn gehauen hat.

„Du denkst echt, ich würde dich an Heilig Abend alleine hier neben dem unechten Baum hocken lassen, während ich mit meiner Schwester und Magnus fröhlich bei meinen Eltern rumhänge. Hast du dein Gehirn an der Garderobe abgegeben oder wie? Du kommst natürlich morgen mit.“

„Danke, aber ich will nicht aus Mitleid …“

„Erik“, unterbricht er mich ein bisschen wütend, „du gehörst jetzt zu mir, das bedeutet, du kannst dich vor Familienfesten nicht drücken. Ich hab ihm eh schon gesagt, dass ich jemanden mitbringe und morgen wird er erfahren, dass dieser Jemand mein Freund ist. Das schaffe ich aber nur, wenn du in meiner Nähe bist.“

„Hättest du ihn nicht wenigstens etwas … vorwarnen können?“

„Bitte, Erik, ich kann das nicht ohne dich. Ich mache mir total ins Hemd.“

„Und ich mir erst“, murmele ich.


Ich habe Magenschmerzen bis zum Fuß. Kilian ist ultra nervös, seine Hand in meiner ultra schwitzig. Rosalie schüttelt den Kopf.

„Man möchte annehmen, ihr würdet zu eurer Hinrichtung gehen. Du meine Güte, so schlimm wird’s schon nicht werden.“

Die Jaspers bewohnen eine schicke Villa am Stadtrand. Der Garten ist weihnachtlich geschmückt, aber eher geschmackvoll und dezent als überladen und kitschig. Weder hässliche Plastiknikoläuse, noch Rentiere, die einen Schlitten ziehen.

Eine Frau im schlichten Kostüm öffnet die Tür. Komisch, ich hatte irgendwie ein Hausmädchen erwartet.

„Hey, Mom.“

„Schön, dass ihr da seid“, lächelt sie herzlich und umarmt ihre Kinder, Magnus ebenfalls. Mich sieht sie etwas überrascht an.

„Das ist Erik“, stellt Kilian mich vor.

Ich krampfe mir ein „Guten Abend, Frau Jasper“, ab und gebe ihr höflich die Hand.

„Soso … Erik. Guten Abend.“

Die weiß Bescheid. Auf jeden Fall. Ihr Blick verrät sie. Jetzt fange ich auch an zu schwitzen.

Die Jacken werden aufgehängt, dann geht’s ins Wohnzimmer.

„DAS ist ein Baum“, flüstert Rosalie und boxt ihrem Freund verstohlen in die Seite.

In der Tat! So was kenne ich bisher nur aus dem Fernsehen. Und ich meine, das alles hier. Die Möbelstücke sind mit Sicherheit Antiquitäten und waren dementsprechend teuer. Die Sitzgelegenheiten wirken dagegen so neu, dass man sich fast nicht traut, sie zu berühren, oder sich gar draufzusetzen. Zusätzlich prasselt im Kamin auch noch ein Feuer.

Herr Jasper erhebt sich, gibt seiner Tochter einen Kuss, Magnus die Hand und sein Sohn wird vorsichtig umarmt. Dann bin ich an der Reihe.

„Paps“, beginnt Kilian, „das ist Erik. Mein Freund.“

Seine Mundwinkel zeigen plötzlich gefährlich Richtung Hölle. Kilians Hand grapscht nach meiner und drückt sie ganz fest.

„Dein … Freund?“, bollert Herr Jasper los.

Kilian nickt eingeschüchtert.

„Freund“, kriegt er sich gar nicht wieder ein. „Im Sinne von … fester Freund?“

Seine Frau legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „Ulrich, es ist Weihnachten.“

„Na, dein Sohn wird bestimmt nach Weihnachten immer noch schwul sein“, bemerkt er trocken.

„Unser Sohn.“

Ich schiele hoffnungsvoll zur Tür. Der Weg dorthin ist nicht allzu weit.

„Hast dir ja einen schönen Tag ausgesucht, um die Bombe platzen zu lassen.“

„Ich will mich nicht mehr verstecken“, erklärt Kilian. „Ich liebe Erik. Wenn du ein Problem damit hast …“

„Das Problem scheint eher bei dir zu liegen“, antwortet er und verpasst seinem Sohn einen leichten Schlag in den Nacken. „Oder warum rückst du erst so spät mit der Sprache raus?

Was hast du denn gedacht? Dass ich dich verstoße? Dich aus dem Haus werfe? Weil du einen Freund hast? Das ist doch nun wirklich nichts Schlimmes. Dass du uns, mich, so falsch eingeschätzt hast, das macht mich traurig, Kellox.“

„Ich hatte einfach Angst, dass du’s nicht verstehst.“

Ich hab Angst, dass ich einen Schwachsinnsanfall kriege, weil ich mich die Szene zwischen Vater und Sohn schon wieder an meinen Traum erinnert. Wo zur Hölle ist die nächste Klapsmühle?!

„Ich hab Hunger, können wir bitte essen?“, meldet sich Rosalie zu Wort.

„Einen Augenblick noch“, nickt Herr Jasper und streckt mir seine Hand entgegen, „Willkommen in der Familie, Erik.“

„D-Danke“, stottere ich verlegen und versuche, meine Beklemmungen niederzukämpfen.

„Keine Sorge, Junge, es ist wirklich alles in Ordnung“, behauptet der Hausherr rustikal.

Das Essen verschafft mir Zeit, mich etwas zu sammeln. Die Bescherung stehe ich auch ganz gut durch. Geschenke gibt es sowieso nicht mehr … die Kinder sind ja schon groß … es werden diskret Umschläge verteilt, in denen sich Geld befindet, nehme ich an. Süßigkeiten gibt’s allerdings. Und natürlich Jasper-Waffeln.

Leider werden danach bei einem Gläschen Wein Familiengeschichten zum Besten gegeben und mir wird’s doch zu viel. Nicht, dass ich’s langweilig finde, oder blöd oder kitschig. Aber ich kenne so was halt nicht, deshalb ist es schwer, das zu ertragen. Außerdem hab ich Panik vor den Fragen nach meiner Familie, die sicher gleich kommen werden. Oder noch entsetzlicher … die Frage, wie Kilian und ich uns kennen gelernt haben. Kilian scheint das zu spüren.

„Bist du müde, Schatz?“, fragt er leise und für alle hörbar erklärt er: „Erik hat nämlich die halbe Nacht an seiner Hausarbeit geschrieben.“

Ich muss kurz von meinem Studium berichten, dann dürfen wir uns endlich verabschieden.

Zu Hause findet eine weitere Bescherung statt. Diesmal mit Geschenken, weil Rosalie darauf bestanden hatte. Sie rümpft selbstverständlich immer noch die Nase über den unechten Baum.

„Wie oft hab ich dir eigentlich gesagt, dass Paps damit klarkommen wird?“, stichelt sie.

„Tausend Mal?“

„Hab nicht mitgezählt, aber so in etwa.“

„Das ist doch jetzt völlig egal“, findet Magnus. „Seid froh, dass alles so gut gelaufen ist.“

Vor sich hinlächelnd schiebt Kilian seine Hand in meine.

„Als ich im Krankenhaus lag, da hatte ich total wirre Träume“, sage ich plötzlich und weiß nicht, wieso.

„Ich wollte die ganze Zeit schon fragen, ob man im Koma tatsächlich irgendwas mitkriegt“, erklärt Rosalie. „Ähem … Magnus weiß übrigens Bescheid. Tut mir leid, Erik, ich konnte meine Klappe nicht halten und …“

„Ist okay. Kilian konnte offensichtlich seine Klappe auch schon nicht halten.“

„Ich hatte Angst um dich“, verteidigt er seine Tratscherei.

„Also hast du deine Schwester hier einquartiert, damit sie aufpasst?“

„Nee“, schüttelt sie den Kopf, „ich hab echt eine Wohnung gesucht. Aber zurück zu deinen Träumen.“

Ich erzähle also von Feen, Elfen, falschen Gangster-Rappern, von Arkadius, dem Entertainer Joshua Atari, vom bösen Professor Reinhard und dass Herr Jasper eine Kiezgröße war.

„Haha … Paps als König Mustafa und im Rotlichtmilieu, geil“, lacht sie sich kaputt. „Dass ich eine Feenprinzessin gewesen bin, ist natürlich klar. Allerdings … wieso hast du in deiner Phantasie MEINEN Mann gerettet und nicht deinen?“

„Das würde ich auch gerne wissen“, nickt Kilian.

„Mich würde eher interessieren, wieso ich wie Ice-T ausgesehen habe“, grinst Magnus.

„Keine Ahnung. Ich wusste vorher nicht mal, dass es euch alle in Wirklichkeit gibt.“

„Dann hatte der alte Coelestin doch Recht“, zwinkert Rosalie. „Himmel, wie kommt man bloß auf solche Gestalten?“

„Und wie kommt man darauf, jemanden, in den man verknallt ist, spitze Ohren zu geben?“

„Wir hatten alle spitze Ohren, als wir durch den Tunnel gegangen sind.“

Rosalie gähnt verstohlen und blickt auf die Uhr. „Wir gehen ins Bett“, beschließt sie, „und spielen ein bisschen Feengeneral und Prinzessin.“


„Das wird unser Jahr“, flüstert Kilian mir ins Ohr. Wir stehen zusammen am Fenster und schauen uns das Feuerwerk an. Er hat seine Arme um mich geschlungen, sein Kinn auf meine Schulter gestützt.

Rosalie und Magnus sind auf irgendeiner Party. Wir wollten Silvester lieber zu zweit verbringen.

Ich kann nicht behaupten, dass meine Gedanken durchweg positiv sind. Da sind noch so viele Dinge, die geklärt werden müssen. Aber gerade in diesem Augenblick ist alles gut. Jetzt, hier bin ich wahnsinnig dankbar, dass ich doch noch ein bisschen auf dieser Welt bleiben darf. Vielleicht ist das der Trick an der Sache. Den Moment genießen. Nicht überlegen, was morgen und übermorgen Schreckliches passieren könnte, sondern etwas finden, worauf man sich freuen kann und das alles andere erträglich macht, jeden Tag aufs Neue. Ich habe etwas gefunden. Es steht hinter mir, hat seine Arme um mich geschlungen und küsst zärtlich meinen Hals.

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