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Runaway
Teil 5
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Runaway - Teil 5
Zuhause.
Ich liege in meinem Zimmer. In meinem Bett, das frisch und weichgespült riecht. John Lennon hab ich in einem alten Karton notuntergebracht. Morgen kaufe ich ihm einen schönen großen Käfig. Ein Laufrad und ein Haus zum drin schlafen.
Komisch fühlt sich das an. Mein Zimmer. Mein Bett. Es ist alles unverändert und doch hab ich den Eindruck, fremd zu sein. Wie lange war ich weg? Zwei Monate? Drei? Vier? Ich hab keine Ahnung. Für mich war es eine Ewigkeit. Mama und Papa sind ungefähr um zehn Jahre gealtert. Alles meine Schuld. Ich bekomme nur schwer ihre verheulten Gesichter aus meinem Kopf. Mama hat mich so fest umarmt, dass ich Angst hatte, sie zerdrückt das Rattenvieh in meinem Pullover. Das gab eh einen Aufstand. Meine Eltern mögen solche Tiere nicht. Behalten werde ich ihn dennoch. Die tausend Fragen haben wir auf morgen verschoben. Mama hat geweint, ich sei so schrecklich dünn geworden. Und ich sähe ganz krank aus. Papa hat mich nur an sich gedrückt. Bestimmt denken die, dass ich mich prostituiert habe und den Drogen verfallen bin. Was weiß ich. Eigentlich will ich denen überhaupt nichts erzählen. Weder morgen noch nächste Woche. Ich will alles vergessen. Nicht daran denken, was Flip macht, wenn er aufwacht und ich nicht neben ihm liege. Wenn er aufsteht, mich sucht und sieht, dass mein Rucksack weg ist. Dass der Rattenkäfig leer ist. Hätte ich John bei ihm lassen sollen? Aber...naja, er gehört doch mir, oder?
Ich hoffe, Flip kann mir eines Tages verzeihen, dass ich mich so feige aus dem Staub gemacht habe. Ich hoffe, er kann es irgendwann verstehen. Und ich wünsche ihm, dass er jemanden findet, der ihn genug liebt, um bei ihm zu bleiben. Der auf ihn aufpasst und seinen Nacken streichelt bis er eingeschlafen ist. Er mag das so gerne.
Mama und Papa sind total ängstlich. Immer soll ich ganz genau sagen, wo ich hingehe und wann ich wieder komme. Ich will aber gar nirgendwo hingehen. Nach dem Aufstehen sitze ich in meinem Zimmer und spiele mit John Lennon. Warte auf´s Abendessen, gehe schlafen und der nächste Tag verläuft genauso wie der vorige. Bald fängt die Schule wieder an.
Internat ist kein Thema mehr. Der Schulverweis und die angeblichen Drogengeschäfte ebenfalls nicht. Sogar, dass eine Ratte in meinem Zimmer wohnt erlauben meine Eltern. Ich hab ihnen nichts von Flip erzählt. Nichts von dem Taschenklauer. Nichts vom Bahnhof. Nur, dass ich bei einem Freund gewohnt habe. Bei einem Studenten und seiner Freundin. Die haben mich abends in der Stadt aufgelesen und sich um mich gekümmert. Mir natürlich immer wieder geraten, nach Hause zu gehen. Keine Ahnung, ob sie mir die Geschichte tatsächlich abkaufen. Sie fragen nicht weiter nach. Haben vermutlich Angst, vor ihrer Wahrheit. Und die besteht nunmal aus Vergewaltigung, Folterungen und Drogenkonsum.
Zu einem Psychologen wollten sie mich schleppen. Das hab ich abgelehnt. Es geht mir schließlich gut und es gibt nichts, was ich verarbeiten müsste.
Eigentlich ist alles wie es war, bevor ich weggelaufen bin. Außer, dass ich behandelt werde, als sei ich krank oder sowas. Und nachts, wenn meine Eltern denken, dass ich schlafe, schauen sie leise in mein Zimmer. Wenn sie sehen, dass ich wirklich im Bett liege, höre ich Mamas erleichtertes Weinen. Dann schließt sich die Tür und ich bin allein mit meinen Gedanken. Tagsüber kann ich mich noch ablenken. Sobald es dunkel wird, beginne ich zu frieren und meine Kehle schnürt sich zu. Bin ich dann endlich eingeschlafen, liege ich in Flips Armen. Nicht in diesem schrecklichen Loch mit den halbtoten Junks eine Etage tiefer, sondern in unserer Wohnung. Das Haus mit der braunen Kellertür, die quietscht beim Öffnen.
Das Haus mit dem Schachbrettmusterbodenbelag und den verbeulten grauen Briefkästen.
Die Kerzen sind angezündet. Ich sehe Flips schönes Gesicht, spüre seine Hände auf meiner Haut. Seine Lippen auf meinem Mund. Ich zeichne mit dem Finger die schwarze Fledermaus auf seinem Oberarm nach, streichle seinen Bauch und höre seine samtige Stimme.
Jeden Abend nehme ich mir vor, nie mehr aufzuwachen. Einfach immer weiter zu träumen.
Klar, ist das blödsinnig und kindisch. Aber ich kann nicht anders. Dieser Traum von Flip ist alles, was ich noch habe.
Ab und zu denke ich an Kiwi und Tris. Naja, eigentlich ungefähr immer, wenn ich mich nicht mit irgendwas beschäftige. Bei Tris melden sollte ich mich, wenn mir danach ist. Mir ist nicht danach. Die beiden sind zu stark mit Flip verbunden. Ich muss aber alles vergessen, was mit ihm zu tun hat, weil ich sonst durchdrehe. John Lennon ist leider auch so ein Bindeglied. Es war total bescheuert, ihn mitzunehmen. Das wird mir langsam klar.
Auf dem neuen Gymnasium ist’s genauso wie auf dem davor. Dass ich die Klasse wiederholen muss ist nicht weiter schlimm, weil die Leute das ja nicht wissen. In meiner alten Schule wäre ich die totale Lachnummer. Ich versuche, möglichst nicht aufzufallen und hoffe, in Ruhe gelassen zu werden. Bis jetzt klappt das ganz gut.
Hab das Rauchen angefangen. Heimlich. Wenn ich allein bin. Kaue Kaugummi und sprühe mir hinterher Atemfrisch in den Hals. Mama hat’s trotzdem gemerkt und war nicht sehr begeistert. Zum Schluss seufzte sie nur und meinte, es sei schließlich meine Gesundheit.
Meine Eltern sind grad so eigenartig drauf, dass sie mir wahrscheinlich sogar einen Mord verzeihen würden. Papa hat unauffällig auf meine nackten Arme gestiert...ich glaube, er hat nach Einstichen gesucht. Großer Gott. Als gäbe es lediglich diese eine Möglichkeit, sich zuzuknallen. Ich frage mich, ob die mein Zimmer durchwühlen, wenn ich in der Schule bin?
Ich gehe jede Wette ein, sie tun es. Dabei versicherte ich ihnen mehrmals, dass ich keine Drogen nehme und nie welche genommen habe. Und dank Flip werde ich auch niemals
damit anfangen.
Seit drei Tagen ist es mir nach der Schule in meinem Zimmer zu langweilig. Das ist auch wieder so eine Sache. Als Flip mich wegschickte und ich am Bahnhof hing...da hab ich mich nach meinem Zimmer gesehnt. Sogar nach der Langeweile zu Hause. Genau das halte ich jetzt kaum aus. Jedenfalls hab ich mir John geschnappt und bin durch die Stadt gegangen. Komischerweise lief ich schnurstracks auf den Brunnen zu, wo immer eine kleine Gruppe Punks rumhängt. Ich setzte mich auf den Rand des Brunnens und John auf meine Schulter. Vor einem halben Jahr hätte ich mich das im Leben nicht getraut. Ich weiß auch nicht, was ich mir gedacht oder erwartet habe? Vielleicht, dass Flip da sein würde oder sowas Dummes. Niemand sprach mit mir. Lediglich angeglotzt wurde ich. Aber nicht sehr freundlich. Auch nicht unfreundlich. Eben einfach nur angeguckt. Nicht mal ‘ne Zigarette wollte einer von denen schnorren, obwohl Punks doch ständig Zigaretten schnorren. Und Geld. Das wollte aber auch keiner von mir.
Mama und Papa kriegen die Krise, weil ich mich vom Nachmittag bis zum Abend rumtreibe, wie sie es nennen. Kann ich verstehen...nach allem, was die durchgemacht haben. Erklärte ihnen, ich hätte nicht vor, wieder wegzulaufen. Beruhigt hat sie das vermutlich nicht. Es tut mir ja Leid, dass die sich sorgen, aber was soll ich denn machen? Alle fünf Minuten anrufen und sagen, wo ich bin?
Flip hab ich jetzt seit über einem Monat nicht mehr gesehen. Trotzdem verblasst sein Gesicht nicht. Ich stelle mir vor, wie er mit Kiwi im Park sitzt. Vielleicht hat er wieder was mit Cat angefangen. Vielleicht einen neuen Freund. Oder er knallt sich zu, weil keiner da ist, der aufpasst. Manchmal wünsche ich mir, er hätte versucht, mich zurückzuholen. Irgendwie.
Dann denke ich, dass es so wohl doch am Besten ist. Keine Ahnung, in meinem Kopf ist es momentan sehr unaufgeräumt. Nur eines weiß ich genau: es ist nicht möglich, einfach aufzuhören, in Flip verliebt zu sein. Ich vermisse ihn so sehr, dass ich wahnsinnig werde.
Und dieses Gefühl wird schlimmer. Nicht zu wissen, wie es ihm geht und was er macht, ist
so abartig, ich kann es schmecken. Wie, wenn man bitteren Hustensaft geschluckt hat und der Geschmack hängt einem noch stundenlang auf der Zunge. Dagegen hilft selbst Atemfrisch nicht.
Ganz ehrlich, ich habe keinen Schimmer, warum ich in diesem verdammten Zug sitze. Ich weiß noch, dass ich John ein Stück Apfel gegeben habe, in die Küche ging, um Mama zu sagen, ich würde bei einem Freund Hausaufgaben machen. Dann bin ich zum Bahnhof, hab eine Fahrkarte (Hin-und-Zurück) gekauft und bin in den Zug gestiegen. Ich hatte das weder geplant noch drüber nachgedacht. Es ist einfach passiert. Mein Kopf ist bemerkenswert leer.
Keine Ahnung, was ich mache, wenn ich angekommen bin. Zum Park gehen, logisch. Aber
dann?! Meine Nerven liegen blank, mein Herz klopft laut und schnell. Ich muss ihn sehen.
Muss mich davon überzeugen, dass es Flip gut geht. Dann kann ich wieder nach Hause fahren. Ein braver Junge sein, der zur Schule geht und seinen Eltern keinen Kummer macht.
„ALEX...Kleiner! Ach du Scheiße, das gibt’s doch gar nicht.“
Kaum hab ich mich dem Denkmal genähert, werde ich schon von Kiwi umarmt. Zum Glück. Denn meinen Beinen kann ich nicht trauen. Die sind wie Wackelpudding und wenn Kiwi mich nicht festhalten würde...
„Mann, Tris und ich haben wer weiß was gedacht. Aber er hat mir total verboten, dich anzurufen oder so, weil er meinte, du bräuchtest sicher Zeit, um wieder klarzukommen. Ich konnt’s erst gar nicht glauben, als Tris erzählt hat, dass du nach Hause bist. Ich meine, wow... wie geht’s dir denn jetzt? Äh, nebenbei...was zum Geier tust du hier? Bist doch hoffentlich nicht schon wieder weggelaufen, oder?“, faselt Kiwi auf mich ein.
Puh, mir schwirrt der Schädel. Verstohlen blicke ich mich um. Er ist nicht da.
„Oh nein. Oh mein Gott. Du bist wegen ihm hier, richtig? Klar, warum auch sonst.“
Ich setze mich erstmal auf die Wiese.
„Also ich kann dir sagen...du solltest froh sein, dass er nicht...fuck, jetzt wird’s übel.“
Er sieht noch genauso schön aus wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine plüschigen Haare, die in sämtliche Richtungen strubbeln. Die enge Salamanderjeans, deren rote Flecken in der Sonne leuchten. Mir wird ganz kribblig. Mit jedem weiteren Schritt, den er auf mich zu kommt, klopft mein Herz heftiger. Schon sein Gang ist unglaublich. Total geschmeidig und cool und lässig und...naja, toll eben. Er trägt ein Hundehalsband und ein zerrissenes T-Shirt, das ihm über die Schulter fällt, und ich frage mich, wie ich diesen hinreißenden Menschen aufgeben konnte?!
„Hey“, sagt er und meint damit nur Kiwi. Mich übersieht er einfach. „Tris nicht da?“
„Ähem...nee“, murmelt Kiwi, „offensichtlich nicht.“
Flip ignoriert mich demonstrativ. Trotzdem kann er mir nichts vormachen. Er kramt geschäftig in seiner Tüte, holt eine Flasche Cola heraus, packt sie gleich wieder zurück und steckt sich eine Zigarette an. Keine Frage, er ist auch nervös. Das Feuerzeug in seiner Hand zittert.
„Hallo“, starte ich einen vorsichtigen Versuch.
Er stiert mich eine Sekunde kalt an, dann schaut er an mir vorbei. „Nicht viel los heute, mh?“
„Flip...“
„Kommt ihr morgen in die Scheune?“
„Äh...logisch.“, antwortet Kiwi.
„Phillip!“
„Kiwi, sag dem Kleinen, er soll das Maul halten und wieder heim zu Mami und Papi fahren.“
„Sag ihm das selber, Arschloch. Und haltet mich gefälligst aus eurem Beziehungskack raus!“, schnauft er und geht.
Flip pult an einem Riss in seiner Hose und brennt einen Faden mit seiner Zigarette durch.
„Ich...ich wollte nur sehen, wie’s dir geht.“
„Fein. Ging mir nie besser. War’s das? Dann verpiss dich.“
„Es tut mir Leid.“
„Ah ja?“, fragt er beiläufig. „Was denn genau? Dass du einfach mitten in der Nacht abgehauen bist. Ohne ein verdammtes Wort zu sagen. Dass ich fast kaputtgegangen bin, weil ich keine verfickte Ahnung hatte, wo du steckst und dich tagelang gesucht habe? Dass ich dachte, du liegst vergewaltigt und tot wer weiß wo, bis Kiwi mir endlich verraten hat, was los ist?
Dass du mich angeblich liebst aber sofort hängen lässt, sobald es für dich unbequem wird oder ein paar Probleme auftauchen?“
„Ja“, entgegne ich leise, „das alles.“
„Okay. Zur Kenntnis genommen.“
„Es ist doch nicht nur meine Schuld.“
„Ich hätte mich nicht einfach weggeschlichen.“
„Nee, du wärst vermutlich getorkelt.“, rutscht mir ausversehen heraus.
„Fick dich, von Kleist.“, zischt er.
Mann, jetzt werde ich aber auch wütend. Wie kann man denn so nur mit sich selber beschäftigt sein?! „Fick du dich, Phillip. Ich bin vielleicht feige und hab mich davongeschlichen aber weißt du, mit dir war es auch nicht gerade lustig. Denkst du, es ist so toll, wenn du zusehen musst, wie dein Freund sich kaputt säuft und drogt? Wie sich der Typ, den du liebst in einen sabbernden Zombie verwandelt, der sich bekotzt und in die Hose pisst?
Ich hab das nicht ausgehalten, okay? Ich bin verdammt noch mal erst fünfzehn. Ich kann eben noch nicht für mich selber sorgen UND auf meinen Freund aufpassen. Ich will so nicht leben.
Du hast mir mal gesagt, ich soll genau überlegen, was ich tue und dass das alles kein Spaß ist.“
„Und? Du hast deine Entscheidung getroffen. Kein Grund, noch darüber zu diskutieren. Das hätte ich vielleicht vor ein paar Wochen getan, aber du hast es ja vorgezogen, dich von mir ficken zu lassen und danach abzuhauen. Sehr charmant, wirklich.“
„Ich hatte Angst davor, was aus mir wird. Eines Tages so zu enden wie...wie...“
„Wie ich, hä?“, unterbricht er mich bitter.
„Nein, ich...“
„Komm, fahr nach Hause, du Jammerlappen. Wenn ich ein Mädchen haben will, hol ich mir eins, das Titten hat.“
„Weißt du, was mir am meisten Leid tut?“ Ich stehe auf und ziehe meinen Pullover glatt. „Dass ich mich von einem drogensüchtigen Loser wie dir hab vögeln lassen.“
„Geschenkt. Du warst ein ganz lausiger Fick, von Kleist.“, schreit er mir hinterher. „Sogar mit Cat hat es mehr Spaß gemacht als mit dir.“
Ich würde sagen, das ist doch ganz prima gelaufen. Flip geht’s gut, ich kann beruhigt nach Hause fahren.
Ich denke jede Sekunde an ihn. Immer noch. Schätze, es ist normal, dass man seine große Liebe nicht so schnell abhaken kann, oder? Flip war meine erste Liebe. Meine einzige. Kiwi und Tristan...das war lediglich nette Flirterei. Ich vermisse die beiden. Aber längst nicht so sehr, dass es weh tut. Denke ich an Flip, möchte ich vor Schmerz aufjaulen. Mich hin und her wälzen, alles kaputt schlagen, mir die Klamotten vom Leib reißen und meine Haut zerkratzen...um das Gefühl der Hilflosigkeit weg zu bekommen. Aber das funktioniert ja
alles nicht. Er ist wütend auf mich und hat diese gemeinen Sachen gesagt. Trotzdem liebe ich ihn. Ist es nicht eigenartig, dass immer etwas zu fehlen scheint?! Als ich bei ihm war, hatte ich den Wunsch nach einem geregelten Leben. Das hab ich jetzt, aber keinen Flip. Ob man irgendwann einmal den Punkt erreicht hat, an dem man einfach zufrieden ist? Wo man alles hat und sich nicht nach etwas sehnen muss?
Hab vorgestern ein Mädchen kennengelernt. Am Brunnen bei den Punks. Tamara ist sechsundzwanzig, kommt aus Polen und hatte vermutlich Mitleid, weil ich halt so oft dort rumhänge, ohne dazuzugehören. Jedenfalls sprach sie mich an, fand John Lennon süß und...keine Ahnung. Sie ist lustig, hat kinnlange dunkelrote Dreads, einen Ring in der Lippe, hört mit Vorliebe so harte Mädchenbands...L7, Breeders und ganz besonders Hole. Ich mag sie, auch wenn ich momentan eigentlich überhaupt nichts mag. Tamara lebt in einem Wohnwagen...so wie in der LBS-Werbung, nur ohne blödes Kind, das Spießer sein will, wenn es groß ist.
Sie vermutete einen Ausreißer in mir, also erzählte ich ihr, dass ich erst seit ein paar Wochen wieder zu Hause bin. Flip und die ganzen Dramen verschwieg ich. Geht schließlich kein wildfremdes Mädchen was an. Überhaupt sollte ich mir Phillip aus dem Kopf schlagen und aus meinem Herzen verbannen. Sonst werde ich wirklich noch irre. Ich fange ja schon an, Gespräche mit ihm zu führen. Erzähle ihm irgendwas und überlege, was er darauf antworten würde. Das sind nicht einmal besonders wichtige Sachen. Eben das, was mir grad so einfällt.
Tamara zum Beispiel. Ich stelle mir vor, dass er ein ganz klitzekleines bisschen eifersüchtig ist und total süß schmollt, wenn ich mit ihr rede. Dann schlinge ich meine Arme um ihn und flüstere ihm ins Ohr, dass ich doch nur ihn liebe. Dass er der einzige ist, den ich haben will.
In Wahrheit ist es mein eigener Körper, den ich umschlinge, und niemand hört, was ich sage.
Nur ich, ich und ich.
„Meine Kopfhaut brennt...steigt da Rauch von meinem Schädel auf?“, jammere ich.
Tamara lacht sich kaputt. „Du Weichei. Blondieren brennt immer ein bisschen. Außerdem hab ich dich gewarnt UND es war deine Idee.“
Naja, so halbwegs. Ich hatte irgendwie Lust auf Veränderung, konnte mich aber noch ziemlich gut an meinen letzten Versuch erinnern. Also wurde Tamara gefragt und mir beißend stinkender Schleim auf den Kopf geschmiert.
„Übrigens, kannst du’s jetzt abwaschen.“
„Hoffentlich sind meine Haare hinterher noch dran.“, maule ich.
Nach dem Abtrocknen hab ich zwar noch Haare, sehe allerdings wieder wie Kotze aus. Der Ansatz ist weißblond, der Rest knallorange. Wenn meine Eltern das sehen...ach du Kacke!
Tamara kommt zu mir ins Bad, hantiert mit verschiedenen Töpfchen rum. „Okay, wir haben
Flamingo Pink, Alpine Green, Fire und...äh...sieht irgendwie blau aus, oder? Also, was hättest du gerne?“
„Danke, mir reicht’s schon so.“, antworte ich meinem Spiegelbild.
„Weißt du, wenn man das Blau draufknallt und sich das rauswäscht...dann haste irgendwann so‘n...so’n Plüschibabyblau. Das sieht sehr süß aus.“
Mir ist grad stark nach übergeben. Fehlt mir noch, so auszusehen wie Phillip.
„Hey, wir müssen das ja nicht machen.“, sagt Tamara schnell, als sie meinen Blick bemerkt.
Dummerweise schleichen sich Tränen in meine Augen.
„Was ist denn?“
„Mein...Exfreund hat so Haare. Ich meine, dieses Plüschi...“ Exfreund...Gott, fühlt es sich komisch an, das zu sagen.
Sie reißt überrascht ihre Katzenaugen auf. „Du hast einen Exfreund? Du stehst auf Jungs?“
Ich nicke.
„Und jetzt du bist ganz traurig, weil der Typ dein Ex ist, ja? Was ist passiert? Hat er fremdgevögelt?“
„Nee.“
„Hast du?“
„Nein!“, kreische ich entsetzt.
„Alex, du musst mir schon erzählen, was los ist. Bin nicht gut im Gedankenlesen.“
Zum Teufel. Wieso eigentlich nicht?!
„Hast ja schon ganz schön was mitgemacht.“, seufzt Tamara. „Ich würd sagen, vergiss den Typen, aber das kannste natürlich nicht, weil du’s nicht willst. Weil du jeden Tag hoffst, dass er vielleicht heute vor deiner Tür steht, dich in den Arm nimmt und...äh, shit, mache ich vielleicht grad alles noch schlimmer?“
Ich lächele gequält.
„Mein Vater hat sich fast kaputt gesoffen und meine Mutter zwanzig Jahre dabei zugesehen. Sie hat ihr Leben weggeworfen für einen Typen, dem es egal war. Dem seine Familie egal war. Glaub mir, ich kenne die ganzen Kotzgeschichten in und auswendig. Wenn dein Typ
sich fertig machen will ist das seine Sache. Ich finde nicht, dass du ihm noch die Flasche reichen solltest. Es war richtig, dich von ihm zu trennen.“
„Er fehlt mir so schrecklich.“
„Logisch. Aber...irgendwann hört es auf, weh zu tun.“
„Wann?“
Sie zuckt die Schultern. „Wenn der nächste Kerl kommt, in den du dich verliebst.“
„Sowas kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“
„Als ich mich von meiner ersten Liebe getrennt hab, konnte ich das auch nicht. Bis Erik auftauchte. Okay, der hat sich nach ein paar Monaten als Arschloch entpuppt aber am Anfang war ich total verschossen.“
Ich will mich nicht anderweitig verlieben. Ich will...Flip.
„Hey, soll ich dir vielleicht die Braue piercen? Oder die Zunge?“
„Kannst du das?“
„Klar“, lächelt sie, „damit verdiene ich schließlich mein Geld.“
„Meine Eltern töten mich.“
„Wie wär’s mit dem Bauchnabel oder noch weiter unten?“, kichert sie. „Da sehen die sicher nicht nach.“
Und schon wieder frage ich mich heimlich, ob Flip vielleicht einen Glitzerstein in meinem Nabel schön finden würde. Verdammt! „Ist das nicht illegal? Ich bin erst fünfzehn. Kriegst doch sicher Ärger, wenn das rauskommt, oder?“
Sie zuckt die Schultern. „Wir machen’s ja nicht im Studio. Und du erzählst hinterher nicht rum, wer dich gepierct hat.“
„Okay,“, sage ich, „aber nicht heute. Vielleicht nächste Woche oder so.“
„Wann immer du willst.“, entgegnet sie. „Und deine Haare machen wir jetzt rot.“
Mein Bauch tut nicht mehr weh, wenn ich mich bewege. Tamara hat das wirklich ganz professionell gemacht, glaube ich wenigstens, hab nämlich nicht hingesehen. Aber sie muss Ahnung davon haben, weil sie drei Tage in der Woche in einem Piercingstudio arbeitet. Jedenfalls glitzert’s jetzt in meinem Nabel und meine Haare sind doch nicht rot geblieben. Das war nämlich ein ganz wahnsinniges Signalrot und mir eine Spur zu auffällig. Mama und Papa hätten mich gekillt. Schwarz ist okay. Passt auch zu all meinen Klamotten.
Übrigens finden meine Eltern natürlich, Tamara sei nicht der richtige Umgang für mich. Viel zu alt und freakig. Freakig haben sie nicht wörtlich gesagt aber bestimmt gemeint. Was soll’s.
Ich bin total froh, dass ich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Die Leute in der Schule sind...nicht auf meiner Wellenlänge. In den Pausen mit denen rumhängen geht, in meiner Freizeit möchte ich die nicht um mich haben.
Tamara macht es nichts aus, dass meine Eltern sie nicht leiden können. Sie kommt halt nur noch her, wenn die nicht da sind. So wie heute.
Ich überlege grad, ob ich uns lieber Pizza oder Pommes in den Ofen schieben soll, als das Telefon klingelt.
„Ja?“
„Alex?“
„Ja.“
„Oh mann, du...shit...“
Ich verstehe nur Bahnhof. „Wer ist da?“
„Erkennst nicht mal mehr meine Stimme, was?“
Doch. Das ist Kiwi. Was will der?
„Okay, bleib jetzt bitte ganz ruhig, ja? Setz dich vielleicht lieber hin.“
Ich möchte lieber kotzen. „Was zur Hölle ist los?“ Ich weiß, dass irgendwas Schreckliches mit Flip passiert ist. Ich weiß es einfach.
„Flip ist...“
Tot. Sie haben ihn tot und schon halb verwest im Abbruchhaus gefunden. Überdosis irgendwas. Vielen Dank, ich bringe mich auch gleich um.
„...im Krankenhaus. Es geht ihm...“
„Welches Krankenhaus?“
„Sankt Elisabeth. Alex, es wäre vielleicht...“
Ich hab bereits aufgelegt und warte auf einen Heulanfall, der allerdings ausbleibt. Wahrscheinlich stehe ich unter Schock oder sowas.
„Hey, alles in Ordnung?“, fragt Tamara und rüttelt an meinem Arm.
„Flip ist im Krankenhaus.“ Meine Stimme klingt eigenartig. Wie durch Watte. Ich kann auch nicht mehr richtig sehen. Nur noch verschwommen.
„Dein Typ? Okay...gib mir mal das Telefon.“
„Wozu?“
Sie wählt und faselt irgendwas ultraschnell Polnisches. „Wir leihen uns die Karre von meinem Bruder.“, erklärt sie.
Bruders Auto ist ein schmutzig-weißer, klappriger Rekord, der total nach Gang-Karre aussieht. Tamara fährt wie eine Geisteskranke. Sie nennt das sportlich, mir wird übel. Zum Glück kommen wir unbeschadet an. Auf dem Krankenhausflur läuft uns Kiwi über den Weg.
„Kleiner“, lächelt er, dann verzieht er das Gesicht, „seit wann stehst’n du auf Weiber?“
„Und du bist ja dann wohl das Arschloch vom Dienst, oder?“, schnauft Tamara.
„Nee. Kiwi.“
„Schön für dich.“
„Was ist mit Flip?“, frage ich zittrig.
„Dem geht’s den Umständen entsprechend.“
Mann, ich werde langsam aggressiv. „Würdest du mir bitte sagen, was genau passiert ist?“
„Okay, Flip hatte tagelang Magenschmerzen. Echt heftige. Ich dachte, das kommt wieder vom Saufen, hätte auf Magengeschwür getippt, irgendwas Fieses, aber...naja, es war dann wohl doch der Blinddarm. Und der ist irgendwie geplatzt oder explodiert oder so. Ich weiß nicht genau, was total entzündete Blinddärme so machen, wenn die...na egal. Es sah jedenfalls ein paar Stunden lang nicht besonders gut aus.“
„Du meinst, er hätte sterben...“
Kiwi nickt. „Jetzt aber nicht mehr. Hat Glück gehabt, dass er im Park zusammengebrochen ist. Wenn das woanders...ich meine, wäre er allein gewesen...er liegt da vorne den Gang runter. Letztes Zimmer.“
Mit bemerkenswert wackligen Beinen betrete ich den Raum. Flip liegt am Fenster. Mit einem Tropf im Arm. Sein Gesicht ist blass und schwitzig. Die Augen sind geschlossen. Ich setze mich an sein Bett und streiche ihm behutsam Haare aus der Stirn. Auch während ich weinend seine Hand an meine Lippen presse wacht er nicht auf. Er schläft sogar weiter als ich vorsichtig meinen Kopf auf seine Brust lege.
Mein armer Flip. Er hätte tot sein können. Hätte ich ihn nicht allein gelassen...wenn ich bei ihm geblieben wäre, hätte ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt und ihn ins Krankenhaus bringen können. Dann wäre das alles gar nicht so schlimm geworden.
„Hey.“
Ich hebe meinen Kopf und blicke verschleiert in Flips Augen. „Was machst du bloß für Sachen.“
„Und du?“, lächelt er matt. „Hübsche Haarfarbe.“
„Wie geht’s dir denn?“
„Müde.“, seufzt er.
„Flip, es tut mir so Leid.“, heule ich.
„Mir auch.“, wispert er und schläft sofort wieder.
Eine Weile schaue ich ihm dabei zu, dann drücke ich einen Kuss auf seine Stirn und gehe.
In der Raucherecke diskutiert Tamara heftig mit Kiwi. Keine Ahnung, was das Thema ist. Spielt auch nicht die größte Rolle für mich.
„Und?“, fragt Tamara.
Ich zucke die Schultern.
„Können wir los oder willst du noch bleiben?“
„Weiß nicht.“ Wie soll ich denn so eine Entscheidung treffen? Und wieso sollte ich bei Flip bleiben? Wir haben uns getrennt. ICH hab mich getrennt. Irgendwie. Was hab ich für ein Recht, hier zu sein? Logischerweise würde ich mich am liebsten zu ihm ins Bett legen aber wahrscheinlich fänd er das unangebracht. Es gibt nichts, was ich tun kann. Außer...
„Kiwi?“
„Was, Kleiner?“
„Versprich mir, dass du auf ihn aufpasst, ja?“
„Na klar.“
„Ehrlich, Kiwi, ich will nicht, dass ihm nochmal sowas Schreckliches geschieht.“
„Wird wohl kaum möglich sein. Der Blinddarm ist draußen.“
Tamara stößt ihm den Ellenbogen in die Seite. „Idiot.“
„Mädchen.“, kontert er zickig.
„Ruf mich an, wenn irgendwas ist.“
„Hab ich doch jetzt auch getan.“, erklärt er.
Auf der Rückfahrt überkommt mich ein spontaner Heulkrampf.
„Alex, hey, dein Typ lebt noch und wird wieder gesund. Alles in Ordnung.“
„Phillip ist nicht mein Typ. Nicht mehr.“, schniefe ich. „Ich hab ihn allein gelassen und jetzt liegt er da und...“
„Halt! Fang gar nicht erst damit an, dich für seinen Zustand verantwortlich zu fühlen. Oder
dir die Schuld zu geben. Blinddärme entzünden sich manchmal eben. Da hast selbst du keinen Einfluss drauf.“
„Aber...“
„Egal, was du sagen willst...es ist Schwachsinn. Also halt die Klappe. Du kannst eh nicht ändern, was passiert ist. Überleg dir, warum du von deinem Typen weg bist und, dass er daran nicht unschuldig ist. Auch, wenn er grad krank im Bett liegt.“
„Es ist doch nicht Phillips Schuld, dass ich so eine Jammersuse war, die es ohne Mama und Papa nicht ausgehalten hat.“
Tamara blitzt mich an. „Ey, auf der Straße zu leben, ist schon kein Zuckerschlecken, aber wenn dein Typ dann noch ständig drauf ist...mir wäre das auch zu viel geworden.“
„Aber Flip hat sich von Anfang an um mich gekümmert. Ohne ihn wäre ich total verloren gewesen und ich...ich hab ihn einfach im Stich gelassen. Er hat doch nicht getrunken, weil er Spaß dran hatte, sondern weil...“
„Weil er seinen Job verloren hat und ihm die Wohnung unterm Arsch abgerissen wurde. Ich weiß. Das ist doch kein Argument, Alex. Ich meine, was soll der Kack? Immer, wenn es mal nicht so super läuft, knalle ich mir die Birne zu? Verdammt gute Lösung. Und was das Im-Stich-lassen betrifft...du bist ein Kind, Alexander...“
„Ich bin fast sechzehn.“, bölke ich entrüstet.
„Und ich bin zehn Jahre älter, okay? Was ich sagen wollte...es ist absolut normal, dass du mit der ganzen Situation überfordert warst. Darüber sollte dein Typ vielleicht mal nachdenken, anstatt sich die Kante zu geben. Aber mein Vater hat auch nie darüber nachgedacht, was er uns mit seiner Sauferei antut. Selbst jetzt, wo er von Mama geschieden und trocken ist, schert es ihn einen Dreck.“
„Flip ist nicht so ein Arschloch. Er...er war immer total lieb und süß und hat sich Sorgen um mich gemacht. Ich will nicht, dass du schlecht über ihn sprichst. Du weißt doch gar nichts über ihn. Flip ist der liebste Mensch, den ich kenne.“
Tamara tätschelt freundschaftlich mein Knie. „Krieg dich wieder ein. Ich wollte nur helfen.“
„Aber nicht, indem du ihn als drogensüchtiges Wrack hinstellst. Als gemeinen Säufer, der nur an sich denkt. Flip ist nicht dein Vater und ich bin nicht du oder deine Mutter.“
„Sorry,“, seufzt sie, „hast sicher Recht. Ich kann halt bei diesem Thema nie ganz objektiv sein.
„Fünfzehn Jahre mit einem Alkoholiker...das prägt. Und zwar so sehr, dass ich es manchmal kaum aushalte, mit Leuten zusammen zu sein, die trinken oder sich Gott weiß, was reinziehen. Das macht mich echt aggressiv.“
Mh, kann ich sehr gut verstehen. Trotzdem. Wenn jemand Flip nur auf Alkohol und Drogen reduziert, macht mich das aggressiv!
Hab ich wirklich gedacht, wenn Flip sieht, wie schnell ich an sein Krankenhausbett eile, will er mich sofort zurück haben? Wenn er merkt, wie viel er mir noch bedeutet, vergisst er, dass
wir uns getrennt und gestritten haben? Ich bin doch ganz schön blöd. Er ist jetzt seit einer Woche aus’m Krankenhaus und...naja, nix halt. Ich sollte ihn aus meinem Leben streichen, wie er mich gestrichen hat. Dummerweise kann ich das aus irgendwelchen Gründen nicht.
Tamara hatte Recht. Ich kann nicht, weil ich nicht will. Weil ich immer noch hoffe. Scheiße!
Ablenkung scheint mir ganz angebracht. Aber wie? Mich ganz alleine an meinem Glitzerstein im Nabel erfreuen, ist ja auch nicht so dolle. Zum Lesen fehlt mir die Ruhe, Internet und/oder Fernsehen ist öde. Vor meinem Ausreißertum hab ich meist gelernt, wenn mir langweilig war. Total beknackt, oder?! Und die Idioten in der Schule hielten mich wegen meiner guten Noten für einen Streber. Dabei wollte ich einfach nur Zeit totschlagen.
John Lennon liegt schlafend in seinem Haus. Den kann ich jetzt nicht stören. Au ja, ich werde Tamara besuchen. Bei der ist es lustig. Solange sie nicht wieder von ihrem Vater anfängt.
Puh...gar nicht so einfach, ihren Wohnwagen zu finden. Ich war erst einmal hier und das spät abends. Im Tageslicht sieht alles anders aus. Sehr unübersichtlich der Platz. Und sehr chaotisch mit Gerümpel zugestellt. Ob ich einfach mal das Pärchen da drüben frage? Die Leute kennen sich doch hier sicher. Außerdem sehen die nett aus, scheinen grad Klamotten in einem Bottich zu waschen.
„Hallo.“, sage ich vorsichtig.
„Hey.“ Das Henna-Hippie-Mädchen stochert lächelnd mit einem Stock in der Bottichbrühe.
Als ich näher hingucke, merke ich, dass die nicht waschen, sondern färben. Das Wasser ist
blau.
„Ich...ähem...ich suche Tamara. Kennt ihr die?“
Der Flower-Power-Typ kommt einige Schritte auf mich zu. „Da vorne, der bunte Wagen gehört ihr. Weiß aber nicht, ob sie da ist. Ey, Lena, is Tamara da?“
Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Nee, die ist vor ’ner Stunde oder so weg.“
Aus dem klapprigen Wohnwagen der beiden springt ein Junge. Bunte Haare, bemerkenswert verstrubbelt. Jeans, Kapuzenpulli, hohe Doc’s und der Silbergürtel sitzt so tief und locker, dass ich mich frage, wie der überhaupt hält. „Wieso brüllt ihr so? Und wer ist das?“
„Der sucht Tamara.“
Er mustert mich kritisch. „Was willst’n von ihr?“
„Nix weiter.“, antworte ich irritiert und will mir eine Zigarette anstecken. Krame nach meinem Feuerzeug, kann es allerdings nicht finden.
Der Flower-Power Typ schnipst seines an, aber der Junge schlägt seine Hand weg.
„Nur Nutten lassen sich Feuer geben.“
Der ist doch sicher mal schlimm auf den Kopf gefallen. „Ich bin keine. Hab lediglich mein Feuerzeug vergessen.“
„Rauchen ist sowieso schädlich. Weißt du das nicht?“, grinst er.
Ich hab endlich meine Zigarette angezündet und blase ihm demonstrativ Rauch ins Gesicht. „Nee, ist mir total neu.“
„Willst du mich provozieren?“
„Würd mir im Traum nicht einfallen.“
„Pavel“, ruft das Mädchen, „lass den Kleinen in Ruhe.“
„Ich werd ja wohl noch fragen dürfen, was er von meiner Schwester will.“, antwortet er.
Aha...dem gehört dann also die Gang-Karre, obwohl der nicht aussieht, als dürfte er schon fahren. „Du bist Tamaras Bruder?“
„Ja. Was dagegen?“
„Wann kommt sie denn zurück?“
„Hast du einen Namen?“
„Ja. Hab ich.“
„Na fein“, seufzt er, nimmt meine Hand und schüttelt sie, „also ich bin Pavel. Und du?“
„Alexander.“
Er glotzt mich von oben bis unten an. „Ah so. Heb mal dein T-Shirt hoch.“
Äh...wie bitte? Ist der bekloppt? „Nee.“
„Tamara hat erzählt, dass sie neuerdings mit einem Teenie-Jungen rumhängt. Gepierct hat sie den. Da...“, er streicht mir mit zwei Fingern über den Bauch, „tja und ich wüsste gerne, ob du das wohl bist.“
„Dann frag mich doch einfach.“ Ich weiß nicht warum, aber irgendwie ist Pavel süß. Nicht nur, dass er ein wahnsinnig hübsches Gesicht hat. Seine Stimme ist...mhhh...und überhaupt, mir wird ganz schön warm. Tamara hätte mir ruhig mal sagen können, dass ihr Bruder...äh, ich meine, der flirtet doch mit mir, richtig?!
Er schüttelt den Kopf. „Viel zu unoriginell. Außerdem würde es mir Freude machen, ein bisschen mehr von dir zu sehen.“
Zum Teufel. Ich friemel mein Shirt bis über den Nabel. „Sonst noch was?“
„Wow...also wenn du alles tust, was man dir sagt...wieso ziehst du dich nicht ganz aus?“
„Nur, wenn du anfängst.“
Er überlegt einen Augenblick. „Okay, lass uns in den Wagen gehen.“
Tamaras Wohnwagen ist viel geräumiger, als man vermutet. Naja, muss er wohl auch. Schließlich lebt sie da drin.
Pavel sieht mich erwartungsvoll an. „Also...“ Er nestelt an seiner Jeans.
„Moment mal...das war doch grad nur ein Scherz.“
„Ach so? Mensch, das weiß ich doch.“, lacht er und macht den Reissverschluss wieder zu. „Willste ‘ne Cola?“
Ich nicke.
Er reicht mir ein Glas und setzt sich neben mich. Puh...ist doch plötzlich ganz schön eng hier.
Unsere Arme berühren sich. Die Beine auch.
„Wo ist’n deine Ratte?“
„Zuhause. Was hat Tamara dir sonst noch über mich erzählt?“, frage ich etwas angepisst. So eine Plaudertasche.
„Nicht viel. Leider.“
Warum zum Arsch lächelt der mich die ganze Zeit an? Und warum finde ich es grad ziemlich aufregend mit Pavel?
„Und wie ich meine Schwester kenne, hat sie von mir gar nicht erzählt, oder? Die verschweigt mich nämlich für gewöhnlich.“
„Wieso?“
„Na, weil sie eine blöde Kuh ist. Das liegt logischerweise an ihrem verkommenen Musikgeschmack.“
„Äh...?“
„Vergiss es. Wie sieht’s aus...wollen wir ein bisschen knutschen?“
Hab ich mich verhört? Offensichtlich nicht, denn er streicht mir Haarsträhnen aus dem Gesicht und...
„PAVEL!“
Ich bin gerettet. Tamara ist da.
„Kannst du vielleicht noch mal eine halbe Stunde rausgehen? Alex und ich waren grad dabei, uns näher zu kommen.“, erklärt er.
Ich kann mir nicht helfen aber irgendwie erinnert er mich stark an Kiwi. Wenn die zwei sich kennenlernen würden...das wäre sicher spannend.
„Und der Mond besteht aus grünem Käse.“, schnauft sie. „Schwing deinen Arsch hier raus, bevor ich ungemütlich werde.“
„Hab ich’s nicht gesagt?“, wispert Pavel mir ins Ohr. „Sie ist eine blöde Kuh.“ Zu Tamara sagt er „Ich hab meine Cola noch nicht ausgetrunken“.
„Wo warst’n die letzten beiden Nächte, mh? Hast dich wieder rumgetrieben und Mama macht sich Sorgen.“
„Ich bin fast neunzehn und kann mich rumtreiben wie ich lustig bin.“
„Dein Gehirn ist jedenfalls irgendwann bei dreizehn stehengeblieben.“
„Ich war bei einem Freund. Zufrieden?“
„Hast du dafür Geld bekommen?“
„Hast du den ersten Preis im Arschloch-Wettbewerb gewonnen? Es ist total unnötig, vor fremden Leuten darüber zu sprechen.“
Was Tamara darauf sagt verstehe ich nicht, weil’s polnisch ist. Und Pavel antwortete ihr ebenfalls in der Sprache. Naja, ich hab da eine Idee und bin mir sicher, dass die nicht so falsch ist wie bei Flip. Pavel macht’s für Geld.
Nach einem ziemlich lauten Wortgefecht umarmen sich die beiden. Wer weiß, vielleicht ist das normal bei Geschwistern? Erst anzicken, dann nett in den Arm nehmen und alles ist gut.
„Bis bald, Alexander. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“, flüstert er mir zu, bevor er geht.
„Das war also dein Bruder, mh?“
Tamara stellt eine Packung Kekse auf den wackligen Tisch. „Ja. Und dein Grinsen kannst du dir gleich sparen. Pavel ist nichts für dich.“
Ich hab gar nicht gegrinst und warum spricht sie so über ihn?
„Ich kann’s dir nicht erklären.“, beantwortet sie meinen Gedanken. „Pavel ist ein lieber Kerl. Aber er hat auch ein Talent für...ähem...Dummheiten. Ich denke nicht, dass du nach deinem Typen jetzt unbedingt noch Pavel brauchst.“
Mann, das klingt ja, als hätte ich ihm bereits einen Antrag gemacht. „Ey, ich kenne deinen Bruder drei Sekunden.“
„Ich wollt’s dir nur mal gesagt haben.“, erklärt sie an einem Keks knabbernd. „Warum bist du übrigens hier?“
Gute Frage. Hab ich jetzt irgendwie vergessen. Ich zucke die Schultern. „Einfach so.“
„Ärger gehabt? Mit Flip?“
„Nee. Der meldet sich ja nicht. Is mir auch egal.“ Ist es mir zwar absolut nicht, aber...naja.
Tamara nickt gutmütig lächelnd und glaubt mir kein Wort.
Meine Eltern haben aufgehört, nachts in mein Zimmer zu kommen. Darüber bin ich sehr froh, weil anscheinend ein Stück Normalität zurückkehrt. Trotzdem verstehe ich ihr Verhalten fast nie. Einmal sind sie super locker, dann wieder bombardieren sie mich mit Fragen, versuchen, so streng zu sein wie vorher, um mir gleich darauf doch wieder alles zu erlauben. Das Piercing beispielsweise. Vor der Weglauferei hätten die mich gekillt, wäre ich durchstochen
heim gekommen. Heute hat Mama lediglich den Kopf geschüttelt. Ich denke, die beiden wissen einfach nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Das macht mich allerdings völlig verrückt. Und traurig. Weil ich mir eigentlich Eltern wünsche, mit denen ich reden kann.
Über wichtige Dinge. Über meine Liebe zu Flip vielleicht. Ich wäre jetzt soweit. Sie sind es wohl noch nicht. Ich frage mich, ob ihre Unsicherheit meine Schuld ist. Oder waren die schon immer so und ich hab bloß nicht drüber nachgedacht? Tatsache ist leider, dass ich zwar überzeugt bin, dass sie mich lieb haben, sie aber viel zu sehr darauf bedacht sind, alles richtig zu machen. Sicher meinen sie es gut, aber sie kennen mich halt überhaupt nicht. Manchmal fühle ich mich wie ein undankbares Arschloch. Ich sollte doch froh sein, dass ich ein Zuhause habe, wo ich willkommen bin. Stattdessen nörgle ich hier rum.
Tamara hat momentan kaum Zeit, weil sie sich um ihre Mutter kümmern muss. Die hat sich nämlich bei einem Sturz den Arm gebrochen und den Fuß verknackst. Deshalb hab ich mich ein paar Mal mit Pavel getroffen. Und der hat hardcore geflirtet. Außer einem kleinen Kuss
ist allerdings nichts gelaufen. Bin immer noch liebeskummrig. Er versteht das, auch wenn es ihm nicht besonders gefällt. Hab ihn über seine Vergangenheit ausgefragt, aber er sagte nur,
er hätte einige Sachen gemacht, auf die er nicht besonders stolz sei. Ich tippe immer noch auf Stricher.
War stark versucht, Kiwi und/oder Tristan anzurufen, um nach Flip zu fragen. Ließ es bleiben. Bringt ja eh nichts. Wäre etwas passiert, hätten die sich gemeldet. Also geht es ihm gut und er will weiterhin nichts von mir wissen. Ich will ihn weiterhin noch nicht gänzlich abhaken. Soll ich nochmal mit ihm zu reden? Soll ich ihm Zeit geben? Total bescheuert, aber ich denke immer noch, dass wir lediglich sowas wie eine Beziehungspause eingelegt haben. Dass er mich zurückholt, wenn er genug geschmollt hat. Das macht die Situation kurzfristig etwas erträglicher. Auf die Dauer geht das natürlich gar nicht. Ich verbiete mir ja schon, mich ständig zu fragen, ob er genauso viel an mich denkt. Ob er mich vermisst. Ob es ihm auch so furchtbar weh tut. Ich weiß, dass ich ihn enttäuscht habe, aber ich konnte doch nicht bei ihm bleiben. Ich finde, er könnte durchaus auch mal versuchen, mich zu verstehen. Dass Flip mich so völlig ignoriert und damit anscheinend keine Schwierigkeiten hat, macht mich wahnsinnig.
Ich leide und ihn lässt das kalt. Dieses gefühlsmäßige Hin-und-Herschwingen zwischen Liebeskummer, Sehnsucht, völliger Verzweiflung und bestialischer Wut ist unwahrscheinlich anstrengend.
Gestern bin ich übrigens sechzehn geworden. Außer der Familie hat mir niemand gratuliert, weil ja niemand weiß, wann ich Geburtstag habe. Naja, Flip natürlich. Zugegeben, ich hab gehofft. Was sonst?!
Hab den Abend mit Pavel verbracht, mich ein bisschen von ihm im Arm halten lassen. Das war schön, weil ich ausnahmsweise mal nicht ganz so doll frieren musste. Seit ich nämlich von Flip weg bin, ist mir wieder kalt. Vielleicht liegt es aber auch einfach nur am Wetter.
Regen, Wind, trüber Himmel. Herbst eben. Es ist ganz eigenartig. Früher hab ich mich immer ganz doll auf den Sommer gefreut und die heißen Tage total ausgekostet, weil...viele gibt’s davon ja nie. Dieses Jahr hab ich so gut wie nix davon mitbekommen, weil ich mit anderem Kram beschäftigt war. Jetzt bleibt mir nur noch übrig, mich auf den nahenden Winter einzustellen. Ich mag Winter und Schnee, wenn das Ganze nur ungefähr einen Monat dauern würde.
Mama und Papa sind heute früh zu meiner Oma gefahren. WOW...die haben mich echt allein gelassen. Logischerweise brauchte ich Tage, um sie zu bequatschen. Was denken die sich denn? Dass ich nicht mehr da bin, wenn die zurückkommen? Oder ich alle Drogenvorräte
aus meinem Versteck hole und mir reinknalle? Musste versprechen, abends anzurufen, damit sie beruhigt sind. Ganz schön komisch, das Haus für mich allein zu haben. Vielleicht lade ich Tamara ein, so lange bei mir zu wohnen. Oder Pavel. Oder beide.
Nachdem ich den Rattenkäfig sauber gemacht habe, telefoniere ich mit Tamara. Wie sich herausstellt, muss sie noch Krankenschwester spielen. Mama kann mit ihrem gebrochenen Arm ja nix machen. Der Fuß ist wohl auch noch nicht schmerzfrei. Tja und Pavel treibt sich irgendwo herum. Was soll’s...mach ich es mir eben mit mir selbst gemütlich. Leider merke ich bereits nach einer Stunde, dass ich es mit mir allein kaum aushalte. Verdammt, jetzt bloß nicht wieder an unangenehmes Zeug denken!
Eine Weile beschäftige ich mich mit John Lennon. Der hat aber irgendwann keinen Bock mehr, von mir auf Trab gehalten zu werden. Der mag lieber faul im Käfig liegen.
Als ich mir eine Tasse heißen Zimtkakao gemacht habe und fast soweit bin, Kiwi anzurufen, klingelt’s. Vermutlich Pavel, dem Tamara ausgerichtet hat, dass ich ihn suche. Gott sei Dank...endlich Gesellschaft. Ich öffne die Tür und erleide einen Schwächeanfall. Das heißt, ich würde, stehe jedoch unter Schock. Ehrlich gesagt fühle ich sekundenlang überhaupt gar nichts. Ich kann weder sprechen, noch denken noch sonst irgendwas. Ich kann nur starren
und warten bis mein Hirn wieder funktioniert. Das, was ich gewünscht und gehofft habe, ist plötzlich da. So oft hab ich überlegt, wie ich reagieren würde, und jetzt, wo’s wirklich ist, bin ich total überfordert. Mir gegenüber steht Flip und lächelt nervös.
„Hallo.“, sagt er leise und knipst damit mein Gehirn wieder an.
Okay, vielleicht nicht unbedingt mein Gehirn. Eher...au mann, ich muss grad total daran denken, dass ich ewig nicht...und Flip sieht so unverschämt gut aus.
„Darf ich reinkommen?“
„Klar.“
Geschmeidig schlängelt er sich an mir vorbei. Durch meinen Körper jagen Blitze, als er mich zufällig berührt.
„Wo ist’n dein Zimmer?“
Ich deute mit dem Kopf auf die Treppe. „Oben.“
„Und deine Eltern?“
„Weg. Bis Sonntag.“
„Zeigst du’s mir?“ Flip beißt sich auf die Lippe und wird ein bisschen rot. „Ich meine, dein Zimmer...kann ich’s sehen?“
„Okay.“
„Hübsch.“, lächelt er und schaut sich um, „Ziemlich groß, mh? Schönes...Bett.“
Das war’s. Mir ist egal, warum er hier ist. Es gibt echt nur noch eins, was ich jetzt will. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und mein gesamter Körper kribbelt fast schmerzhaft.
Flip wirft einen Blick auf den Rattenkäfig. „Ey...bist ganz schön fett geworden. Du fütterst ihn zu gut...“, er dreht sich zu mir um, „Alex...“
Dann geht alles total schnell. Ich springe ihn förmlich an, küsse ihn wild und zerre an seinen Klamotten.
Ich dachte immer, sowas passiert nur im Film. Oder in meiner Phantasie. In echt fällt man nicht einfach so übereinander her, nachdem man sich getrennt und wochenlang nicht gesehen hat. In echt redet man doch erstmal. Wir nicht. Wir haben Sex.
Als ich danach in seinen Armen liege, sein Herz schlagen höre, fühlt sich das sehr merkwürdig an. Ein bisschen fremd und doch total vertraut. Ich bin glücklich und hab gleichzeitig Angst, weil ich nicht weiß, was jetzt kommt. Ich meine, wir müssen schließlich irgendwann miteinander reden. Allerdings weiß ich beim besten Willen nicht, was ich sagen soll. Flip anscheinend auch nicht, denn er hält mich einfach nur fest und krault meinen Nacken.
„Ich will dich wiederhaben.“, flüstert er plötzlich.
„Wieso? Einen lausigen Fick kriegst du an jeder Ecke.“ Aua...das war sicher das absolut Falsche.
„Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe.“
„Weiß ich das? Vielleicht hast du ja niemals gerne mit mir geschlafen.“
„Stimmt. Das gerade war auch wieder totale Zeitverschwendung. Alex, lass uns nicht mit diesem Kack anfangen, bitte. Was ich im Park gesagt habe, tut mir Leid. Ich war verletzt und wütend. Auf dich, auf mich...auf alles. Ich wollte dir weh tun.“
Ja, das macht Sinn. Ich hab mich nämlich im Park genauso gefühlt. Und die Sache mit dem Loser war ebenfalls nicht so gemeint. Ich hab doch nur...weil er... Verdammt, eine Aussprache ist mir grad viel zu anstrengend. Momentan hab ich nämlich eh nicht mehr alle beisammen, weil es doch so wahnsinnig schön ist, dass Flip neben mir liegt und ich das jetzt einfach nur genießen möchte. Langsam gleitet meine Hand über seinen...äh, was? Hatte Flip nicht mal diesen süßen kleinen Bauch? Ohhhh...da ist ja gar nix mehr. Alles flach. Wie bei Kiwi. Ich bin total enttäuscht. Schmollend rücke ich von ihm weg und verschränke meine Arme vor der Brust.
„Was ist denn?“, fragt er irritiert.
„Du hast heimlich diätet, was?“
„Äh...hä?“
Vorwurfsvoll stupse ich ins Nichts. „Ich will deinen Bauch wiederhaben.“
„Oh mann, du bist so süß, Alex.“, wispert er und küsst mich. „Ey, ich ess jetzt ganz doll viel und dann wird mein Bauch ganz doll dick. Bei...“, er lächelt, „bei meinem neuen Job dürfte das kein Problem sein.“
„Du hast einen Job?“
Er nickt stolz, senkt aber gleich danach den Blick. „Der ist aber nicht so toll.“
„Was’n?“
„Ich...ich arbeite in ‘nem Burger King. Jedenfalls so lange, bis ich was besseres finde.“
„Ist doch okay.“
„Ja, schon. Und mit dem Geld vom Sozi komm ich sogar einigermaßen über die Runden. Weil...“, sein Lächeln wird breiter, „weil ich doch jetzt Miete und so für meine Wohnung zahlen muss.“
Ah...so viele Neuigkeiten auf einmal kann ich kaum verarbeiten. „Du hast einen Job UND eine Wohnung?“
„Yep.“
„Wow.“
„Aber nur ein Zimmer, Küche, Bad. Und mit Renovieren bin ich auch noch nicht fertig.“
Also das ist doch phantastisch, oder? Warum hab ich dann so ein flaues Gefühl? „Geht’s dir wirklich gut?“, frage ich leise.
„Du meinst...hey, seitdem du weg bist hab ich nichts mehr angerührt. Jedenfalls seit mich das Kiwi-Syndrom befiel.“
„Hä?“
„Nachdenken und feststellen, dass man irgendwie auf ‘nem scheiß Trip ist. Dass es auf hübsche Jungs nicht sehr appetitlich wirkt, wenn man bedröhnt und bekotzt in der Ecke liegt.
Dass man da verdammt noch mal selber schuld ist, wenn einem der Freund wegrennt. Dass
es schwachsinnig ist, sich an irgendwas festzuklammern, was man vielleicht vor zehn Jahren cool fand. Illegal und abgefuckt hausen, Schnorren und der ganze Mist, der früher halt geil war...das ist nichts mehr für mich. Und schließlich...“, er malt mit dem Zeigefinger Verschnörkelungen auf meine Brust, „ muss ich doch einen guten Eindruck machen, wenn du mich deinen Eltern vorstellst.“
„Äh...die haben keine Ahnung, dass ich...dass wir...“
„Du sollst mich ja auch nicht sofort als Schwiegersohn präsentieren,“, kichert er, „aber die
werden nach deiner Weglauferei sicher wissen wollen, wo und mit wem du alle deine
Wochenenden und Ferien für die nächsten paar hundert Jahre verbringen wirst.“
„Ich hab dich so vermisst.“, seufze ich und kuschel mich in seine Arme. „Wieso kommst du verdammt noch mal erst jetzt?“
„Na, weil ich nicht als Loser vor deiner Tür stehen wollte.“
„Das war doch nicht...“
Flip legt mir seinen Finger auf den Mund. „Schon okay. Übrigens...“, sein Finger wandert über meinen Hals, meine Brust, umkreist meinen Nabel und tippt schließlich an den Glitzerstein, „...das da ist irre sexy.“
„Ehrlich? Das gefällt dir?“
„Total.“, murmelt er meinen Bauch küssend.
Tja, da bin ich also wieder mit Flip zusammen. Meine Eltern mögen ihn genauso wenig wie Tamara. Das wundert mich total, weil Flip, als er Mama und Papa kennenlernte, seine punkige Art vollkommen abgelegt hatte. Ein netter, freundlicher, aufmerksamer junger Mann...da hätte zur Begrüßung nur noch der Knicks gefehlt und ein Blumenstrauß für die Dame des Hauses. Naja, vermutlich haben meine Eltern den räudigen kleinen Straßenköter in ihm doch irgendwie gewittert. Trotzdem darf ich die Wochenenden bei ihm verbringen. Allerdings nur, wenn ich schön abends anrufe, damit sie sich keine Sorgen machen müssen. Dass ich mit Flip schlafe, wissen die beiden selbstverständlich nicht. Warum auch, oder? Das geht schließlich niemanden was an. Ich würde denen ja auch nicht erzählen, dass ich mit einem Mädchen ins Bett gehe und finde eh nicht, dass Eltern so genau über das Sexleben ihrer Kinder Bescheid wissen müssen.
Flips Wohnung ist toll. War aber noch eine ziemliche Bruchbude, als ich zum ersten Mal da war. Lediglich sein Wohn-Schlafzimmer war fertig gestrichen und eingerichtet. Den Rest haben wir dann zusammen gemacht. Die Küche gelb und bonbonfarben, das Bad orange und Tamara hat über ihre Wohnwagenplatz-Freunde für umsonst zwei sehr wichtige Elektrogeräte organisiert. Flip hatte nämlich weder Kühlschrank noch irgendwas zum Kochen. Nur einen ollen Sandwichtoaster und eine Zuckerwatte-Mach-Maschine vom Trödel. Damit hatten wir eine Zeit lang sehr viel leckeres Vergnügen...Flips magersüchtige Figur wird langsam wieder knuddeliger, was nur von Vorteil ist, weil ich’s schließlich weich haben will, wenn ich ihn als Kopfkissen missbrauche.
Einen Gefährten für John Lennon haben wir gekauft. Paul McCartney. Die beiden lieben sich nach anfänglicher Skepsis heiß und innig. Ein Mädchen wäre uns zu riskant gewesen. Wollen ja keine Rattenzucht aufmachen.
Zu Kiwi und Tris hab ich jetzt auch wieder Kontakt. Ob das allerdings so gut ist, weiß ich nicht, denn die beiden sind absolut irre und kaum auszuhalten. Entweder knutschen die wie bekloppt oder sie streiten. Letztens beispielsweise...da war Kiwi eifersüchtig, weil Tris angeblich was mit Pavel hatte und ließ aus Rache in der Scheune verlauten, dass es bei
Tristan eben nie besonders lange dauert. Dafür hat Tristan dann wirklich ÜBERALL rumerzählt, Kiwi sei Fußfetischist. Ich dachte eigentlich immer, man könne Kiwi nicht in Verlegenheit bringen. Was für ein Irrtum. Ich hab echt keine Ahnung, ob er wirklich auf
Füße steht aber...mann, war dem das peinlich. Unnötig zu erwähnen, dass Pavel und Kiwi
sich offiziell absolut nicht ausstehen können. Aber mal unter uns...zwischen den beiden knistert’s ganz schön. Würd mich auch nicht wundern, wenn die bald zu dritt im Bett landen.
Ich bin froh, dass Flip nur mir gehören will. Dass er tatsächlich weder Alkohol noch Drogen anrührt und brav zur Arbeit geht. Und zur Schule, weil er sein Abi nachholt. Das ist zwar ziemlich stressig für ihn aber er findet das ganz gut so. Auf Ausgehen am Wochenende haben wir beide momentan keine große Lust. Haben viel zu viel nachzuholen. Allein. Manchmal hängen wir einfach nur den ganzen Abend kuschelnd vor dem Fernseher. Kucken uns saudämliche Filme an und knutschen dabei. Kiwi nennt das langweilig und spießig. Mir doch egal. Ich finde, ich hatte genug Abenteuer.
E N D E
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