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Schmuddelkind

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Herzschmerz

Nach der Schule schnappe ich mir meine Freundin. Es scheint ihr unangenehm zu sein, dass ich sie anspreche, aber damit kann ich mich jetzt nicht befassen.

"Meinst du nicht, wir sollten mal reden? Du bist mir eine Erklärung schuldig."

"Wieso? Weil ich es mir anders überlegt habe? Geht es dir doch nur um Sex, ja?"

Eigentlich hat sie gar keinen Grund, auf mich wütend zu sein, oder?

"Du hast angefangen. Ich hab dich zu nichts gedrängt. Nie."

Ein bisschen zerknirscht knabbert sie auf ihrer Lippe. "Ich weiß. Tut mir leid, Valentin. Das mit uns… das war vielleicht doch keine so gute Idee."

Macht die grad Schluss mit mir? Ich geh kaputt.

"Warum nicht?"

"Einfach so. Wir passen halt nicht zusammen."

"Aha. Ist dir das aufgefallen, als du mir die Klamotten vom Leib gerissen und mich geküsst hast?"

"Ich dachte… ich könnte es, wenn ich es müsste."

"Klartext bitte."

Zoe blickt mich an wie ein gehetztes Tier. "Schwör mir, dass du es keinem sagst. Besonders Armin nicht. Niemandem."

"Klar."

"Ich erzähle das normalerweise nicht, aber ich finde es auch nicht fair, dir was vorzumachen. Du… ich mag dich, das musst du mir glauben. Seitdem du nicht mehr so oft mit Armin rumhängst, hast du dich irgendwie verändert, Valentin. Positiv verändert."

Mann, was faselt die da? Und worauf will sie zum Teufel hinaus?

"Es ist so… ich hab gemerkt… also schon vor längerer Zeit… na ja, ich bin in wen anders verliebt."

Sofort geistert mir Chilis Fresse durch den Schädel. Dieser kleine Penner taucht hier auf und macht alle Leute verrückt, verflucht noch eins!

"Dein Traummann ist eine Schwuchtel", sage ich gehässiger als geplant.

"Bitte was?", fragt Zoe belämmert.

"Chili steht auf Kerle, das weiß ich von Madita."

"Hast du was gegen Homosexualität?"

"Nein."

"Und du denkst, dass ich in diesen Chili verknallt bin?"

"In wen sonst?", frage ich nun belämmert.

Zoe atmet tief durch. "Madita."

Ich werde geisteskrank!!

"Schon klar, deine Schwester steht auf Jungs und wir kennen uns eigentlich gar nicht, aber… wenn ich sie sehe bekomme ich Herzklopfen und Schmetterlinge im Bauch. Sie ist einfach so wunderschön", schwärmt sie.

Meine Alibifreundin ist eine Lesbe. Alle hatten recht.

"Das ist jetzt kein Witz, oder so was?"

"Kannst du dir vorstellen, was los ist, wenn das rauskommt? Meine Eltern schicken mich sicher ins Ausland. In so ein Heim für fehlgeleitete Mädchen. Und meine Freunde werden mich für abartig halten."

Da wir einige gemeinsame Freunde haben, verstehe ich ihre Panik sehr genau. Trotzdem. Zoe ist echt eine Lesbe. Ach du Scheiße! Oh Gott, und sie ist in meine Schwester verknallt, die in Chili verknallt ist, der aber mich liebt.

"Du hast mich benutzt", stelle ich fest. "Als Alibi."

"Nee, ja, aber das war nicht geplant. Es hat sich irgendwie ergeben und ich hab's echt versucht."

"Was?"

"Normal zu sein. Es funktioniert nicht. Ich möchte nicht mit Männern schlafen."

"Sondern mit meiner Schwester."

Sie wird doch tatsächlich ein bisschen rot. Leider kann ich nicht so schnell auf 'alles okay' machen, weil sie sonst vielleicht Verdacht schöpft.

"Ich glaube, ich muss das erstmal verarbeiten", behaupte ich und probiere, einen weinerlichen Ton anzuschlagen.

"Das verstehe ich. Aber… du behältst es doch für dich?"

"Natürlich."

Zoe lächelt ein wenig. "Danke, Valentin."

So, na ja, die Sache wäre schon mal geklärt. Chili hat mich heute mit dem Arsch nicht angekuckt, deshalb gehe ich stark davon aus, dass er sauer auf mich ist. Soll er doch. Ich wollte ihn eh nicht mehr wieder sehen. Alles fügt sich ganz wunderbar. Sogar mein Plan, nicht mit Armins Schnalle zu bumsen, hat bestens funktioniert. Okay, Armin war etwas sauer, weil ich es mit dem Alkohol dermaßen übertrieben hatte, dass ich auf den teuren Wohnzimmerteppich gebrochen habe… aber ansonsten ist alles in Ordnung. Wenn ich jetzt noch Madita besänftigt bekäme, könnte ich nachts auch wieder ruhig schlafen. Muss ja momentan immer noch befürchten, dass sie Geheimnisse ausplaudert. Mann, wenn die wüsste, dass meine Exfreundin mit ihr in die Kiste will. Logischerweise werde ich Zoes Geheimnis nicht verraten. Schließlich weiß ich, was sich gehört. Außerdem interessiert es mich auch gar nicht. Klar, wenn ich total in Zoe verliebt wäre, würde es mir wahrscheinlich schon was ausmachen. Bin ich aber nicht. Verliebt, meine ich. In niemanden. Auch nicht mehr in Chili. Eigentlich hätte ich Armins Schnalle doch bumsen können. Chili war jedenfalls nicht der Grund, weswegen ich's mir verkniffen habe. Es lag einzig und allein an dem Mädchen. Ich stehe nun mal nicht auf Blondinen!


Die Stimmung zuhause ist winterartig. Also zwischen Dita und mir. Meine Eltern kriegen mal wieder nix mit. Und selbst wenn, es würde sie wahrscheinlich nicht interessieren. Dass ich mit meiner Schwester auf Kriegsfuß stehe, macht mir ziemlich zu schaffen. Nicht nur, weil ich Angst habe, sie könnte unschöne Dinge über mich erzählen. Ich meine, so überhaupt. Dita und ich haben uns immer gut verstanden. Jetzt streiten wir uns quasi um einen Kerl!

"Hey, Pfeifenkopf."

Was? Wieso besucht Madita mich in meinem Zimmer?!

"Zoe und ich haben Schluss gemacht", erkläre ich unaufgefordert.

"Du und Chili auch, oder?"

"Weiß nicht genau", antworte ich, obwohl es sie eigentlich einen Dreck angeht.

"Ich meine…", sie macht eine nervtötende Pause und setzt sich in den Hängekorbsessel, "das würde immerhin sein Verhalten erklären."

Okay, sie will offenbar aus dem Nähkästchen plaudern und genießt, dass sie mehr weiß als ich. Logischerweise frage ich nicht nach.

"Mann, der war ganz schön sauer, dass du an seinem Geburtstag lieber mit Armin losgezogen bist. Und enttäuscht."

Chili hatte Geburtstag? Ach du Scheiße!

"Aber du hattest recht. Er wollte sich nicht von mir trösten lassen. Das hat dieser Typ übernommen, mit dem er andauernd rumhängt."

Fabelhaft. Ich nehme mal stark an, sie meint Len.

"Und er war sehr erfolgreich."

Mir platzt gleich der Kragen… aus mehreren Gründen.

"Madita, was willst du eigentlich? Warum erzählst du mir den ganzen Kack?"

"Einfach so. Dachte, es würd dich interessieren, wie schnell sich dein Exfreund was Neues angelacht hat."

"Danke, tut es nicht", lüge ich.

"Na dann…", sagte sie, steht langsam auf und geht.

Soso, Chili stellt mir ein Ultimatum, wartet meine Entscheidung jedoch gar nicht erst ab, sondern treibt es sofort mit der blöden Arschgeige. Und das vor den Augen meiner Schwester.

Da kann man ja froh sein, dass man mit dem Typen nichts mehr zu schaffen hat! Und Madita braucht gar nicht so beschissen zu tun. Die freut sich doch insgeheim ein Loch ins Knie, weil sie denkt, ich könnte Chili nicht mehr haben. Phh… ich könnte Chili jederzeit haben, wenn ich wollte, was nicht der Fall ist. Selbst wenn er jetzt mit Len zusammen sein sollte, ich bräuchte bloß mit dem Finger schnippen und er würde mit mir ins Bett gehen!


Das Partyhaus ist von einem Baugerüst umgeben. Bin hier grad zufällig vorbei gekommen und sehe es. Tja, müssen sich die Freaks wohl einen anderen Platz zum Geschlechtsverkehr suchen. Mir doch egal. Na ja, ein bisschen möchte ich schon gerne wissen, wo die jetzt hingehen. Und was Chili macht, wenn er mal seine Ruhe haben will. Egal. Ich stopfe meine Hände in die Jackentaschen und marschiere durch die dunklen Straßen. Freitagabends haben natürlich alle irgendwas vor. Ich hätte mit Armin was aufreißen können, aber danach war mir nicht. Stattdessen irre ich völlig planlos umher. Keine Ahnung, wieso, aber plötzlich stehe ich vor dem Pornokino, in das Chili mich bei unserer ersten Verabredung geschleppt hat. Sollte man sich nicht als Pornokinokassiererin den Ausweis von Leuten wie mir zeigen lassen? Schließlich darf man so Hardcorestreifen erst ab achtzehn sehen. Wir sind aber total easy da rein gekommen. Allerdings hat Armin beispielsweise auch schon mit sechzehn überall alkoholische Getränke kaufen können… und ich meine jetzt nicht Bier oder so läppisches Zeug. Dann wundern sich die Leute, dass die Jugend zur Suffgeneration mutiert. Ist doch logisch, wenn die Rotzgören bei der Beschaffung nicht vernünftig kontrolliert werden!

Wie auch immer. Ohne Chili macht Pornokino eh keinen Spaß. Ob sich der kleine Straßenköter jetzt in diesem Moment mit Len amüsiert? Der Gedanke daran beschert mir heftige Übelkeit. Leider kann ich nicht aufhören, dran zu denken. In allen Einzelheiten muss ich mir vorstellen, wie dieser Penner meinen Freund befummelt. Es ist ekelhaft. Und eigentlich auch völlig unnötig, weil ich ja eh nichts dagegen machen kann.

Als ich von meinem Spaziergang nach Hause komme, fängt mein Herz an zu klopfen. Chili steht vor dem Tor.

"Willst du zu mir?"

"Nee", schüttelt er den Kopf, "ich hab deine Schwester hergebracht."

"Hat er dir Zeit dafür gegeben?"

"Wer?"

"Du brauchst nicht weiter den Ahnungslosen spielen. Madita hat mir erzählt, wie schnell du dich getröstet hast… und vor allem, mit wem."

Chili kommt auf mich zu und schnüffelt an mir herum. "Hast du getrunken?"

"Ich hoffe, du hast einen ordentlichen Geburtstagsfick bekommen. Alles Gute übrigens… nachträglich."

"Ich hab echt keinen Schimmer, wovon du redest", seufzt er. "Aber danke für die Glückwünsche."

"Gib's doch wenigstens zu, du Arschloch", brülle ich.

"Valentin, du machst mir langsam Angst. Entweder drückst du dich jetzt klar aus, oder…"

"Oder was?"

"Oder ich verschwinde. Ich weiß eh nicht, warum ich überhaupt noch mit dir rede. Immerhin hast du sehr deutlich gemacht, wie wichtig ich dir bin."

"Ja? Weil ich nicht zu deiner Geburtstagsparty gekommen bin? Hättest mir ja mal einen Ton sagen können."

"Hab ich versucht, aber du wolltest lieber mit Armin Weiber flachlegen."

"Wenn ich gewusst hätte… außerdem hab ich niemanden flachgelegt. Im Gegensatz zu dir."

"Verstehe", nickt er. "Wen hab ich denn flachgelegt?"

"Len."

"Und das weißt du woher?"

"Madita."

"Tja, ich fürchte, deine Schwester hat dir einen ziemlichen Scheiß erzählt. Len hat mir einen Kuss gegeben. Ganz harmlos und ohne Zunge. Übrigens hat er seit zwei oder drei Wochen eine Freundin."

Diese elende kleine Schleicherin! Also nicht Lens Freundin, sondern meine intrigante Schwester! Wenn die sich das wirklich nur ausgedacht hat… die ist so gut wie tot!

"So, und was jetzt?", fragt Chili.

Ich lege meine Hände auf seine Hüften und will ihn küssen. Erstaunlicherweise lässt er mich nicht.

"Du hast doch getrunken, oder?"

"Was soll'n das?"

"Offensichtlich denkst du, du bräuchtest bloß mit dem Finger zu schnippen und schon wird der Straßenköter schwach, mh? Das läuft so nicht, Rosenberg."

"Aber ich hab mich von Zoe getrennt."

"Bestimmt nicht meinetwegen."

"Dann… war's das mit… uns?", frage ich und hab plötzlich einen fetten Kloß im Hals.

"Nein, aber wenn du mich zurückhaben willst, dann streng dich gefälligst mal ein bisschen an."

Na toll, und was soll ich jetzt damit anfangen? Ich glaube mittlerweile, Chili hat heute getrunken!

Bevor ich ins Bett gehe, statte ich meiner Schwester einen Besuch ab. Die schläft zwar schon, wird aber von mir gnadenlos wachgerüttelt.

"Hast du den Arsch auf?", murmelt sie tranig.

"Das wollte ich dich grad fragen."

"Verpiss dich!"

"Wieso erfindest du irgendwelche Geschichten?"

Madita setzt sich auf und reibt sich angestrengt die Schläfen. "Weil ich eine eifersüchtige, frustrierte Ziege bin. Deshalb. Außerdem hasse ich dich. Und Chili. Und wenn du's genau wissen willst, den ganzen verfluchten Rest der Welt."

"Ich kann nichts dafür, dass Chili auf Jungs steht."

"Du hast alles und ich hab nix", behauptet sie, "wie immer."

Da sie offensichtlich null Peilung hat, wie ich mich fühle und was ich durchmache, kläre ich sie mal eben ein wenig auf. Angefangen bei der Angst, die mir ständig im Nacken sitzt. Unsere Eltern, die mich enterben würden, wenn sie wüssten, dass ich nicht nur mit einem Jungen schlafe, sondern ausgerechnet mit einem aus der Gosse. Meine Freunde, die überhaupt keine richtigen Freunde sind. Armin, dem die Oberflächlichkeit aus den Ohren quillt. Chilis Freunde, die mich nicht ausstehen können, weil sie mich für eine versnobte Arschgeige halten. Und Chili, den ich heimlich treffen muss, und der sich deshalb schon fast von mir getrennt hat, weil ihm das auf die Nerven geht.

"Also, wenn du möchtest, ich gebe dir gerne ein paar von meinen Problemen ab."

"Vermutlich denkst du da nicht an Chili", lächelt sie traurig.

"Chili ist nicht das Problem."

"Sondern?"

"Die Welt, in der ich lebe."

"Und deine beknackte Schwester macht dir noch zusätzlich Stress, mh?"

"So sieht's aus", nicke ich, ziehe meine Schuhe aus und lege mich aufs Bett.

"Ich hab zwar verschiedentlich damit gedroht, aber du solltest wissen, dass ich die Sache mit Chili und dir keinem erzählen würde, Valentin. Schließlich kenne ich die Welt, in der du lebst. Hast du Zoe gesagt, warum du dich von ihr getrennt hast?"

"Eigentlich hat sie sich getrennt."

"Warum?"

"Sie mag mich wohl eher als Freund… also… du weißt schon… nicht so als Freund… nicht mit verlieben und so."

"Zoe ist doch eine Lesbe, stimmt's?"

"Wenn du das wissen willst, solltest du sie selber fragen."

"Nicht nötig", grinst sie.

Ich bin echt drauf und dran, ihr zu sagen, dass Zoe in sie verknallt ist, aber das wäre Zoe gegenüber nicht sehr nett.

"Hast du mal was mit einem Mädchen gemacht?", frage ich stattdessen.

"Bis jetzt hatte ich noch nicht das Bedürfnis."

"Und du kannst dir das auch nicht vorstellen?"

"Im Augenblick nicht."

Schade, Zoe, sieht irgendwie finster für dich aus!

"Das heißt aber nichts", überlegt Madita. "Im Augenblick kann ich mir gar nicht vorstellen, mich in irgendwen zu verlieben."

"Es tut mir leid", wispere ich.

"Na ja, dass du es nicht unbedingt drauf angelegt hast, mit Chili ins Bett zu gehen, leuchtet sogar mir ein. Er ist halt unwiderstehlich."

"Ja", seufze ich verträumt.

"Hör bloß auf zu schwärmen", warnt sie, "das kann ich mir echt noch nicht reinziehen."

Nachdem wir eine Weile schweigend vor uns hin geduselt haben, stupst sie mich plötzlich an.

"Sag mal, wie ist er denn so? Ich meine… ähem… kann er alles so gut wie küssen?"

"Allerdings."

"Hab ich mir gedacht. Weißt du, was wirklich abartig ist? Ich muss mir andauernd vorstellen, wie er mit dir… das ist eh schon die Hölle, aber, Mann, du bist mein Bruder!" Sie schüttelt sich leicht geekelt.

"Ich fand den Gedanken, dass Chili mit Len rumgemacht hat, auch nicht besonders prickelnd", entgegne ich.

"Hat er ja nicht."

"Na und? Die Bilder krieg ich aber trotzdem nicht aus'm Kopf."

"Schön, dann verstehst du ungefähr, wie es mir geht."

"Ich gehe jetzt… und zwar schlafen."


Anstrengen soll ich mich, wenn ich Chili zurückhaben will. Dass ich ihn zurückhaben will, steht wohl leider fest, da bin ich ausnahmsweise mal ehrlich. Hab ja versucht, mich selbst zu belügen, aber offenbar bin ich dafür zu blöd… oder zu schlau. Okay, also was erwartet er? Eine öffentliche Liebeserklärung? Oder soll ich mit ihm durchbrennen? Erstmal hab ich ihm nachträglich zum Geburtstag ein Handy gekauft. Ein nicht übermäßig teures, denn ich möchte auf gar keinen Fall, dass er meint, ich würde ihn mit Geschenken bestechen wollen oder so was. Allerdings hab ich keine Ahnung, wann ich ihm das Teil geben soll. In der Schule geht's nicht. Das Partyhaus gibt's nicht mehr. Wo er sich ansonsten aufhält, weiß ich nicht. Muss mal Madita beiläufig fragen, in welchen Clubs sie und ihre Freunde rumhängen. Vielleicht hab ich ja Glück und treffe ihn dort.

Übrigens kenne ich jetzt, neben Eifersucht, noch ein neues Gefühl: Sehnsucht! Klingt total schmalzig, oder? Die Symptome sind vermutlich ähnlich wie bei Drogenabhängigkeit. Man könnte die Wände raufgehen, sich selber die Haut abziehen, das Herz klopft irre schnell, man kann kaum atmen… alles gleichzeitig. Hinzu kommt noch, dass ich diesen Kloß im Hals nicht loswerde und eigentlich andauernd kurz vorm Heulen bin. Und Chili jeden Tag in der Schule zu sehen, bringt mich fast um. Ihn zu sehen und nicht küssen zu dürfen. Ich frage mich, ob es ihm genauso geht. Er sieht jedenfalls längst nicht so fertig aus wie ich.

Hab mich entschlossen, mit Zoe wieder befreundet zu sein, ihr erzählt, ich hätte den Schock verdaut und sei über sie hinweg. Da war sie, glaub ich, ein wenig beleidigt, weil sie bestimmt angenommen hat, ich würde mich ewig nach ihr verzehren. Wir haben abgemacht, dass wir unsere Trennung nicht offiziell bekannt geben… um lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen.

Find ich ganz gut so und wir müssen nicht mal lügen, weil wir einfach gar nichts sagen.

Freitagabend überrascht mich Madita. Sie wühlt sich durch meinen Kleiderschrank, wirft mir Klamotten aufs Bett und erklärt kurz und knapp, dass wir zusammen ausgehen.

"Chili kommt auch", schnauft sie augenverdrehend.

"Seit wann sorgst du dafür, dass ich Chili treffen kann? Ist das eine Falle?"

"Was'n für eine Falle? Wurdest du als Kind zu heiß gebadet? Okay, ich find's immer noch zum Kotzen, dass Chili in dich verknallt ist, und weil ich nicht bis zum Sankt Nimmerleintag aussichtslos in ihn verknallt sein will, versuche ich es mit so'ner Art Schocktherapie. Wenn ich euch beide zusammen sehe, begreife ich es vielleicht schneller."

"Aber du hast uns doch schon im Partyhaus gesehen, oder?"

"Das hat offensichtlich nicht ausgereicht. Außerdem hab ich euch nur auf der Couch sitzen sehen. Ihr habt nicht mal geknutscht oder so."

"Wir haben im Internet geknutscht", bemerke ich.

"Ich hab gleich gewusst, dass das nicht bloß Spaß war", behauptet sie.

"Du… ähem… du hast nicht zufällig Armin oder so eingeladen?"

"Valentin, das ist keine verdammte Falle."

"Entschuldige, dass ich nach allem, was du gesagt hast, etwas skeptisch bin."

"Das verstehe ich durchaus", entgegnet sie und pappt irgendwelche Buttons an meine schwarze Kapuzenjacke, "allerdings muss ich mich vor lauter Liebeskummer noch lange nicht in ein intrigantes Miststück verwandeln. Dass ich dich wegen Chili und Len angelogen hab, war ätzend genug. Ich will so nicht sein."

Ich glaube ihr. Was bleibt mir anderes übrig?!

Nachdem ich umgezogen bin, stylt Madita meine Haare und… au je… schmiert mir klebriges Gloss auf die Lippen. Wenigstens ist das farblos, sonst hätte ich es logischerweise sofort wieder abgewischt.

"Mann, du siehst total gut aus. Wenn du nicht mein Bruder wärst…", grinst sie.

"Cool. Erst werde ich schwul, dann fange ich eine Inzestbeziehung mit meiner Schwester an."

"Dir ist schon klar, womit Armin weniger Probleme hätte, ja?"

"Armin ist ein Arschloch."

"Schön, dass dir das endlich auffällt."

"Das ist mir schon vor sehr langer Zeit aufgefallen… nur hat es mich nicht gestört", gebe ich zu.

Der Club, in den wir uns begeben, ist relativ überschaubar. Eigentlich hat er mehr was von einer Kneipe, aber man kann weiter hinten tanzen und noch weiter hinten steht ein Billardtisch. Die Musik, die läuft, kenne ich sogar. Anarchy In The UK… ich muss sofort an Chili denken. Madita wird augenblicklich von irgendwelchen Freaks belagert. Wahrscheinlich sind das ihre Freunde. Na toll, jetzt stehe ich hier wie eine Arschgeige allein in der Gegend rum. Was, wenn Chili doch nicht kommt? Dann gehst du eben wieder nach Hause, Rosenberg, sei doch nicht so verblödet! Erstmal gehe ich allerdings nach hinten. Vielleicht spielt er ja Billard. Ich fühle mich immer noch wie ein Außerirdischer zwischen den ganzen düsteren Freaks, obwohl ich fast genauso aussehe. Na ja.

Chili ist tatsächlich da. Sitzt auf der Fensterbank und grinst lässig, als er mich sieht.

"Hallo, Emojunge."

Nervös krame ich das Handy aus der Tasche und gebe es ihm.

"Alles Gute nachträglich", murmele ich.

"Oh, Schatz… wie aufmerksam", lächelt er. "Und so hübsch verpackt."

"Das haben die im Laden gemacht", erkläre ich.

"Du schenkst mir ein Handy?", fragt er. "Warum schenkst du mir ein Handy?"

"Weil du keins hast und man dich nie erreichen kann. Ich hab meine Nummer übrigens gespeichert."

"Im Laden… bevor die es so hübsch verpackt haben?", kichert er.

"Sag doch einfach nur danke."

"Danke. Allerdings hätte ich bei deinen finanziellen Möglichkeiten schon was anderes erwartet."

"Was denn? Einen Ferrari oder eine Luxusjacht?"

"Nee, aber vielleicht einen Wochenendtrip nach Paris oder L.A. oder so."

"In meinem Privatjet?"

"Ja, wieso nicht?"

"Wir besitzen kein eigenes Flugzeug."

"Schade. Ey, das ist ja nicht mal ein Fotohandy", schmollt er.

"Willst du's nicht, oder was?", werde ich langsam ärgerlich.

"Klar, will ich es." Er hopst von der Heizung und greift nach meiner Hand. "Komm, ich kauf dir ein Bier."

Danach setzen wir uns auf eine Holzbank gegenüber der Tanzfläche. Ich erkenne Madita im künstlichen Nebel.

"Hat deine Schwester dich hergeschleppt?"

"Ja, wir haben uns ausgesprochen."

"Madita sagt, sie braucht Abstand von mir."

"Mir hat sie gesagt, sie muss uns zusammen sehen, um von dir loszukommen."

"Mädchen", zuckt er die Schultern.

In meinem Hals sitzt schon wieder dieser eklige Klops. Ich glaube, der würde verschwinden, wenn Chili mich küssen würde.

"Wie geht's denn deiner Hand?"

Er hebt seinen Arm, wedelt mit seiner Flosse vor meiner Nase herum und bewegt die Finger. "Ganz gut. Mein Arzt ist jedenfalls zufrieden. Aber es fängt schnell an, weh zu tun. Sicher gehen die Schmerzen erst dann weg, wenn ich Armin auf die Fresse haue."

"Hast du das vor?"

"Wenn der mich weiter so blöde anmacht auf jeden Fall."

"Armin zu verprügeln macht überhaupt keinen Spaß. Der kann sich nicht gescheit wehren."

"Und wer wüsste das besser als ich?! Gefällt dir die Musik?"

"Ja."

"Wieso tanzt du dann nicht?"

"Wieso sollte ich?"

Chili rückt nah an mich heran. "Ich will sehen, wie du dich bewegst", flüstert er mir ins Ohr.

"Ich will auch so vieles und krieg es nicht."

"Ja? Was denn?"

Einen Kuss von dir, du Arsch!!

"Außerdem kannst du dir doch alles kaufen."

"Dich nicht", antworte ich aus versehen.

"Verstehe. Ist das Handy so was wie ein Bestechungsversuch?"

"Nein. Das ist ein Geburtstagsgeschenk."

"Du erwartest keine Gegenleistung?"

Weil mir darauf wirklich keine Antwort einfällt, gehe ich lieber tanzen. Und sehe sicher zum Totlachen aus. Es gibt Menschen, die können sich zur Musik bewegen, ich kucke mir einfach was von den Freaks um mich herum ab und denke nicht weiter nach. Drei Lieder halte ich durch, dann finde ich, dass es reicht. Chili spielt mit seinem Handy.

"Was machst'n?"

"Ich schicke Len eine sms."

"Mit meinem Telefon?"

"Nein, mit meinem neuen Telefon. Bist du etwa immer noch eifersüchtig?"

"Das hättest du wohl gerne."

Chili stopft das Teil in seine Tasche. "Ich hab dir noch ein Bier besorgt", erklärt er und deutet auf den Tisch.

"Willst du mich betrunken machen und dann rumkriegen?"

"Das hättest du wohl gerne", grinst er.

Mal ehrlich… ich hasse diesen Typen!

Da ich mir so was wie Stolz in meiner momentanen Situation nicht leisten kann, frage ich ihn, ob er heute bei mir übernachtet.

"Ich denke nicht."

Frustriert kippe ich mein Bier runter.


Wofür hab ich Chili eigentlich ein Telefon geschenkt, hä? Der meldet sich nie bei mir. Nicht mal eine beschissene sms krieg ich von ihm. Ich möchte allerdings wetten, Len, die Arschgeige, bekommt ungefähr täglich eine. Offenbar spielt Chili irgendein verdammtes Spiel mit mir, dessen Regeln nur ihm bekannt sind. Ich meine… er sagt mir nicht, was Sache ist. Will er Schluss machen? Will er mit mir zusammen sein? Und wenn er mit mir zusammen sein will, warum mag er mich dann nicht sehen? Nicht mit mir allein sein? Das hat doch nichts mit Madita zu tun. Er könnte nämlich bequem hierher kommen, wenn Dita bei Toni ist.

Mir selbst wäre es ja auch eher unangenehm, mit Chili… und meine Schwester ist nebenan in ihrem Zimmer. Ehrlich, ich hab gar keine Lust auf diesen ganzen Scheiß. Wieso muss ich ein Doppelleben führen, wenn der Grund dafür nie bei mir ist?

"Rosenberg, was ist in letzter Zeit los mit dir? Du siehst aus wie ein Zombie", bemerkt Armin in der Pause. "Deine Beziehung scheint dir nicht gut zu bekommen. Solltest mal wieder mit mir um die Häuser ziehen… und dich nicht bis zur Besinnungslosigkeit zukippen, sondern…"

"Verschon mich mit deinem Gerede über Weiber", unterbreche ich ihn genervt.

"Wer hat was von Weibern gesagt?"

"Wieso, machst du sonst noch irgendwas in deiner Freizeit?"

"Meinst du Hobbys? Bin ich vielleicht ein Loser?"

"Keine Ahnung. Aber dein gesamter Lebensinhalt kann doch nicht nur darin bestehen, möglichst viele Weiber flachzulegen."

"So was sagen nur Typen, die keine abkriegen."

"Ich könnte genug haben… wenn ich wollte."

"Ah ja?", grinst er. "Wie wäre es mit einer kleinen Wette, mh?"

"Danke, nein."

"Hast wohl Angst, wieder gegen mich zu verlieren", behauptet er überheblich.

"Genau das", antworte ich und verdrehe die Augen.

Plötzlich springt er auf.

"He, was hat denn das zu bedeuten? Traut sich der Mutant echt auf unsere Seite. So langsam geht der mir wirklich extrem auf die Eier."

Chili befindet sich tatsächlich in unserem "Revier". Total lässig schlendert er zu Madita, die in der Sonne sitzt und ein Buch liest.

"Und schon wieder schleimt sich der Arschficker an deine Schwester ran. Rosenberg", Armin verpasst mir einen kleinen Schubser, "jetzt zeig's dem Penner doch endlich!"

"Soll ich ihn verprügeln, weil er mit Madita befreundet ist, oder wie stellst du dir das vor?"

"Hast du etwa Probleme damit, deinem Liebchen weh zu tun?", lächelt er behämmert.

Mann, der könnte sich echt mal was Neues einfallen lassen.

"Hast du den Arsch auf?"

"Sieht doch ein Blinder, dass der immer noch in dich verknallt ist. Wie der dich schon ankuckt, wenn du über den Flur gehst. Starrt dir die ganze Zeit auf den Arsch, der schwule Sack. Willst du dir das gefallen lassen?"

"Bist du neidisch, weil er nicht auf deinen Arsch glotzt?"

"Oh, jetzt hast du mich erwischt, Rosenberg", entgegnet Armin und krümmt sich zusammen, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Dann schubst er mich wieder… und zwar in Chilis Richtung. "Los jetzt!"

Ehe ich noch irgendwas machen oder sagen kann, stehen wir schon vor meinem Freund und Madita.

"Hast du dich verlaufen?", fragt Armin. "Die Zone für Straßenköter, Mutanten und Schmuddelfreaks ist dahinten." Er wendet sich an mich. "Ich bin mir nicht sicher, gibt es inzwischen auch eine Ecke für Schwanzlutscher?"

"Ist das da, wo du dich heimlich rumtreibst?", lächelt Madita.

"Misch dich nicht ein, du frigide Zicke."

"Lass meine Schwester in Ruhe", warne ich ihn knapp.

Armin verzieht angepisst das Gesicht. Chili lehnt sich entspannt zurück und wartet wohl darauf, dass Armin noch irgendetwas Blödes sagt, damit er einen Grund hat, ihm aufs Maul zu hauen. Ich weiß nicht, ob er das mit seiner noch nicht gänzlich genesenen Hand hinkriegen würde.

"Komm schon, Armin, reg dich ab, okay?", schlage ich vor.

Leider hat er dazu keine Lust.

"Dieser beschissene kleine Troll treibt sich in unserer Gegend rum."

"Wir sind hier auf dem Schulhof. Und der gehört nicht uns."

Armin blickt mich überrascht an. "Sag mal, warum verteidigst du den kleinen Schwulen eigentlich so, mh? Kriegst du irgendwie Gefühle bei ihm?"

Chili kichert auffällig. Ich muss mir ein bisschen das Lachen verkneifen. Gott, Armin ist echt unglaublich dämlich, meine Güte!

"Dir wird das Lachen noch vergehen", zischt Armin. "Und mit dir bin ich auch noch nicht fertig, Rosenberg", droht er und stampft davon.

"Der Typ ist echt die Härte", schüttelt Chili den Kopf.

"Musst du ihn unbedingt provozieren?", frage ich finster.

"Wieso? Was hab ich gemacht?"

"Der denkt jetzt, dass ich…"

"Armin würde nicht mal denken, dass du schwul bist, wenn ich dich vor seinen Augen flachlegen würde. Das passt doch überhaupt nicht in sein Weltbild", versucht er mich zu beruhigen.

Madita stiert bedröppelt auf den Boden. Wahrscheinlich stellt sie sich gerade zwanghaft vor, wie Chili mich flachlegt. Da ist sie nicht die Einzige.

Bettgeflüster

Einen Tag später bekomme ich abends eine sms von… einen Tusch bitte!... Chili.

Goethestraße 52, bring Pizza mit!

Und was soll das nun wieder? Goethestraße, weiß gar nicht, wo die ist. Und was da ist, oder wer da wohnt. Außerdem, warum sollte ich springen, wenn er pfeift? Darauf fällt mir keine Antwort ein, also ziehe ich mich ein bisschen emo-mäßig an, bestelle Pizza und danach ein Taxi. Letzteres bereue ich, als der Fahrer mich in einer schäbigen Gegend absetzt… vor dem Pornokino, in dem ich mit Chili Poppkorn gegessen habe! Peinlich berührt, bezahle ich, steige aus und bleibe unschlüssig auf dem Bürgersteig stehen.

"Komm rauf!", brüllt jemand von oben. Chili.

Neben dem Kinoeingang versteckt sich ein normal aussehender Hauseingang. Na ja, normal… die Tür hat einen Sprung in der Scheibe, als hätte da mal jemand zugetreten oder mit einem schweren Gegenstand reingehauen. Vier Treppen geht es hoch, Chili lehnt grinsend am Türrahmen.

"Der Pizzajunge ist da", brüllt er über seine Schulter.

Die Wohnung ist noch nicht eingerichtet. Dafür sind die Wände aber schon bunt gestrichen. Der Flur ist gelb und rosa! Schwuler geht's nicht. Im kleinen Wohnzimmer tummeln sich neben Anstreichutensilien und Farbeimern ein paar Freaks, die ich vom Sehen her kenne. Und Len.

"Eine Pizza… für uns alle?", fragt er ätzend.

"Entschuldige, ich wusste nicht, dass ich zu einer Party eingeladen werde, die ich ausrichten soll."

"Oh, er hat gedacht, ihr würdet einen kuscheligen Abend zu zweit vor dem Kamin verbringen", kichert er.

"Ich hab eh keinen Hunger", erkläre ich und stelle die Pizzaschachtel auf den ausgeklappten Tapeziertisch, "und bleiben werde ich auch nicht."

Chili schlingt jedoch seine Arme um mich. "Die sind in spätestens einer Stunde weg."

"Ist mir egal. Verarschen kann ich mich jedenfalls selber."

"Die haben mir alle beim Tapetenkratzen und Löcher zuspachteln und so geholfen. Jetzt wollte ich mich mit was zu Essen revanchieren, aber… ich hab irgendwie gar kein Geld dafür, was mir sehr peinlich ist. Du verstehst?"

"Dieses Loch… das ist deine Wohnung?"

"Ja. Und wenn erstmal mehr Möbel drin stehen… sie ist halt billig und ich muss sie mit niemandem teilen. Du weißt, dass uns das Partyhaus nicht mehr zur Verfügung steht? Und du weißt, dass ich volljährig bin und somit nicht mehr in Heimen oder betreuten WG's hausen muss."

Ich krame mein Handy aus der Tasche und ordere noch ein paar Pizzas.

Es dauert dann zwei Stunden, bis die Freaks weg sind. Abgesehen von Len hab ich mich aber eigentlich mit allen relativ gut verstanden. Trotzdem bin ich froh, dass die nicht noch länger bleiben wollten.

"Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte auch helfen können", ärgere ich mich.

"Beim Tapetenkratzen? Das macht null Spaß."

"Ich darf wohl nur bezahlen."

Chili grinst ein wenig. "Ich hab kein Problem damit, mich von dir aushalten zu lassen. Ernsthaft, das war das erste Mal, dass ich dich um Geld gebeten hab, oder? Und es war nicht mal für mich selber. Dass deine Eltern reich sind, ist mir scheißegal."

"Mir geht's doch nicht darum, dass ich die verfluchte Pizza bezahlen sollte. Ich bin dein Freund und der Letzte, der irgendwas erfährt."

Chili rappelt sich vom Boden hoch und hält mir seine Hand hin. "Du hast das Schlafzimmer noch nicht gesehen."

Was wird's da schon zu sehen geben? Vermutlich kahle Wände und eine einsame Matratze auf dem Fußboden.

Er öffnet eine Tür und schubst mich in ein… total fertig eingerichtetes Zimmer. Orange Wände, blauer Teppichboden… meine Augen fangen leicht an zu tränen. Ein schwarzer Kleiderschrank steht an der einen Wand, ein Bett mit schwarzem Metallgestell an der anderen. Vor dem Fenster hängt ein blaues Rollo. Neben dem Bett steht ein altertümlicher Kassettenrekorder und diverse Hörspielkassetten liegen verstreut umher. Dann gibt es noch Regale mit Büchern, um eins davon ist eine Lichterkette drapiert.

"Hat das Tine Wittler gemacht?"

"Hast wohl Chaos und Müll erwartet, mh? Volle Aschenbecher und leere Bierflaschen. Ich verrate dir ein Geheimnis… tief in mir drin steckt ein absoluter Spießer. Ich mag's gemütlich haben. Bist du schockiert?"

"Ein bisschen." Seine Bettwäsche ist nämlich… Ahoj-Brause… Waldmeister!

"Damit ich mich nicht einsam fühlen muss, wenn ich hier allein liege", giggelt er, auf den

Ahoj-Boy deutend.

Ich würde ihm ja gerne sagen, dass ich neben ihm liegen könnte, aber was würde das bringen? Chili macht nicht den Eindruck, als dächte er daran, mich zu verführen, er ist nämlich schon wieder auf dem Weg ins Wohnzimmer. Dort angekommen hantiert er mit Farbflaschen.

"Was gibt das denn?"

"Wonach sieht's denn aus? Ich mische den Farbton fürs Wohnzimmer."

"Mitten in der Nacht?"

Er zuckt die Schultern und rührt mit einem Stock durch die Farbe. "Du wolltest mir doch helfen… zieh dir ein paar alte Klamotten von mir an und schnapp dir eine Rolle."

"Aber ich hab noch niemals irgendwas gestrichen."

"Natürlich nicht", grinst er, "deshalb wird's ja auch Zeit, dass du's lernst."

Ach du Scheiße!!

Nach gefühlten zehn Stunden tun mir sämtliche Knochen weh, überall an mir ist Farbe und die Wände leuchten fröhlich gelb. Ey, und manche Leute verdienen mit so einer Arbeit ihr Geld! Chili klaubt die Abdeckfolie vom Boden und geht ins Bad, um Rollen und Pinsel auszuwaschen.

"Wenn wir das Zimmer blau gestrichen hätten, würdest du aussehen wie das Sams", kichert er.

Ich blicke in den Spiegel überm Waschbecken. Mein Gesicht ist gesprenkelt. Allerdings hat Chili ebenfalls gelbe Farbtupfer auf den Armen und am Hals und auf dem T-Shirt. Aber bei ihm sieht das logischerweise geil aus.

"Du kannst zuerst duschen, wenn du willst."

Mein Mund ist sonderbar trocken. Chili hat eben sein Shirt ausgezogen.

"Valentin?"

"Hm?"

"Willst du zuerst unter die Dusche?"

Was stellt der mir so schwierige Fragen, wenn er halbnackt vor meiner Nase rumspringt? Ist der verrückt?! Ich hätte eben fast erfolgreich meinen eigenen Namen vergessen. Bevor er mich hier stehen lässt, schlinge ich lieber meine Arme um ihn.

"Was wird das?"

"Du fehlst mir", wispere ich. "Manchmal… da vermisse ich dich so, dass ich es kaum aushalte", füge ich noch hinzu, weil ich grad zu Rührseeligkeiten neige.

"Valentin", lächelt er überrascht, "fängst du jetzt etwa an, süß zu werden? Hey, da krieg ich ja richtig Herzklopfen."

Supi, verarsch mich doch einfach!

"Geh duschen", flüstert er mir ins Ohr, "und wenn du magst, darfst du heute bei mir und Ahoj-Brause-Boy schlafen."

Na ja, immerhin.

Während Chili im Bad ist, lege ich mich hin, warte und schaue mir ein paar von seinen Kassetten an. Oh je… John Sinclair und die drei Fragezeichen! So was hab ich mir noch nicht mal als Kind reingezogen.

"Mach eine an, wenn du willst… aber bitte nicht der grüne Geist oder das Gespensterschloss, die sind mir nachts zu unheimlich."

"Ist John Sinclair mit den ganzen Vampiren, Teufeln und Monstern nicht viel unheimlicher?"

Chili hopst zu mir ins Bett. "Nee. Das sind nämlich die ganz alten Tonstudio Braun Kassetten, die sind eher ungewollt komisch."

"Ja, klar", sage ich, als wüsste ich total, wovon er redet.

"Brauchst du noch eine Decke oder reicht dir das so?", fragt er und wurschtelt seine Bettdecke über uns.

"Geht schon."

"Okay, also… schlaf gut."

Er will sich umdrehen, aber ich halte ihn fest.

"Sag mal… wann hab ich mich endlich genug angestrengt?"

"Weiß nicht. Ich finde, du warst heute gar nicht so schlecht. Na ja, und irgendwie… hab ich keine Lust, dir noch länger zu widerstehen", säuselt er und rückt etwas näher, um mich zu küssen, was ich allerdings nicht zulasse.

"Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Denkst du, du brauchst nur mit dem Finger zu schnippen und ich werde schwach?"

"Allerdings."

"Falsch gedacht."

"Valentin", lächelnd streicht er mir zuerst eine Haarsträhne aus dem Gesicht und anschließend mit dem Zeigefinger über die Brust", hör auf, dich zu wehren. Du hast keine Chance gegen mich."

"Scheißkerl", zische ich und flitsche seine Hand weg, aber irgendwie hat er mich plötzlich umarmt und ich küsse ihn.

"Warum musst du immer gewinnen?"

"Hä?"

"Wochenlang lässt du mich zappeln und wenn du dann grad mal Lust hast, schläfst du mit mir."

Chili hebt seinen Kopf von meiner Brust. "Also, wenn wir in der Öffentlichkeit schon nach deinen Regeln spielen, darf ich ja wohl wenigstens im Bett bestimmen, wo's langgeht."

"Meinst du vielleicht, ich finde es besonders lustig, in der Schule oder vor Armin so zu tun, als könnte ich dich nicht ausstehen? Dir scheint es dagegen Spaß zu machen, dass du mich haben kannst, wann du willst."

"Das eben war nicht unbedingt geplant."

"Du lügst doch."

"Nee, überhaupt nicht. Die Sache ist… ich bin in deiner Nähe mindestens so wehrlos, wie du in meiner. Ich hab ja versucht, auf Abstand zu gehen, aber kaum tauchst du auf und klimperst ein bisschen mit den Wimpern, bin ich verloren."

"Ich hab nicht mit den Wimpern geklimpert, sondern dein verdammtes Wohnzimmer gestrichen", rege ich mich auf.

"Hab ich mich dafür nicht gerade bedankt?", grinst er.

"Ja, aber deswegen bin ich nicht hergekommen."

"Warum sonst?"

"Weil ich dich vermisse, du Blödarsch. Und wenn du jetzt wieder anfängst, dämlich von Herzklopfen zu faseln, hau ich dir eine rein. Ich weiß selber, wie kitschig das klingt. Na und? Kann ich was dafür, dass du mir fehlst?"

"Du meinst, dir fehlt der Sex."

Ich flippe gleich aus!!

"Sex kann ich an jeder verfluchten Pissecke kriegen. Wenn ich Sex will, kann ich mit Armin losziehen. Oder alleine, ich brauche den Deppen nämlich nicht, um Weiber aufzureißen. Oder ich gehe in irgendeine schwuchtelige Spelunke und lass mich von irgendwelchen Kerlen abschleppen. Ich…"

Was lacht der denn so bescheuert?

"Was ist bitte so witzig? Was willst du eigentlich?"

"Eine Liebeserklärung."

Mit der Antwort hat er erstmal mein Gehirn lahm gelegt. Und er sieht gar nicht mehr so selbstsicher aus.

"Der coole Chili ist in Wirklichkeit ein kleiner Kuschelpunk, der ganz viel Liebe braucht. Wie niedlich", amüsiere ich mich.

"Ich hatte eine scheiß Kindheit", zuckt er die Schultern, "klar brauche ich viel Liebe. Du etwa nicht?"

"Was meinst du?"

"Ich meine, dass wir nicht so verschieden sind. Nur mit dem Unterschied, dass meine Mutter eine Drogenschlampe ist, die vom Sozialamt lebt, und deine Eltern reich sind. Überleg mal… Mama und Papa interessieren sich einen Scheiß für dich, oder? Die haben keine Ahnung, wer du bist. Wenn du mich fragst, hätte man weder deinen Eltern noch meiner Mutter erlauben dürfen, Kinder zu kriegen."

"Dann würde wir aber jetzt nicht hier zusammen im Bett liegen."

"Alles andere geht ja nicht. Was sollen wir also sonst machen?"

"Mann, ich würde auch gerne Hand in Hand mit dir durch die Stadt laufen, dich vor den Augen meiner Freunde küssen und meinen Eltern sagen, dass ich dich liebe… aber ich trau mich das einfach nicht."

"Das heißt, wir stehen wieder ziemlich am Anfang", seufzt er. "Oder besser gesagt, vor der Entscheidung: weitermachen oder Schluss machen?"

"Wenn du Schluss machen willst, hättest du nicht mit mir schlafen sollen. Überhaupt, du kannst nicht von Schluss machen reden und mir gleichzeitig einen Knutschfleck verpassen wollen", entgegne ich und schiebe ihn von meinem Hals weg.

"Entschuldige, du hast so einladend den Kopf zur Seite gedreht. Das hab ich als Aufforderung verstanden."

Damit wäre das ernsthafte Gespräch über Entscheidungen wohl beendet.

"Mann, ist das ein Klugscheißer. Der ist ja unerträglich."

Chili schüttelt verständnislos den Kopf. "Als Kind war ich total verknallt in Justus."

"Ist mir unbegreiflich. Und was ist das für ein Viech, das da andauernd rumkrächzt? Das nervt."

"Blackbeard, der Superpapagei."

"Hä? Die haben den doch grad erst gekauft. Wieso konnte der dann schon am Anfang…"

"Halt die Klappe, Valentin."

"Ich will eine andere Folge hören. Die hier macht gar keinen Sinn."

"Weil du nicht richtig zuhörst", stöhnt er genervt.

"Höre ich wohl. Immerhin ist mir aufgefallen, dass ein Papagei krächzt, der eigentlich noch nicht da sein dürfte. Und beim Phantomdings hat man doch gleich an der Stimme erkannt, dass der verblödete Professor in Wirklichkeit dieser Java-Typ ist. Dein Justus hat dafür fast fünfzig Minuten gebraucht", erkläre ich triumphierend.

"Woher willst du das wissen? Du hast nach der Hälfte der zweiten Seite angefangen, mir einen zu blasen."

"Und? Seit wann mache ich das mit meinen Ohren?"

"Ich mag nicht mehr mit dir reden. Lass uns schlafen."

Ungefähr eine halbe Stunde später bin ich immer noch hellwach, während Chili neben mir leise Schlafgeräusche von sich gibt. Was für ein Penner!

"Hey", ich rüttele an seiner Schulter, "wach auf!"

"Was?", japst er.

"Wie ist dein Name?"

"Valentin, es ist tausend Uhr", murmelt er tranig.

"Ich will deinen richtigen Namen wissen."

Chili knibbelt mit den Augen. "Christopher."

"Christopher also. Mhh… klingt hübsch."

"Danke", antwortet er, knautscht das Kissen zusammen und dreht sich auf die andere Seite.

Zufrieden schmiege ich mich an seinen Rücken.

"Ich liebe dich, Christopher", wispere ich und küsse sein Ohrläppchen.

"Ich weiß", lächelt er, greift nach meiner Hand und drapiert meinen Arm um seinen Körper.

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