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Growing Up

Teil 3

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Erst jetzt fällt mir auf, wie Matthias zu uns beiden heraufschaut. Seine Mundwinkel sind starr und sein Blick ist traurig und wütend zugleich. Aber im selben Moment, wo ich seinen Blick fragend erwidere, wendet er sich ab und beginnt wieder mit Christina, Melanie und Marcus einen Reiterkampf. Es dauert auch nicht lange, bis sie wieder aus dem See kommen und sich zu uns in die Sonne lümmeln.

»Hey, das ist arschkalt«, hör ich nur noch Sandy neben mir kreischen, als Matthias uns mit Wasser bespritzt, zwar nur ein paar Tropfen, aber sie zeigen sofort ihre Wirkung. Sandy und ich zucken zusammen und schauen erst mal sauer in Matthias Richtung.

»Nun mal nicht ganz so empfindlich meine Damen«, typisch Matthias, er ist wieder der Alte. Herablassend wie schon immer. Irgendwie nehme ich das schon gar nicht mehr war, wobei mir seine guten Seiten, die er heute mehr als nur einmal zum Besten gegeben hat, um einiges lieber sind.

»So ihr lieben, seid mir nicht böse, aber ich hab leider noch etwas Dringendes zu erledigen!«,, ergriff diesmal Sandy das Wort.

»Ach Mensch, jetzt schon?«, schaltet sich Daniela ein.

»Ja leider jetzt schon, aber länger aufschieben geht nicht!«

»Viel Glück!«, sage ich nur wissend und versuch ihr ein bisschen Mut zu machen.

Als ich dann jedoch wieder in Matthias Gesicht schaue, sind dort wieder diese traurigen und auch wütenden Blicke. Er versucht sie zwar zu verstecken, aber gelingen tut es ihm nun wirklich nicht.

»Danke Micky. Dir auch!«

»Wobei denn?«, frage ich diesmal ungläubig.

»Ach nichts«, und noch bevor ich sie genauer darauf ansprechen kann, ist sie auch schon auf dem kleinen Weg durch den Wald verschwunden.

In den darauffolgenden Minuten beginnt erst einmal ein wirres Durcheinander. Jeder plappert mit jedem und alle anderen, bis auf mich, ziehen sich erst mal um, damit sie wieder ein bisschen warm werden. Mir fallen immer nur wieder Matthias Blicke auf, die mich irgendwie einzuschätzen vermuten. Irgendwie ist es schon komisch, die ganze Zeit beobachtet zu werden. Man fühlt sich wie auf dem Präsentierteller.

»Und nun Micky! Erzähl von deinen Heldentaten!«, fordert mich Christina erneut auf.

»Was für Heldentaten, ich habe gar nichts gemacht!«, werde ich wieder etwas sauer, mir geht diese ganze Heldensache dermaßen auf den Sack ...

»Ach, nun hab dich nicht so. Dass du Sven im Sport besiegst, wird wohl nicht so schnell wiederholt, also erzähl. Der hätte ja am liebsten die ganze Schule in die Luft gejagt!«, fragt jetzt auch Daniela neugierig nach.

»Wenn hier jemand dafür verantwortlich ist, dann Matthias, der hat mir schließlich den Weg freigemacht und mir überhaupt die Chance gegeben!« Ich schiebe Matthias ein Lob zu, so was hat es ja noch nie gegeben, auch alle anderen schauen teilweise entsetzt. So etwas hätte wohl keiner von ihnen erwartet.

»Nun erzähl keinen Blödsinn, du hast dich schließlich noch mit einem gigantischen Angriff gegen Sven höchstpersönlich durchgesetzt! Keine falsche Bescheidenheit!«, kommt es jetzt sogar von Matthias. Für die anderen scheint gerade die Welt umzukippen. Damit hätte wohl keiner von ihnen gerechnet, dass wir uns gegenseitig die Lobe zuschieben.

Normalerweise sieht es ja eher umgekehrt aus. Jeder von uns beiden will sich gegen den anderen profilieren und dieses einmal nicht zu erleben.

»Egal. Hauptsache Sven wurde mal platt gemacht, hat er wirklich verdient!«, schaltet sich jetzt auch noch Marcus dazu.

»Jetzt aber Schluss mit dieser Scheiß Debatte. Ich will darüber einfach nichts mehr hören. Ob Sven nun gewinnt oder nicht, geht mir eigentlich so was am Arsch vorbei. Er ist und bleibt ein hirnloser Prolet, der sich mal einen Duden zulegen sollte, und damit Basta«, werde ich jetzt doch etwas grantig.

»Jaja, stell dein Licht ruhig unter den Scheffel!«, schaltet sich jetzt auch Melanie ein. »Gib es doch ruhig zu. Dir gefällt es doch zumindest ein kleines bisschen, so im Vordergrund zu stehen und gegen ihn gewonnen zu haben. Stimmt es?«

Gegen die Intuition der Frauen kann man gar nichts machen. Natürlich hat sie Recht. Natürlich hat es mir gefallen, warum auch nicht. Aber nach einer Weile geht es einem wirklich auf den Wecker. So etwas Besonderes ist das nun auch wieder nicht.

»Ahhh«, beginnt jetzt Melanie zu schreien. Auf ihrer Nase ist ein dicker Regentropfen aufgeschlagen. Erst jetzt bemerken wir, wie über uns ein graues Wolkenfeld aufgezogen ist und mit einem Mal fängt es an wie aus Eimern zu regnen.

Alle aus der Gruppe springen auf, als hätte sie gerade etwas gebissen und kramen so schnell es geht ihre Sachen zusammen. Christina ist die erste. »So ihr lieben, wir sehen uns morgen, hoffentlich im Trockenen, ich bin jetzt weg. Macht schnell, bevor ihr noch komplett durchnässt.«

Kurz darauf auch Melanie, Daniela und Marcus, die sich verabschieden und so schnell es geht den Weg durch den Wald entlang laufen.

»Kannst du soweit gehen oder soll ich dich stützen?«, fragt mich Matthias etwas besorgt, als er endlich all seine Klamotten zusammengekramt und in seinem Rucksack verstaut hat.

»Nein geht schon«, und so schnell es geht, eilen wir von der Wiese den kleinen Weg entlang. Die Bäume wirken zum Glück wie ein Zelt. Zwar ein Zelt mit kaputtem Dach, aber zumindest einen Teil des Regens fangen sie ab.

»Komm schnell hier hinein«, deutet mir Matthias auf eines der Bootshäuser am Ufer. Erstaunt gucke ich ihn an und er zeigt mir einen Schlüssel. So schnell es geht öffnet er damit die Tür. Zu Anfang hakt sie etwas, so dass ich erst glaube, er will mich verscheißern, und ich wollte ihm auch schon an den Hals fallen, warum er mich hier im Regen auf nichts warten lässt, aber dann machte das Schloss plötzlich schnapp und die Tür war offen. Mit einem Schritt stehen Matthias und ich schließlich im Trockenen.

Erst einmal doch etwas erstaunt, blicke ich mich dann erst mal überall um. Vor mir liegt ein Boot der doch gehobeneren Klasse im Wasser. Ich würde es wahrscheinlich auf 250 000 DM schätzen. Amerikanischer Stil mit Innenborder Motor, vollkommen aus Kunststoff, mit einer kleinen Kajüte im vorderen Teil und einem erhobenen Fahrerplatz. Das gesamte Bootshaus selbst ist aus Holz. Überall mit Holzpanelen verkleidet und vor allem alles sauber und gepflegt, trotz des langen harten Winters. Keine Spinnenweben, nichts. In unserem Bootshaus kann man mal froh sein, wenn man mal nur auf etwa 3 Spinnen trifft, aber hier scheint alles stubenrein zu sein. Der Boden ist mit Kunstrasen ausgelegt. Grün und etwas robuster.

»Gehst du mal einen Schritt zur Seite?« Matthias drückt mich ein bisschen nach links und schließt die Tür hinter sich. Direkt neben der Tür geht eine Treppe in einen anscheinend zweiten Stock.

»Komm mit. Oben ist es wärmer, dort haben wir eine Heizung«, und deutet auf die Treppe. »Schaffst du dies auch allein oder soll ich dich stützen«

»Danke, aber es geht schon.« Langsam und vorsichtig ging ich Stufe für Stufe nach oben. Das alte Holz begann unter meinen Schritten zu knarren, so als wolle es gleich nachgeben und einfach bersten. Doch es hielt mir stand.

Stufe für Stufe schritt ich nach oben, wo mich erst eine Tür und dann ein warmes Zimmer erwarteten. Das Zimmer selbst war nicht besonders groß, vielleicht vier mal vier Meter, es war aber sau gemütlich eingerichtet. An den zwei schiefen Wänden waren Bücherregale angebracht, in denen sich massenweise Literatur stapelte. Mitten im Raum stand ein großes Bett. Es war ungemacht und schien frisch benutzt worden zu sein. Das ganze Zimmer schien gegen die Kälte gedämmt, selbst der Fußboden war mit Wärmedämmung gebaut worden, so dass man hier sogar im Winter wohnen konnte. An der anderen gegenüberliegenden Wand war eine Tür, die in ein zweites Zimmer führte.

Als Matthias nach oben kam, öffnete er sofort die Tür und deutete mit ihm in das andere Zimmer zu gehen. Wir redeten nicht viel. Es schien sich irgendeine Spannung zwischen uns aufgebaut zu haben, irgendetwas, was uns beide bedrückte. Ich schritt durch die Tür, und erst da sah ich, dass da hinter kein wirkliches Zimmer lag, sondern eher ein Spitzboden, rein aus Holz, nur der Fußboden war mit Kunstrasen abgedeckt worden. Weiter nach vorne hinaus war eine weitere Tür. Matthias öffnete auch sie und gab einen wunderschönen Blick über den See preis.

»Setz dich ruhig hin!«, forderte er mich auf, nachdem er sich selbst direkt an den Rand gesetzt hatte und seine Beine nach unten baumeln ließ. Sein Blick ging in die Ferne, irgendwohin ins nichts.

»Weißt du …«, begann er plötzlich zu erzählen, seinen Blick weiterhin in die Ferne gerichtet, »all diese Tropfen, jeder einzelne, ist schon seit Ewigkeiten unterwegs. Von den Wolken vielleicht mehrere Tausend Kilometer getragen, vielleicht auch noch weiter. Aber sie fallen hier, von ganz weit oben, dort noch als Schneekristalle, auf uns herab. Alle versuchen ihr Ziel zu treffen. Sie versuchen es zumindest, aber nur wenige erreichen es. Sie versuchen zu ihrer Bestimmung zu werden, sie versuchen ihren Gegenpart, den See zu erreichen. Aber viele erreichen es nie. Sie werden über Dachrinnen in großen Fässern aufgefangen. Sie wollen entfliehen. Manchmal sind es nur noch ein paar Meter bis zu ihrem Ziel, dem See. Aber es geht nicht. Sie sind gefangen. Gefangen in einem Kunststoffbehälter. Es wird ihr Grab werden. Sie landen dann in irgendwelchen Gießkannen, um dann in irgendeinen Topf zu enden. Aber ihr Ziel, den See, haben sie immer vor Augen und werden es auch nie vergessen, bis sie eines Tages dort ankommen und in der ewigen Masse aufgehen!«

Matthias erzählte die ganze Zeit vor sich hin und starrte dabei stur in den Himmel, in die Ferne. Die Regentropfen prasselten auf das Dach und flossen in kleinen Rinnsalen bis zum Giebel, um sich dort in schweren Tropfen zu sammeln und dann schwer in den See zu fallen.

Eine Stille entstand, eine Stille voller Geräusche. Überall war der Regen zu hören, auf dem Dach, auf dem See, auf den Bäumen, überall. Auf dem See trafen die wenigen Tropfen auf, die ihr Ziel nicht verfehlten. Sie schlugen auf und kleine Wellen bildeten sich kreisförmig um den Einschlag. Die Wellen breiteten sich aus, störten sich gegenseitig und unterstützten sich.

Sie flossen und vergingen in der Ewigkeit. Matthias saß noch immer da und starrte in den Himmel. Er war wie von Sinnen. Ich stand hinter ihm. Konnte mich selbst nicht rühren, die ganze Stimmung erfasste mich.

»Hey?«, drehte er sich auf einmal um. »Du frierst ja!«

Erst jetzt bemerkte ich es, wie ich so dastand. Meine Knie zitterten und meine Zähne klapperten wie Steine aufeinander, immer heftiger und lauter und erst jetzt stieg die Kälte von den Zehenspitzen bis in die kleinen Härchen auf meinem Kopf.

»Warte einen Moment!« Matthias stand auf und ging in das Hinterzimmer zurück. Als er wieder neben mir stand, hatte er eine dicke Wolldecke in der Hand und ein Handtuch.

»Zieh dich aus und wickle dich am besten hier in die Decke, sonst holst du dir noch den Tod. Währenddessen können deine Kleider über der Heizung trocknen!«

Er streckte mir die Decke und das Handtuch entgegen. Nur sehr zaghaft griff ich danach.

»Hey, keine Angst. Ich tu dir nichts. Trockne dich erst mal vernünftig ab, dass du nicht mehr so leicht frierst. Wenn es dir lieber ist, gehe ich erst mal nach hinten und hole den Fragebogen für die Schule, können wir ja jetzt gleich machen, wenn wir hier sowieso festsitzen! Ok?«

Ich nickte ihm nur leicht verlegen zu.

»Michael …«, so hatte er mich noch nie zuvor genannt. Immer nur Micky, nichts anderes, niemand außer meinen Lehrern nannte mich Michael, nicht einmal meine Mutter, wenn sie sauer war. Hier zum ersten Mal hörte ich, wie mich privat jemand Michael nannte. Es durchfuhr mich sofort wie der Blitz. »... ich will nicht, dass du krank wirst. Also bitte zieh dich einfach bloß aus und verhüll dich dann in die Decke. Hier tut dir keiner was. Aber du holst dir sonst den Tod, du läufst ja jetzt schon fast blau an. Ich gehe jetzt nach hinten und sobald du fertig bist, komme ich wieder, und erst dann, versprochen!« Er sah mich noch einmal bittend an, aber ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, ging er nach hinten, schloss die Tür und war anscheinend erst einmal weg.

Und jetzt? Sollte ich mich wirklich ausziehen und in die Decke rollen? Irgendwie kam mir die Vorstellung, nackt in der Decke neben Matthias zu sitzen, etwas merkwürdig vor. Irgendwie ungewohnt. Irgendwie … ach ich weiß nicht.

Nach und nach begann ich mich ganz langsam aus den nassen Klamotten zu schälen, sie klebten schon auf der Haut, so dass es ziemlich schwierig war, aus ihnen herauszusteigen. Aber es war besser für mich. Ich merkte schon selbst, wie ich immer mehr zitterte und mit den Zähnen klapperte.

Erst das Shirt. Es klebte wie die Pest und ich hätte es wahrscheinlich auch noch zerrissen, wenn ich nicht aufgepasst hätte. Dann die Hose. Zum Glück keine Jeans, aus der kommt man ja kaum alleine heraus, wenn sie nass ist. Zum Glück waren es nur halblange Jeansshorts, aber es ging irgendwie. Und schließlich noch die Boxers. Ich zögerte erst noch einmal, bevor ich auch diese auszog. Ich kam mir irgendwie komisch vor, hier oben so nackt zu stehen. Jeder der in diesem Moment mit dem Boot vorbei gefahren wäre, hätte mich so sehen können, wie Gott mich schuf, doch glücklicherweise regnete es noch wie aus Eimern, so dass sich niemand traute mit seiner kleinen Nussschale herauszufahren.

Aber irgendwie gefiel mir auch dieses Gefühl. Ich war endlich einmal ich alleine, ich so wie ich wirklich bin. Hinter keiner Maske. So verletzlich, wie zu keinem anderen Moment davor.

Ich stand noch ein paar Momente einfach bloß so da. Genoss den sanften Sommerwind, der über die Haut strich und dieses Gefühl alleine zu sein. Nur ich und die Regentropfen. Ich und die Natur. Erst da fiel mir ein, dass Matthias im Hinterraum war und watete. Er hätte jetzt gut die Situation ausnutzen können, um irgendetwas in der Hand zu halten, um mich vor allen aufziehen zu können.

Aber ich schätze ihn nicht so ein. Nicht mehr. Nicht nach diesem heutigen Tag. Ich trockne mich noch schnell mit einem Handtuch ab und wickle mich schließlich eng in die Decke ein und hockte mich so mit angezogenen Beinen auf den Boden. Vor mir eröffnete sich noch immer das Panorama des Sommerregens. Alles schien grau und fad, die Tropfen waren kleine dünne Bindfäden, die auf den Boden niederprasselten ...

»Bist du fertig?«, frage ein Stimme hinter mir und dazu kam ein leisen, kaum hörbares Klopfen gegen die Tür.

»Ja«, kam nur ganz knapp und schon fast heiser von mir.

Die Tür ging ganz langsam knarrend hinter mir auf. Ich blickte nicht hinter mich, aber vor meinem inneren Auge wusste ich es, wie es aussah.

Als er auf meiner Höhe war, blickte ich zu ihm hinüber. Er hatte sich genauso seiner Kleidung entledigt. Nur noch ein Short umhüllte seine Hüften. In der Hand hielt er eine Decke und einen Zettel. Er setzte sich mir gegenüber in den Schneidersitz und warf sich die Decke wie einen Umhang über die Schulter und hielt sie dann vorne zu. Auf seine gekreuzten Beine legte er den Zettel und las die ersten Zeilen.

»Wollen wir mit unserer Hausaufgabe anfangen?«, fragte er mich plötzlich. Ich sah ihn etwas verdutzt an. Ich verstand nicht ganz.

»Ich meine den Fragenkataloge über unser Gegenüber.« Erst bei diesen Worten fiel bei mir der Groschen. Das war diese dämliche Hausaufgabe, bei der wir unser gegenüber durch gezieltes Fragen charakterisieren sollten.

»Wir machen das am besten immer im Wechsel!«, ich nickte nur kurz und er begann die erste Frage vorzulesen.

»Wovor hast du Angst?«

Uff, gleich als erstes so eine Frage. Hätte man nicht damit anfangen können, was meine Lieblingsessen ist? Aber anscheinend wollte man nicht allzu viel Zeit vergeuden.

Ich saß eine Weile einfach da und überlegte hin und her, was ich jetzt sagen sollte.

Ich starrte auf den See und versuchte etwas in meinen Kopf zu bekommen.

»Angst? Angst davor irgendwann einmal in dieser grauen Masse, ohne irgendetwas, unterzugehen. Einfach nur noch eine Maschine zu sein und von morgens bis abends zu arbeiten. Was ich jetzt erlebe, kann irgendwie noch nicht alles sein. Es muss da noch mehr geben, etwas, was mich ausfüllt, etwas, was ich bisher noch nicht erlebt habe. Irgendetwas. Ich weiß nicht genau was, aber da muss noch mehr sein, als dieser graue Brei, irgendetwas Einmaliges!«, kam es mit einem Mal nach und nach aus meinem Mund. Meine Stimme war heiser, fast kaum noch zu hören. »Wovor hast du Angst?«

Er saß die ganze Zeit da und schaute mich an, als ich ihn jetzt fragte, wandte er seinen Blick nach draußen. »Davor, irgendwann einmal hier zu enden!«

»Wie das?«

»Hier in diesem ganzen Ort, hier in diesem Bootshaus. Irgendwann alt und alleine zu sein. Nichts erreicht und immer noch zu leben. Hier in diesem kleinen Ort, umzäunt von hohen Bäumen, gefangen in diesem grau in grau, dieser Heuchelei von Dorfgesellschaft. Alt, allein und verbittert!«

Ich folgte seinem Blick, der weit in die Ferne führte. Es schien, als würde er gar nicht sehen, was vor ihm lag, vielmehr spiegelte sich in seinem Auge ein anderes Bild. Es waren Bilder von verschiedenen Orten. Orte voller Menschen, voller friedlicher Menschen. Menschen, die nicht so verbittert sind wie hier, einfach frei und fröhlich. Aber sein Blick wurde immer trüber, bis dass Bild vollkommen verblasst war.

Sein Blick fiel wieder vor ihn auf das Blatt.

»In welchen Momenten fühlst du dich alleine?«

Wieder so eine Frage, auf die man ungern antwortet, vor allem, weil man nicht genau weiß, was man sagen soll und kann und was nicht. Mein Blick ging wieder erst nach draußen. Es war mittlerweile dunkel geworden. Auf der anderen Seite des Sees sah man schon die Straßenlaternen scheinen. Der Regen hatte leicht nachgelassen. Nur noch einzelne Tropfen hörte man auf das Dach auftreffen. Der See war ruhig und schwarz, eine glatte Masse, nur manchmal unterbrochen durch kleine Tropfen, die kleine Wellen verursachten. Dann ging mein Blick wieder zu Matthias. Seine Augen sahen mich gespannt an. In seinen Gesichtszügen, war keine Regung zu bemerken, aber man merkte, dass er innerlich vollkommen aufgewühlt war.

»In den Momenten, wo ich Menschen miteinander herumalbern sehe und ich nur als stummer Beobachter daneben stehe. In Situationen wie heute Morgen, als Melanie und Marcus neben mir standen und einfach miteinander kuschelten. Ich hätte die ganze Zeit zugucken können, aber wiederum auch nicht. Nach einer gewissen Zeit wäre ich einfach zu eifersüchtig geworden. Man will auch endlich sein gegenüber finden. Endlich auch nicht mehr alles alleine erleben, endlich teilen, endlich … ach Shit.« Mein Blick ging im gleichen Moment auf den Fußboden.

»Hey schon gut!« Matthias nahm seine Decke stand auf und setzte sich direkt neben mich. Er legte eine Hand direkt auf meine Schulter. In meinen Augen sammelten sich einzelne Tränen. Ich weiß eigentlich gar nicht woher, aber sie waren da. »Ist schon gut Micky. In der Beziehung kann ich dich mehr als gut verstehen!«

»Was machst du, wenn du dich einsam fühlst?«

»Ich komme dann hierher und beginne zu grübeln!«

»Worüber?«

»Über mich, mein jetziges Leben, einfach über alles! Warum ich einsam bin ...«

»Warum bist du einsam und wann?«

»Warum? Schwer zu sagen. Ich habe bis heute nur eine Erklärung gefunden.«

»Und die wäre?«

Ich blickte ihm dieses Mal direkt in die Augen und er erwiderte meinen Blick. Diesmal bildeten sich in seinen Augen die kleinen Tränen, die plötzlich begannen über die Wangen zu rollen.

»Weil ich einfach alleine bin. Zumindest glaube ich dies immer. Ich komme mir einfach alleine vor, so als wenn es keinen zweiten Menschen gibt, der so fühlt wie ich, der so denkt wie ich. Ich bin hier einfach gefangen, isoliert in einer Welt voll Intoleranz, in der ein Denken, wie das meinige nicht akzeptiert wird. In der man so jemanden wie mich ausstößt ...«

Als ich so nah neben ihm saß und direkt in seine Augen sah, fiel mir zum ersten Mal auf, wie kantig sein Gesicht geworden war. Nichts mehr von dem Babyspeck. Alles war kantig und glatt. Unter seinen Augen hatten sich leichte Augenränder gebildet. Seine Augen waren blass und traurig. Nichts mehr von dem Matthias von vor Jahren. Nicht mehr dieses überheblich Kindliche. Nicht mehr diese große vorlaute Klappe und dieses Grinsen, was nie sein Gesicht verließ, war es einmal da. Nichts mehr von früher. Er war erwachsen geworden. Zum ersten Mal sah ich ihn so. Sonst hatte ich immer noch das Gefühl, das Kind Matthias vor mir zu haben und dabei fiel mir nie auf, wie sehr er sich doch verändert hatte, wie sehr er doch erwachsen geworden ist.

»Wieso solltest du anders denken? Wieso solltest du anders sein?«

»Weil ich es einfach bin. Immer wieder wird mir klar, dass ich einfach nicht in dieses typische Bild passe.«

»Was für ein typisches Bild denn?«

»Dieses Bild des normalen Teenagers. Reiß so viele Frauen auf wie es nur geht und nagle sie erst mal durch, bis du später dann eine treue und liebe Frau findest, sie heiratest, mächtig viel Kohle scheffelst und dann mit ihr zusammen zwei Kinder zeugst! Ich passe einfach nicht in dieses Bild!«

»Musst du das denn? Wer verlangt dies?«

»Die ganze Leute hier im Ort. Mein Vater bedrängt mich jetzt schon, ich solle endlich einmal eine Freundin mit nach Hause bringen. Natürlich in den fünf Minuten, in denen er mal zu Hause ist und nicht schläft! Aber ich will das einfach nicht, ich will keine Mädchen mit nach Hause bringen und überall mit ihr prahlen. Ich bin einfach nicht so!«

»Musst du doch auch nicht. Vielleicht kommt die richtige erst in ein paar Jahren. Lass dich einfach nicht stressen.«

»Ich will auch in ein paar Jahren kein Mädchen mit nach Hause bringen, ich will nie ein Mädchen mit nach Hause bringen!«

Ich sah ihn etwas verwundert an. Ich wollte anscheinend einfach nicht verstehen, was er mir sagen wollte.

»Wie meinst du das? Willst du nie die Person mit nach Hause nehmen, die du liebst?«

»Doch will ich natürlich. Ich will sie überall herum zeigen. Immer und zu jedem Zeitpunkt zeigen. Hier ist die Person, die ich liebe!«

»Ja aber dann ...«

»Nichts dann, du verstehst einfach nicht. Es ist hier einfach nicht möglich, so zu sein wie ich eigentlich bin!«

»Aber vielleicht begegnet dir diese Person, in die du dich verliebst, noch in den nächsten Jahren?!«

»Diese Person ist mir schon begegnet, schon vor vielen Jahren«

Ich sah ihn immer noch fragend an. Ich verstand einfach nicht, was er mir sagen wollte. Ich war anscheinend heftigst auf den Kopf gefallen oder einfach bloß blind.

»Ja aber wo liegt dann das Problem?«

»Du bist das Problem!«

Ich? Bei diesem Satz zuckte ich zusammen. Wie konnte ich das Problem für ihn sein? Ich hatte ihm doch nie irgendeine Freundin weggenommen. Ich hatte doch selber noch nie eine.

»Wie kann ich das Problem sein?«, fragte ich ihn schließlich ungläubig.

»Weil ich mich in dich verliebt habe!«

Erst in diesem Moment wird mir klar, was er die ganze Zeit versucht hat, mir zu sagen. Erst jetzt. Ich bin doch so ein Trottel. Seine Augen harren immer noch auf mich. Sie warten auf eine Reaktion. Sie sehen ängstlich aus und doch voller Hoffnung.

In mir steigt ein leichtes Kribbeln auf. Was immer heftiger wird. Es durchzieht meine ganzen Glieder und lähmt sie. Ich kann mich einfach nicht bewegen. Ich kann nicht reagieren.

Wie soll ich überhaupt reagieren? Soll ich mich angeekelt fühlen? Soll ich ihn küssen? Was soll ich tun? Ich wünschte, ich wäre wieder ein kleines Kind. Einfach hinter Papa verstecken und ein paar Minuten später wäre die Welt wieder in Ordnung. Doch das geht jetzt nicht, jetzt und auch später nicht mehr. Ich bin auf mich selbst gestellt. Hier kann mir niemand helfen. Keine Mum und auch kein Pa. Einfach niemand.

Seine Augen sind schwarz wie die Nacht, mit einem klaren Leuchten. Sie schimmern richtig silbrig. In den Augenwinkeln sammeln sich kleine Tränen und suchen ihren Weg in die Freiheit.

»Hey, nicht weinen!«, versuchte ich ihn daraufhin zu beruhigen. Ich hob meine Hand und fuhr leicht mit dem Daumen über seine Wange, als sich die erste Träne löste. Seine Haut ist ganz weich, sanft und warm. Sie fühlt sich einfach wunderschön an. Mir fällt in diesem Moment zum ersten Mal auf, wie gut Matthias doch aussieht. Leicht gebräunte Haut. Schmale leicht geschwungene Lippen. Dahinter zwei Reihen weißer strahlender Zähne. Eine kleine Stupsnase und zwei große, wunderschöne dunkle Augen, in denen man am liebsten vergehen will.

»Hey komm schon, es gibt keinen Grund zu weinen!«

»Hast du mir eigentlich gerade zugehört?«

Ich nickte ihm nur stumm zu. Ich war an der Reihe zu reagieren. Er hatte alles gegeben, was er nur konnte. Es war allein an mir, was jetzt geschehen soll. Aber mein Kopf war wirr, wirr von Gedanken, was ich alles mit Matthias bisher erlebt hatte.

Vom kleinsten Sandkastenspiel bis zum letzten gemeinsamen Geburtstag. Alles. Mir viel aber eines immer mehr auf. Matthias war nicht mehr Matthias. Er war anders. Er war lieber, schöner, zärtlicher, sanftmütiger, nachdenklicher als früher und mit einem Mal machte es bei mir kling. Mit einem Mal fiel der Groschen bei mir.

Bis gestern habe ich mich jede Nacht gefragt, was ich vermisse, was ich suche. Die ganzen Jahre davor hatte ich noch nie im Leben eine Freundin. Auf die Frage von den anderen, warum ich mich nie mit einer treffen wollte oder mit einer gehen wollte, konnte ich nur antworten, dass ich nie verliebt war. Ich suchte das perfekte Wesen. Das Wesen, was mich einfach nahtlos ergänzt und mir einen Ruhepol bieten kann.

Bis gestern, nein bis vor wenigen Sekunden fragte ich mich immer, ob es dieses Mädchen überhaupt gibt. Jetzt kann ich es mit nein beantworten. Es gibt kein Mädchen, das zu mir passt. Es gibt nur einen lieben Jungen, der mehr als zu mir passt. Ob es für immer sein soll, weiß ich selber nicht. Es ist aber zumindest mehr als den Versuch wert, es auszuprobieren.

In mir gab es keinen Ekel, wie ihn andere beschreiben, bei mir gab es in diesem Moment eher die Sehnsucht nach Matthias.

Jedoch diese Sehnsucht auch umzusetzen, ist eine andere Sache. Ich wollte ihn spüren. Ich wollte ihn küssen, aber es war schwerer als ich dachte. Mein Kopf ging ein Stückchen auf seinen zu, um im gleichen Moment wieder zurückzuzucken. Meine Hand lag immer noch auf seiner Wange. Aber sie begann mit einmal zu zittern, sie wollte sich gar nicht mehr beruhigen, aber ich konnte sie auch nicht von ihm nehmen.

Plötzlich nahm er meine Hand in seine. Er hielt sie einfach. Diesmal war ich es, der ihn ängstlich anschaute, ängstlich davor, was jetzt geschehen wird.

Er hielt meine Hand einfach und strich immer wieder mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Er wollte mich einfach beruhigen. Jedoch half es nicht, ich wurde immer nervöser. Plötzlich war er es, der mit seinem Kopf näher kam, immer näher und auch ich fand den Mut ihm entgegen zu kommen.

Unsere Köpfe wanderten Zentimeter für Zentimeter aufeinander zu. Wir waren uns schon so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. Ich versuchte alles von Matthias aufzunehmen, einfach alles. Seine Augen strahlten mich genauso ängstlich und genauso vorfreudig an, wie die meinigen ihn.

Erst ganz vorsichtig berührten sich unsere Lippen. Ganz zärtlich und sanft. Seine Lippen waren heiß und süß, sie glühten fast schon. Ein ganz leichter, erster Kuss. Unsere Lippen gingen kurz auseinander, um im gleichen Moment wieder zueinander zu finden. Doch diesmal intensiver. Unsere Lippen pressten sich aufeinander und im gleichen Moment spürte ich schon wie sich seine Zunge versuchte, Zugang zu schaffen.

Sie war weich und warm und versuchte sofort mit der meinigen zu spielen. Es zog mir im ersten Moment den Boden unter den Füßen weg. Und schlagartig fing ich an wie Espenlaub zu zittern. Es war einfach alles zu viel für mich, all diese Eindrücke.

Sofort hörte Matthias auf mich zu küssen. »Hey alles in Ordnung?«, fragte er mich im selben Moment. Ich konnte nur nicken und ihn anlächeln. Es ging mir noch nie besser in meinem Leben als jetzt. Ich hatte endlich einen Sinn gefunden, einen Sinn den ich schon lange gesucht habe. »Ist wirklich alles in Ordnung, du zitterst ja wie verrückt?« Ich war in diesem Moment einfach nicht fähig, auch nur irgendetwas zu sagen.. Es war alles zu viel. Aus meinen Augen quollen jetzt Tränen, aber nicht aus Trauer. Es waren Freudentränen, die Gefühle übermannten mich einfach. Ich konnte nicht mehr, es musste einfach raus.

»Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte mich Matthias etwas ängstlich.

Ich schüttelte nur mit dem Kopf. »Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, eher das Gegenteil. Es war wunderschön!«

»Aber warum zitterst und weinst du dann?«

»Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.«

»Ist dir kalt? Tut dir was weh?«

»Nein, keins von beidem, es ist einfach wunderschön.«

Er nahm mich im selben Moment und setzte mich direkt vor sich. Er lehnte sich nach hinten gegen die Wand und umschloss meinen Oberköper mit seinen Armen und zog mich nach hinten.

Ich lag so in meiner Decke eingewickelt, mit dem Kopf gegen seine Brust. Er hielt mich einfach fest, mehr nicht. Mehr wollte ich auch nicht. Beide starrten wir nach draußen auf den See. Dieser war glatt, klar und schwarz, wie ein Spiegel. Nicht eine Welle war mehr darauf zu sehen, nur noch der Mond und das gegenüberliegende Ufer spiegelten sich darin.

Der Regen hatte komplett aufgehört und auch die Wolken hatten sich verzogen, so dass der Mond in voller Pracht strahlte und wenigstens etwas Licht spendete.

Die Sterne funkelten um ihn herum, als würden sie tanzen, es flirrte richtig. Auf der gegenüberliegenden Uferseite leuchteten die Straßenlaternen den Weg für die Autofahrer. Ab und an sah man auch, wie ein paar Scheinwerfer unter ihnen entlang fuhren.

Matthias Arme ruhten auf mir und sein ganzer Körper spendete mir Wärme, es war einfach atemberaubend. Aber der Tag war einfach zu viel. Einfach alles. Wer soll so was auch verkraften. Ich lehnte mich zurück und genoss einfach die Nähe von Matthias. Sein Atem, der mir über den Nacken glitt, und sein Körper, der mir Wärme spendet. Es dauerte nicht lange und irgendwie waren mir doch vor Erschöpfung die Augen zugefallen und ich bin ins Reich der Träume geglitten ...

Die ersten Vögel zwitscherten schon, als ich wieder zu mir kam. Die Sonne stand schon am gegenüberliegenden Ufer über dem Horizont und begann die Erde nach und nach zu erwärmen. Ich konnte mich zu der Zeit nicht beschweren. Ich lag immer noch in meiner Decke eingerollt in den Armen von Matthias, der mich anscheinend die ganze Nacht so festgehalten hatte. Seine Arme lagen immer noch um mich gewickelt und ließen auch nicht in Ansätzen zu, dass ich mich von ihm hätte lösen können.

»Morgen du Langschläfer«, raunte mir etwas ins Ohr und ich zuckte zusammen.

»Nicht schon so am frühen Morgen erschrecken!« Ich wühlte meine Arme aus der Decke und streckte mich und gähnte erst einmal herzhaft.

»Ui, da ist einer wohl nicht ausgelastet.«

»Nicht wirklich, stimmt schon!«, drehte ich meinen Kopf nach hinten und grinste ihn etwas herausfordernd an.

»Hmm, lass mich mal überlegen, was man da machen kann!«

»Dummschwätzer.« Ich drehte daraufhin meinen Kopf soweit nach hinten, dass ich Matthias direkt in die Augen sehen konnte und gab ihm ein doch sehr intensiven Kuss ;o).

»Hui, das brauchte ich erst mal zum Wachwerden«, grinste mich Matthias leicht verschmitzt an.

»Ach Blödmann!«, und bekam im gleichen Atemzug liebevoll einen kleinen Schlag auf den Hinterkopf, hatte es nicht besser verdient, wenn man so übertreibt.

»Hey, da macht man mal Komplimente und bekommt dafür sogar noch Schläge«, spielte er diesmal ein wenig empört.

»Mach dich ruhig lustig über mich, aber du wirst schon sehen, was du davon hast!« Was er kann, das kann ich schon lange.

»Wieso, was hab ich davon?«

»Das wirst du schon sehen, wenn's keine Küsse mehr gibt!«

»Das hältst du selber gar nicht durch!«

»Wollen wir es drauf ankommen lassen?«

»Wir werden hier gar nichts, du kleiner Fiesling«, erwiderte er als einziges und begann mich von oben bis unten durch zu kitzeln. Wie ein quiekendes Meerschwein wollte ich aufspringen und weglaufen, aber dazu kam es gar nicht. Er drehte sich auf mich und hielt meine beiden Arme, mit einer Hand fest und drückte diese auf den Boden. Mit der anderen Hand begann er mich durchzukitzeln. Erst die Achselhöhlen und dann die Regionen des Zwergfells. Ich konnte schon nicht mehr. Immer wieder wollte ich mich befreien, doch keine Chance, Matthias hielt mich so fest, dass ich nichts machen konnte, rein gar nichts.

Ich rollte mich von der einen Seite auf die andere. Immer wieder hin und her, hin und her, aber das einzige Resultat war, dass ich mich selber aus der Decke gewickelt hatte und nun vollkommen nackt unter Matthias lag. Mit einem Mal hörte er abrupt auf zu kitzeln und sah mich irgendwie ernst an. Er bewegte seinen Kopf zu mir herunter und küsste mich so, wie noch nie davor. Mit so viel Gefühl und so viel Leidenschaft.

Seine Hand glitt über meinen Hals, meine Schultern und meine Brust immer tiefer und hielt schließlich auf meinem Bauch an. Sie ging wieder höher und begann mich zu streicheln. Ganz sanft und zärtlich wanderten seine Fingerkuppen über meinen Körper. Sie glitten immer wieder an meinem Körper auf und ab, bis zu den Kniekehlen, aber sie umspielten immer diese gewisse Region. Die ganze Zeit küsste er mich und seine Küsse wurden immer leidenschaftlicher und fordernder. Er rollte sich selbst auch aus seiner Decke und war schließlich selbst nur noch mit einer Boxer bekleidet über mir. Ich schloss die Augen und genoss einfach bloß die Zärtlichkeiten, die ich so lange entbehren musste. Mein gesamtes bisheriges Leben musste ich darauf verzichten und ich sehnte mich mit jeder Faser danach.

Jedoch wuchs gleichzeitig in mir die Angst, es jetzt hier zu tun. Wollte ich das wirklich oder wollte ich noch warten? Mein Körper sehnte sich nach jeder Berührung von ihm., wie er zärtlich über meine Brustwarzen streicht und sanft meinen Po massiert, mein Kopf wollte dies auch, bloß wollte er es jetzt, war die andere Frage? In mir stritten Engelchen und Teufelchen miteinander, was nun richtig sei, aber keiner wollte gewinnen.

»Micky?«

»Ja?« Ich erwartete in diesem Moment die Frage, ob ich mit ihm schlafen wolle und ring schon innerlich mit einer Antwort.

»Ich will noch nicht!«

Wie bitte? Hatte ich da richtig gehört? Er will noch nicht?

»Bitte versteh mich nicht falsch. Du bist atemberaubend schön und ich liebe die über alles, aber ... aber ... ich bin noch nicht dazu bereit. Jetzt jedenfalls noch nicht!«

Mir verschlug es im ersten Moment die Sprache. Ich war teilweise sogar schon etwas geschockt darüber, wie er so sein konnte. Mit einem ängstlichen und auch traurigen Blick sah er mich leicht verschämt an.

»Danke!« Jetzt wurde aus seinem ängstlichen Blick ein eher fragender, er verstand anscheinend nicht, was ich ihm sagen wollte.

»Wie meinst du das? Danke?«

»So wie ich es gesagt habe. Einfach bloß danke. Ich will auch noch nicht, jedenfalls nicht jetzt und nicht hier, so schön es auch garantiert mit dir geworden wäre. Aber nein. Das hier ist alles Neuland für mich, mir ist erst seit knapp 12 Stunden wirklich bewusst, dass ich schwul bin. Ich glaube zwar, dass ich es schon immer wusste, aber erst seit gestern ist es mir wirklich direkt bewusst geworden. Aber jetzt noch Sex dazu? Ich glaube, dass mache ich dann beim besten Willen nicht mehr mit. Wir sollten es jetzt besser locker angehen lassen. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt.«

»Danke«, kam es jedoch diesmal von Matthias nach meinem Redeschwall. Und um mir zu zeigen, wie sehr er über meine Reaktion erleichtert war, gab er mir noch einen langen, sehr langen und tiefen Kuss.

Statt jetzt da weiter zu machen, wo er aufgehört hatte, legte er sich einfach neben mich und genoss es einfach, bei mir zu sein. Er legte einfach seinen Arm um mich und genoss die Ruhe, die Zweisamkeit, das Plätschern des Wassers, die wärmenden Sonnenstrahlen, einfach die ganze Situation.

»Du Micky?« Leicht eingedöst, schreckte ich wohl etwas zu heftig auf.

»Ja?«

»Oh Entschuldigung, wollte dich nicht erschrecken«, und seine Gesichtsfarbe wurde zu einem leichten Rot, so als wenn er sich gerade einen frischen Sonnenbrand eingefangen hätte.

»Halb so schlimm! Was ist los, Kleiner?«

»Du nennst mich Kleiner? Obwohl ich gut 5 Zentimeter größer bin als du und vor allem ein Jahr älter?«

»Ja und? Bist und bleibst mein Kleiner!«

»Gut gefällt mir«, gab es nur als Antwort und er grinste mich an. »Aber ich glaube, dennoch sollten wir uns so langsam aufmachen. Es ist jetzt sieben, in einer Stunde beginnt die Schule und ich glaub du willst erst noch einmal zu dir. Die erste Stunde schaffen wir sowieso nicht, aber ich glaub zumindest zu ein paar sollten wir doch da sein!«

»Wie kommst du jetzt auf Schule?«

»Ja Entschuldigung, aber ich hab ein leicht krankes Hirn, ich weiß.«

»Und für dieses kranke Hirn lieb ich dich!«, antwortete ich ihm nur und gab ihm gleich wieder einen Kuss. Ich glaub im Moment hätte ich jede noch so blöde Situation ausgenutzt, um ihn zu küssen. Ich bekam einfach nicht genug. »Also ich glaub, dann sollten wir los!«

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