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Hoffnung
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Vorwort
Hi und nun kommt Geschichte Nr. 4 bei der ich mich doch etwas schwerer getan hab.
Um es kurz zu machen, es ist ein kleines Special zu Weihnachten.
Wieder einmal entspringt alles meiner Phantasien und Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind nicht gewollt.
Ach so, noch eines. Falls die Frage aufkommt, ob dieses wirklich so geschehen könnte. Kann ich nicht beantworten, denn ich weiß nicht, wie so etwas in der Gesetzgebung in Deutschland gehandhabt wird. Ich hab es einfach so aufgeschrieben, da es mir einfach so gefiel und alles zueinander passte. Also keine Beschwerden darüber, genießt einfach, wenn ihr könnt.
»Und?«, sagte er, als er neben ihr stand. »Hast du nach den Astern geschaut?«
»Sie sind wunderbar.« Ihre Stimme durchdrang kaum das Rauschen des Regens.
»Wie viele nehmen wir mit?«
Ein Achselzucken. »Keine Ahnung. Wie viele werden wir wohl brauchen?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Na ja. Am besten jede Menge. Was macht Hendrik?«
»Kramt so rum.«
»Er versteht das alles nicht, was meinst du?«
»Möglich.« Eine Pause entstand. Regentropfen klatschten auf den Teich, verwandelten die Oberfläche in einen sprühenden Teppich, in eine sich jede Sekunde neu formierenden Kraterlandschaft. Wasserlinsen trieben hin und her wie aufgeregte, winzige grüne Boote. Irgendwo quakte eine Ente.
»Willst du nicht reinkommen?«, fragte er.
»Nein.« Jule steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich fühl mich wohl hier.«
»Du wirst dich erkälten.«
»An was denkst du?«
»Alles Mögliche.« Sie wandte sich ihm zu. Sie hatte geweint. Merkwürdig, dass man Tränen von Regentropfen unterscheiden konnte. »Lass mich einfach. Ist schon alles in Ordnung.«
»Die Astern…«
Sie winkte ab. »Pflücke ich gleich. Kümmer dich um Hendrik. Wer weiß, was der in der Hütte anstellt.«
....
»Ist der Platz noch frei?«
Erschrocken sah ich nach oben und bekam so erst mal keine Silbe heraus. Vor mir stand ein knapp 18jähriger Junge, der mit einer Hand auf den Platz neben mir zeigte.
»Ähm ... Ja klar ... Setz dich ruhig hin ...« Und bevor ich noch weiter stammelte, hielt ich jetzt lieber meine Klappe und schaute wieder in mein Buch. Ich schaute nicht einfach ins Buch um weiterzulesen, sondern erst mal um meine Gedanken wieder zu ordnen.
Ich bin nicht wirklich schüchtern, eher das Gegenteil, aber man sollte mich nicht aus meinen Phantasien reißen, während ich gerade in einem Buch lese oder vor mich dahin träume.
Während dieser Zeit bin ich nahezu ganz aus dieser Welt verschwunden, nur noch mein Körper ist vorhanden. Ja ich geb's ja zu, ich bin ein Träumer. Aber was sollte daran schlimm sein? Ich finde gar nichts, außer dass mich irgendwer unsanft in die Realität zurück holt.
Jetzt war es natürlich auch dahin mit dem Lesen und mit meiner Phantasiewelt.
Ich schlug das Buch zu und hob meinen Blick. Direkt vor mir lag die Binnenalster und dümpelte vor sich dahin. Die große Fontäne, die sonst immer Wasser in die Luft schleuderte, war um diese Jahreszeit abgestellt. Um genau zu sein, es war der 23. Dezember und eine leichte Eisschicht glitzerte auf dem Wasser.
Der Himmel war grau in grau. Es schien nicht wirklich so, dass es jeden Moment anfangen würde zu regnen, aber es verbreitete diese depressive Stimmung, die immer um die Weihnachtszeit lag. Und ich liebte diese Stimmung, wenigstens einmal im Jahr darf man sich hängen lassen, darf man einfach mal nur traurig vor sich hin stapfen.
Ab und an zog der Wind leicht um die Nase. Jedoch war der Wind selber gar nicht so leicht, es brannte eher wie kleine, tausend Nadelstiche, und so war es auch kaum verwunderlich, dass die Menschen mit dick eingehüllt durch die Straßen liefen.
Nur ihre verfröstelten, roten Nasen lugten noch ins Freie.
Genau dieses ist die Stimmung, die ich genauso liebe, wie die brennende Sonne im Sommer. Genau die richtige Zeit für mich, sich nachmittags einfach an die Binnenalster auf eine Bank zu setzen und die Zeit zu genießen, nebenbei noch ein bisschen lesen und in Selbstmitleid schwimmen.
Ich starrte so wieder gerade aus und hing meinen Träumen nach, meinen Wünschen und natürlich Hoffnungen. Um ehrlich zu sein. Ich hasse Weihnachten und das ganze Getue darum. Aber ich liebe diese eisige und auch teilweise depressive Stimmung, die selbst mich ergreift.
Und wieder frage ich mich, wie eigentlich jedes Jahr, was ich mir denn wünsche. Und wie jedes Mal ist es auch diesmal nur der Wunsch nach Geborgenheit, nach einem festen Freund.
Vielleicht kennt ihr ja die Problematik:
Gut, man ist geoutet!
Man geht weg, sogar in die Szene!
Man trifft nette Leute, einige davon sogar sehr nett!
Besonders nett ist aber nur eine gewisse Person!
Wow und diese Person hat auch noch Interesse an einem!
Man unterhält sich! Man tanzt! Man fühlt sich wohl!
Man geht mit dieser Person nach Hause!
Und am nächsten Morgen liegt neben einem nur noch eine zerknüllte, noch warme Decke, aber niemand ist mehr da!
Niemand, an den man sich noch ankuschelt, weil einem kalt ist!
Niemand, mit dem man einfach nur bis mittags im Bett liegt und die Nähe genießt!
Niemand, mit dem man den Tag und auch die folgende Nacht genießen kann!
Zwei Mädchen zogen vor unseren Nasen entlang und schauten uns etwas belustigt an. Schließlich kicherten sie auch noch. Hatte ich einen dicken Pickel auf der Nase? Oder Spinat zwischen den Zähnen?
Ich schaute nach rechts und sah, wie neben mir auch der andere Junger stur und ohne Regung gerade aus auf das Wasser starrte, so wie ich eben noch. Wir mussten wohl ein ziemlich abstruses Bild abgeliefert haben. Ich musste leicht schmunzeln.
Vor der Bank, auf der wir saßen, verlief ein Weg für Spaziergänger einmal um die Alster und genau auf diesem kam jetzt eine Frau mittleren Alters mit einem etwa 16jährigen Jungen vorübergegangen. Sie schienen sich angeheitert zu unterhalten. Der Junge sprang immer einige Meter nach vorne, stellte sich vor seine Mutter und erzählte wie wild. Man konnte seine Stimme schon aus weiter Entfernung vernehmen. Es war jedoch kein Geschrei, es wirkte eher fröhlich und ausgelassen, so wie man es selten zwischen Mutter und Sohn wirklich in der Öffentlichkeit sieht.
Als sie an uns vorbei waren, hörte ich neben mir ein leises Schluchzen. Im Augenwinkel sah ich, wie dem Jungen neben mir eine kleine Träne die Wange herunter kullerte.
Seine Blicke folgten der Mutter und ihrem Sohn. Es war so ein grauer Schleier um die Pupillen. Sein Blick wirkte so ängstlich, so zurückgezogen und gleichzeitig so stumpf, so abweisend. Er schrie irgendwie nach Hilfe und gleichzeitig wehrte er jeden, der ihm zu nahe kam, auch gleichzeitig ab.
Auf die erste Träne folgte die zweite. Diese war schon größer und auf die zweite Träne, die Dritte, bis ein kleines Rinnsal kontinuierlich über seine Wange floss.
Ich saß wie versteinert auf meinem Ende der Bank und versuchte krampfhaft meinen Blick geradeaus zu richten. Aber immer wieder versuchte ich im Augenwinkel zu sehen, was neben mir vor sich ging.
Sein Blick war jetzt auch wieder geradeaus gerichtet. Der Blick schien ins nichts zu führen. Auch kein Schluchzen war zu vernehmen, nur über seine Wangen liefen ohne Veränderung die kleinen Tränenströme. Das Gesicht war blass und die Lippen blau, er erschien einem Beobachter teilweise wie eine Statue aus Marmor. Der Blick starr und auch sonst machte er nicht die Anstalten, sich irgendwie zu bewegen.
Ich fühlte mich einfach nur unwohl. Sollte ich jetzt aufstehen und ihn hier einfach so sitzen lassen? Sollte ich ihn fragen was er hat? Oder ist das doch albern, weil es sich ja sonst auch noch jemand anderes darum kümmern könnte, und so schlecht geht es ihm doch gar nicht? Er weint doch bloß? Ich wusste nicht ein noch aus. Ich wollte aufstehen und gehen, doch immer wieder hielt mich irgendetwas fest.
»Alles ok?«, fragte ich ihn schließlich doch vorsichtig und sah dabei kurz zur Seite. Sein Blick blieb unverändert ins Nichts gerichtet.
»Ja klar.« Seine Stimme klang fest und stark. Er wollte anscheinend keine Schwäche zeigen. Wer macht dies schon gerne und vor allem vor Fremden.
»Und warum weinst du?« Hey, was war in mich gefahren? So was sagt man doch eigentlich nicht direkt. Ich hätte mich im gleichen Moment dafür treten können. Man hätte jetzt erwarten können, dass er einfach aufspringt und davongeht, doch er blieb sitzen und ließ seinen Kopf in seine Hände sinken. Man hörte wieder sein Schluchzen und auch der Tränenfluss wurde wieder heftiger.
»Hey, ich mach dir ein Angebot«, entfuhr es mir plötzlich, »Du erzählst mir was los ist und ich lad dich dafür auf einen Kaffee oder Tee ein. Mir ist ziemlich kalt und du siehst auch nicht wirklich aus, als würde es dir in der Kälte blendend gehen?«
Irgendetwas muss in mich gefahren sein, dass ich die Kontrolle über mich verlor. Hatte ich dieses eben wirklich gesagt oder bildete ich mir dieses bloß ein? Aber gesagt war nun mal gesagt und so sah ich ihn abwartend an.
»Hey, was ist nun?« Hakte ich noch einmal nach, als keine Reaktion von ihm kam. Er hatte sein Gesicht immer noch in die Hände gestützt und schluchzte vor sich hin.
»Keine Angst, ich will nichts böses. Kommst du mit?« Ich versuchte schon gar nicht mehr, darüber nachzudenken, was ich sagte, aber irgendwie schien ich Erfolg zu haben. Er nahm die Hände vom Gesicht und sah mich zweifelnd von unten nach oben an.
»Hey, komm schon!«, sagte ich und versuchte einfach nur freundlich zu wirken.
Er sah mich nur mit blutunterlaufenen Augen an und nickte stumm.
»Dann komm!« Ich stand als erster auf und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Erst jetzt sah ich, dass er zwei große Reisetaschen mit sich schleppte. Er sah mich verwundert an, nahm dann aber doch die Hand und zog sich an ihr hoch.
»Warte ich nehme auch eine!«, sagte ich und griff mir eine seiner Taschen. Wieder wurde ich argwöhnisch von ihm beäugt. Anscheinend war er es nicht gewohnt, dass man ihm ab und an mal half.
Stumm gingen wir die nächsten Meter bis in ein Cafe nebeneinander her. Naja, es war kein Cafe sondern eher eine kleine Kneipe in der Nähe des UfA-Palastes, aber um diese Uhrzeit war kaum etwas los und es schien sogar, als wären wir die ersten und zu diesem Moment auch einzigen Gäste. Aber wen stört dies schon. Wir verkrochen uns in eine der hintersten Ecken.
Stillschweigend stellten wir die 2 Reisetaschen an die Seite, zogen unsere Jacken aus und ließen uns auf die Stühle sinken.
»So meine Herrn, womit darf ich ihnen dienen?«, stand auch schon kurz darauf ein etwas älterer Mann vor uns und wollte unsere Bestellung. Es war anscheinend der Kneipenbesitzer selbst, der sich um die Gäste kümmerte.
»Also, ich nehme einen Kaffee. Und du?«
Ich schaute dabei mein Gegenüber fragend an. Er hatte seinen Kopf nach unten gerichtet und sah krampfhaft auf die Tischplatte. Als ich fragte, sah er mich kurz an und nickte nur.
»Also, zwei Cafe für die Herren.« Verstand auch der Wirt sofort.
Und wieder saßen wir uns stillschweigend gegenüber. Es lag so eine drückende Spannung im Raum. Man konnte sich gar nicht wohl fühlen. Immer wieder schossen mir Fragen durch den Kopf, die ich hätte fragen können. Jedoch verwarf ich diese gleich wieder, da ich genauso Angst hatte, dass er bei einem falschen Ton aufspringen würde und einfach so das Lokal verließe. Aber wer hat hier die Probleme? Ich oder er? Wenn er Hilfe will, so muss er auch erzählen, sagte ich mir, um mir Mut zu machen.
Irgendwo hatte ich ja schließlich auch recht. Jeder ist für sich verantwortlich und man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Entweder er erzählt oder er lässt es.
Und dennoch hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich nach einer Weile dann doch noch.
»Bastian«, antwortete er nur kurz und knapp. Na toll schon wieder alles verebbt.
»Wieso trägst du eigentlich die ganzen Sachen mit dir umher?«, fragte ich ihn schließlich direkt und deutete dabei auf seine Reisetaschen.
Von ihm jedoch kam nur ein Achselzucken. Und wieder Stille.
»So meine Herren, hier ist der Cafe«, stand jetzt der Wirt am Tisch und unterbrach für kurze Zeit die Stille. »Ich hoffe er wird euch etwas aufwärmen.«
»Ja danke, wird er sicherlich«, versuchte ich freundlich zu antworten. Ich kam mir jedoch in dieser Situation etwas unbeholfen vor.
Und wieder diese erdrückende Stille. Keiner sagte etwas. Ich sah zu ihm hinüber und er starrte weiterhin auf die Tischplatte und fummelte an einer Bierpappe herum. Er wirkte doch etwas nervös.
»Du trägst doch nicht aus reiner Lust und Freude diese Taschen umher? Wo wohnst du denn? Bist du nur zu Besuch in Hamburg?«
»Nur zu Besuch«, antwortete er kaum hörbar nach einer kurzen Pause.
»Und woher kommst du?«, bohrte ich nach.
Wieder diese Pause bis zu seiner Antwort. In seinen Augen sah man die Gedanken hin und her springen.
»Nirgends«, kam es schließlich dann doch von ihm.
»Wie nirgends? Du musst doch irgendwo ein Zuhause haben?«
»Nein!«
»Dann halt anders. Wo hast du denn bisher gelebt?«
Bei dieser Frage kullerte wieder eine Träne über seine Wange.
»Hey, ist doch nichts passiert. Du musst nicht erzählen falls du nicht willst«, versuchte ich ihn zu beruhigen und strich ihm die Träne aus dem Gesicht. Er nahm seine Tasse, setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.
Den Kaffee hätte ich jetzt fast vergessen und so machte ich ihm etwas gleich. So gab es wenigstens etwas zu tun.
»In Hagenow«, sagte er plötzlich mit einem leichten Wispern. Es war kaum hörbar.
Im Hintergrund ging plötzlich die Tür auf und zwei weitere Gäste kamen herein. Ich sah mich kurz um und als nichts besonderes passierte, widmete ich mich schließlich wieder Bastian.
»Und warum ist das nicht mehr dein Zuhause?«, versuchte ich schließlich so freundlich wie möglich zu fragen.
»Weil mich dort alles an sie erinnert«, kam es diesmal kurz und knapp von ihm.
»Weil es dich an wen erinnert?«
Bastians Blick war immer noch starr auf die Tischplatte gerichtet und seine Hände spielten auch weiterhin an der Bierpappe umher. Aber sie begannen zu zittern. Er versuchte sie still zu halten, aber sie zitterten. Er konnte sich auch nicht beruhigen, sie zitterten weiter und nicht nur seine Hände zitterten. Auch seine Mundwinkel zuckten schon.
Er nahm wieder seine Tasse in die Hand und versuchte zu trinken. Doch er zitterte zu stark und ein Teil des Kaffees schwappte über den Rand und goss sich auf die Untertasse.
»An meine Mutter!«, antwortete er schließlich kaum hörbar. Es war vielmehr ein dahin hauchen als ein Reden.
»Wieso was ist mit ihr?«
Seine Hände begannen immer mehr zu zittern und auch das Zittern der Mundwinkel wurde stärker. Er hob sein Gesicht und sah mir zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie hatten so etwas Düsteres, etwas beängstigendes. Tiefe dunkle Ringe umschlossen seine Augen. Die Pupille war verschleiert und der ganze Blick füllte sich immer mehr mit Tränen.
Er wirkte gleichzeitig stark, so als wolle er zeigen, dass niemand ihm etwas anhaben könne.
»Weil sie Tod ist«, gab er diesmal mit fester Stimme von sich. Jedoch brach im gleichen Moment die ganze Stärke, die er in diese Worte gelegt hatte zusammen und aus seinen Augen begannen die Tränen zu schießen.
Was sollte ich jetzt machen? Sollte ich ihn hier einfach weinen lassen. Mir war es lieber, dass er weint, als dass er seine Gefühle versteckt, aber die anderen Gäste und auch der Wirt hatten die Aufmerksamkeit auf uns gerichtet und sahen uns fragend an.
»Komm wir gehen lieber zu mir. Dort darfst du auch weinen, aber hier stört dieses wohl einige Leute. Leider.«
Immer noch schluchzend saß er wie ein Häufchen Elend aus seinem Stuhl und machte keine Anstalten sich zu bewegen. Dennoch stand ich auf, zog ein bisschen Geld aus der Brieftasche und legte sie für den Kaffee auf den Tisch.
Danach ergriff ich meine Jacke und zog sie mir über. Danach nahm ich Bastians Jacke und half ihm beim Anziehen. Es schien als könne er diese gar nicht selber anziehen. Aber dann hatte er sie doch irgendwann an.
»Komm wir gehen jetzt woanders hin«, flüsterte ich ihm zu.
Bastian sah mich mit verheulten Augen an. »Aber der Kaffee…«, und zeigte mit der linken Hand auf die noch fast vollen Tassen.
»Komm wir gehen jetzt wo anders hin. Da gibt es auch frischen Kaffee«, sprach ich zu ihm, fast wie mit einem Kind und lächelte ihn an. Ich nahm seine beiden Reisetaschen in die Hand und deutete auf die Tür.
Bastian ging unsicher voraus und öffnete mir die Tür. Ich quetsche mich mit beiden Taschen durch die Tür und dann standen wir auch schon draußen und die Kälte erfasste mich erst einmal. Es war schon dunkel geworden und auch leichter Regen fiel auf uns nieder.
Erst einmal kräftig durchatmen und dann überlegen, wie man am schnellsten zu mir kam.
Ohne Worte ging ich vor und schweigend ging Bastian mit gesenktem Haupt hinter mir her.
»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte mich Bastian schließlich von hinten. Verwirrt drehte ich mich um, da ich damit nun überhaupt nicht gerechnet hatte. Die Tränen waren aus seinem Gesicht gewichen und er sah mich jetzt auch wieder direkt an.
Ich wollte ihn nicht mit meiner Reaktion beunruhigen, so drehte ich mich wieder nach vorne und versuchte so normal wie möglich auf seine Frage zu antworten.
»In Altona. Mit der U-Bahn ist es nicht weit.«
Bei der nächsten U-Bahn-Haltestelle stiegen wir zu und fuhren auf dem kürzesten Weg zu mir. Vor der Wohnungstür kramte ich nach meinem Schlüssel und schaute gleichzeitig noch einmal auf meine Uhr.
17:30 Uhr. Gut, das heißt, dass meine Eltern noch nicht daheim waren. So konnte ich Bastian erst mal nur so rein schleusen.
»So und nun rein in die warme Stube.« Ich schloss die Tür auf, zog die Schuhe aus und ging hinein. Bastian tat mir gleich und folgte auf dem Fuße.
Wir gingen den Flur unserer Wohnung entlang, bis nach ganz hinten, wo auch mein Zimmer war. Ich öffnete die Tür und machte eine einladende Bewegung. »So und dies ist mein Reich.«
Er ging als erster ins Zimmer und stand dann irgendwie mitten im Zimmer und sah sich erst mal um. Mein Zimmer ist eigentlich ziemlich schlicht eingerichtet. Es war nicht besonders groß, aber es reichte. Es standen nur ein großes Bett an der rechten Wand und ein großer Kleiderschrank an der linken, der nahezu am Zerbersten war, da er eigentlich zu vollgestopft war. Ja ein kleiner Tick von mir. Ich kauf mir einfach zu viel Kleidung. In einer Ecke stand nur noch ein Fernsehgerät, Videorekorder und noch eine kleinere Musikanlage. An den freien Wänden hingen lauter Regale vollgestopft mit Büchern, die ich alle im Laufe meines Lebens schon durchgelesen hatte und nach 19 Jahren war dies immerhin schon ziemlich viel. Gegenüber der Tür war nur ein hohes Fenster, das zur Straße hinaus war. Unter dem Fenster brausten die Autos nur so vorbei.
An den Wänden hing noch ein großes eingerahmtes Tourplakat von Goergette Dee. Sonst nichts weiter. Während sich Bastian umsah, stellte ich seine Taschen in eine Ecke, zog meine Jacke aus und nahm auch seine, nachdem er sie natürlich ausgezogen hatte, und brachte sie zur Garderobe. Ich wollte Bastian erst ein paar Minuten Zeit lassen, sich an diese Umgebung zu gewöhnen und setzte so erst mal ein Kanne Tee in der Küche auf.
Mit einem Tablett, darauf zwei Tassen, die Kanne mit Tee und einer Schale mit Kandiszucker trat ich wieder zurück ins Zimmer. Bastian stand immer noch mitten im Raum und starrte zum Fenster hinaus, an dem immer die Lichtkegel der vorbeifahrenden Autos vorbeihuschten.
»Setz dich ruhig hin. Du musst nicht die ganze Zeit wie angewurzelt dastehen.«
Bastian zuckte zusammen und hatte anscheinend nicht mit mir gerechnet. Wieder in seine Gedanken versunken, setzte er sich auf den Fußboden, zog die Knie ganz an seinen Körper, legte seinen Kopf schräg auf die Knie und schloss die Augen.
Vorsichtig stellte ich das Tablett zwischen uns auf den Fußboden und setzte mich im Schneidersitz davor.
»Pfefferminztee?«
Bastian hielt die Augen geschlossen und führte eine Bewegung mit dem Kopf aus, die wohl ein Nicken bedeuten sollte. So goss ich ihm und mir erst mal eine Tasse ein.
Stille herrschte. Man hörte nur von draußen immer wieder die vorbeibrausenden Autos.
Ich hatte nur meinen Deckenfluter angestellt. Ich hasse diese riesigen Strahler an der Decke, die keine Atmosphäre im Zimmer aufkommen lassen.
»Woran denkst du?«, fragte ich leise.
»An sie.« Bastian hielt weiterhin die Augen geschlossen und antwortete kaum hörbar.
Und immer wieder diese Stille zwischen unseren Worten, die immer wieder diese Spannung aufbaute.
»Und was siehst du?«
»Ich sehe sie, sehe mich. Ich sitze im Sandkasten und meine Gummisaurier stapfen durch die Sandkrater. Meine Mutter sitzt auf einer Bank neben dem Sandkasten und unterhält sich mit einer Freundin. Jemand läuft plötzlich durch den Sandkasten und zerstört meine fein aufgebaute Kraterlandschaft. Die Dinos purzeln durcheinander und der ganze Sand fliegt mir ins Gesicht ... Ich fange an zu weinen. Meine Mutter hört dies sofort und springt von ihrer Bank auf, nimmt mich in den Arm und versucht mich zu trösten ... Ganz sanft putzt sie mir den Sand aus dem Gesicht und versucht mich zu trösten. ‚Nicht traurig sein. Guck mal, deine Dinos liegen immer noch da und sind nicht weg. Spiel mit ihnen, sonst sind sie ganz traurig.‘ Sie setzt mich wieder in den Sandkasten und hockt sich daneben, nimmt eine der Figuren in die Hand und lässt sie durch den Sand watscheln ‚Ich bin der Dino und will das du mit mir spielst.‘ Ich quieke nur noch vor Vergnügen und dann hört die Erinnerung auf.«
Während der Zeit, in der er von seinen Erinnerungen erzählt hatte, rührte er sich keinen Zentimeter und auch die ganze Zeit hatte er die Augen geschlossen.
»Trink erst mal was, bevor den Tee kalt wird.«
Etwas Blöderes konnte mir in diesem Moment natürlich nicht einfallen. Aber auch um ehrlich zu sein, ich hätte nicht gewusst, wie ich auf so eine Situation hätte reagieren sollen.
Dennoch nahm Bastian bereitwillig die Tasse und nahm einen kleinen Schluck.
»Und was ist aus deiner Mutter geworden?«
Für diese Frage hätte ich mich im gleichen Moment am liebsten selbst geohrfeigt, denn ich hatte ja die Reaktion vorhin in der Kneipe mitbekommen. Aber ich war genauso neugierig und wollte doch wissen, was aus ihr geworden ist und warum Bastian jetzt in Hamburg in dieser Eiseskälte umherstreunt.
Bastian schloss wieder die Augen und legte den Kopf wieder auf seine angezogenen Knie.
Leise, kaum hörbar kam es dann bruchstückartig von ihm. Und dennoch wirkte es so kühl, wie er erzählte, über eine Geschichte, die Bastian nicht weiter berühre.
»Sie starb vor etwa 10 Jahren bei einem Autounfall ... Ich war gerade erst eingeschult worden und die Zeit näherte sich immer mehr Weihnachten ... Es waren nur noch wenige Tage bis Heiligabend und meine Mutter und ihr Bruder wollten noch einmal nach Bremen fahren, um dort in Ruhe für Weihnachten einzukaufen ... Für mich war es der letzte Tag in der Schule vor den ersten großen Weihnachtsferien. Wir saßen den ganzen Tag in der Schule bei Tee und Keksen und haben nebenbei gebastelt, kleine Geschenke ausgetauscht und immer wieder wurden uns Weihnachtsgeschichten erzählt ... Ich war so glücklich wie schon lange nicht mehr ... Nachmittags musste ich auch dann schließlich in den Hort, es war ja keiner zu Hause, der mir Mittag gekocht hätte und auf mich aufgepasst hätte ... Meine Mutter und mein Onkel in Bremen und meine Großeltern lebten längst nicht mehr ... Auch im Hort haben wir die ganze Zeit gebastelt. Dort hatte ich auch feinsäuberlich mein selbstgebasteltes Geschenk für Mutti aufgehoben, das ich ihr feierlich unterm Weihnachtsbaum geben wollte.
Es war nichts besonderes, eine einfache gemalte und beklebte Karte. Aber sie hätte ihr gefallen ...»
Hinter uns im Flur ging plötzlich das Licht an und auch eine Tür fiel ins Schloss. Shit schon 18 Uhr. Hatte also wieder nicht an meine Eltern gedacht.
»Sorry, ich will dich eigentlich gar nicht unterbrechen, aber ich muss zu meinen Eltern und denen Bescheid sagen.«
Bastian schaute mich fragend an. Er hatte anscheinend nicht mitbekommen, dass wer in die Wohnung gekommen war. Aber bevor meine Mutter hier ins Zimmer rein schneit, wollte ich lieber selber zu ihr und mit ihr reden. Deswegen ließ ich Bastian einfach so sitzen und verließ den Raum.
Ich schloss die Tür leise hinter mir, und vor der Garderobe stand auch schon meine Mutter, die versuchte, sich ihres Mantels zu entledigen. Ich eilte ihr zu und half ihr natürlich selbstverständlich dabei.
»Du Mom?!«, schaute ich sie mit der unschuldigsten Miene an, die ich aufsetzen konnte.
»Was hast denn nun schon wieder verbrochen?«, kam es von ihr gleich argwöhnisch zurück.
»Ich hab bloß noch 'nen Gast in meinem Zimmer und ich wollte dich einfach bloß bitten, dass du uns nicht störst?«
»Lukas, nicht schon wieder jemand neues. So langsam reicht es. Jede Woche jemand anderes und zu Gesicht bekomme ich doch niemanden. Ich komm mir hier bald vor wie auf dem Bahnhof. Jeder Zug fährt hier mal durch.« Sie sah mich etwas entnervt an.
»Mom, du weist genau, dass ich dies nie so plane oder beabsichtige. Und heute ist es was ganz anderes ...«
»Du behauptest immer, es sei etwas ganz anderes. Und immer und immer wieder. Und doch komm ich mir hier vor wie im Hotel.«
»Mom, bitte vertrau mir, diesmal ist es ganz anders. Hierbei geht's nicht um 'nen One-Night-Stand. Es geht um was ganz anderes. Ich kann es dir jedoch noch nicht erklären. Ist viel zu vertrackt. Bitte Mom vertraue mir?!« Und ich versuchte den wehleidigsten Gesichtsausdruck aufzusetzen, den ich in Petto hatte.
»Was hast du nun schon wieder ausgefressen?«, sah sie mir diesmal direkt in die Augen. »Dieses Gesicht setzt du nur dann auf, wenn du wirklich etwas Schlimmes angerichtet hast, wie zum Beispiel damals, als du das Aquarium deines Vaters mit deiner Zwille ausversehen ruiniert hast.«
»Mom, bitte glaub mir einfach. Ich habe absolut nichts angestellt. Ich erklär dir auch alles so schnell wie möglich. Aber bitte nicht jetzt. Stör uns einfach nicht und halte Dad bitte auch davon ab, einfach ins Zimmer zu stürzen. Bitte Mom, das ist mir wichtig, bitte!«
»Los, komm verschwind zu deinem Freund!«, befahl sie daraufhin ein einem etwas barscheren Ton und fuhr fort, sich die Schuhe auszuziehen. Für sie war somit das Thema gegessen.
»Danke Mom. Bist die Beste«, sagte ich einfach und drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange.
»Jaja, nun verschwind schon«, spielte sie etwas genervt. Dabei sah man ihr an, dass sie trotzdem rot wurde. Auch sie ist gegen diese plötzlichen Gefühlsbeweise nicht gewappnet.
»Ach übrigens: Bastian ist nicht mein Freund! Zumindest nicht so, wie du denkst«, sagte ich und streckte einfach nachträglich die Zunge ihr gegenüber aus.
Meine Mom nahm schon einen ihrer Hausschuhe und drohte damit, wenn ich nicht gleich verschwinde, dass dieser in meinem Kopf stecken würde.
Und bevor ich dieses riskieren würde, verschwand ich lieber wieder in meinem Zimmer.
Leise öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer und schlich hinein.
Bastian saß nicht mehr auf dem Boden mit geschlossenen Augen. Stattdessen stand er mit dem Rücken zu mir und starrte aus dem Fenster. Ich ging auf ihn zu und blieb etwa 1 Meter direkt hinter ihm stehen.
»Alles klar.« Er nickte nur und starrte aus dem Fenster. Die Scheiben waren beschlagen und auch die ersten Eisrosen der Nacht begannen zu erblühen. Sie wirkten filigran und klein und funkelten in allen Spektralfarben, sobald der Lichtkegel eines Autos an ihnen vorüber huschte. Es wirkte, als wenn feiner Diamantstaub über das Fenster verstreut war.
»Siehst du dieses Glitzern?«, fragte Bastian mit tränenerstickter Stimme.
»Ja.«
»Ihre Augen glänzten auch immer so, stolz, klar und elegant, wie die eines Engels.« Er strich mit den Fingern über das vereiste Fensterglas. Durch die Wärme in seinen Fingerspitzen, begann das Eis zu schmelzen und kleine Tropfen liefen am Fenster herunter.
»Ich wartete schon ungeduldig den ganzen Nachmittag auf meine Mutter. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht mal mehr ruhig sitzen konnte oder mit den anderen spielen. Sie bauten Türme aus Holzbausteinen und ließen sie wieder einstürzen. Die Mädchen spielten mit ihren Puppen, kämmten sie, zogen ihnen neue Kleidchen an, fuhren mit den Kinderwägelchen umher. Nur ich war zu nervös und konnte gar nichts. Bei jedem vorbeifahrenden Auto lief ich ans Fenster und schaute, ob endlich meine Mami mich abholen kommt ...
Ich wartete und wartete. Nach und nach wurde Kind für Kind von ihren Eltern abgeholt und jedes Kind bekam am letzten Tag vor den Weihnachtsferien noch einen kleinen Schokoweihnachtsmann mit auf den Weg ... Die Gesichter der anderen strahlten, wenn endlich ihre Mami oder ihr Papi sie abholte ... Ich wartete und wartete. Draußen war es schon dunkel und auch wie heute begann es zu frieren. Ich saß am Fenster und starrte auf die Straße. Immer wieder mit der Hoffnung, das Auto meines Onkels würde endlich um die Ecke biegen. Doch es kam niemand ... Doch es kam jemand: die Polizei ... Ich weiß noch bis heute, wie sie mich anstarrten und einer von beiden mir sagte: ‚Wir bringen dich jetzt weg hier!' und ich aufgeregt fragte: ‚Wo ist meine Mami?' – ‚Kleiner, du musst jetzt ganz tapfer sein, denn deine Mami kommt nicht wieder!' – ‚Aber sie wollte mich doch heute nach ihrem Ausflug abholen.' – ‚Deine Mami ist jetzt aber bei den Engeln und kann nicht bei dir sein.' ... Einer der Beamten hob mich hoch und trug mich ins Polizeiauto. Gemeinsam fuhren wir zu einem großen grauen Haus. Es lag etwas außerhalb der Stadt und es war auch kaum Licht zu sehen. Nur eine kleine Lampe brannte in einem der Fenster.
Der Polizist nahm mich wieder auf den Arm und trug mich ins Haus hinein. Ich war zu diesem Zeitpunkt immer noch wie versteinert. Ich wusste einfach nicht, was mit mir geschieht. Alles wie ein Film. Ein böser Film. »Wo ist meine Mami?«, fragte ich immer wieder. Aber von den Polizisten kam keine Antwort. Er trug mich ins Haus und setzte mich dort ab.
‚So, wir müssen uns jetzt wieder um andere Leute kümmern. Dies hier ist Frau Müller und sie wird dir zeigen, wo du ab jetzt schläfst.' Er sah mich noch einmal mitleidig an und war dann auch wieder verschwunden.
Ich saß irgendwie in einem großen Zimmer. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt schließlich nicht realisieren, was genau um mich geschah. Die Tage darauf merkte ich schließlich, dass es so was wie ein Gemeinschaftszimmer ist.
Eine große, dicke Frau erschien hinter dem Polizisten. Sie war irgendwie gleich erschreckend. Die Haare streng nach oben gebunden und auf ihrem Gesicht lag dieses Lächeln. Es wirkte so professionell und dadurch gleich so kalt. Jeder Außenstehende hätte wahrscheinlich gesagt, was eine nette Frau, aber auf mich wirkte sie einfach furchteinflößend.
Sie grinste mich an und fragte: ‚Na wie geht's, Kleiner?'
Na wie sollte es mir wohl gehen. Beschissen natürlich! Meine Mami ist nicht da, stattdessen bei den Engeln und ich sitze hier alleine mit einer dicken Frau in diesem hässlichen Haus. Toll, ganz toll!
Ich schwieg sie natürlich an. Ich hatte keine Lust auf so einen dämlichen Baby-Talk, stattdessen drehte ich den Blick zur Seite und sah aus dem Fenster. Hier waren die Fenster komischerweise weder beschlagen noch wuchsen Eisblumen auf ihnen. Man sah nur hinaus und alles war dunkel. Vor dem Haus stand eine einzelne Straßenlaterne, die ein bisschen Licht spendete, aber sonst war nichts zu sehen, weder Mond noch Sterne, da der Himmel durch die Bäume um das Haus herum nicht erkennbar war.
‚So ich bring dich erst mal ins Bett. Die anderen Kinder schlafen ja auch schon', raspelte sie Süßholz.
Sie nahm mich bei der Hand und brachte mich in ein einzelnes Zimmer. Drinnen waren nur ein Bett und an den Seiten ein paar leere Schränke.
‚So zieh dich aus. Hier hast du deinen Schlafanzug und dann geh erst mal zu Bett' Sie wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie sich noch einmal umdrehte und ihr noch etwas Weiteres einfiel ‚Ach so und ich bin Frau Müller. Falls etwas sehr wichtiges sein sollte, meinen Raum findest du direkt neben dem Empfang. Und jetzt schlaf schön!'
Und jetzt stand ich da alleine im Zimmer. Mir war kalt und ich fühlte mich komplett verlassen. Niemand war da, der mich wie jeden Abend ins Bett brachte und mir einen Gute-Nacht-Kuss gab. Niemand der mich lieb drückte. Niemand, der im Nebenzimmer schlief und dem ich wichtig war und der mir wichtig war. Niemand. Ich stand da und starrte aus dem Fenster. Nur schemenhaft nahm ich die Landschaft wahr.
Überall standen Bäume herum und alles Fichten mit langem, dürrem Stamm. Zwischendurch standen kleinere Laubbäume, die ihr ganzes Laub schon abgeworfen hatten und gerade jetzt im Dunklen ziemlich gespenstisch aussahen. Der Boden war schwarz und wirkte modrig, teilweise durch den Frost schon weiß überzogen.
Ich starrte eine ganze Weile aus dem Fenster, immer wieder mit der Hoffnung, dass hinter einem der Bäume plötzlich meine Mutter erschien und mich aus diesem Zimmer befreite.
Aber niemand kam.
So blieb mir nichts anderes übrig, als mich ins Bett zu legen und zu versuchen zu schlafen, bis meine Mami endlich wiederkommt.
Das Bett war hart und die Bettwäsche rau und kalt. Ich wickelte mich in die Bettdecke so gut es ging ein. Aber ich fror noch immer.
Ich versuchte zu schlafen, aber ich vermisste meine Mami. Sobald ich die Augen schloss, kam sie vor meinem geistigen Auge um die Ecke, um mich hier abzuholen. Und immer wieder schreckte ich hoch und fiel auf die Illusion herein ...
Auch die nächsten Tage dachte ich immer noch, dass meine Mami bloß aufgehalten wurde und mich bald abholen würde, bis ich dann am 23. Dezember erfuhr, dass meine Mutter zusammen mit meinem Onkel bei einem Unfall auf der Autobahn ums Leben gekommen war.
Das Auto meines Onkels soll zwischen Hamburg und Bremen frontal mit einem Geisterfahrer zusammengestoßen sein. Alle Beteiligten sollen sofort tot gewesen sein ...»
Bastians Stimme war kaum noch verständlich. Ich konnte zwar nicht sein Gesicht sehen, aber ich wusste, er weint und die Tränen flossen nur so. Seine Stimme klang dadurch nahezu erstickt und es war sowieso ein Wunder, wie er so überhaupt noch ein Wort herausbekam.
Doch was sollte ich da machen? Sollte ich ihn einfach in den Arm nehmen und trösten. Sollte ich ihn einfach so stehen lassen und weitererzählen? Sollte ich versuchen vom Thema abzulenken, um seine Stimmung aufzuheitern?
Rein intuitiv ging ich einen Schritt auf ihn zu, so dass ich direkt hinter ihm stand und umarmte ihn von hinten. Ich hielt ihn einfach fest und sagte nichts weiter.
Bastian ließ seinen Kopf gegen meine Schulter sinken und schluchzte bloß noch vor sich hin.
Wir standen Ewigkeiten da, in denen Bastian nur schluchzte und weinte. Ich konnte nichts sagen, da ich Angst hatte, irgendetwas falsch zu machen und Bastian bekam unter den Tränen keine einzige Silbe heraus.
»Darf ich mich hinsetzen?«, fragte er nach einer Weile verschüchtert.
»Oh ja klar.« Und im gleichen Moment wurde ich puterrot, da er sich einfach nur nicht hinsetzen konnte, da ich ihn immer noch mit den Armen umschlungen hatte.
»Entschuldigung. Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, versuchte ich mich noch einmal zu entschuldigen.
»Brauchst dich nicht zu entschuldigen, mir tun bloß die Füße weh und ich kann nicht mehr stehen ... Danke übrigens!.«
»Wofür bedankst du dich?«
»Dafür, dass du mich einfach nur gehalten hast. Das hat nach dem Tod meiner Mutter nie wieder jemand getan.« Und wieder die ersten Tränen, die über seine Wangen kullerten. Es waren aber diesmal andere Tränen. Sie waren nicht mehr ganz so trüb, es war sogar ein leichtes Glitzern darin zu erkennen.
»Komm setz dich hin«, forderte ich ihn auf. Denn sobald ich ihn nur leicht los ließ, zitterten seine Knie und man bekam Angst, sie würden im nächsten Moment durchbrechen.
»Bitte lass mich nicht los.« Bastian drehte seinen Kopf zu mir und sah mich bittend an.
»Klar kein Problem, wenn dir das gut tut.«
»Ja, tut es sehr sogar.«
Ich nahm mir ein großes Kissen und setzte mich mit diesem auf den Fußboden und lehnte mich gegen meinen Kleiderschrank.
»Komm setz dich her!«, deutete ich Bastian, sich direkt vor mich zu setzen. Er folgte meinem Hinweis und ich legte meine Arme wieder um ihn, so dass er sich gegen meine Brust lehnte. Mit der rechten Hand nahm ich zögernd seine rechte Hand. Ich wusste nicht wie er darauf reagieren würde, aber Bastian schreckte nicht zurück. Er ließ einfach gewähren. Die andere Hand ließ ich auf seinen Bauch sinken und dort einfach ruhen.
Mit meiner Hand fühlte ich jeden Atemzug, wie sich die Bauchdecke hob und wieder senkte. Es war ganz ruhig und rhythmisch.
Mit der rechten Hand hielt ich einfach seine und streichelte immer wieder mit dem Daumen über seinen Handrücken und versuchte ihn so leicht zu beruhigen.
Seinen Kopf ließ er einfach auf meine Brust sinken und schloss die Augen. Bastian hatte sich anscheinend wieder beruhigt.
»Die darauffolgenden Jahre zog ich mich immer mehr zurück. Ich wollte keinen Kontakt zu irgendwem. Vor allem nicht zu den Leuten aus meinem Heim, in dass mich die Polizei gebracht hatte.
Nach der Beerdigung meiner Mutter am 24. Dezember bin ich mit Frau Müller noch einmal in die Wohnung meiner Mutter, um meine Sachen, Spielzeug und alle wichtigen Papiere zusammenzusuchen.
Auf dem Weg in die Wohnung sah ich meine ehemaligen Nachbarn in den Fenstern stehen, wie sie uns alle angafften. Aber keiner, wirklich keiner hatte den Mut herauszukommen und einfach nur sein Beileid auszusprechen. Nicht einer. Hauptsache man kann ja gaffen.»
Bastian wirkte beim Erzählen diesmal weniger aufgemischt. Er erzählte ruhig und klar vor sich hin. Nicht mal eine Träne floss mehr. Bastian hatte die Augen geschlossen und man konnte ihm direkt ansehen, wie die Pupillen unter seinen Augenlidern hin und her flitzen, man sah wie er alles aufs Neue miterlebte.
»Frau Müller schloss die Tür auf und ging voraus. Die Wohnung war kalt und selbst nach dieser kurzen Zeit, nach diesen paar Tagen, in denen niemand die Wohnung betreten hatte, sah die Wohnung verlassen aus. Es wirkte einfach so liegengelassen, so ... so ... Ich kann es einfach nicht beschreiben. Es war einfach erschreckend. Und überall sah ich noch die Spuren meiner Mutter. Der Staubsauger, der noch auf dem Flur stand, weil sie es nicht mehr geschafft hatte ihn nach dem Saugen wegzustellen. Die Fernbedienung von unserem Fernseher, die neben dem schweren, großen Ledersessel lag, in den sich meine Mami abends immer fallen gelassen hat ... Es war alles unverändert. Und in meinem Kopf hörte ich auch ihre Stimme. ‚Bastian? Komm in die Küche! Essen ist fertig!' – ‚Bastian räum dein Zimmer auf, schau dir das mal alles an! Überall liegen die Bausteine umher!' – ‚Bastian, ab in die Wanne! Heut ist Badetag. Das Wasser ist schon eingelassen und schön viel Schaum. Deine U-Boote schwimmen auch schon im Wasser!' ... Ich hörte sie immer wieder. Jeden Raum, den ich betrat, immer wieder ihre Stimme. Irgendwann hörte ich ihre Stimme immer und überall und wild durcheinander. ‚Bastian ... Bastian ... Bastian ... Bastian!' Ich konnte einfach nicht mehr. Ich sank zu Boden und begann zu heulen.
‚Bastian, du hast ja immer noch nicht deine wichtigen Sachen zusammengepackt. Nu stell dich nicht so an! Hör auf zu flennen und such deine Spielsachen und was du alles mitnehmen willst. Ich packe während der Zeit deine Anziehsachen ein. Deine Papiere habe ich alle zusammen.' Sie hob mich auf und stellte mich gerade hin. ‚Und jetzt mach hin, sonst gibt's Ärger!' Von dem Tag an wusste ich, warum ich Frau Müller hasste.
Mine Mutter hätte so etwas nie übers Herz gebracht, auch nur annähernd so etwas zu sagen ...»
Eine kleine Träne kullerte über Bastians Wange. Sie sah aus wie ein kleiner Kristall, der das Freie sucht. So lange eingesperrt und nie von anderen Augen bewundert. Immer nur gefangen in den schlechten Erinnerungen, die unausgesprochen blieben.
»Ich raffte mich auf, da ich Angst hatte, irgendetwas zu verlieren, dass mir wichtig war.
Auf das Spielzeug legte ich nicht viel Wert. Ich suchte unsere alten Fotoalben zusammen, denn ich wollte kein Bild von ihr verlieren. Auch wenn sie ewig in meinem Herzen sein wird.
Ich packte die ganzen Alben vorsichtig in die zwei Reisetaschen, die ich mitgenommen hatte. Danach fand ich im Bettkasten noch ein paar Briefe meiner Mutter, die sie von meinem Vater erhalten hatte. Ich wusste zu der Zeit noch nichts über ihn und ich nahm sie einfach mit, um zu erfahren, wer oder was er war.
Aus dem Kinderzimmer nahm ich noch meine Kuscheltiere mit und vor allem meine Lieblingskuscheldecke mit Kuschelkissen, die ich ein Jahr vorher von meiner Mutter zu Weihnachten bekommen hatte.
Auf beiden war Captain Planet zu sehen, der damals einfach nur mein großer Held war. Ich packte auch dieses zusätzlich in die Reisetaschen. Ich durchwühlte noch ihre alten Bücher und nahm diese fast alle mit und darunter fand ich auch ihr Tagebuch, dass mir später ein heiliger Schatz geworden war.
Meine Taschen waren voll und ich konnte nicht mehr. Ich schleifte eine Tasche nach der anderen auf den Flur und setzte mich vor die Tür. Ich hielt die ganzen Erinnerungen nicht mehr aus. Ich wollte nur noch weg hier.
Kurze Zeit später war auch Frau Müller fertig und hatte 3 große Reistaschen vollgestopft, die sie nacheinander ins Auto einlud. Ich setzte mich schon hinten auf meinen Platz und wartete bis sie endlich fertig wäre. ‚Hättest mir ruhig helfen können. Und hör auf zu flennen.', warf sie mir schließlich an den Kopf, als sie hinters Steuer stieg und über die Schulter sah, wie mir die Tränen über die Wange liefen.
Sie verzog ihr Gesicht zu einer verärgerten Grimasse und gab Gas. Wir fuhren so schnell es ging zurück ins Kinderheim. Bis heute war ich nie wieder auch nur in der Nähe der Wohnung meiner Mutter. Ich hätte es nie durchgehalten.»
Bastian atmete schwer ein und aus. Man merkte richtig, wie er sich immer wieder verkrampfte, wenn er erzählte. Sich seine Muskeln anspannten und wieder lockerten. Beim Sprechen wurde seine Stimme immer heiserer und ein dicker Kloß steckte im Hals. Doch diesmal wollte er zeigen, dass er nicht nur heulen kann. Er wollte stark sein und einfach davon erzählen, ohne auf die Tränendrüse zu drücken.
»Heilig Abend war natürlich für mich gelaufen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Ich nahm meine Schmusedecke und mein Schmusekissen und verkroch mich in meinem Zimmer. Und dort blieb ich auch bis zum Ende der Weihnachtsferien. Nicht einmal zu den Malzeiten kam ich heraus. Es gab noch einige freundlich gesinntere Menschen als Frau Müller. Diese wollte mich ja schon am 25. Dezember zwingen, wieder am Mittagessen in der Gruppe teilzunehmen. Aber es gab immer wieder welche, die sie doch besänftigten und mir dann irgendwas ins Zimmer brachten. Mit dem Weihnachtsfest war auch gleichzeitig mein Geburtstag ins Wasser gefallen, denn ich wäre am 25. Dezember auch noch gleichzeitig 8 Jahre alt geworden.
Die Leute im Heim und auch die anderen Kinder waren wirklich lieb und versuchten mich immer wieder aufzumuntern. Doch ich wollte nicht. Man hätte mir kiloweise Glückshormone spritzen können und ich wäre doch am Boden zerstört in meinem Zimmer liegen geblieben.
Und das änderte sich auch die nächsten Jahre nicht. Immer wieder haben Leute versucht, mir nahe zu kommen, mich als Freund zu gewinnen. Doch ich wollte nicht.
Ich schlich als Einzelgänger durch die Welt und hing meinen Gedanken nach. In Hagenow erinnerte mich alles an meine Mutter und wenn es nur ein hinab gefallenes Blatt von einem Baum war, das mich an ihre Sanftmütigkeit erinnerte, an ihre Zartheit, an ihre Zerbrechlichkeit.
Ich wollte immer wieder raus. Weg von diesem Ort, doch ich kam nie raus. Ich war sozusagen gefangen in der Hölle, denn schlimmer konnte es nie werden. Immer wieder zu jeder Sekunde mit dem Tod meiner Mutter konfrontiert zu werden.
Naja bis heute. Da hab ich's nicht mehr ausgehalten. Hab mich in den Zug gesetzt und bin einfach nach Hamburg gefahren. Ohne Ziel und ohne Verstand. Aber als ich aus Hagenow raus war, fiel alles von mir ab. Die ganze Last der letzten Jahre. Die ganze Anstrengung, einfach alles. Und schließlich hast du mich an der Binnenalster aufgegabelt.»
Und mit diesen Worten wollte er seinen Bericht beenden. Man merkte wirklich, wie die Spannung plötzlich seinen Körper verließ und er matt zusammenfiel. Doch es war nicht so, als wenn er depressiv zusammensackte. Man spürte seine Erleichterung, es endlich hinter sich zu haben. Es endlich beendet zu haben. Doch ich konnte nicht anders und musste einfach nachfragen, denn es gab noch so einige ungeklärte Sachen. Und als ich auch die erste Frage gestellt hatte, spannten sich seine Muskeln aufs Neue an.
»Warum bist du eigentlich nicht zu Verwandten gekommen?«
»Weil meine Großmutter 2 Jahre nach meiner Geburt gestorben war und mein Großvater schon längst tot war, noch bevor ich geboren wurde.
Mein Onkel starb ja zusammen mit meiner Mutter im Auto. Daneben gab es keine weiteren Geschwister, bei denen ich hätte unterkommen können.»
»Und was war mit deinem Vater? Wieso bist du nicht zu dem gekommen?«
Über Bastians Gesicht zog wieder ein Schatten. Und er schien zu überlegen, ob er mir dieses wirklich anvertrauen sollte. Aber wieso sollte er nicht, nachdem er mir dieses alles schon erzählt hatte.
»Ich kenne ihn nicht und will ihn auch nicht kennen lernen.«
»Wieso nicht?«
Währenddessen streichelte ich immer noch mit dem Daumen über seinen Handrücken und hielt ihn dicht an meiner Brust im Arm.
»Ich habe doch vorhin die Briefe und das Tagebuch meiner Mutter erwähnt?«
Ich nickte nur stumm.
»Sie hatte bis zur Geburt hin starken Briefkontakt mit meinem Vater. Jedoch war dieser nicht gerade recht freundlich. Er beschimpfte sie als Schlampe und warum sie nicht das Kind habe wegmachen lassen. Ohne dieses Balg, also mich, wären die Probleme doch nie entstanden. Und so weiter und so fort. In 20 oder 30 Briefen gab es nie ein anderes Thema und oftmals wiederholten sich die Vorwürfe wortwörtlich.
Aus ihrem Tagebuch erfuhr ich dann, dass sie früher mit ihm verheiratet war. Er hatte sie jedoch immer wieder geschlagen. Immer und immer wieder. Und meist nur aus Frust. Er war noch nicht mal Alkoholiker, wie du vielleicht grad gedacht hattest. Er war frustriert und sah das ganze Leben gegen ihn verlaufen. Früher hatte er sie bloß dann und wann geohrfeigt, aber zum Schluss wurde es Demütigung, die sie durch Schläge und derbste Beleidigungen erfuhr.
Es muss aber dennoch auch schöne Zeiten gegeben haben, denn zum Schluss war sie irgendwann doch schwanger geworden, mit mir. Jedoch weiß ich nicht, wie dieses hätte passieren können.
Sie hasste ihn, jedoch kam sie nicht los von ihm. Sie war ihm sozusagen hörig. Selbst ihre Mutter hatte Sorge um sie und schließlich dann auch um das ungeborene Kind.
Und das war schließlich auch der Moment, in dem sie ihre Augen öffnete und sah, wie schädlich dieser Mann doch für das Kind war. Sie hätte die Schläge und die Demütigung wohl noch Jahre durchgehalten, aber einem Kind konnte sie dieses nicht antun.
Und so setzte sie ihn kurzerhand vor die Tür. Sie ließ die Schlösser auswechseln und warf seine Sachen in den Treppenaufgang.
Er tobte und tobte, aber wirklich wehren konnte er sich nicht. Um es kurz zu machen. Er nahm seine Klamotten und zog weg. Ich weiß nicht, wo er heute wohnt, aber ganz ehrlich, mich interessiert dieses auch gar nicht. Ich will diese Person nicht treffen, ich will gar nicht mehr an sie denken. Ich kenne sie nicht und diese Person tut mir einfach nur leid, mehr nicht. Er hat ja bis heute auch noch nicht einen Pfennig an Alimenten bezahlt.»
»Und wie hattest du dir dein Leben jetzt vorgestellt?«
»Ich hatte keine Ahnung, ich wollte nur noch raus. Eigentlich schon vor 2 Jahren, aber mein Vormund, Frau Müller, verbot mir vor meinem 18. Geburtstag aus dem Kinderheim auszuziehen und in Hagenow die Schule zu beenden. Ihr einziger Kommentar war ‚Ein Mann muss so ein Ereignis wegstecken können und nicht wie du immer wieder rumflennen!' Sie war ein Biest. Und mir blieb nichts anderes übrig als abzuhauen. Heute war bei uns der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien. In mir kamen einfach wieder all die Gefühle hoch. Ich hasse Weihnachten. Jedes Jahr aufs Neue werde ich durch diese strahlenden Gesichter daran erinnert, wie sehr ich doch meine Mami vermisse und wie scheiße es mir doch geht.
Ich konnte nicht mehr anders. Nach diesem oberflächlichen Getue von heiler Welt bei uns in der Schule lief ich einfach ins Heim, packte die wichtigsten Sachen zusammen und fuhr nach Hamburg. Ich habe bis jetzt keinen Schimmer wie es weitergehen soll.»
Bastians Augen füllten sich wieder mit Wasser. Diesmal aber, weil er keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Bastian wollte auf keinen Fall zurück ins Heim, aber er wusste auch nicht, wo er sonst hingehen sollte.
»Hey, ganz ruhig, nicht weinen. Jetzt ist ja erst mal alles gut!«, flüsterte ich ihm ins Ohr und versuchte ihn zu trösten.
Er drehte seinen Kopf zu mir und sah mir direkt in die Augen. »Warum hörst du dir das eigentlich alles an und warum hast du mich hier überhaupt mit hergenommen?«
Ich zuckte nur mit den Schultern, denn über diese Frage hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe es einfach getan und bisher bereue ich nicht, einem Menschen einfach nur geholfen zu haben, der es wirklich verdient hat. Einfach nur indem ich ihm zugehört habe. Bastian du hast es verdient, glücklich zu werden. Ich weiß zwar nicht wie ich da helfen kann, aber ich würde alles dafür versuchen.«
Ich sah zum ersten Mal in seine stahlblauen Augen, die mich nur anschauten und in denen kleine Diamanten glitzerten, als ich ihm diese Worte gesagt habe.
»Danke du bist einfach nur lieb. Danke, dass du mir einfach nur zugehört hast, ohne irgendwelche Kommentare dazu zu geben, wie es andere gerne machen. Es war eigentlich das erste Mal, dass ich nach dem Unfall über alles gesprochen habe und nicht von irgendwem einen dummen Ratschlag bekommen habe, so dass ich gar nicht erst weiter darüber sprechen wollte. Danke für alles«, flüsterte mir Bastian zu. Er schloss wieder die Augen und lies seinen Kopf auf meine Brust sinken.
Bastian begann immer tiefer und rhythmischer zu atmen. Es dauerte auch keine 5 Minuten und er war eingeschlafen. Er kuschelte sich ganz eng an mich und beim ein und ausatmen säuselte er ganz, ganz leicht. Es wirkte richtig süß. So zerbrechlich, so sanftmütig.
So wie er von seiner Mutter erzählt hatte, muss er sehr viel geerbt haben. Die liebenswürdige Art, das sanfte Wesen, einfach alles.
Und mir gingen die Gedanken durch den Kopf, warum ich ihn nun eigentlich mitgenommen habe, warum ich mir alles erzählen lies, warum ich zugehört habe? Und ich fand keine Antwort. Aber brauchte ich überhaupt eine Antwort?
Ich glaube nein. Gerade jetzt hatte ich endlich mal getan, was ich mir immer gewünscht hatte. Einfach etwas getan, ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen dieses hätte. Und ich wollte mir auch jetzt keine Gedanken mehr darüber machen. Wichtig war jetzt nur noch Bastian, dass er wieder glücklich wird.
Und als ich auf die Uhr sah, bemerkte ich erst wie spät es war. Schon weit nach halb eins und ich dankte meiner Mutter, dass sie nicht ins Zimmer gestürmt war und vor allem auch, dass sie irgendwie meinen Vater abgehalten hat, einfach mal ungestüm hereinzuschneien, was eigentlich seine Spezialität war.
Und so langsam wurde auch ich müde und auch ein bisschen kalt hier unten am Boden zu sitzen. Und so versuchte ich so vorsichtig wie möglich Bastian auf die Arme zu nehmen und trug ihn auf mein Bett. Nicht dass ihr jetzt denkt, ich hätte die Situation ausgenutzt. Daran liegt mir gar nichts. Bastian war mir wichtig geworden und nicht sein Körper bzw. ein schneller Sex. Ich deckte ihn einfach zu, so dass er in der Nacht nicht frieren würde.
Ich ging zu meinem Kleiderschrank und holte von dort meinen Schlafsack herunter und rollte diesen neben dem Bett aus und kuschelte mich dorthinein, um auch noch wenigstens eine Mütze Schlaf zu bekommen.
Gerade als ich meine Kopf sinken ließ und die Augen geschlossen hatte, fragte mich Bastian. »Wie heißt du eigentlich?«
Ich schlug wieder die Augen auf und sah nach oben zum Bett. Bastian sah mich mit verschlafenen Augen an, die nur noch kleine Schlitze waren.
»Lukas«, flüsterte ich ihm zu.
»Hallo Lukas. Danke dass wir uns getroffen haben.«
Und dies war einer der Momente, in denen ich einfach nicht wusste, wie ich reagieren solle. Zum Glück sah man in der Dunkelheit nicht, wie ich puterrot anlief.
»So jetzt schlaf aber schön, dein Tag war lang und du hast es mal nötig.«
»Ich kann aber nicht schlafen«, flüsterte Bastian mir entgegen.
»Warum denn? Hast doch vorhin auch schon geschlafen?!«, sah ich ihn etwas verdutzt an.
»Ja, das war etwas anderes.«
»Wieso?«
Bastian wurde leicht rot, so wie ich erahnte, und sah schüchtern auf seine Hände.
»Weil du mich vorhin gehalten hast«, antwortete er fast nicht mehr vernehmbar. Und jetzt war es wieder an mir zu erröten. Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine Wirkung auf Personen haben könnte.
»Aber was habe ich denn gemacht?«
»Gar nichts. Du hast mich einfach nur gehalten. Der erste, der mich nur gehalten hat. Ohne irgendwelche Hintergedanken. Ohne irgendeine Gegenleistung zu verlangen. Ich fühlte mich einfach geborgen. So geborgen, wie noch nie zu vor.«
Und ich wurde bei diesen Worten immer roter. Es ist zwar schön, Komplimente zu bekommen, aber man weiß doch nie, wie man auf so was reagieren soll. Reagiert man gar nicht, wird man als kalt abgestempelt. Reagiert man zu heftig, ist man gleich das Sensibelchen.
»Könntest du bitte bei mir schlafen?«
Ich sah ihn bei diesen Worten nur einfach irritiert an. Was meinte er?
»Keine Angst, ich möchte nur, dass du mich festhältst. Nur die Sicherheit, dass da jemand neben mir schläft und ich nicht alleine bin.« Bastian schaute mich fragend und auch ängstlich an, wie ich auf seine Bitte reagieren würde.
Wortlos stand ich auf und stieg zu Bastian unter die Decke. Ich legte meine Arme um ihn und er seinen Kopf auf meine Brust. »Danke,«, raunte mir Bastian entgegen. Er schloss die Augen und schon wenige Minuten später war er in die Welt der Träume entschlummert. Sein warmer Körper ruhte an mir und sanft und gleichmäßig bewegte sich seine Brust. Ich schloss die Augen und durch seine Wärme und diese monotone Bewegung seines Brustkorbes war ich auch nach wenigen Momenten eingeschlafen ...
...........
»Aufwachen! Bitte nehmen Sie ihre Sachen und dann kommen sie mit!«
Ähm wie jetzt. Verschlafen öffnete ich die Augen und schaute in Richtung Tür, wo die Stimme herkam. In der Tür standen zwei Polizisten in Uniform und direkt dahinter meine Mutter, die mit dem Finger auf etwas deutete. Nicht etwas sondern wen deutete und dieser welcher war Bastian, der immer noch in meinen Armen lag und auch ganz benommen aus der Wäsche guckte.
Wir lagen immer noch beide in voller Montur im Bett, da wir es in der Nacht nicht mehr geschafft haben uns auszuziehen. Wir hätten es schaffen können, aber die Umstände waren halt anders, als normal.
»Aufstehen und bitte nehmen Sie ihre Sachen und kommen mit uns mit!«
Jetzt erst merkte Bastian, dass er gemeint war. Er saß kerzengerade im Bett und starrte die beiden Polizisten mit großen Augen an. Dann wanderten seine Augen zu mir und ich schüttelte nur mit dem Kopf. Ich wusste ja selber nicht, warum bei uns die Polizei auflief.
»Ich wiederhole mich ungern. Also nehmen Sie ihre Sachen und kommen sie mit!«
Und die Stimme des Beamten wurde immer unfreundlicher. Vollkommen benommen, stand Bastian auf, griff sich seine Taschen und verschwand aus dem Zimmer.
Ich lag selber immer noch auf dem Bett und realisierte nur sehr langsam, dass hier irgendwie irgendwas falsch läuft. Als schließlich der Funken übersprang und mir gerade bewusst wurde, dass Bastian von der Polizei abgeführt wurde, sprang ich auf rannte zur Tür und sah nur noch, wie Bastian seine Jacke anzog und die Wohnung verließ. Noch einmal ging ein Blick direkt an mich. Dieser Blick war traurig und fragend zugleich. Anscheinend hatte er vermutet, dass ich die Polizei gerufen hätte. Aber wie hätte ich das denn tun sollen. Ich war doch die ganze Zeit bei ihm.
Wer hatte die Polizei eigentlich gerufen?
Die Tür fiel ins Schloss und meine Mutter drehte sich um und rannte wie eine Furie auf mich zu.
»SAG MAL BIST DU NOCH GANZ DICHT?«, schrie sie mich an.
»ERST BRINGST DU EINEN TYPEN NACH DEM ANDEREN HIER AN. UND JETZT AUCH NOCH KRIMINELLE?« Ihre Stimme überschlug sich mehrere Male und ihre Augen liefen rot an, wie die eines Stiers.
»Wieso Krimineller?«, fragte ich noch ziemlich verwirrt. Irgendwie stiegen mir die Ereignisse über Kopf.
»Na dieser Bastian wurde von der Polizei gesucht. Sogar im Radio haben sie das übertragen.
Ich war nur heute Morgen kurz in deinem Zimmer, um zu sehen ob alles klar ist, und da hab ich euch beide schlafen sehen.»
Ihre Stimme war wieder ein paar Lautstärken herunter gedreht und auch ihr Körper entspannte sich jetzt. Sie hatte anscheinend richtig Angst, dass dieses ein Schwerkrimineller sei.
»Da kam ich dann wieder zurück in die Küche und hab mit Vati angefangen zu frühstücken. Der ist dann nach einer Weile noch die letzten Sachen vor den Feiertagen erledigen gegangen und ich machte mich an den Abwasch. Und im Radio brachten sie plötzlich die Nachricht, dass man einen jungen Mann im Alter von 17 Jahren suchte. Groß, so um die 1,85 m, schlanke Statue, dunkle Haare und er solle 2 Reisetaschen bei sich tragen. Die eine rot die andere Schwarz. Er hätte auch eine schwarze Jacke an und dazu eine schwarze Hose und einen Weißen Pulli.
Und es passte wie die Faust aufs Auge.
Ich erinnerte mich nämlich, dass ich in deinem Zimmer fast über die Taschen gestolpert war, aber ich hab sie noch im letzten Moment gesehen. Auch die schwarze Esprit-Jacke hing in der Garderobe und er hatte ja auch noch die Sachen vom Vortag an. Es passte alles und ich bekam Angst. Ich rief so schnell es ging die Polizei an.»
Sie erzählte jetzt schon in einem ruhigen Ton ihre Erlebnisse weiter und wirkte nahezu triumphal, als wenn sie gerade etwas Weltbewegendes vollbracht hätte.
»Ich verzog mich wieder leise zurück in die Küche und verblieb dort auch, bis endlich die Polizeibeamten nach knapp einer halben Stunde vorbeischauten. Ich blaffte sie natürlich erst mal an, warum man sich denn so viel Zeit gelassen hätte und da antwortete man mir dann einfach, dass man noch etwas wichtigeres zu tun gehabt hätte und da es sich hier nicht um einen Schwerkriminellen handelte, hätte man dem anderen Fall mehr Priorität geschenkt. Naja, für diese Antwort hätte ich gerne beiden eine Watschen gegeben.«
»Was soll Bastian denn verbrochen haben?«
Fiel ich in ihren Redeschwall ein.
»Keine Ahnung. Hab nur die Fahndung durchs Radio gehört«, gab sie immer noch sehr selbstbewusst von sich.
»Schon mal daran gedacht, dass er kein Schwerverbrecher ist?«
»Und wieso sucht man ihn denn durchs Radio?«
»Weil er vielleicht aus einem Kinderheim geflohen ist, weil ihn seine Vergangenheit diese Tage wieder eingeholt hat und er einfach nicht dort bleiben konnte?«
»Wie meinst du das?«, fragte sie dann doch jetzt eher schüchtern. Man sah ihr an, dass sich ihr triumphaler Feldzug in einen kleinen Haufen verwandelt hat.
»Ach nichts. Ich muss los und zu Bastian!«
»Aber ...«
»Kein Aber, ich muss zur Polizei. Bastian wird morgen 18 und dann können sie ihm nichts mehr. Ich muss zu ihm, damit er nicht denkt, ich sei hierfür verantwortlich.«
Ich griff hektisch nach meinem Portmonee und zog mir auch gleich die Schuhe dazu an.
»Aber ...«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werd versuchen ihn zu finden und du hast bei ihm noch etwas gutzumachen. Aber wird schon schief gehen!«, versuchte ich sie dann doch anzulächeln, auch wenn mir nicht wirklich danach war. Schließlich hatte sie ihn ja an die Polizei verfüttert. Letztendlich aber nur, da sie Angst hatte, er sei ein Krimineller, und ich glaube, das kann man ihr nicht vorhalten. War ja nicht wirklich böse gemeint.
»Hey, wird schon. Ich melde mich von unterwegs.«
Ich stand schon vollkommen abmarschbereit vor der Tür, als mir dann doch einfiel, wohin ich eigentlich gehen sollte und nach Bastian suchen?
Ich drehte mich auf dem Absatz um und nahm unser Telefon, das immer auf der Kommode im Flur steht und wählte einfach die Polizeistation von unserem Stadtteil an.
»Ja guten Tag. Polizeidienststelle Altona, was kann ich für sie tun?«, meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
»Guten Tag. Ich wollte fragen, ob sie schon den vermissten Jungen aufgefunden haben. Ich habe ihn gestern nämlich am Hauptbahnhof gesehen?«
»Ja, haben wir. Er ist heil zurück nach Hause gebracht worden. Dennoch danke für ihre Mühe hier anzurufen. Oder kann ich noch etwas für sie tun?«
»Nein danke. Wünsche ihnen einen schönen Heilig Abend.«
»Danke gleichfalls. Auf Wiederhören.«
Tut ... tut ... tut ...
Und sie hatte gleich wieder aufgelegt. Naja, in ihrer Haut möchte ich auch nicht stecken, an heilig Abend arbeiten zu müssen, während alle anderen daheim sitzen und sich den Wanst voll schlagen.
»Oki Mom, ich weiß jetzt wo er ist und ich werde gleich hinfahren. Ich muss ihm das erklären, was schief gegangen ist. Ok?«
Sie nickte nur, denn sie hatte ihren Fehler eingesehen und wollte mich nicht noch abhalten.
»Ich melde mich dann von unterwegs Ok?«
»Ok und Bastian, frohe Weihnachten!«
»Danke Mami auch dir frohe Weihnachten!« Und wir beide umarmten uns erst noch einmal ganz doll, bevor ich schließlich dann doch die Wohnung in Richtung Hagenow verließ.
Erst einmal natürlich mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof und von dort aus mit dem Regionalexpress nach Hagenow. Ich war schon ziemlich spät dran. Als ich mir am Plan meine Verbindung heraussuchte und sie auch endlich fand, sah ich vor den Schaltern eine riesige Schlange, die alle noch Bahntickets wollten. Das hätte ich nie im Leben geschafft und so lief ich schon fast zu Gleis 5 a/b und stieg in den Zug ein. Und keine 2 Minuten später schlossen sich auch die Türen und der Zug fuhr ab.
Als erstes natürlich einen Platz suchen und ich ging schnurstracks ins Raucherabteil, denn so langsam könnte ich echt ein bisschen Nikotin vertragen. Das beruhigt wenigstens die Nerven. Ich bin ja sonst kein starker Raucher, aber in dieser Situation konnte ich nicht anders. Ich brauchte einfach eine oder auch zwei oder auch drei.
»Guten Tag die Herrschaften, die Fahrscheine bitte!«
Und eine Schaffnerin sah mich von der Seite fordernd an.
»Entschuldigung, aber ich hab es nicht mehr geschafft mir ein Ticket zu kaufen, da heute riesige Menschenmassen vor den Schaltern stehen. Kann ich stattdessen hier bezahlen?«
Und ich setzte natürlich gleichzeitig den mitleidigsten Blick auf, den ich im Repertoire hatte.
»Ja klar. Wohin wollen Sie?«, antwortete sie mir freundlich und schenkte mir gleichzeitig noch ein Lächeln. Anscheinend stimmt es doch, dass die Leute zu Weihnachten friedlicher werden. Sonst hätte ich wohl jetzt zumindest schon einen schiefen Blick bekommen oder einen Kommentar, warum ich dann nicht früher am Bahnhof gewesen war.
»Nach Hagenow.«
»Mit Bahncard?«
»Ja.«
»Ich kann ihnen den Feiertagsaufschlag von 5 DM dennoch nicht ersparen. Das sind dann 17,50 DM.«
Ich gab ihr das Geld und wartete bis an diesem Kassiergerät endlich die Karte ausgedruckt war. Ich frag mich schon seit langen, warum man diese Dinger nicht beschleunigen kann.
Sie gab mir dann schließlich die Karte.
»Danke und frohe Weihnachten«, wünschte ich ihr, als sie mir die Karte gab und sich auf den Weg machte, die anderen Fahrgäste zu kontrollieren.
Ich ließ mich in meinen Sitz zurückfallen und schaute zum Fenster hinaus, während immer wieder leichte Rauchschwaden den Raum erfüllten. Vor mir schoss die Landschaft vorbei und Ort für Ort wurde passiert.
Erst Schwarzenbek, Boizenburg, Schwanheide und so weiter. Es dauerte auch nicht wirklich lange. Die Fahrt selbst dauerte nur in etwa eine Stunde und schließlich stand ich auf dem kleinen Bahnhof in Hagenow. Da von allen Seiten freie Sicht war, fuhr mir der Wind erst mal kräftig in die Knochen und ließ mich frösteln. So jetzt hier. Und nun?
Der Bahnhof war wie so viele im Osten verlassen und nirgends war ein Bahnschalter oder ähnliches. Die meisten Fahrgäste, die mit ausstiegen, gingen direkt zum nächsten Zug und setzten ihre Reise mit so einer Bimmelbahn fort.
Und nun stand ich noch als einziger auf dem Bahnhof und weit und breit war niemand zu sehen. Der Wind fegte über die Felder und man hörte ihn nur noch Jaulen. Zudem wurde es jetzt schon Dunkel. War ja schon 17 Uhr und es würde auch nicht mehr lange dauern, bis ich nicht einmal meine Hand vor Augen sehen konnte.
Ich vergrub meine Hände in der Jackentasche und ging erst mal ein paar Schritte. Schließlich sah ich ein kleines Licht im Bahnhof. Ohne groß zu überlegen ging ich hin und klopfte ans Glas. Man sah einen Schatten auf das Fenster hinzugehen und ein älterer Herr zog die Gardine und sah mich fragen an.
»Entschuldigung. Ich wollte nur fragen wie ich hier zum Kinderheim komme?«
»Wieso, was wollen Sie dort?«, fragte er mich etwas grimmig.
»Ich will nur einem Freund 'ne Freude machen.«
»Gehen Sie dahinten einfach über die Schienen und dann immer die Hauptstraße entlang, bis Sie zur Rosa-Luxemburg-Straße kommen. Dort ist es kaum zu übersehen. Von draußen ist auch ein Schild, also nicht zu verfehlen.«
»Danke schön und frohe Weihnachten!«, wollte ich mich noch bedanken, aber der Mann hatte das Fenster schon längst wieder verschlossen und die Gardine vorgezogen.
»Na dann nicht!«, sagte ich zu mir selbst.
Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen und zog den Kopf ein, so dass der Wind und Frost weniger Angriffsfläche hatte. Ich schlich so die Hauptstraße entlang, die umsäumt von Altbauten war. Ich richtete meinen Blick auf den Fußweg, um so schön viel vom Gesicht in der Jacke zu verbergen. Nur an den Straßenecken sah ich auf, um zu schauen, welche Straße sich hier abzweigte.
Es war jetzt schon so dunkel, dass die Straßenlaternen angingen und einen matten Schein über die ganze Umgebung warfen. Es wirkte alles so verlassen und so kalt. Niemand war auf den Straßen zu sehen, nur immer wieder in den Fenstern waren erleuchtete Weihnachtsbäume zu erkennen und teilweise hörte man auch weihnachtliche Melodien aus den Häusern. Aber auf der Straße lief ich alleine entlang. Es wirkte wirklich Tod. Man hatte sich vor der Welt versteckt und alles andere zumindest für einen kurzen Moment aus seinem Leben verbannt.
Und dieses ungeliebte Kalte fegte jetzt durch die Straßen.
Ich schlich so Schritt für Schritt durch die Straßen und hoffte nur, endlich das Kinderheim zu finden. Und nach drei Straßen kam ich schließlich in der Rosa-Luxemburg-Straße an. Hier endeten auf einmal die Altbauten und kleine Eigenheime waren aneinander gereiht. Davor und dahinter standen jeweils Bäume, so dass man sich wie im Wald vorkam. Genau wie Bastian erzählt hatte. Ich ging weiter und weiter. Und endlich am Ende der Straße kam ich zu einem großen, grauen, quaderförmigen Haus. Es sah nicht wirklich schön aus. Es sah eher aus wie eine alte Baracke. Eine Etage nur und sehr lang gestreckt.
Ich ging durch das Holztor und in einem Fenster konnte man einen großen Tannenbaum sehen, um den Unmengen an kleineren und größeren Kindern saßen. Eine etwas ältere Dame mit streng nach oben gebundenen Haaren. Das muss wohl die Erzieherin sein, von der Bastian erzählt hatte. Ich versuchte so unauffällig wie möglich zu sein und Bastian zu erspähen. Doch ich erblickte niemanden.
Der Rest des Hauses war dunkel. Nirgends sonst war ein weiteres Licht zu sehen. Ich sah mich noch einmal um, aber nirgends etwas. Oder doch?
Ich musste die Augen schärfen und sah in einiger Entfernung einen Kopf aus dem Fenster schauen, der immer wieder Rauchwolken ausstieß. Ich verließ den Weg und ging auf Zehenspitzen über die Rasenfläche vor dem Haus.
Ich kam Schritt für Schritt näher und je dichter ich kam, je schärfer wurden die Konturen der Person. »Bastian?«, fragte ich, als ich nur noch wenige Schritte entfernt war.
»Ach lasst mich doch in Ruhe, ich komme nicht zu eurer bescheuerten Weihnachtsfeier. Ich wisst genau, dass ich so was nicht feiere.«
Im selben Moment wollte er auch schon das Fenster zumachen. Die Hand lag schon auf dem Griff.
»Bastian, ich will dich nicht zur Feier holen. Ich bin's!«
»Lukas?«
»Ja, ich bin's.«
»Was machst du denn hier?«, entweder bildete ich mir dieses nur ein oder über sein Gesicht war ein Lächeln geflogen.
»Ich wollte mich für meine Mom entschuldigen und dich an Heilig Abend nicht alleine lassen.« Meine Stimme war ganz heiser. Es war wie eine Qual, diese Worte über die Lippen zu bringen.
»Du bist lieb.«
»Und gleich erfroren.« Dennoch konnte ich mir ein bisschen Ironie nicht verkneifen.
»Oh Entschuldigung. Ich kann dich leider nicht durch den Haupteingang rein lassen. Dann würde dich Frau Müller gleich wieder rausschmeißen.«
Ich stieg also durch das Fenster hinein. War ja auch kein Problem, da es sowieso nur auf Hüfthöhe war.
»Brrrr. Endlich etwas Wärme.«
»Warte, ich mach das Fenster richtig zu und die Heizung dreh ich voll auf. Dann wird's schnell warm.«
Ich zog meine Jacke aus und hing sie hinter die Tür. Ich sah mich erst mal im Raum um, aber wirklich viel zu sehen gab es nicht. Alles eher spartanisch eingerichtet. Kantige, ältere Möbel, die noch aus der DDR zu stammen schienen und die Schränke waren nahezu leer. Nur noch vereinzelt lagen Bücher in den Regalen.
»Warum stehen deine Taschen eigentlich noch unausgepackt vor den Schränken?«, fragte ich gleich, nachdem mein Blick darauf gefallen war.
»Weil ich morgen sowieso hier wieder abhaue und dann für immer.«
»Und dann kommt wieder jemand wie meine Mutter, die dich dann doch der Polizei meldet.«
»Soll sie doch ab morgen machen. Da werde ich 18 und die Polizei und das Heim haben keine Kontrolle mehr über mich«, antwortete Bastian etwas aggressiv.
»Aber wieso haben sie dich dann heute noch suchen lassen. Mit diesem einen Tag haben sie doch sowieso keine Chance etwas zu ändern?«
»Das ist nur noch reine Schikane, wie auch die letzten Jahre.« Und wieder dieses glitzern in seinen Augen. Kleine Tränen flossen über seine Wange. Aber er wirkte gleichzeitig auch ziemlich unter Spannung. Seine Stimme war hart und laut. So als würde er die betreffende Person direkt ansprechen.
»Hey ganz ruhig. In wenigen Stunden ist es ja vorbei.«
Ich trat gleichzeitig einen Schritt an ihn heran und legte meine Arme um ihn. Bastian ließ sich auch direkt an meine Schulter sinken.
»Wieso schikanieren sie dich denn?«
»Weil ich nicht sofort nach Frau Müller spure und mich vor 3 Jahren geoutet habe.«
»Nur deswegen?«
»Ja klar. Während andere Mädchen ihren Freund mit aufs Zimmer nehmen durften, hätte ich hier nie jemanden mit herbringen können. Wobei ich das auch nie gewollt hätte. Was hab ich denn schon groß zu bieten. Schau dich um. Alles billiger Ramsch und ich schwimme auch nicht in Geld.«
Seine Stimme wirkte traurig. Matt und dabei so nüchtern. Er war traurig darüber, dass es so gewesen war, aber er hatte sich mit abgefunden.
Piep. Piep. Piep.
»Oh Entschuldigung. Mein Handy. Einen Moment.« Ich löste mich wieder von ihm. Zwar ungern, konnte es aber nicht anders regeln.
»Ja hallo? ... Mom, ach du bist es... Ich bin jetzt in Hagenow ... Nein heute sicherlich nicht mehr .... Morgen denke ich, weiß ich aber noch nicht so genau .... Ja klar, ich hab ihn gefunden und werd es ihm gleich erzählen ... Ja danke Mom und euch beiden noch frohe Weihnachten. Ich hab euch lieb.«
Ich legte wieder auf und drehte mich wieder Bastian zu, der mich fragend anschaute.
»War nur meine Mutter. Ich soll dir frohe Weihnachten wünschen und sie noch mal entschuldigen.«
»Warum hat sie eigentlich bei der Polizei angerufen?«
»Sie dachte du seiest ein Krimineller.«
Bastian legte die Stirn in Falten und auf seinem Gesicht war ein breites Fragezeichen zu erkennen.
»Sie hatte nur im Radio die Beschreibung eines Jungen gehört, die auf dich passte. Sie hatte auch nur noch die Beschreibung der Person gehört, aber nicht mehr warum er gesucht wurde. Naja, sie dachte, dann wirst du wegen Drogenhandels oder sonst was gesucht. Ist in Hamburg ja üblich, dass dort mehr geschieht. Sie hatte einfach Angst, rief die Polizei und wartete solange in der Küche bis diese endlich eintraf. Und sie möchte sich halt dafür entschuldigen. Es tut ihr mehr als schrecklich leid.«
»Ja klar, ist angenommen. Das ist ja üblich, dass man mich für 'nen Kriminellen hält. Ich bin halt jedem im Wege und zu nichts gut.«
Er ließ seinen Kopf nach vorne sinken und er klang von der Stimme und der ganzen Körperhaltung ziemlich resigniert.
»Hey, erzähl nicht so einen Mist.«
»Was denn, was hab ich schon groß zu bieten. Ich habe weder Geld, noch großen Luxus, noch sonst irgendetwas.«
»Du hast dich. Du bist es wert. Du als Person. Du bist unbeschreiblich. Du bist schön, intelligent, einfühlsam, lieb, sensibel. Ich finde kaum die Worte dafür.« Jetzt war ich an der Reihe, den Kopf zu senken. Aber nicht aus Trauer, sondern weil ich rot anlief.
»Wirklich?«, fragte Bastian ungläubig.
»Ja klar. Wäre ich dir sonst hinterhergefahren. Hätte dich Heilig Abend in einer wildfremden Stadt gesucht, anstatt bei meiner Familie zu sein?«
»Danke.«
»Hey du bist es Wert. Ich habe zwar kein Geschenk für dich zu Weihnachten, aber dennoch wollte ich bei dir sein.«
»Doch du hast ein Geschenk.«
Diesmal sah ich ihn fragend an.
»Du bist das Geschenk. Du bist unbeschreiblich. Hörst einfach zu und gibst Kraft zurück, ohne etwas dafür verlangt zu haben. Du hast mich von der Straße aufgelesen, ohne zu wissen wer ich bin und warum ich auf der Straße bin.«
Es folgte eine längere Pause, in der Bastian nach Worten suchte, so sah es zumindest aus. Es wirkte, als wenn er es nicht schaffte, das zu formulieren, was er sagen wollte.
»Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen. Der einfach nur zuhört, ohne blöde Kommentare abzugeben, sondern einfach nur schweigt und zuhört. Und gerade heute in den Stunden, als du nicht bei mir warst und auch gestern Nacht, wie du so bei mir lagst, wurde mir immer mehr klar, dass ich mich wohl doch endlich mal verliebt habe.«
Sein Blick war unsicher und ängstlich. Er wartete auf irgendeine Reaktion. Und dennoch wollte er eine Reaktion eigentlich gar nicht sehen. Dieser Zwang etwas haben zu wollen und dennoch Angst davor zu haben.
»Hey, wieso guckst du so unglücklich?«
Er zuckte nur mit den Achseln.
»Ich liebe dich doch genauso.«
Er hob wieder seinen Blick und sah mir direkt in die Augen.
»Wirklich?«, fragte er immer noch ungläubig und verschüchtert.
»Klar oder würde ich sonst so etwas machen?«, hauchte ich ihm entgegen.
Meine Hände umfassten sanft seine Hüften und zogen ihn ganz nah an mich heran.
Unsere Augen fixierten einander. Kleine Blitze schossen hin und her. In seinen Augen sah ich zum ersten Mal dieses Funkeln. Dieses Glück. Bisher war immer alles trüb gewesen. Trüb und verschwommen.
Unsere Köpfe bewegten sich ganz langsam aufeinander zu. Zentimeter für Zentimeter, bis sich schließlich die Lippen fanden und in einem Kuss miteinander verschmolzen ...
.............................
Es war irgendwann nach Mitternacht. Ich und Basti lagen eng aneinander gekuschelt auf seinem Bett.
»Basti?«
»Ja?«
»Guck mal aus dem Fenster.«
Bastian und ich richteten uns fast gleichzeitig auf. Ich setzte mich hinter ihn und umarmte ihn so. Beide starrten wir wie gebannt nach draußen. Es hatte über Nacht angefangen zu schneien und dicke Flocken segelten auf die Erde nieder oder blieben auf den Ästen der Bäume vor dem Fenster liegen.
»Du?«, raunte ich ihm ins Ohr.
»Ja?«
»Ich habe doch noch ein Geschenk für dich.«
Er drehte seinen Kopf nach hinten und sah mich entsetzt an.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Aber ich will kein Geschenk außer dich.«
»Naja sagen wir so. Es ist ein Geschenk für uns beide.«
Wieder dieses breite Fragezeichen direkt auf seinem Gesicht.
»Meine Mom hat mir vorhin noch gesagt, dass du jeder Zeit bei uns willkommen bist. Egal wie lange du auch bleibst. Und das habe ich als Angebot angenommen.«
Das Fragezeichen auf Bastians Gesicht wurde nicht kleiner.
»Ich möchte einfach, dass du morgen oder besser gesagt heute. Ist ja schon nach Mitternacht. Also das du heute mit mir nach Hamburg kommst und bei mir einziehst, bis wir eine endgültige Lösung für dein Problem mit Wohnung und Schule etc. gefunden haben.
Denn ich möchte dich nicht noch mal verlieren. Und schon gar nicht an die Straße.
Dafür liebe ich dich zu sehr.»
In Bastians Kopf machte es Klick und mit dem Klick standen wieder Tränen in seinen Augen.
»Ich weiß ... ich weiß gar nicht was ich dazu sagen soll«, schluchzte er.
»Nimm einfach an. Nimm an. Denn ich will dich nicht noch einmal loslassen.«
»Luke, du bist das Beste, was mir je über den Weg gelaufen ist. Ja ich komme mit nach Hamburg. Ich liebe dich.«
Und wieder fanden sich unsere Münder zu einem endlos langen und intensiven Kuss, wie ich ihn noch nie bei jemand anderem verspürt hatte. Jetzt wusste ich, was es heißt zu lieben und geliebt zu werden. Jetzt wusste ich, was ich die ganzen Jahre vermisst hatte.
Und nach Jahren war es das erst mal, dass es für ihn so etwas wie Weihnachten wieder gab.
So, das war jetzt meine erste Kurzgeschichte zu Weihnachten. Ich hoffe, es hat euch gefallen und es geht ja mit den Fortsetzungen der anderen Geschichten weiter.
Bis denne.
bye bye
Chris
PS: Allen ein wunderschönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins Jahr 2002. Uns wird auch nächstes Jahr viel erwarten.
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