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Am anderen Ende der Welt
Teil 2
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Informationen
- Story: Am anderen Ende der Welt
- Autor: Christian S.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Abenteuer, Lovestory
Vorwort
Was lange währt ... ob es nun wirklich gut geworden ist, entscheidet letztendlich ihr, mir gefällt es aber! Bei Euch allen, die ihr tapfer auf diesen zweiten Teil gewartet habt, möchte ich mich entschuldigen, dass es so lange gedauert hat. Es gibt leider Irrungen und Wirrungen im Leben, die manchmal dafür sorgen, dass man nicht immer alles so auf die Reihe bringt, wie man es selber gerne möchte.
Danke all denen, die mich durch ihr Feedback zum Weiterschreiben motiviert haben. Auch wenn ich es leider nicht geschafft habe, allen zu antworten (ich gebe mir aber größte Mühe) - nehmt es bitte nicht persönlich.
Über Feedback freue ich mich natürlich auch weiterhin und verspreche, nichts unversucht zu lassen, jedem zu antworten.
Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle dem Tommilein (Gruß auf die Poseidon), dem Neleschatz (für die konstruktive Kritik) und - last but not least - Catha für's finale Korrekturlesen (viel Erfolg bei der Diplomarbeit).
Was Copyright, Altersbeschränkung und Ursprung dieser Story anbelangt: Es gilt der hier übliche Disclaimer.
Genug der Vorrede, viel Spaß mit dem 2. Teil.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagelegen habe, doch irgendwann kam die leicht naive Susi zu mir ins Netz geklettert. Ich nahm das alles nur halb wahr, plötzlich lag sie einfach neben mir.
»Ach wie schön, dass ich dich mal alleine erwische«, plapperte sie drauflos. »Sag mal, du bist doch mit Tjorben befreundet, oder? Ihr versteht euch doch so gut, oder? Also, ich wollte mal fragen ... nun ja, ich find ihn zumindest total süüüß und würde gerne ... na du weißt schon. Und da wollte ich mal fragen, ob du nicht mal unauffällig herausbekommen kannst, ob er mich auch mag oder so. Würdest du das für mich tun?«
In diesem Augenblick machte es bei mir Klick und ich realisierte, warum Tjorben plötzlich abgehauen war. Tja liebe Susi, ich fürchte, du hast ganz schlechte Karten bei Tjorben, dachte ich noch, sprang dann auf und kletterte zurück an Deck.
»Hey, was ist los? Wo willst du hin? Und, hilfst du mir? Kriegst du es raus?«, rief Susi mir hinterher.
»Sorry«, antwortete ich ihr noch knapp. »Aber mir ist grad was dringendes eingefallen!«
»Aber was ...?«, fragte sie noch, ich bekam es aber nur noch halb mit und lief Richtung Niedergang.
Auf der Treppe stieß ich mit Falk zusammen.
»Hey, nicht so stürmisch. Wart mal«, sagte er.
»Was ist los?«
»Hast du eine Ahnung, was plötzlich mit Tjorben los ist?«, fragte er.
»Ja, ich denke schon. Ich will grade versuchen, es in Ordnung bringen.«
»Achso. Dann mach mal. Und Chris ...«
»Ja?«
»Viel Glück.« Falk grinste frech.
Als ich in unsere Kammer kam, zitterte ich am ganzen Körper, ich war völlig nervös, Schmetterlinge im Bauch. Hatte ich die Situation nun wirklich richtig interpretiert? Tjorben lag auf seiner Koje, hatte das Gesicht in seinem Kissen vergraben und weinte. Ich setzte mich zu ihm und strich ihm durchs Haar.
»Tjorben, ich...«, stammelte ich.
Er drehte sich zu mir um und stieß meine Hände von sich weg. Ein wenig konsterniert blickte ich ihn an.
»Was ...?«
»Chris, bitte lass mich alleine. Das hier muss ich selber klarkriegen.« Das lief ja überhaupt nicht so, wie ich mir das gedacht hatte.
»Aber ... Mann, Tjorben ... ich ...«
»Bitte geh. Ich will allein sein«, erwiderte er bestimmt. Ich blickte in seine Augen. Sie waren leer und kalt. In mir stiegen mal wieder die Tränen hoch.
Nachdem ich ihn noch einen Moment wie paralysiert angestarrt hatte, stand ich schließlich auf, verließ die Kammer und sank im Gang weinend vor der Tür zusammen. Was, verdammt, was war denn jetzt falsch gelaufen? Hatte ich die Lage dermaßen falsch eingeschätzt? Hatte ich alle Anzeichen falsch gedeutet und mir aus einer Wunschvorstellung heraus alles nur eingeredet?
Ich saß bestimmt eine halbe Stunde so vor unserer Kammertür, bevor ich in den Waschraum ging, um mir einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht zu schmeißen. War wohl auch nötig, denn mein Spiegelbild sah übel aus. Als ich mich wieder einigermaßen menschlich fühlte, begab ich mich an Deck. Die Mädchen hatten grade Wache und Susi stand am Ruder. War mir ganz recht, so war sie beschäftigt und konnte mir nicht gleich wieder mit ihrer Fragerei auf die Nerven gehen. Sollte sie Tjorben doch selber ansprechen. Vielleicht hatte sie Chancen bei ihm, im Gegensatz zu mir. Soweit ich das beurteilen konnte, war sie schließlich auch recht hübsch. Ihr schulterlanges, leicht gewelltes, dunkelbraunes Haar wehte ihr um ihre Stupsnase. An Oberweite hatte sie auch nicht zu wenig abbekommen, allerdings konnte ich daran nun mal nichts finden. Wenn Tjorben auf naive Mädels stand, bitte, denn das war sie auf jeden Fall. Nicht blöd, aber naiv.
Ich schob den Gedanken beiseite, ich musste den Kopf wieder klar bekommen. Schließlich war es nicht mein primäres Ziel auf diesem Trip zur Heulsuse zu mutieren. Also mal eben die Erwartungen neu definieren. Die ganze Reise Trübsal blasen wollte ich auf keinen Fall, das hätte ich zuhause genauso gut gekonnt. Das größte Problem war einfach, dass Tjorbens Nähe für mich fast unerträglich wurde. Aus dem Weg gehen konnte ich ihm hier schließlich schlecht. Am Horizont tauchte ein großes Schiff auf. Wo deren Reise wohl hinging? Gab es dort an Bord auch Menschen mit ähnlichen Sorgen wie ich sie hatte?
Einige Zeit später war das andere Schiff wieder hinter dem Horizont verschwunden und mir ging es langsam besser. Susi war von Steffi am Ruder abgelöst worden und lag nun im Bikini an Deck und sonnte sich. Die Situation erschien mir günstig, also ging ich zu ihr, um kurz was klarzustellen.
»Hey, darf ich stören?«, fragte ich vorsichtig an.
Sie drehte sich um, hielt sich die Hand auf die Stirn und sah grinsend zu mir auf: »Klar doch. Hast du was herausbekommen?«
»Genau darum geht es.« Ich setzte mich neben sie. »Nimm es mir nicht übel, aber ich denke, das solltest du besser selber mit Tjorben klären.«
Ich erntete einen verständnislosen Blick: »Was soll das denn jetzt?«
»Hey, du brauchst nicht gleich patzig zu werden«, gab ich zurück. »Ich bin nur davon überzeugt, dass du bessere Chancen bei ihm hast, wenn du das selber in die Hand nimmst. Das sieht doch blöd aus, wenn ich ihn frage, meinst du nicht?«
Sie begann zu grübeln. »Hmm, vielleicht hast du recht. Aber was meinst du denn, habe ich denn eine Chance? Er ist so verdammt süß!« Wie verdammt recht sie damit hatte. Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken.
»Ich weiß leider wirklich nicht«, antwortete ich.
»Ich dachte, ihr wärt so gut befreundet?«
»Ich kenne ihn doch auch erst, seit wir in Auckland an Bord gekommen sind.«
»Verstehe ... also gut ich werde es mal irgendwie versuchen, an ihn heranzukommen. Wünsch mir Glück!«
»Das tue ich«, log ich und lächelte sie an. Wenn ich ihn schon nicht haben konnte, sollte sie ihn erst recht nicht bekommen. Sie umarmte mich daraufhin und gab mir einen Schmatzer auf die Wange.
»Du bist lieb«, fügte sie noch hinzu. Naja.
Etwas perplex stand ich auf und suchte mir ein ruhiges Plätzchen an Deck, um weiter in Ruhe meinen eigenen Gedanken nachhängen zu können.
Die Denkpause tat gut und so ging es mir nach dem Abendessen zum Wachbeginn wieder gut. Ich wollte von der Reise was mitnehmen, also sollte ich es in Angriff nehmen. Lernen vom Skipper und die See genießen. Verdrängungstaktik funktionierte bei mir schon immer ganz gut. Die Frage war nur, für wie lange.
Tjorben ließ sich freundlicherweise nicht beim Abendessen blicken, nur Falk schaute mich die ganze Zeit ein wenig merkwürdig an, sagte jedoch nichts.
Ich war der Erste von unserer Wachbesatzung, der an Deck erschien. Mein erster Blick fiel auf Nathalie, die verzweifelt mit dem Ruder kämpfte. Auf ein Kopfnicken des Skippers hin ging ich zu ihr, um sie abzulösen.
»3 - 4 - 8 . Und pass auf, dass die Fock nicht einfällt«, sagte er.
»3 - 4 - 8«, wiederholte ich und nickte als Benjamin, Falk und Tjorben an Deck kamen. Schlagartig wurde mir wieder anders.
»Ah, da seid Ihr ja. Mädels, ich wünsche euch eine gute Ruhe. Falk und Tjorben gehen nach vorne Ausguck halten.« Kurze und knappe Anweisungen des Skippers. Tjorben schaute mich an, doch ich schluckte nur kurz und drehte mich weg, um auf den Kompass zu starren. Ausnahmsweise war ich glücklich darüber, mit Benjamin alleine zu sein. Ich musste ja schließlich keine Konversation mit ihm betreiben.
Benjamin gab auch kein Wort von sich, bis er mich nach einer Stunde ablöste. Nachdem ich das Ruder aus der Hand gegeben hatte, begann ich, den Skipper ein wenig mit Fragen zu löchern, was mir ein paar neue Navigationskenntnisse einbrachte. Nachdem ich unsere Position in die Seekarte eingezeichnet hatte, ermittelte ich, dass wir noch etwa 500 Meilen bis Neu Kaledonien hatten. Es würde also noch etwa 3 Tage dauern, bis wir wieder Land in Sicht hätten. Nebenbei erfuhr ich dann auch mal, wo Neu Kaledonien überhaupt liegt. So grob gesagt 1000 Meilen östlich von Australien auf Höhe des südlichen Wendekreises.
8
Die nächsten Tage machte ich so weiter. Ich ging Tjorben, so gut es denn auf dem begrenzten Raum möglich war, aus dem Weg und sprach nur das Nötigste mit ihm. Falk ließ das Thema auch soweit ruhen und wir gingen ganz normal miteinander um. Ich seilte mich sowieso größtenteils von allen ab und hielt mich viel beim Skipper auf. Dort lernte eine ganze Menge über die Navigation und begann sogar mit dem Sextanten zu arbeiten. Ich bildete mir ein - trotz der depressiven Musik, die ich mir allabendlich über Kopfhörer zuführte - mit mir und der Welt im reinen zu sein und merkte daher auch absolut nicht, wie Tjorben unter meinem beschissenen Verhalten litt.
Dann hatten wir endlich Land in Sicht. Neu Kaledonien. Die Aussicht auf Landgang ließ die Stimmung der gesamten Besatzung, insbesondere meine, ansteigen.
Als die Capella die Riffaussenkante passierte, stand ich vorne und hielt Ausguck. Majestätisch brach sich die lange Pazifikdünung am Riff und wir erreichten ruhiges Wasser. An Steuerbord lag die erste kleine grüne Insel, gesäumt von weißem Sandstrand und einem weißen Leuchtturm in der Mitte. Das Wasser um die Insel herum war türkisblau und glasklar. Solche Bilder kannte ich bis dato nur aus dem Fernsehen, unwillkürlich dachte ich an einen Werbespot für weiße Kokospralinen.
Am Horizont erhob sich die Hauptinsel steil aus dem Wasser und wir kamen an weiteren kleinen Inseln vorbei. Ich beobachtete fasziniert das Farbenspiel des Wassers - von türkis bis dunkelblau - und nahm mir vor, auf jeden Fall eine Runde schnorcheln zu gehen.
»Paradiesisch, oder?« Falk stand schon eine ganze Zeit hinter mir, doch ich war zu sehr mit der Umgebung beschäftigt, um ihn früher zu bemerken.
»Ja, ein Traum«, erwiderte ich noch immer fasziniert. Wir schwiegen wieder einen Moment. Ich genoss den Augenblick, ein leichter Hauch von feuchter Erde, Harz und frischem Grün wehte mir in die Nase. Es roch nach Land.
Dann fasste Falk mir von hinten auf die Schulter: »Du solltest dringend mit Tjorben reden.«
Das brachte mich aus der Fassung. Dennoch drehte ich mich nicht um.
»Und worüber?«, fragte ich und versuchte, dabei möglichst gelangweilt zu klingen, während ich weiterhin geradeaus starrte. Jetzt nur keine Schwäche zeigen.
»Das solltest du dir doch eigentlich denken können, oder?«
»Und warum kommt er dann nicht selber zu mir und schickt stattdessen dich vor?«
Falk packte mich etwas fester und drehte mich um, dass ich in sein Gesicht sehen musste. Ein Anflug von Wut lag in seinen Augen.
»Du bist ein Arsch. Du hast ihn doch die letzten Tage völlig ignoriert.« Meine Fassade bröckelte, er hatte recht.
Ich nickte: »Ich weiß, ich konnte einfach nicht anders.«
»Und warum?«, bohrte Falk nach.
Letzter Versuch, meine Mauer zu halten: Ich wurde aggressiv: »Mein Problem.«
»Du machst es dir verdammt einfach!«
Ich dachte einen Moment über Falks Worte und setzte erneut an, allerdings eine Spur zu aggressiv, wie ich im nachhinein fand: »OK, es ist, weil ich mich in ihn verliebt habe, dachte, er würde ähnlich für mich fühlen, ich mich aber geirrt habe und er hat mich abserviert. Er ist halt eine Hete oder weiß nicht was er will oder ... ich weiß es auch nicht. Scheiße, es tut einfach weh. Zufrieden?« Jetzt war eh alles egal.
Falk schüttelte ein wenig resigniert den Kopf. »Du meinst also, es geht hier nur um dich. Ich kann dich zwar ein wenig verstehen, aber du bist auf dem Holzweg. Also: denk mal nicht nur an dich und klär das! Bald!« Ich konnte seinem bohrenden Blick nicht standhalten, drehte mich weg. Er klopfte mir leicht auf die Schulter und sprach weiter:
»Bist du ernsthaft der Ansicht, mit dieser Einzelgängernummer, die du hier grade abziehst, bist du besser dran?«
Ja, zu dieser Zeit war ich da fest von überzeugt. So musste ich wenigstens nicht weiter über mich und mein Verhältnis zu anderen Menschen nachdenken. Mich mochte keiner und ich mochte keinen. So einfach war das. Ich nickte.
»Achja?«, hob Falk, der mit wohl mit einer anderen Antwort gerechnet hatte, mit nun leicht zynischer Stimme an. »Und weil du dich als Einsiedler so wohl fühlst, setzt dir die Sache mit Tjorben so zu?«
Scheiße, er hatte recht. Dennoch schwieg ich und ließ ihn weiterreden.
»Und erzähl mir nicht, du bist nicht gerne unter Menschen. So wie ich dich kennen gelernt habe ... Also: Hör auf, vor dir selbst wegzulaufen. Und auch wenn Tjorben nicht dasselbe für dich empfinden sollte: Die Welt dreht sich trotzdem weiter.«
Ohje, nun diese tollen Weisheiten: Omma sacht imma: Jung, dat Leben geht trotzdem weita! Aber vielleicht hatte Omma ja recht? Diese Option sollte ich mal ernsthaft in Betracht ziehen. Ich drehte mich zu Falk um und schaute ihn an:
»OK, du hast gewonnen.«
»Hey, du raffst es anscheinend immer noch nicht. Es geht nicht darum, ob ich gewinne oder nicht. Tu es um deiner selbst Willen. Ich will dir nur helfen.«
»Hmm.. ok. Aber warum tust du das alles, obwohl mein Benehmen so daneben war?« Es gibt Situationen, da sollte ich besser die Schnauze halten. Und das war grade wieder eine dieser Situationen. Jetzt schien Falk echt sauer zu sein.
»Sag mal merkst du noch was? Entweder bist du so bekloppt, dass du es nicht verstehen kannst oder du bist so ein Riesenarschloch, dass du es nicht verstehen willst!«
Ich schrumpfte auf der Stelle zusammen, Falk wandte sich ab und wollte gehen.
»Falk, es tut mir leid.« Gab ich leise von mir. Dieser blieb stehen.
»Bitte?« Er schaute mich erwartungsvoll an.
»Ich sagte: Es tut mir leid!« Diesmal ein Stück lauter.
»Entschuldigung akzeptiert. Aber warum machst du es so kompliziert?«
»Weil das alles so neu für mich ist.«
»Was ist neu für dich? Noch nie zuvor verliebt gewesen?«
»Doch, das schon. Aber ich hatte noch nie einen so verdammt guten Freund wie dich.«
9
Wir passierten noch viele weitere von diesen traumhaften kleinen Inselchen, alle gesäumt von kleinen Korallenriffen in türkisblauem Wasser, bevor wir 2 Stunden später in Nouméa festmachten. Kaum einer konnte es noch erwarten, endlich an Land zu kommen. Dustin, Sandra und Nathalie wollten sofort loslaufen, doch der Skipper hielt sie auf: »Moment noch, jetzt wird erstmal gemeinsam Proviant besorgt.« Die drei zogen lange Gesichter und begannen sofort zu stänkern. Insbesondere Nathalie und Sandra waren sich zu schade, Kisten zu schleppen. Es half jedoch nichts, wir zogen alle gemeinsam los zum Einkaufen in die Stadt.
Neu Kaledonien ist - wenn ich das jetzt wirklich richtig verstanden habe - französisches Überseeterritorium (Anm. des Autors: Sollte es jemand besser wissen, wäre ich für eine kurze Info dankbar). Das Referendum zur Unabhängigkeit wurde bis heute, vermutlich aus Furcht vor dem Ergebnis, von der französischen Regierung immer wieder verschoben. Allerdings ist hier, im Gegensatz zu den karibischen Kolonien, der Euro nicht eingeführt worden, die offizielle Währung sind Neu Kaledonische Francs.
Die Stadt war in sich faszinierend gegensätzlich. In einem Moment fühlte man sich wie in Südfrankreich, Marseille beispielsweise, denn es gab hier all das, was ich aus Frankreich kannte, angefangen von der »Crédit Agricole« über den »Supermarché Champion« bis hin zum »Café de Paris«. Der Baustil der Stadt war dem der moderneren Teile der südfranzösischen Städte ebenfalls sehr ähnlich. Die Menschen waren jedoch, bis auf die Minderheit europäischer Herkunft, polynesischen Ursprungs, was sich auch im Warenangebot auf dem Markt widerspiegelte.
So waren wir anfangs auch ein wenig verwirrt bei dem, was wir im Angebot sahen, noch nie zuvor hatte ich so große Papayas gesehen. Der Skipper kannte sich jedoch hervorragend aus und so kehrten wir schließlich beladen mit Melonen, Ananas, Bananen, jungen Kokosnüssen, den verschiedensten Gemüsesorten und reichlich frischem Fisch von der ersten Einkaufsrunde an Bord zurück. Die zweite Runde führte uns in einen Supermarkt, der wiederum ein hauptsächlich europäisches Sortiment hatte, was einigen Skeptikern auch ganz recht zu sein schien.
Obwohl wir alle von der Schlepperei ziemlich erledigt waren, nahmen wir die Gelegenheit, Nouméa auf eigene Faust zu erkunden, wahr. Ich zog alleine los, mit dem primären Ziel, ein Telefon und ein Internetcafé aufzutreiben. Die Souvenirshops, an denen ich während der Suche vorbeikam, hatten hauptsächlich - sehr farbenprächtige, kimonoähnliche - polynesische Kleidung im Sortiment. Der Muschelkitsch, der dazwischen zu finden war, schockierte mich ein wenig, hieß es doch, Neu Kaledonien sei vom Tourismus bisher weitestgehend verschont geblieben. Ob das nun an mangelnder Werbung oder an der Preisgestaltung hing, sei mal dahingestellt.
Aufgrund der doch schwer hohen Preise und des doch etwas eingeschränkten Angebotes fiel es mir nicht sonderlich schwer, auf größere Souvenireinkäufe zu verzichten und mich auf ein paar Postkarten zu beschränken. So lief ich weiter durch die Stadt, genoss die vielen Menschen um mich herum. Nach der Zeit auf See, wo ich jeden Tag nur das Gleiche sah, nahm ich die Gerüche und Eindrücke viel intensiver wahr und sog alles in mich auf. Schließlich wurde ich auch fündig, was Telefon und Internet betraf. Meine Eltern freuten sich, meine Stimme zu hören und ich erzählte ihnen kurz und knapp das Wichtigste. Danach schnell ein paar Emails geschrieben und schon war ich auf dem Weg zurück zum Schiff. Ich war müde und wollte in die Koje.
Tjorben und Falk saßen noch an Deck, doch als ich an Bord kletterte, stand Falk auf und ging. Ich riss mich zusammen und ging zu Tjorben. Ich hatte gute Laune, also war es Zeit, die Dinge zu klären.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte ich. Er nickte nur stumm und starrte weiter auf die Bierflasche, die vor ihm stand.
Nachdem wir uns eine Weile angeschwiegen hatten, ergriff ich, auf meine unnachahmlich kreative Weise, die Initiative.
»Können wir reden?«
»Oh, der Herr spricht wieder mit mir?«, antwortete Tjorben ohne dabei den Kopf zu heben. Einerseits konnte ich ihm seinen Zynismus nicht verübeln, andererseits ärgerte er mich.
Wir schwiegen uns einige Minuten lang an, bis ich endlich die Kraft gefunden hatte, das los zu werden, was ich los werden musste.
»Es tut mir leid, aber es hat zu sehr weh getan.«, sagte ich schlicht und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich erntete einen merkwürdigen, leicht vorwurfsvollen Blick. Dieser Blick machte mich wütend und schüchterte mich zugleich ein. Sollte ich alles auf eine Karte setzen? Ich war mir in diesem Moment gar nicht mehr sicher. Ich hatte Angst, Tjorben die volle Wahrheit zu sagen. Aber ich hatte doch bereits begonnen.
Schließlich siegte doch der Ärger in mir, ich setzte alles auf eine Karte, während Tjorben noch immer so merkwürdig schaute.
Ungewöhnlich gefasst, für meine Verhältnisse, begann ich abermals das Schweigen zu durchbrechen: »Also gut, Fakten auf den Tisch, kurz und schmerzlos: Ich habe mich in dich verliebt und habe aufgrund der Ereignisse hier an Bord gedacht, du würdest ähnlich für mich empfinden.«
Tjorben schluckte und hob an, etwas zu sagen, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen und sprach weiter: »Doch stattdessen habe ich mich getäuscht, nachdem du mich - relativ grob - rausgeworfen hattest, als ich für dich da sein wollte, ist mir klar geworden, dass ich auf dem Holzweg bin. Ja, ich weiß, alleine der Gedanke war schwachsinnig. Es ist nun mal so, ich muss wohl damit klarkommen, aber es tut halt weh.« Ich spürte langsam wieder Tränen aufsteigen und versuchte noch, das Schluchzen zu unterdrücken. »Ja, ich hab mich wie das letzte Arschloch benommen. Scheiße, ich komm damit halt nicht klar, deshalb bin ich dir aus dem Weg gegangen. So, das wars.«
Ich drehte mich von ihm weg, ich wollte nicht schon wieder Schwäche zeigen.
»OK, jetzt bin ich dran.« OK, wenn du meinst, dachte ich, leg los. Ist eh egal.
»Es geht in dieser Geschichte nicht nur um dich. Mir geht es wie dir.« Nun war es an mir, ihn fragend anzusehen.
»Nun guck nicht wie ein Düsenjäger. Du weißt genau, was ich meine. Oder bist du zu blöde, so was zu merken?« Irgendwo hatte ich so einen Spruch vor kurzem schon mal gehört. Er fuhr fort: »Meinst du allen Ernstes, ich hätte mir sonst von dir das Zäpfchen ...« Er beendete den Satz nicht. Im Licht der Natriumdampflampen an der Pier konnte ich es nicht erkennen, aber ich malte mir aus, wie er langsam rot wurde. Umwerfend!
»Aber warum ...?«, versuchte ich zu fragen, doch er unterbrach mich sofort.
»Ich hatte meine Gründe. Ich sagte bereits, es geht nicht nur um dich. Aber deine Reaktion war völlig daneben.«
Seine Stimme war fest, überzeugend. Ich verstand noch weniger als vorher, machte einen auf reuigen Sünder und starrte auf die Decksbeplankung. Nach einem Moment rutschte er an mich heran und legte seinen Arm um meine Schulter.
»Es tut mir leid«, sagte er, »dass ich dir weh getan habe. Aber es wurde mir einfach zu viel, verstehst du?«
»Nein, kein Wort«, antwortete ich.
»Ich will es mal so erklären: Es gibt da Gründe, die mich davon abhalten, mich an dich zu binden. Auch, wenn ich es sehr gerne würde.« Himmel, konnte er nicht endlich auf den Punkt kommen? Ich verstand noch immer nichts und wurde langsam wieder sauer.
»Und was? Bitte komm endlich zur Sache. Oder macht es dir Spaß, mich hier zu verarschen?« Es fiel mir schwer, mich nicht wieder im Ton zu vergreifen.
»Warte hier, ich bin sofort wieder zurück.« Er stand auf und verschwand unter Deck. Ich resignierte, hatte langsam keinen Bock mehr auf diesen Mist. Vielleicht wäre ich alleine doch besser dran?
Nach zwei Minuten - ich war drauf und dran einfach zu gehen - tauchte Tjorben wieder auf und drückte mir eine Flasche Bier in die Hand.
»Prost!«, sagte er, stieß seine Flasche gegen meine und nahm einen Schluck. Daraufhin griff er in seine Hosentasche, holte ein Foto heraus und hielt es mir unter die Nase. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich in der schlechten Beleuchtung etwas erkannte.
»Falk«, sagte ich. »Warum zeigst du mir jetzt ein Foto von Falk?«
»Das ist nicht Falk, das ist Mark.«
»Ääääh.... was jetzt?«
»Mark war Falks Zwillingsbruder.«
»Wieso war?«
»Er ist tot.« Tjorben versuchte abgeklärt zu klingen, es misslang jedoch.
»Aber ... aber was hat das jetzt damit zu tun?« Ich war schockiert und hatte plötzlich eine gewisse Vorstellung, die mir allerdings nicht gefiel.
»Mark und ich waren 2 Jahre lang zusammen.« Stille, Tjorben rang mit sich. Dann fuhr er, ein wenig gefasster, fort: »Es war alles perfekt. Einfach alles. Bis kurz vor Weihnachten letzten Jahres. Falks Vater war Fischer, wie du sicherlich mittlerweile mitbekommen hast. Fischer haben heutzutage einen Scheißjob, es kommt nicht mehr viel rum. Fangquoten, Überfischung und so weiter. Bei Falks Eltern reichte es so grade eben zum Überleben. Sie brauchten jeden Pfennig.
Deshalb wollte Falks Vater 2 Tage vor Weihnachten noch mal raus, um noch mal was zu fangen. Ungewöhnliche Zeit, ich weiß, aber es war wohl die pure Verzweiflung, die Falks Vater antrieb. Da sein Matrose schon Urlaub hatte, sollten Falk und Mark mit raus fahren. Das war auch nichts Besonderes, sie fuhren öfter mit. Es waren schon Ferien und Mark bestand darauf, dass ich auch mitkomme.
So fuhren wir früh morgens raus. Das Wetter war nicht besonders, es war windig, kalt und regnerisch. Auch die Wettervorhersage war nicht besonders, aber es war nicht so schlecht, als das es hätte gefährlich werden können. Dachten wir.
Wir waren bereits vier Stunden auf der Nordsee, als es langsam immer mehr aufbrieste. Falks Vater beschloss zurückzufahren. Doch kurz nachdem wir den Kurs Richtung Hafen geändert hatten, fiel die Maschine aus. Der Wind hatte stark zugenommen, mittlerweile hatten wir Windstärke 11. Mark und sein Vater kletterten in den Maschinenraum, um nachzusehen, was los war. Die Seekühlwasserleitung war gebrochen und es lief Wasser in den Maschinenraum. Eine Kleinigkeit, rief Mark noch von unten hoch. Das waren die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe.»
Er hielt einen Moment inne, nahm einen Schluck aus seiner Flasche und bat mich um eine Zigarette. Nachdem er sie angezündet hatte, fuhr er fort:
»Die Wellen wurden immer höher, wir schlugen quer zur See und trieben ziemlich schnell auf eine gefährliche Sandbank zu. Es bestand zwar keine Gefahr, dort auf Grund zu laufen, doch auf Sandbänken bauen sich besonders gefährliche Wellen auf.
Dann versagte die Lenzpumpe, wir konnten also das Wasser nicht mehr aus dem Maschinenraum herauspumpen, Mark und sein Vater bekamen das Leck in der Leitung nicht in Griff, so lief das Wasser nun immer kräftiger herein. Von Minute zu Minute brauchte der kleine Kutter länger, um sich nach jeder Welle wieder aufzurichten.
Ich wollte grade nach unten gehen und nachsehen, ob die beiden da unten noch Hilfe brauchen, als Falk mich am Kragen fasste und zur Reling zog. Eine große Welle rollte auf uns zu. Eine dunkle Wasserwand, von Schaumkronen bedeckt. Ich bekam es mit der Angst zu tun doch Falk schrie nur: spring! Und sprang über Bord. Im nächsten Moment erfasste diese riesige Welle das kleine Schiff und drehte es um als wäre es Spielzeug. Ich wurde unter Wasser gedrückt, konnte mich aber zur Wasseroberfläche durchkämpfen. Es war verdammt kalt. Falk und ich retteten uns auf den Rumpf des gekenterten Kutters. Doch Mark und sein Vater hatten keine Chance. Sie waren unter Wasser im Maschinenraum gefangen.»
Tjorbens Hände zitterten, nervös zog er an seiner Zigarette. Sein Husten bei jedem Zug verriet, dass er wohl nicht oft rauchte.
»Dann saßen wir da auf dem Rumpf, klitschnass und frierend. Wir hatten Glück, ein anderer Fischer hat uns nach einer Stunde durch Zufall gefunden, einen Notruf hatten wir nicht mehr absetzen können. Aber diese Stunde, ...«
Er brach den Satz ab, seine Augen füllten sich mit Tränen. Ich nahm seine Hand.
»Diese Stunde«, schluchzte er, »das war die schlimmste Stunde in meinem Leben. Wir saßen da und hörten noch eine ganze Zeit lang verzweifelte Schläge und Schreie durch den Rumpf. Ich ... ich ... war nur wenige Zentimeter von Mark entfernt, während er ertrank, doch ich konnte ihm nicht helfen. Verdammt, er fehlt mir so.«
Tjorben brach zusammen. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und begann wie ein kleines Kind zu heulen. Ich nahm ihn in die Arme und wollte ihn trösten, doch mir fehlten die Worte. So saßen wir einfach da, er hielt sich verkrampf an mir fest, seinen Kopf an meine Brust gedrückt und ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Eine ganze Weile später bekam er sich langsam wieder in den Griff und löste sich und ergriff nach einem tiefen Zug aus seiner Bierflasche wieder das Wort:
»So, nun weißt du, was dahinter steckt.«
Ich schwieg, nahm auch einen Schluck von meinem Bier. Mir fehlten noch immer die passenden Worte, außerdem fühlte ich mich mies. Ich war echt ein egoistisches Arschloch. Allerdings verstand ich noch immer nicht genau, wie das jetzt genau mit uns beiden zusammenhing, im Moment war mir das aber auch nicht mehr wichtig.
Die Ruhe wurde gestört, es wurde laut auf der Pier, hörbar gackernd kehrten die Mädchen wieder von Land zurück. Steffi und Nathalie hatten Sandra in die Mitte genommen und hielten sie fest, denn selber konnte sie sich anscheinend nur noch auf allen Vieren fortbewegen. Susi taumelte in Schlangenlinien hinterher. Anscheinend hatten die Vier einen netten Abend gehabt.
Tjorben und ich standen auf und halfen ihnen, an Bord zu klettern. Doch kaum hatten wir Sandra an Bord gezogen, fiel sie mir um den Hals.
»Hey duuuu Sssueessser«, lallte sie, »kommssu noch mit ssuu mir?«
Ihr Parfum war penetrant süß und ihr Atem roch penetrant nach Feigling. Außerdem hatte sie wieder viel zu viel Make-up im Gesicht.
Sie versuchte mich zu küssen, doch ich drückte sie von mir.
»Was bissen du für einer? Bissu verklemmt oawass?«, schrie sie daraufhin.
»Ich bringe dich besser runter in die Koje«, sagte ich nur.
»Ich willaba nonnich schlafen«, lallte sie weiter, riss sich los und stolperte Tjorben in die Arme. »Du kommsochnoch mit, dddu Schnuckel?«, hauchte sie ihn an und kniff ihm in den Hintern. Er verzog das Gesicht und versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien.
»Komm Sandra, du solltest wirklich ...«, meldete sich Steffi und griff nach Sandras Arm. Doch Sandra schrie nur: »Lammich in Ruhe, Schlampe!« und landete ihre Faust in Steffis Gesicht. In diesem Moment gelang es Tjorben, sich aus Sandras Umklammerung zu lösen. Sandra taumelte daraufhin einen Moment und schlug dann der Länge nach aufs Deck. Steffi hielt sich total perplex die Wange, Susi starrte wie paralysiert den Mast an und Nathalie stand hilflos daneben.
Ich beugte mich zu Sandra hinunter um nachzusehen, ob ihr was passiert ist. Es schien soweit alles in Ordnung, sie murmelte noch immer das Wort »Schlampe« vor sich hin.
»Hilf mir mal!«, bat ich Tjorben und wir halfen Sandra wieder auf die Beine. Ich wollte Steffi grade darum bitten, die Kammer der Mädchen aufzuschließen, als Sandra sich entschied, ihren teuer erworbenen Mageninhalt an Deck zu verteilen.
Steffi schaltete sofort. Sie wies Nathalie an, die Kammer aufzuschließen und verschwand um Pütts und Leuwagen zu holen.
Tjorben und ich trugen Sandra runter, ihre Gegenwehr hatte sie nun aufgegeben, und legten sie in ihre Koje. Auf dem Gang drückte ich Nathalie dann noch einen Eimer für Sandra in die Hand und kletterte wieder an Deck, wo Steffi grade dabei war, die Reste des Abends in das Hafenbecken zu spülen.
Ich komme mit Kotze nicht wirklich gut klar, mir wurde nun langsam flau im Magen. So suchte ich mir eine trockene Stelle, setzte mich wieder hin und atmete tief durch. Was für eine Vorstellung, dachte ich mir, als sich von hinten zwei Arme um meinen Oberkörper wanden und ich einen Kuss in meinem Nacken spürte.
»Danke für die Hilfe, das war echt lieb von dir«, hauchte Steffi in mein Ohr. Ich drehte mich um und lächelte: »Kein Problem, der liebe Alkohol.«
Sie ließ sich neben mir nieder und fasste mit ihrer Hand an mein Gesicht.
»Nach DER Show, die Sandra grade mit dir abgezogen hat, war das aber keine Selbstverständlichkeit«, sagte sie und begann mit leicht verklärtem Blick meine Wange zu streicheln. Auf einmal realisierte ich, dass ich dabei war, die Kontrolle über die Situation zu verlieren.
»Ist schon OK«, sagte ich, griff vorsichtig nach ihrem Handgelenk und drückte ihre Hand beiseite.
Enttäuschung machte sich in ihrem Gesicht breit und ihre grünen Augen erschienen mit einem Mal etwas traurig.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie.
»Nein, alles OK!«, gab ich zurück, doch ihr Blick sagte mir, dass sie mir nicht glaubte. Ich bin anscheinend viel zu leicht zu durchschauen.
»Magst du drüber reden?«
»Danke für das Angebot, aber ich möchte nicht.«
»Schade.« Sie zögerte einen Moment, stand auf und wandte sich mir noch einmal kurz zu: »Aber wenn was ist, kannst du gerne zu mir kommen.«
Ich versuchte zu lächeln. »Danke.«
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und machte sich auf den Weg unter Deck. Im Niedergang stieß sie beinahe mit Tjorben zusammen, der mit zwei frischen Flaschen Bier grade hinaufkletterte.
Tjorben und ich saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander an Deck und tranken das Bier. Keiner von uns beiden fand den Faden zurück zu der Stelle, an der wir vor dem Auftritt der weiblichen Besatzungsmitglieder aufgehört hatten. Ehrlich gesagt war es mir auch ganz recht, für diesen Abend hatte ich genug, was ich zu verarbeiten hatte. Tjorbens Geschichte und meine Fehltritte nebst Konsequenzen. Und zu guter Letzt die Preisfrage: Wie passte Steffi da jetzt hinein?
In dieser Nacht hatte ich fürchterliche Alpträume. Als ich schreiend aufwachte, saß Tjorben bei mir und hielt meine Hand. Dann kroch er zu mir in die Koje und blieb solange, bis ich wieder eingeschlafen war.
10
Der nächste Morgen verhieß einen perfekten Tag, wir hatten Landgang und die Alpträume der vergangenen Nacht waren so gut wie vergessen. So zog ich mit Falk und Tjorben los in Richtung Strand. Da wir absolut keine Ahnung hatten, wie wir denn dorthin gelangen sollten, liefen wir uns bestimmt 3 Stunden lang die Hacken platt und erreichten den Strand erst in der größten Mittagshitze, nachdem wir zwischendurch bereits auf einen großen Eisbecher im ,Café de Paris' eingekehrt waren.
Der Strand lag in einer lang gestreckten, von Klippen gesäumten Bucht, der ,Baie des Citrons'. Ein Gürtel aus Palmen trennte ihn von der parallel verlaufenden und von Kneipen gesäumten Straße ab. Wir waren uns sofort einig, dass wir es dort wohl länger aushalten könnten.
Nach der ersten wilden und erfrischenden Wasserschlacht zog Tjorben es vor, sich in der Sonne zu garen während Falk und ich gemeinsam auf Streifzug durch die faszinierende Unterwasserwelt an den Klippen gingen.
Gegen Abend, als die Sonne zu einem roten Ball geworden und dabei war, langsam am Horizont im Meer zu versinken, beschlossen wir noch auf Streifzug durch die vielen Kneipen auf der anderen Straßenseite jenseits des Strandes zu gehen.
Bereits in der ersten Bar entdeckten wir Rene und Martin an einem Tisch unter den Bastsonnenschirmen sitzen. Es schien ihnen dort sichtlich zu gefallen. Rene hatte seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und saß entspannt zurückgelehnt auf seinem Hocker. Martin schien ein wenig zu viel Sonne abbekommen zu haben, sein rundliches Gesicht war krebsrot, es schien ihn allerdings nicht weiter zu stören, denn auch er trank entspannt an seinem großen Krug. Merkwürdig, dachte ich mir, nun waren wir schon einige Zeit zusammen auf so engem Raum und doch wusste ich noch fast gar nichts über sie. Es mochte an den unterschiedlichen Wachen liegen, vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mich doch nur für mich selbst interessiert hatte. Bei diesem Gedanken fühlte ich mich ein wenig mies.
Sie winkten uns heran, wir setzten uns zu ihnen und bekamen sofort das hausgebraute Bier empfohlen. Souverän bestellte ich: »Cinq pression, s'il vous plaît.«
»Groß oder klein?«, fragte der Kellner daraufhin. Rene und Martin lachten. Meine kleine Kostprobe Schulfranzösisch schien sie zu amüsieren. Wer konnte denn schon ahnen, mitten im Pazifik auf einen deutschen Kellner zu treffen?
Der Abend wurde einfach schön. Ich hatte Gelegenheit, Rene und Martin besser kennen zu lernen und bedauerte, dass es dazu nicht schon viel eher gekommen war. Rene war etwa 1,70 groß und vom Körperbau eher filigran, aber nicht unproportioniert. In seinem feinen Gesicht, das von mehreren Piercings geziert wurde, lagen geheimnisvolle braune Augen. Seine Ansichten waren teilweise etwas wirr und verquer, jedoch meistens nicht unvernünftig.
Martin, ein wenig kleiner noch als Rene und gut im Futter, erschien auf den ersten Blick ein wenig träge. Seine kurzen, rötlichen Haare hatte er zu einem Igel frisiert und auf seiner Stirn glänzten feine Schweißperlen. Bei genauerem Hinsehen jedoch fielen mir seine hellwachen blauen Augen auf. Auf den Kopf gefallen war der Junge nicht.
Wir diskutierten und philosophierten über alles Mögliche, angefangen von Sinn und Unsinn in der Energiepolitik über die Frage, ob Jesus eine Frau war, bis hin zu Darwin. Besonders die Jesus-Frage führte zu erhöhter Heiterkeit, da Rene sich als Atheist herausstellte, während Martin sich als Messdiener outete. Dabei wurde noch das eine oder andere Hausgebraute bestellt, um in den heißen Phasen auch was zum Löschen zu haben. Nachdem wir lautstarker Weise auf den Homo Australopeticus Afarensis angestoßen hatten, setzte ein paar Minuten schweigen ein, bevor Rene abrupt das Thema wechselte:
»Sag mal Tjorben, was ist da eigentlich zwischen dir und Dustin los?«
»Nix, was soll da los sein?« Tjorben zuckte mit den Schultern, Falks Augenbrauen zogen sich in Richtung Nasenwurzel.
»Naja, er erzählte heute morgen, du hättest gestern Abend - ich zitiere - ,seine Ische' angegraben. Und das will er dir jetzt heimzahlen.«
Verwirrter Blick von Falk, besorgter Blick von mir. »Der tickt doch nicht ganz sauber. Sandra war voll bis zum Eichstrich. Chris und ich haben sie in die Koje verfrachtet, nachdem sie das Deck vollgekotzt hat. Noch mehr Details?«
Rene schüttelte den Kopf: »Danke, nein. Es geht mich im Prinzip eh nix an. Interessierte mich nur, warum du jetzt auch auf seiner Abschussliste stehst.«
»Wieso auch?«
»Ich wohl auch, zumindest hat er mir schon zweimal Prügel angedroht. Naja, der Typ ist blöd wie 50m Feldweg. Ich muss ihn ja immer auf Wache ertragen, wo er so gar nichts auf die Reihe bekommt. Baut nur Mist und macht dann dafür noch andere Leute an. Vor drei Tagen wurde es mir zu viel. Er sollte die Fock ein wenig fieren. Aber anstatt der Fockschot macht dieser Grützkopf das Großfall los. Es war kein Druck in den Segeln...«
»...also ist das Groß auch so runtergeklötert«, vollendete Falk kopfschüttelnd den Satz. Zumindest wusste ich jetzt, warum es vor ein paar Tagen nachts so laut an Deck gepoltert hatte. Am darauf folgenden Morgen war der Skipper ein wenig gereizt.
Rene nickte. »Ja, und ich stand drunter. Ich hatte Glück, dass ich die Gaffel nicht abbekommen habe. Aber die absolute Härte war das, was danach kam. Kaum war ich unter dem Segel wieder hervor gekrochen, brüllt er mich an, was ich für eine Scheiße bauen würde. Da ist mir der Kragen geplatzt und ich habe ihm mal gesagt, was ich von ihm halte. Naja, besonders nett war es nicht, was ich gesagt habe, aber ich hielt es für angebracht.«
»Was hast du gesagt?«, wollte Falk wissen.
»Er soll unter die Dusche gehen und die Scheiße aus seinem Kopf spülen und nur wiederkommen, wenn er wenigstens 10 Gramm Gehirnmasse findet. Nun ja, nicht besonders kreativ, aber ich war einfach knacksauer. Jedenfalls hat er daraufhin sofort gedroht, mir bei der nächsten Gelegenheit ,Aufs Maul' zu geben.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir den Kerl beziehungsweise seine Drohungen ernst nehmen sollten oder nicht«, sinnierte Martin.
»Sollten wir besser. Ich befürchte, sein Gewaltpotential gepaart mit seiner Dummheit sind gefährlich. Wir sollten ihn am Besten möglichst in Ruhe lassen«, gab Falk sofort zu bedenken.
»Aber wie?«, warf Rene ein. »Ihr habt es da einfacher, ihr geht nicht zusammen die Wache mit ihm. Aber Martin und ich müssen wortwörtlich mit ihm an einem Strang ziehen.«
»Zusammen kriegen wir das schon in Griff!«, gab sich Falk zuversichtlich und hob sein Glas. Dass Falk das in den Griff bekommen würde, dessen war ich mir auch ziemlich sicher, der Gedanke an so gewisse Vorkommnisse in Auckland am Anfang der Reise überzeugte mich davon. Wir stießen an und betrachteten das Thema als vorerst erledigt.
Irgendwann, spät nachts und noch einige ,Pressions' später, fanden wir dann auch endlich den - wenn auch nicht direkten - Weg zum Schiff zurück.
10
Obwohl wir alle gerne noch ein wenig Zeit in Nouméa verbracht hätten, setzte sich der Skipper durch und wir liefen am nächsten Tag gegen Mittag Richtung Port Vila aus. Glücklicherweise hielten sich die Nachwirkungen der zahlreichen ,Pressions' des vergangenen Abends in Grenzen, so dass wir gutgelaunt die nächsten 3 bis 4 Tage Seereise in Angriff nehmen konnten. Anderen Besatzungsmitgliedern hingegen schien es anders zu gehen. Dustin, Benjamin, Sandra und Nathalie kotzten sich förmlich die Seele aus dem Leib. Seekrankheit konnte in diesem Fall jedoch nicht der Grund sein, denn das Wetter hätte besser nicht sein können, als wir durch weitere Inselchen in Richtung Riffaußenkante segelten. Es wird halt nicht jeder aus Fehlern klug.
Die ganze Mannschaft saß an Deck. Ein Teil aalte sich in der Sonne, Martin, Rene und Kevin hatten Wache und unsere Alkoholleichen kämpften noch immer mit den Nachwirkungen der letzten Nacht. Mir war das - im Gegensatz zum Skipper, der aufgrund der verminderten Einsatzfähigkeit gewisser Leute ziemlich angesäuert war - so ganz recht, in seinem Zustand konnte Dustin wenigstens keinen Stress machen.
Ich saß einfach da und beobachtete die faszinierende Landschaft um uns herum. Allerdings konnte ich mich nicht wirklich auf die werbespotreife Kulisse der Inselchen konzentrieren, da mein Blick immer wieder zu Tjorben herüber wanderte, der sich, nur mit einer Badehose bekleidet, fünf Meter von mir entfernt in der Sonne aalte. Immer wieder musterte ich seinen nahezu makellosen Körper von oben bis unten. Ich streichelte in Gedanken über seine wohlgeformte Brust hinunter über seinen angedeuteten Sixpack den Flaum von seinem Bauchnabel entlang in Richtung Badehose, streichelte seine trainierten Beine und folgte mit meinen Fingern der leicht hervortretenden Vene auf seinem Bizeps. Der Wind spielte leicht mit seinen blonden Haaren, während sein ohnehin schon überaus sexy Teint in der Sonne weiter nachdunkelte. Bedauerlich nur, dass es für mich anscheinend - aufgrund seiner Vorgeschichte - kein näheres Herankommen gab. Also dachte ich nicht weiter drüber nach und genoss einfach den Anblick.
Als Falk sich direkt vor mir aufbaute, fiel mir auf, dass ich Tjorben wohl ziemlich offensichtlich angeschmachtet haben musste. Falk hatte die Mundwinkel fast bis zu den Ohrläppchen hochgezogen.
»Man muss Liebe schön sein«, gab er lachend von sich. »Ich hoffe, ich steh dir nicht im Weg?«
»Hmm ... eigentlich nicht, das, was ich grade sehe, gefällt mir fast genauso gut.« Falk war schließlich nicht weniger gut gebaut als Tjorben, eher im Gegenteil. Er lief rot an, ein herrlicher Anblick, der mich auf der Stelle zum lachen brachte.
»Oh, du solltest aus der Sonne gehen, dein Gesicht ist schon ganz rot«, setzte ich nach, woraufhin sich die Farbe in Falks Gesicht noch ein wenig intensivierte.
»Na, wenigstens dir scheint es ja blendend zu gehen«, antwortete er ein kleines bisschen verlegen, setzte sich neben mich und gab den Blick auf Tjorben wieder frei. »Bist du mit dem Verlauf der Dinge jetzt zufrieden? Du hast dich ja wohl mit Tjorben wieder zusammengerauft.«
»Zusammengerauft ja, zufrieden nein. Er hat mir die Geschichte erzählt und ich versuche ihn, wenn es mir auch verdammt schwerfällt, zu verstehen. Unter Druck setzen kann ich ihn eh nicht, also bleibt mir nichts anderes.«
»Hmm, ich glaube, ich verstehe. Tjorben will sich nicht binden, hat er dir das gesagt?«
Ich nickte nur. Eigentlich wollte ich das jetzt gar nicht diskutieren.
»Hat er dir auch gesagt warum?«
»Nein«, antwortete ich, »aber ich kann es mir denken. Er liebt halt Mark noch und hat das Gefühl, ihn zu betrügen, wenn ...« Ich brach den Satz an dieser Stelle bewusst ab, ich wollte jetzt nicht schon wieder schlechte Laune bekommen.
»Naheliegender Gedanke, aber falsch«, sagte Falk.
»Nein?« Jetzt war ich verwundert. Oder geschockt? Was bedeutete das?
»Tjorben hat panische Angst davor, noch mal durch den Verlust eines lieben Menschen so verletzt zu werden. Er hatte erheblich schwerer an Marks Tod zu knacken als ich.«
»Ja ... aber ... aber es war doch dein Bruder?«
»Das stimmt wohl und ich habe ihn geliebt. Ich liebe ihn noch immer und er fehlt mir. Aber das Geschehene lässt sich nicht rückgängig machen und Mark wäre es sicher nicht recht, wenn ich deshalb mein Leben lang Trübsal blasen würde. Es muss weitergehen, wenn auch leider ohne ihn. Ich würde genauso denken, wenn ich ...« Es klang so, als sei er überzeugt von dem, was er sagte. Jetzt wurde er allerdings nachdenklich und schwieg einen Moment.
Plötzlich lächelte er wieder und schaute mich an: »Du hast dich ganz schön in ihn verguckt, was?«
»Ja«, gab ich zurück, »wenn ich ihn sehe, bin ich glücklich. Ich möchte ihn festhalten und nie wieder loslassen. Als er neulich nachts zu mir in die Koje gekrochen kam, habe ich mich geborgen gefühlt, wie schon ewig nicht mehr. Es ist schwer zu beschreiben, ich würde für ihn durchs Feuer gehen. Noch nie habe ich für einen anderen Menschen so stark empfunden. Aber die Situation, wie sie ist, macht mich fertig.« Ich sah wieder zu Tjorben rüber, es zerriss mich innerlich. Hätte Falk nicht einfach bloß seine Klappe halten und mich in Ruhe lassen können? Jetzt musste ich schon wieder über die Situation nachdenken. Na danke auch.
»Schön«, sagte Falk, »so ziemlich dasselbe hat er über dich gesagt.«
Ich war überrascht, verwundert, wollte was sagen, doch Falk hielt seinen Zeigefinger vor seine Lippen, lächelte und redete weiter: »Er hat einfach nur Angst davor, dich wieder zu verlieren. Es ist irrational, das habe ich ihm auch gesagt und er hat versprochen, an sich zu arbeiten. Gib ihm Zeit, OK?«
Meine Mundwinkel wanderten nach oben, ich nickte dankbar: »Danke!«
»Da nich für!«, lachte Falk. »Ich mag dich und ihr passt gut zusammen, also wollte ich nur meinen Teil dazu beitragen. Wenn du dich bedanken willst, mach mir Tjorben glücklich.« Elender Kuppler.
11
Unsere Wache abends verlief unspektakulär. Wir hatten achterlichen Wind der Stärke 3 bis 4, so dass keine Segelmanöver anstanden. Eine Stunde stand ich am Ruder, ansonsten ging ich Ausguck. Tjorben war die ganze Zeit bei mir und wir philosophierten über alles Mögliche und Unmögliche. Soweit war ich erstmal wieder zufrieden, immerhin waren wir zusammen.
Es geschah am nächsten Morgen beim Frühstück. Wir saßen in der Messe und ich hatte meinen Kopf nach einer Dusche sowie der ersten Mug voll Kaffee soweit klar und war wach. Zur Abwechslung hatte diesmal Tjorben in der Nacht Alpträume gehabt, er war zweimal schreiend aufgewacht. Nachdem ich dann dieses Mal zu ihm in die Koje geklettert bin, zitterte er noch immer am ganzen Körper. Er hatte kaum ein Auge zugetan und hing dementsprechend lustlos über seinem Spiegelei.
Dustin kam herein, fixierte Tjorben und begann dreckig zu grinsen. Seinem Gesicht nach hatte er seinen Kater vom Vortag auskuriert und war nun wieder voll Arschloch.
»Na, Tjorben, du Flachwichser? Wir haben noch was offen. Du hast mit meiner Ische rumgemacht?« Dustins Wortwahl war wirklich faszinierend.
»Ich bin nicht deine Ische, du Arsch! Abgesehen davon hat der Versager eh keinen hochgekriegt. Impotent«, warf daraufhin Sandra ein.
»Dich hat keiner gefragt, Schlampe!«, brüllte Dustin seine Ische, um sich mal seiner Termini zu bedienen, an. »Impotent? Ist das wahr, Memme?«, wandte er sich sogleich wieder an Tjorben. Der war aufgrund dieser Verbalattacke so kurz nach dem Aufstehen nach dieser Nacht völlig konsterniert und somit nur vermindert artikulationsfähig.
Dustin ging weiter auf Tjorben zu, der immer noch schwieg. »Ich habe dich was gefragt, Schwachkopf!«, brüllte er. »Antwortest du oder willst du gleich paar aufs Maul?«
Bei mir setzte was aus. Niemand hatte das Recht, so mit Tjorben umzugehen. Also mischte ich mich ein.
»Und selbst wenn es so wäre«, konterte ich, »er hat es wenigstens nicht nötig, seine eigenen Unzulänglichkeiten durch Aggressionen gegenüber Dritten zu kompensieren.« Ich wunderte mich über mich selbst, in diesem Moment einen solchen Satz zustande gebracht zu haben.
»Hä?«, gab Dustin von sich und schaute mir nun direkt in die Augen. Dieses selten dämliche »hä« ließ mich den Satz noch einmal erklären: »Ich meine, wenn deiner zu kurz ist, ist es nicht die Lösung, einfach jemanden zu suchen, der noch einen kürzeren hat als du, nur damit du dich mal groß fühlen kannst!«
Das brachte mir nun endgültig Dustins volle Aufmerksamkeit und einen tödlichen Blick ein: »Was hast du dreckiger Schwanzlutscher da grade gesagt?« War er so bescheuert, dass er es nicht verstand, oder gehörte das zu seiner Nummer? Ich tendierte zu der ersten Möglichkeit.
Es wurde still in der Messe, alle starrten mich an. Normalerweise hätte ich spätestens an dieser Stelle einen Rückzieher gemacht. Aber ich war so wütend, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, noch einen draufzusetzen: »Also gut, noch mal in - sogar für Flachtüten wie dich - verständlichen Worten: Du sollst hier keinen Aufstand proben, nur weil dein Schwanz ein bisschen kurz ist!«.
Dustin sprang auf, hechtete zu mir rüber, packte mich am Kragen und riss mich von der Bank hoch. »Du Stück Scheiße. Dafür gibt's auf die Fresse.«
Ich weiß, nicht warum ich keine Angst verspürte, vielleicht war das die wachsende Wut in mir. Adrenalin ist schon geil. Eine Chance hatte ich in einer körperlichen Auseinandersetzung nicht. Er war zwar etwa genauso groß wie ich, hatte aber ein erheblich breiteres Kreuz. Außerdem hatte er Mundgeruch, der kaum auszuhalten war. Ich machte ihn darauf aufmerksam: »Komm, lass mich los. Deinen heißen Atem riechen zu müssen ist Strafe genug. Das grenzt ja schon an Körperverletzung. Ist da was in deiner Speiseröhre gestorben?« Als Antwort spürte ich zwei Faustschläge in die Magengegend und krümmte mich. Das Letzte, was ich sah, bevor ich bewusstlos wurde, war sein Knie, das auf mein Gesicht zukam.
Als ich nach fünf Minuten wieder zu mir kam, sah ich als Erstes in Tjorbens Augen. Sie waren gerötet, er weinte.
»Geht's?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Es ging mir schon besser«, stöhnte ich und versuchte, mich aufzurichten. Ich schmeckte Blut und mein Kopf dröhnte. Steffi, Susi und der Skipper hockten mit besorgten Gesichtern neben mir. Ein paar Meter weiter standen Dustin und Falk. Dustins Gesicht war schmerzverzerrt, Falk hatte ihm den Arm auf den Rücken gedreht und hielt ihn fest.
»Ist dir schwindelig oder hast du Kopfschmerzen?«, fragte der Skipper. Ich nickte vorsichtig.
»OK, bringt ihn in seine Koje, und einer von euch passt auf ihn auf«, ordnete er daraufhin an.
»Ich kümmere mich um ihn!«, meldete sich Tjorben sofort und half mir auf die Beine.
In der Kammer angekommen reinigte er vorsichtig mein blutiges Gesicht - ich hatte ganz schön einen auf die Nase bekommen - zog mich aus und verfrachtete mich in meine Koje. Seine Hand strich zärtlich durch mein Haar.
»Hast du das da grade für mich getan?«, fragte er mich schließlich, noch immer Tränen in den Augen. Ich nickte nur und erhielt einen Kuss auf die Stirn, um daraufhin sofort einzuschlafen.
»Ich liebe dich«, flüsterte er noch, doch das bekam ich schon nicht mehr mit.
Als ich wieder wach wurde, saß Tjorben noch immer neben mir und hielt meine Hand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte, aber dem Sonnenlicht, das durch das Bullauge fiel, nach zu urteilen, mindestens 2 Stunden.
»Na, wie geht's dir?«
»Beschissen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in einen Schraubstock eingespannt«, stöhnte ich.
» Was musst du auch unbedingt den Helden spielen«, grinste er.
Mehr als ein müdes »Haha« brachte ich als Antwort nicht heraus. Eigentlich wollte ich nur weiterschlafen, denn mir war speiübel und meine Kopfschmerzen brachten mich an den Rand des Wahnsinns. Ich schloss die Augen wieder.
»Mach so was nie wieder«, flüsterte er und streichelte sanft über meine Wange. »Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren. Versprichst du mir das?« Naja, soo schlimm war es dann ja nun auch nicht gewesen. Antworten konnte ich im jedoch nicht, ich war in diesem Moment viel zu sehr mit der Rebellion in meinem Magen beschäftigt.
»Tjorben, ich glaube ...« Er ließ mich nicht aussprechen, nahm meinen Kopf in beide Hände. Er wollte doch jetzt nicht etwa ...? Doch, er wollte, sein Mund näherte sich meinem Gesicht. Oh nein, gar keine gute Idee.
»... ich muss kotzen!«, vollendete ich meinen Satz im letzten Augenblick. Er handelte sich eine schicke Beule ein, als er ruckartig den Kopf zurückzog. Im gleichen Moment landete mein Mageninhalt auf seinem Schoß.
Mir ging es magenmäßig sofort ein ganzes Stück besser und ich ließ mich wieder zurücksinken. Tjorben war mittlerweile aufgestanden und sah völlig entgeistert an sich herab.
»So eine Scheiße!«, fluchte er leise. »Hättest du mich nicht vorwarnen können?«
»Ich hab's ja versucht, aber du hast mich nicht gelassen«, antwortete ich und konnte mir das Grinsen dabei nicht verkneifen. Er sah einfach zum Schießen aus, wie er da so stand.
»Find ich gar nicht lustig. Ich dachte, du magst mich«, sagte er gespielt beleidigt.
»Nö!«, gab ich zurück, woraufhin seine Gesichtszüge entgleisten. »Ich liebe dich!«
»Und warum kotzt du mich dann voll, wenn ich dich küssen will?« Der Punkt ging an ihn. Einen Moment lang grinsten wir uns gegenseitig blöde an, bevor wir loslachten.
Eine gute halbe Stunde später waren die Spuren des kleinen Unglücks dank Falk beseitigt worden und Tjorben hatte eine dringend nötige Dusche genommen und ich ein wenig Oralhygiene betrieben.
Tjorben trat nur mit einem Handtuch um die Hüfte in die Kammer, als Falk grade Putzeimer und Leuwagen zusammenpackte. Seine nassen Haare waren verstrubbelt und sein Pony hing ein Stück in sein Gesicht. Auf seinem Oberkörper glänzten noch vereinzelte Wassertröpfchen.
»Können wir jetzt da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben?«, fragte ich schelmisch grinsend und spürte, wie sich in meinen unteren Körperregionen etwas bewegte. Sehr schön, so langsam ging es mir wieder gut.
»Hmm... dir scheint es ja langsam wieder besser zu gehen.« Ich nickte leicht.
»OK, Aber nur wenn du versprichst, nicht wieder ...«, grinste Tjorben.
Falk, der die Szene sichtlich erheitert beobachtete, warf uns noch einen verstohlenen Blick zu und schloss die Tür von außen. Sofort darauf ließ Tjorben sein Handtuch fallen und kletterte, so wie Gott ihn schuf, zu mir in die frisch bezogene Koje. Wir umarmten uns, kuschelten uns eng aneinander und verloren uns in einem schier endlosen, leidenschaftlichen Kuss. Unsere Körper rieben sich aneinander, unsere Hände gingen auf Wanderschaft. Meine Kopfschmerzen spürte ich nicht mehr, der junge Gott in meinen Armen war besser als Aspirin.
Nachdem wir dafür gesorgt hatten, dass meine Koje am nächsten Morgen wiederholt neu bezogen werden musste, schliefen wir eng aneinandergekuschelt ein.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Da ich fast den ganzen Tag geschlafen hatte, war ich nun topfit. Vorsichtig zog ich meinen Arm unter Tjorben weg, woraufhin er sich kurz bewegte und im Schlaf nach mir griff. Ich küsste ihn kurz auf die Stirn und legte dann meinen Kopf auf seine Brust. Mit dem einen Ohr hörte ich das Wasser, das draußen stetig gegen den Rumpf plätscherte, mit dem anderen Tjorbens regelmäßigen Herzschlag. Ich würde ihn nie wieder loslassen.
Plötzlich ging die Tür auf, das Licht wurde eingeschaltet. Benjamin stand in der Kammer, erblickte uns und verzog das Gesicht.
»Ach du Scheiße. Was zur Hölle ist denn hier ...« Weiter kam er nicht, Falk stand hinter ihm und packte ihn unsanft am Arm: »Ein falsches Wort und du frühstückst morgen früh aus einer Schnabeltasse. Verstanden?« Benjamin drehte sich um und rannte raus.
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