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Stories, Gedichte und mehr
Micha
Kapitel 1
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Spürbar zog der Herbst ins Land. Der Wind wehte die Blätter von den Bäumen, seicht segelte das bunte Laub zu Boden. Die Sonne schickte ihre letzten warmen Strahlen zur Erde, die Mohnblumen am Rande der Kornfelder erstrahlten in leuchtendem Rot.
Wie so oft saß ich in der alten Eiche, auf dem dicksten Ast, und beobachtete die Vögel, wie sie gen Süden flogen. Ich hatte meinen Skizzenblock auf dem Schoß und versuchte, die Pracht meiner Umgebung in einer Zeichnung zu verewigen.
Ich hatte schon viele solcher Bilder angefertigt; ich sammelte sie in einer Mappe. Noch nie hatte ich sie jemandem gezeigt, und ich hatte auch nicht vor, dies jemals zu tun.
Es wurde Abend. Die Sonne tauchte die Landschaft in ein warmes Orange; es war ein angenehmes Gefühl. Ich liebte diese Atmosphäre, am liebsten wäre ich noch geblieben, aber ich wusste, dass ich auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen durfte.
Ich sah auf die Uhr. Ja, zehn Minuten blieben mir noch, um diese einmalige Schönheit zu genießen. Ich lehnte mich an den dicken Stamm der Eiche und betrachtete entspannt die Landschaft unter mir.
‚Einfach wundervoll’, dachte ich seufzend und machte es mir auf dem Baum etwas bequemer. Schnell war ich wieder in Gedanken versunken. Das passierte mir häufig. Es war einer von den Momenten, in denen die Welt hätte untergehen können, ohne dass ich es bemerkt hätte. Die Sonne hatte mich in ihrem Bann.
„Hey, Schwuchtel!“
Dieser Ruf galt wohl mir, riss mich brutal aus meinen Gedanken. Ich hasste es einfach. „Schwuchtel“ war eine so abfällige Bezeichnung, doch irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt.
Müde sah ich nach unten, um zu gucken, welcher meiner Klassenkameraden mich mal wieder ärgern wollte. Es waren Uli und Martin.
„Was wollt ihr von mir?“ Ein Satz, den ich in der vergangenen Woche mehr als einmal gesagt hatte. „Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?“
„Na, schreibst du wieder Liebesgedichte?“ rief Martin zu mir hoch und lachte.
„Was ist es denn diesmal?“ fragte Uli. „Ode an Sebastian? Oder Timo? Oder doch eher Alexander?“
Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus, klatschten lachend ihre Hände gegeneinander.
Mussten die mich immer verarschen? Das tat weh… Die Natur um mich herum schien ihre Schönheit und ihren Glanz zu verlieren, eine Wolke schob sich vor die Sonne und es wurde dunkler.
„Komm schon runter, Schwuchtel, wir wollen dein neuestes Werk bewundern!“
Ja, Uli hatte ganz Recht. Runter musste ich sowieso, ich musste nach Hause. Doch so richtig trauen tat ich mich nicht.
Ich sah um mich. Vom Baum aus hatte ich einen wunderbaren Ausblick auf den Feldweg, doch nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
„Was is’ nun? Soll ich raufkommen?“
Martin griff mein Bein. Sie hatten mich schon oft verprügelt. Manchmal lauerten sie mir nach der Schule auf. Aber diesmal sollten sie mich nicht kriegen! Ich hatte keine Lust, mir bei einem Sturz vom Baum etwas zu brechen.
Ich klemmte mir meinen Block zwischen die Zähne, schob Radierer, Bleistift und Anspitzer in meine Hosentasche und hielt mich an dem Ast über mir fest. Mit einem Ruck zog ich mich nach oben, kletterte auf die andere Seite des Baumes und rutschte nach unten.
„Hey, da ist er!“ hörte ich Uli noch rufen, dann rannte ich los.
Besonders schnell war ich noch nie gewesen, und ich war mir sicher, dass sie mich bald einholen würden.
Ich lief den Feldweg entlang, brach mich durch die dichten Büsche, die den schmalen Pfad vom Parkplatz trennten, flitzte über den fast leeren Platz, durch kleine Seitenstraßen in Richtung Hauptstraße, sah mich immer wieder ängstlich um. Plötzlich waren Uli und Martin verschwunden. Irritiert drehte ich mich im Kreis, ging ein paar Schritte zurück. Sie waren weg, und schon fühlte mich sicherer.
Der Weg nach Hause war kurz. Bis zur Bushaltestelle waren es vielleicht noch 500 Meter, dann drei Haltestellen und von dort aus etwa fünf Minuten Fußweg, bis ich unser Haus erreichen würde.
Außer Atem bog ich in eine enge Gasse ein, nahm den Skizzenblock in die Hand. Der linke Wohnblock warf einen dunklen Schatten auf mich und die ganze Straße; ich hatte ein bisschen Angst. Zwar war es erst halb acht, aber man wusste ja nie...
Wieder sah ich mich um. Niemand zu sehen. Trotzdem hatte ich das bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden.
„Na, Schwuchtel?“ Ich spürte, wie mich jemand an der Schulter festhielt, und das nicht gerade sanft. „Zeig mal, was du da hast!“
Es war Martin. Er und Uli waren anders abgebogen und hatten mir den Weg abgeschnitten.
Martin nahm mir den Block ab und sah die Zeichnungen durch.
„Und, wieder ein kleines Gedichtchen über ‚die Schönheit der Natur’?“ Uli sah ihm über die Schulter.
„Nee, bloß ’n bisschen Gekritzel. Bäume, Vögel, Felder und so.“
„Komm, gib mir den Block wieder!“ Ich wollte Martin die Skizzen wegnehmen, doch zu meiner Überraschung gab er sie mir freiwillig zurück.
„Nächstes Mal lieferst du uns ein Gedicht ab!“ sagte er in rauem Ton. „Wir wollen schließlich was zu lachen haben, Schwuchtel!“ Er schubste mich nach hinten; ich landete unsanft auf dem Bürgersteig. Ich fühlte, wie sich die Ecken des Anspitzers in meiner Hosentasche in mein Bein drückten, aber ich schrie nicht, sonst hätte ich nur noch mehr Prügel bekommen.
Ich rappelte mich wieder auf und ging zügig nach Hause. Ich würde zu spät kommen, ganz sicher. Ich hatte Schiss. Das bedeutete mal wieder Ärger, Strafe, auf jeden Fall Hausarrest.
So leise wie möglich schloss ich die Haustür auf, schlich mich hinein und wollte die Treppe hinauf, um meine Sachen in mein Zimmer zu bringen, aber Papa stellte sich mir in den Weg.
„Wo warst du?“ Seine Stimme klang bedrohlich, zitternd blieb ich stehen.
„Hast dich wieder rumgetrieben, was?!“ Schon knallte seine Hand hart auf meine Wange. Der Skizzenblock fiel zu Boden.
„Wenn du nächstes Mal auch nicht pünktlich erscheinst, dann kommst du ins Heim, verstanden?!“
Wieder ein Schlag.
„Du kriegst heute kein Abendessen, du gehst auf dein Zimmer!“
Noch ein Schlag.
Ich fiel hin, stieß mit dem Kopf gegen den Garderobenständer. Es tat unheimlich weh, aber ich hielt meine Tränen zurück. Heulsusen konnte Papa so gar nicht ab. Ich musste wohl oder übel das Feld räumen.
Mein Mund schmeckte nach Blut. Das kannte ich gut genug. Papa hatte mich mal wieder richtig hart getroffen.
Ich richtete mich so gut es ging auf und schleppte mich in mein Zimmer. Meine Zeichnungen nahm ich mit. Oben im Bad spülte ich meinen Mund mit Wasser aus. Mir war zum Heulen zumute.
Meine Mitschüler nannten mich oft „Schwuchtel“. Das hatten sie sich angewöhnt. Es war mir ziemlich egal, ob sie mich für schwul hielten, verstehen konnte ich es ja. Ich war blass und ziemlich dünn, und eine Freundin hatte ich auch noch nie gehabt. Die Mädchen schienen sich einfach nicht für mich zu interessieren. Die Lehrer hingegen waren fest in der Annahme, dass ich Drogen nahm, doch das sagten sie mir nicht ins Gesicht. Sie stellten nur immer dumme Fragen.
Ich war noch nie gern zur Schule gegangen. Für schlechte Noten bekam ich Prügel von meinem Vater, meine Mutter schenkte mir kaum Beachtung. Ich hatte schon früh selbst für mich sorgen müssen. Meine Erzeuger gehörten beide zur berufstätigen Bevölkerung, also war niemand da, der mir ein Mittagessen kochte. Für die Woche bekam ich fünf, manchmal zehn Euro. Das reichte für einen Vorrat an Tütensuppen, aber leider nicht für ein ordentliches Essen.
Mein Vater hatte mich erzogen. Mit Strafen, Schlägen und vielen Verboten, so, wie er es für vernünftig gehalten hatte. Er hatte mich auch in einen Fußballverein gesteckt, aber ich hatte mich als hoffnungsloser Fall erwiesen. Also hatte ich mit Karate angefangen, obwohl ich mich auch in dieser Sportart nicht besonders glorreich zeigte. Ich wollte einfach etwas besonders Männliches machen, um Papa von dem Verdacht abzubringen, dass ich schwul sein könnte. Wie er auf so eine dumme Idee kam! Ich und schwul. Pah!
Vielleicht war es einfach seine Art, Besorgnis auszudrücken. Sicher wollte er bloß das Beste für mich. Er hasste jede Form von Homosexualität. Am liebsten hätte er alle Schwulen und Lesben von dieser Erde verbannt.
Die halbe Nacht saß ich auf meinem Bett und dachte nach. Ein halbnacktes Model glotzte mich von meiner Zimmerwand her an. Ihre Augen machten mich einfach wahnsinnig, ich hasste diesen Blick. Papa hatte mir das Poster geschenkt. Mit den Worten: „Mirko, langsam wirst du ein richtiger Mann. Und Männer brauchen Frauen!“ hatte er das grausame Bild direkt über meinem Bett angebracht.
Niedergeschlagen blätterte ich eine Jugendzeitschrift durch, mein mp3-Player spielte mir die Lieder unserer Schul-Gesangs-Gruppe ENJOY in die Ohren, ich legte die Beine hoch.
ENJOY war meine absolute Lieblingsgruppe. Sie bestand aus den drei 15-jährigen Mädchen Josy, Dani und Mickey und den beiden 16-jährigen Jungen Chris und Michael. Seit einem Jahr gab es sie jetzt schon als Combo. Mittlerweile sangen sie nicht nur bei Schulfesten in unserer Schule, sondern traten auch außerhalb auf, hatten ein paar Lieder in einem echten Tonstudio aufgenommen und verkauften die selbst gebrannten CDs bei ihren kleinen Auftritten.
So wie die wär’ ich gern. Begabt, beliebt, erfolgreich. Aber ich würde sicher für immer und ewig der kleine Loser bleiben.
Die Zeitschrift war nicht sonderlich interessant. Das Übliche eben: Ein Riesenartikel über die neuesten Pop-Sternchen, Tourberichte, ein Interview mit dem Hauptdarsteller einer Telenovela, News, ein paar Sticker als Extra, natürlich die Gerüchteseite, Sexseiten, die ich schon seit langem nicht mehr las. Es folgten Horoskop und Psychotest, eine für mich uninteressante Foto-Love-Story und Fernsehtipps. Gelangweilt blätterte ich um, stutzte.
„Die Entscheidung ist gefallen!“ lautete die riesige Überschrift eines Artikels. Er stach mir sofort ins Auge, denn meine Lieblingsgruppe ENJOY war unter anderem dort abgebildet! Neugierig las ich den Bericht.
„...findet der diesjährige ‚Newcomer-Event’ statt! Von 1500 Bewerbern haben wir die besten 10 ausgewählt. Die Songs der 10 Finalisten könnt ihr auf unserer Homepage anhören. Votet jetzt im Internet, per SMS oder per Postkarte für euren Favoriten und gewinnt zwei Karten für den ‚Newcomer-Event’…“
‚Wow!’ dachte ich. ‚Da hat ENJOY mitgemacht? Ob die eine Chance haben?’
Ich musste bei dieser Verlosung einfach mitmachen! Das wollte ich auf keinen Fall verpassen. Meine Gewinnchancen waren winzig, aber versuchen konnte ich es ja mal.
Und so brachte ich am nächsten Tag vor der Schule meine Postkarte mit meinem Favoriten, ENJOY, zum Briefkasten. Natürlich lief ich Uli, dem Arschloch, über den Weg. Er wohnte nicht weit von mir und hatte denselben Schulweg. Deshalb ging ich meist später los als er, um ihm nicht über den Weg laufen zu müssen. Doch heute war er wohl später dran als sonst.
„Na Schwuchtel, hast du per Postkarte neue Sexmagazine bestellt?“ begrüßte er mich und grinste mich an. „Oder ein neues Buch, um deinen Notenspiegel zu verbessern?“
„Meine Briefe gehen dich ’nen Scheißdreck an“, konterte ich und setzte meinen Schulweg fort.
„Sag mal, so ganz im Vertrauen...“
„Als ob ich dir vertrauen würde!“ Ich wollte nicht mit ihm reden, trotzdem drängte er mir ein Gespräch auf.
„Du machst doch in Drogen und so, oder?“
„Geht dich gar nichts an!“
„Komm schon. So gemein bin ich doch auch nicht!“
„Du hast mir letzte Woche nur fast das Fußgelenk gebrochen! Weißt du, wir sind die besten Freunde!“
„Hey, wir sind ja richtig mutig heute!“ Uli stieß mir seinen Ellenbogen leicht in die Rippen, ich quietschte leise auf. „Schreibst du wieder an einem Gedicht?“
Ich antwortete ihm nicht mehr, senkte den Kopf und betrachtete den grauen Asphalt. Die Wunde in meinem Mund tat noch immer weh, es brannte, wenn ich mit der Zunge daran kam.
Wir näherten uns der Schule. Auf dem Schulhof stand schon eine kleine Gruppe Jungs aus meiner Klasse zusammen.
„Ey! Uli! Bist du jetzt mit der Schwuchtel zusammen?“
Das war Toni aus meiner Klasse. Ich konnte ihn absolut nicht leiden; er war ein Arsch, der sich immer aufspielen musste.
„Halt den Rand, Toni, oder willst du Schläge?“
Es war wieder soweit. Uli und Toni kriegten sich in die Wolle. Ich stellte mir vor, wie sie sich auf dem Schulhof wälzen, durch trübe Pfützen und braunes, nasses Laub. Doch Toni knuffte Uli lediglich freundschaftlich in die Seite, Uli knuffte zurück. Die beiden schienen sich ausnahmsweise einmal zu vertragen, ich wusste, dass sie etwas im Schilde führten.
Und kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, da fingen sie schon wieder an, mich zu nerven.
„Es geht mir gut, weil ich ’ne Schwuchtel bin, weil ich ’ne Schwuchtel bin!“ sangen sie laut. „Ich hab nur das eine im Sinn, weil ich ’ne Schwuchtel bin!“
„Woher wollt ihr überhaupt wissen, dass ich schwul bin?“ versuchte ich, mich zu verteidigen. „Habt ihr da Beweise für?“
„Streber, du heulst bei einer Vier. Nur kleine Mädchen und Schwuchteln heulen bei einer Vier.“ Toni sah mich drohend an. „Und komm ja nicht so großkotzig. Wir wissen Bescheid über dich und dein ‚Schwanzproblem’!“
‚Gar nichts wisst ihr!’, dachte ich verbissen. Schwanzproblem! Das war ja wohl das Letzte!
Ich war froh, als es endlich schellte und ich in die Klasse konnte.
Ich saß ganz hinten in der Ecke am Fenster an einem Einzeltisch. Niemand drehte sich zu mir um, ich saß ganz allein. Den Platz hatte ich mir selbst ausgesucht. Immerhin besser, als die ganze Stunde lang mit Papierkügelchen und alten Kaugummis beworfen zu werden.
„Hey, Mirko!“ Sandra kam auf mich zu.
Sandra, das wunderbarste Mädchen der ganzen Schule. Sandra, von allen Sandy genannt, Inhalt meiner feuchten Träume und schmutzigen Fantasien. Sandra, der lebende Beweis meiner Heterosexualität.
Sie lächelte mich an, ihr Blick schien freundlich.
„Sag mal, du hast doch bestimmt die Mathehausaufgaben gemacht, oder?“ Sie stützte sich mit den Armen auf meinem Tisch auf, sah mich verführerisch an.
„S- sicher, Sandy“, stammelte ich nervös. „Warum?“
„Kann ich abschreiben?“ Wieder lächelte sie, strich mir über die Wange. Mein Herz schlug schneller und ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht und in den Lendenbereich strömte. Dieses Mädchen wusste seine Reize genau einzusetzen!
„Klar“, stotterte ich und tastete mit der Hand nach meinem Rucksack.
‚Reiß dich zusammen!’ dachte ich ermahnend und suchte das blaue Matheheft heraus. ‚Sie ist doch auch nur ein Mädchen!’
Mein Kopf kam wieder unter dem Tisch hervor, ich schob ihr das Heft hin.
„Hier“, nickte ich und wollte mich wieder nach unten beugen, um meine Deutschbücher herauszuholen. Doch Sandra zog das Heft zu sich heran und legte mir die andere Hand unters Kinn.
„Du bist ein Schatz.“ Sie drückte mir ein Küsschen auf die Wange. Wahnsinn!
Für einen Moment war ich sprachlos. Sie hatte mich geküsst! Mich!
Aber ich konnte mir doch nicht von Sandy den Kopf verdrehen lassen. Damit stellte ich mich mit all den notgeilen Kerlen aus meiner Klasse auf eine Stufe. Aber sie war so wunderschön… Ob sie mich wirklich mochte? Mich, den alle nur „Schwuchtel“ und „Loser“ riefen?
„Magst du mit mir in der Pause in die Schülercafeteria gehen?“ fragte sie und sah mich mit ihren großen, hübschen Augen an.
„Klar“, stammelte ich, „wir treffen uns in der Pausenhalle!“
„Hoffentlich bis du da“, lächelte sie und ging wieder.
Mein Kopf war watteweich. Das schönste Mädchen der Erde wollte seine Pause mit mir verbringen! Ein bisschen überwältigt war ich schon. Mochte sie mich wirklich? Noch nie hatte sich ein Mädchen für mich interessiert. Warum sollte gerade Sandy auf einen schmächtigen, blassen und schwul wirkenden Typen wie mich stehen?
Mein Herz klopfte noch immer, ich wusste gar nicht, woher das kam. Mädchen hatten nie viel für mich übrig gehabt. Sollte sich das jetzt ändern?
Der Deutschlehrer kam in die Klasse. Mist, ich hatte die Hausaufgaben vergessen! Herr Becker würde mich umbringen!
Ich beschloss, mich einfach nicht zu melden. Mit meinem Kugelschreiber malte ich Figuren in den Tisch. Das machte ich häufig, wenn mich etwas so sehr langweilte wie unsere aktuelle Lektüre.
Ich las normalerweise sehr gern, auch mochte ich Deutsch, wollte Journalist werden. Aber das Buch, das Herr Becker ausgewählt hatte, war auf unterstem Niveau geschrieben, die Handlungen waren sehr simpel und unlogisch miteinander verknüpft. Der Baum, aus dessen Holz die Seiten des Buches gemacht waren, würde sich schämen, wenn er wüsste, was für ein Schund auf seinen Fasern abgedruckt worden war.
„So, dann werde ich mir mal eure Hausaufgaben ansehen!“
Ich glaubte, mein Herz hatte für einen Moment aufgehört zu schlagen; kalte Schauer liefen mir über den Rücken. Scheiße, ich brauchte unbedingt eine Ausrede! Doch zu spät, Herr Becker kam schon auf mich zu.
Nervös fummelte ich an meinem Kuli herum, dachte krampfhaft über eine plausible Erklärung für meine fehlenden Hausaufgaben nach.
„Mirko, wo sind deine Hausaufgaben?“
Alle drehten sich zu mir um. Ich wurde noch blasser als sonst. Mit zitternden Fingern öffnete ich mein Heft und zeigte Becker wortlos, dass ich die Aufgaben nicht gemacht hatte.
„Das ist jetzt das dritte Mal, Mirko!“ Seine tiefe Stimme klang wie das bedrohliche Donnergrollen eines Gewitters, die Blicke der anderen machten mich noch viel nervöser.
„Ich werde mal mit deinen Eltern telefonieren. So geht das nicht weiter!“
„Nein.“ Meine Stimme klang entsetzlich hilflos und piepsig, nur mit Mühe bekam ich einen Ton heraus.
„Was hast du gesagt?“ Becker sah mich fest an.
„Sie- Sie- Sie dürfen meine Eltern nicht anrufen!“ Ich stand auf, mein Stuhl kippte nach hinten.
„Warum sollte ich das nicht dürfen?“ fragte Becker. „Es ist meine Pflicht, deine Eltern von deinem schlechten Notenstand zu unterrichten.“
„Bitte! Sie dürfen das nicht! Ich- ich-“
„Mirko, mach hier nicht so einen Aufstand! Setz dich wieder hin! Dein Verhalten ist unmöglich!“
„Mann, Sie dürfen meine Eltern nicht anrufen!“
„Mirko, ich bitte dich! Deine Eltern werden dich schon nicht umbringen deswegen!“
„Was wissen Sie denn schon!“ Mir stiegen die Tränen in die Augen. Bloß raus hier! Ich rannte an Becker vorbei aus dem Klassenraum. Ich musste diesen Anruf verhindern, Papa würde mich sonst wieder mit dem Gürtel prügeln!
Vielleicht war es falsch, wegzurennen, die anderen hielten mich bestimmt für den Oberidioten, die Supermemme… Aber taten sie das nicht sowieso?
Auf der Treppe stolperte ich, und ich hatte kaum mehr die Kraft, mich am Geländer festzuhalten. Ich sackte auf die Knie und blieb so sitzen. Einen Moment lang dachte ich gar nichts, mein Kopf war leer.
Irgendwann schellte es. Ein paar Jugendliche gingen an mir vorbei, sahen auf mich herunter. Ich konnte ihre Blicke spüren, es war ein unangenehmes Gefühl. Langsam wurde mir kalt auf der harten Steintreppe. Ich wollte aufstehen, da spürte ich eine schwere Hand auf meiner Schulter.
„Komm mal mit“, sagte eine tiefe Stimme zu mir, und ich wusste, dass es Becker war.
Schwach nickend erhob ich mich, blickte auf zu ihm und sah in sein altes Gesicht. Es strahlte ein gewisses Etwas aus, Weisheit. Noch nie hatte ich ihm direkt ins Gesicht gesehen, irgendwie hatte ich Ehrfurcht vor ihm. Jede seiner Falten hatte wahrscheinlich eine Geschichte zu erzählen, ich hätte sie zu gern alle gehört. Doch zwischen all den Falten stachen zwei kalte, dunkle Augen hervor, die mich wütend anblitzten. Starr stand ich vor Becker und wartete auf seine Moralpredigt.
„Wir müssen reden.“ Sein Blick wurde etwas freundlicher, ich spürte, wie sich meine Anspannung lockerte, atmete auf.
Wir gingen die Treppe hinauf zurück ins Klassenzimmer. Meine Klassenkameraden hatten Biologie in einem anderen Raum, Becker und ich waren ganz allein.
Ich setzte mich auf einen Stuhl, auch Becker nahm Platz.
„Mirko, dein Verhalten in letzter Zeit hat mich etwas erschreckt“, begann er. „Du warst immer ein sehr guter Schüler, hast dich im Unterricht engagiert und deine Hausaufgaben waren mehr als gut. Hast du Probleme zu Hause oder mit Freunden?“
‚Ich habe keine Freunde’, dachte ich traurig, aber ich hätte mich niemals getraut, das zuzugeben.
„Es ist alles in Ordnung“, meinte ich und wischte meine Tränen aus dem Gesicht. „Es geht mir blendend. Alles ist in bester Ordnung. Könnte nicht besser sein.“
„Das glaube ich dir nicht so ganz.“
Okay, er hatte mich durchschaut. Das war bei meinem Tonfall bestimmt nicht schwer gewesen.
„Du wolltest doch Journalist werden.“
„Das will ich immer noch.“
„Siehst du. Du musst dich mehr anstrengen, denn im Moment würde ich dir eine Fünf geben.“
Eine Fünf, super. Das bedeutete Hausarrest, Fernsehverbot und natürlich jede Menge Prügel. Doch das konnte ich Herrn Becker nicht erzählen. Sicher würde er zum Jugendamt gehen, und die würden Papa einsperren. Das wollte ich nicht. Irgendwie liebte ich ihn über alles, obwohl ich ihn eigentlich hassen sollte.
„Vielleicht solltest du dich einfach etwas weiter nach vorne setzen und die Hausaufgaben direkt nach der Schule machen. Du könntest dich neben Antonio setzen, da ist noch ein Platz frei.“
„Mit Toni kann ich nicht so gut.“ Ich schniefte. „Und er mag mich auch nicht besonders.“
„Hör mal, ich möchte deinen Eltern doch nur sagen, dass sie deine Hausaufgaben schärfer kontrollieren sollen. Damit du nicht völlig abrutschst. Verstehst du die Lektüre nicht?“
„Doch, ich hab das Buch schon gelesen. Es ist langweilig. Die Art, wie es geschrieben ist, ist miserabel. Es interessiert mich einfach nicht, das ist alles.“
„Wenn du Kritik zu dem Buch hast, warum äußerst du dich dann nicht dazu im Unterricht?“
Seufzend verdrehte ich die Augen.
‚Wird nach meiner Kritik gefragt? Nein!’ dachte ich genervt. Becker sah mich erwartungsvoll an.
„Ich weiß auch nicht“, seufzte ich und ließ die Arme hängen. „Mir geht’s in letzter Zeit nich’ so gut. Vielleicht werde ich krank oder so. Bitte, sie dürfen meine Eltern einfach nicht anrufen!“ Ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede, griff zu einer Notlüge: „Mein Vater hat Dienst, Mittagsschicht, und meine Mutter hat einen Termin, da ist heute sowieso keiner da.“
„Gut, ich kann auch schreiben. Aber ich muss deine Eltern davon unterrichten. Tut mir Leid.“
Mist! Ja, vor allem tat es ihm Leid! Der machte das doch gern!
Ich nahm meine Tasche, ging wortlos an Becker vorbei hoch in den Biologietrakt. Scheißtag. Ab jetzt konnte es eigentlich nur besser werden.
In der großen Pause wartete Sandy schon auf mich. Sie stand da, sah sich um. Mein Herz klopfte, ich hatte Angst. Was, wenn die mich doch nur verarschte? Mit den anderen zusammen? Diese ständigen Witze taten schon weh genug, und vielleicht wollten sie, dass ich mich in Sandy verknallte, damit sie was zum Lachen hatten.
Aber konnte ein so engelsgleiches Wesen ein schlechter Mensch sein?
Sie lächelte, winkte mich heran. Unsicher ging ich zu ihr herüber, sie lächelte noch immer.
„Hallo, Mirko“, sagte sie. „Du, ich hab’ leider kein Geld dabei… Lädst du mich auf einen Kakao im Schülercafé ein?“
Kakao? Kakao? Warum Kakao? Und warum einladen? Mein Hirn war ganz matschig, ich fühlte mich wie ein Idiot.
„Ich- ich- ich hab’ nur… einen Euro“, stotterte ich.
Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich konnte nicht anders, musste auf ihre Lippen starren. Rot geschminkt, nicht zu schmal und auch nicht zu breit. Irgendwie schien alles an Sandy perfekt.
Sie nahm meine Hände, zog mich zu sich heran. Sie war ein ganzes Stück kleiner als ich, vielleicht zehn Zentimeter oder mehr.
Dann drückte sie ihre Lippen auf meinen Mund.
Mir wurde schwindelig. Holla! Warum kribbelte es in meinem ganzen Körper? Noch nie zuvor hatte ich ein Mädchen geküsst. Noch nie! Es war einfach großartig. Meine Knie waren ganz weich. Das genaue Gegenteil von dem, was sich in meiner Hose abspielte. Ob das jemand bemerkte? Ob Sandy es bemerkte?
Plötzlich spürte ich ihre Hand zwischen meinen Beinen. Ich zuckte zusammen, trat erschrocken einen Schritt zurück. Mein Kopf war ganz heiß und mit Sicherheit knallrot.
Das Mädchen grinste frech, strich sich seine weichen, braunen Locken hinters Ohr.
„Du bist also nicht schwul“, zwinkerte sie und sah dabei so süß aus, dass ich ihr gar nicht böse sein konnte und die ganze Situation ihre Peinlichkeit verlor.
Wobei… War das jetzt alles gewesen? Ein Test?!
„Das war nur ein Test?“ fragte ich. Wut stieg in mir hoch. „Du wolltest bloß wissen, ob ich nicht schwul bin?“
„Mirko…“ Sie legte den Kopf schief. Nein, nicht mehr! Nie mehr wird das bei mir ziehen!
„Flittchen!“ schnaubte ich sie verletzt an.
Sie erwiderte nichts, ich drehte mich um und ging. Diese blöde Kuh konnte mir gestohlen bleiben! Warum waren immer alle so unglaublich gemein zu mir? Aber was hatte ich mir überhaupt Hoffnungen gemacht… Ich war blond, hatte graue Augen und eine schlaksige Figur. Wer stand schon auf Hungerhaken?
Der ganze Tag war gelaufen. Wenn es so weiterginge, würde ich die Schule nicht überstehen.
Irgendwie habe ich die Schule dann doch überstanden, war heilfroh, als es schellte und wir nach Hause konnten. Doch kaum hatte ich mich ein paar Meter von der Schule entfernt, hörte ich auch schon Uli rufen. Das Schicksal hasste mich. Oder ich machte irgendetwas verkehrt.
„Hey! Streberarsch! Bleib mal stehen!“
Ich dachte gar nicht daran. Ich hatte keine Lust, mir sein dämliches Gelaber anzuhören.
Er und Martin rannten auf mich zu. Wegzulaufen wäre nur eine Form von Feigheit gewesen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich in diesem Moment einmal feige gewesen wäre...
Martin hielt mich am Rucksack fest.
„Na, kleiner Wichser, hast du was in den Ohren? Müssen wir dir mal ins Hirn blasen?“
„Komm, Martin, jetzt mach ihn doch nicht geil! Wenn er was auf den Ohren hat, versteht er hinterher noch ‚Soll ich dir einen blasen’ und zieht sich hier aus!“
Uli lachte, auch Martin hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
„Wie kann man nur auf Ärsche stehen? Wie abartig“, meinte Martin abfällig und schubste mich weg. „Sag mal Uli, riechst du das auch? Es stinkt, irgendwie.“
„Du hast Recht“, nickte Uli. „Es riecht irgendwie zum Kotzen hier. So-“
„Schwul!“ sagten sie gleichzeitig und lachten. Wieder wurde ich geschubst, dann hart an der Schulter festgehalten.
Martin hatte einen starken Griff, das kannte ich schon. Manchmal hielt er mich nur zum Spaß fest, fügte mir ein paar blaue Flecken zu, aber die fielen meistens nicht auf. Ich hatte schon genug Prellungen und Flecken durch die Schläge meines Vaters an meinem Körper.
Doch diesmal schien Martin ernst zu machen. Er riss mich mit sich, Uli folgte ihm.
„Martin, komm, lass mich los, ich muss echt nach Hause!“ bat ich und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Ergebnislos.
Als wir fünf Minuten später den Stadtpark erreichten, ließ er mich endlich los. Ich wollte wegrennen, wollte einen Schritt tun.
Sekundenbruchteile später fand ich mich auf dem Boden wieder. Uli hatte mir ein Bein gestellt.
Ich hörte, wie die beiden lachten, spürte, wie Martin mir seinen Fuß in die Seite rammte. Dann riss er mich nach oben. Ich hatte Angst. Martin und Uli waren unberechenbar, sie konnten alles Mögliche mit mir anstellen.
„Ich hasse dich, du dämlicher Streber!“ zischte er und verpasste mir eine Ohrfeige.
Ich stöhnte vor Schmerz auf, klatschte hart auf den Boden.
„Martin, bitte, lass mich gehen!“ wimmerte ich und war den Tränen nahe. Ich schmeckte Blut in meinem Mund, Martin hatte wirklich fest zugeschlagen.
„Bitte, Martin, du kriegst auch mein ganzes Geld, das ich bei mir hab.“ Blut lief über meine Unterlippe, tropfte auf die Steine unter mir.
„Du hast doch nie was dabei“, lachte Uli und riss mich am Kragen nach oben.
Er war nicht so stark wie Martin, aber er hatte mehr Kraft als ich.
Martin stand grinsend neben seinem Kumpel, zündete sich eine Zigarette an.
„Ich sag dir drei Sachen“, schnaubte Uli und fletschte die Zähne. „Erstens:“
Ich spürte einen harten Schlag im Gesicht.
„Hör auf mit deinem Strebergetue! Zweitens:“
Wieder schlug er mir ins Gesicht.
„Besser, du hast Montag 10 Euro dabei, sonst sieht’s echt beschissen für dich aus, Schwuchtel! Und drittens:“
Ich erwartete einen dritten Schlag, kniff die Augen fest zu, biss die Zähne zusammen. Uli lachte, doch schnell wurde er wieder ernst.
„Drittens: Lass die Finger von Sandy!“ Er stieß mir sein Knie in den Unterleib, ließ mich los.
Schreiend sank ich zusammen. Die Schmerzen waren fast unerträglich, ich hielt mir das Rührei im Schritt.
Martin hockte sich zu mir nach unten. Er sah ein bisschen so aus, als habe er Mitleid mit mir. Seine Hand strich über meine Stirn.
„M- Martin, b- bitte, hilf mir...“, wimmerte ich und blickte ihn Hilfe suchend an. Er lächelte, nahm meine Hand und schob meinen Ärmel nach oben.
„Sicher“, murmelte er, dann drückte er seine Zigarette auf meinem Arm aus.
Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, ich wollte schreien, aber meine Stimme versagte. Mir wurde schwindelig, ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Martin lachte, stand auf.
„Gib mir fünf, Alter!“ Ich hörte das Aneinanderklatschen ihrer Hände. „Verträgt gar nichts, die Schwuchtel!“
Ich war froh, als sie sich endlich verzogen. Langsam rappelte ich mich auf. Ich hatte Schmerzen, besonders an der Stelle an meinem Arm, an der Martin seine Kippe ausgedrückt hatte. Ich klopfte mir den Staub von den Klamotten, flüchtig fiel mein Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon fast halb zwei, ich musste in fünf Minuten zu Hause sein. Das würde ich niemals schaffen... Warum hatte mein Vater ausgerechnet heute Spätschicht?
Ich musste schlimm ausgesehen haben, viele Menschen sahen mir auf meinem Nachhauseweg hinterher, schüttelten mit dem Kopf oder taten erschrocken. Ich fühlte mich schrecklich, aber vor meinem Vater durfte ich auf keinen Fall verweichlicht wirken.
Bevor ich die Haustür aufschloss, atmete ich einmal tief durch, hob den Kopf, richtete meine Klamotten. Es war eigentlich egal, mein Vater würde mich mit der üblichen „Zu-Spät-Komm-Tracht-Prügel“ empfangen.
Ein bisschen mulmig war mir schon zumute. Langsam schob ich den Schlüssel ins Schloss.
‚Wenn ich leise bin, hört er mich vielleicht nicht und ich kann mich in mein Zimmer schleichen’, dachte ich, um mir selbst Mut zu machen.
Doch kaum hatte dieser Gedanke mein Hirn verlassen, wurde die Tür von innen aufgerissen; ich spürte, wie ich an der Jacke gepackt und ins Haus gezogen wurde.
„Warum kommst du so spät?!“ brüllte mein Vater und schüttelte mich.
Ich schluckte. Ich konnte ihm unmöglich die Wahrheit sagen, er hätte mich nur noch mehr dafür geschlagen, dass ich mich nicht gewehrt hatte. Doch wie sollte ich mich wehren? Ich hatte doch kaum Kraft, war viel zu dünn. Und das Karatetraining hatte bis jetzt auch noch keine Früchte getragen.
Nur ungern sah ich mich nackt oder mit engeren Sachen, trug absichtlich weite Pullis, damit meine dürren Arme und Beine nicht so auffielen.
„Hast du dich wieder geprügelt?“
„Es- es- es war nicht meine Schuld!“ versuchte ich, zu erklären. „Ich- ich hab gar nichts gemacht! Und sie waren viel mehr als ich! Ich wollte mich wehren, doch sie haben meine Arme und Beine festgehalten!“
Skeptisch sah Papa mich an, ließ mich zu meiner Verwunderung los.
„Geh hoch und wasch dich“, sagte er ruhig und schubste mich leicht nach hinten. Ich stolperte zurück, hielt mich am Treppengeländer fest.
„Wir sprechen uns nach dem Mittagessen.“
Mittagessen? Es gab Mittagessen? Was war denn mit Papa los? Das war eine ganz neue Seite von ihm, die ich noch gar nicht kannte. Er war fast freundlich zu mir, hatte mich noch nicht einmal geohrfeigt, was ich eigentlich erwartet hatte.
Gehorsam verzog ich mich ins Bad, betrachtete mein geschundenes Gesicht im Spiegel. Ich bekam einen Schrecken. Mein Gesicht sah wirklich schlimm aus. Das Blut an meiner Lippe war getrocknet, mein rechtes Auge war rot geschwollen, meine kurzen, blonden Haare zerzaust.
Eigentlich hatte ich das dringende Bedürfnis zu duschen, doch dazu würde ich keine Zeit mehr haben, wenn ich am Mittagessen teilnehmen wollte. Und das wollte ich. Unbedingt. Aber wenn es was mit Fleisch gab, würde ich wohl aufs Essen verzichten müssen.
Ich war Vegetarier, seit meinem 12. Lebensjahr. Natürlich schadete das meinem Körper und war auch nicht gerade hilfreich, wenn ich zunehmen wollte, doch ich mochte einfach kein Fleisch und die armen Tiere taten mir Leid. Rind aß ich nicht mehr, seit BSE das erste Mal aufgetreten war. Ich fühlte mich einfach unsicher, wollte keinen Rinderwahn bekommen. Auch hatte ich Angst vor Schweinerotlauf, diversen Geflügelkrankheiten sowie Würmern oder anderen Parasiten. Da war mir gut geputztes frisches Gemüse viel lieber.
Vorsichtig wischte ich mir mit einem feuchten Tuch das Blut aus dem Gesicht. Ich wusch den Lappen aus, betrachtete meinen rechten Arm. Es hatte sich eine rote Brandblase gebildet, es tat weh. Mein Pech, dass es Herbst war. Ich war gezwungen, einen Pullover zu tragen. Wenn der Stoff die Verbrennung an meinem Arm berührte, tat es höllisch weh.
Wie behandelte man eigentlich so eine Brandwunde? Im Medizinschrank neben dem Spiegel suchte ich nach einer Wundsalbe, doch so etwas schienen wir nicht zu haben. Also umwickelte ich meinen Arm mit einem Verband, zog den Ärmel meines Pullovers darüber und verließ dann das Bad, um etwas zu essen.
Es roch nach Lasagne, aber richtig sicher war ich mir nicht. Prüfend sah ich in die Küche, mein Vater winkte mich an den Tisch.
„Setz dich, mein Junge, es gibt Lasagne“, sagte er, ich gehorchte.
Auf dem Küchentisch standen zwei Aluschalen, die mit einem Pappdeckel abgedeckt waren. Lasagne á la Pizzataxi also…
Gerade wollte ich erwidern, dass ich doch Vegetarier sei, da meinte Papa: „Sag jetzt nichts, Mirko, ich weiß, dass du kein Fleisch isst. Für dich ist die Schale mit der Nummer 65, das ist vegetarisch.“
Was war denn da kaputt? So kannte ich meinen Vater gar nicht! Er hatte sich noch nie dafür interessiert, dass ich Vegetarier war.
„Papa, ist irgendwas?“ fragte ich unsicher.
„Sei still und iss!“
Okay, so viel dazu. War wohl bloß ein leichter Anflug von Mitleid.
Schweigend aß ich mein Mittagessen, saß kerzengerade da. Wie ein richtig braves Söhnchen. Ich hasste mich.
Nach dem Essen machte ich meine Hausaufgaben. Sie waren kein Problem für mich, nur meistens konnte ich sie nicht erledigen, weil ich entweder stundenlang von Papa zusammengeschrieen wurde oder ich so große Schmerzen hatte, dass ich kaum wagte, mich zu bewegen. Doch nun war das einzige, was mir wehtat, mein Arm.
Ich machte mich an meine Englischaufgaben. Das Thema war immer noch Irland. Der Unterricht war im letzten Jahr oft ausgefallen, so hingen wir noch mitten im fünften Buch.
Plötzlich hörte ich meinen Vater von unten rufen.
„Mirko! Telefon! Da ist ein Mädchen für dich!“
Ein Mädchen? Für mich? Ob das vielleicht Sandy…? Ich ließ meinen Kugelschreiber fallen, stand auf und schnellte aus meinem Zimmer hinaus, die Treppe hinunter.
„Ja?“ keuchte ich aufgeregt in den Hörer. „Mirko Stettner hier?“
„Hallo, Mirko…“ Ich erkannte Sandys Glockenstimme sofort. Und sie klang so schüchtern, ganz anders als sonst! „Ich bin gerade in der Nähe, und ich dachte, vielleicht reden wir noch mal, wegen heute Morgen…“
„Wo bist du denn gerade?“ wollte ich wissen. Sie schien es tatsächlich ehrlich zu meinen. Wow!
„Lerchenweg, Ecke Steinstraße“, antwortete sie. „Also, wenn du möchtest, dann warte ich hier auf dich.“
„Ich muss… fragen.“ Es war mir peinlich, dass ich erst meinen Vater um Erlaubnis fragen musste. Aber sie lachte mich nicht aus.
Papa stand hinter mir. Er hörte die ganze Zeit, was ich sagte.
„Darf ich mich kurz mit Sandy treffen? Es dauert auch ganz bestimmt nicht sehr lange.“
Als er nickte, machte mein Herz einen Satz. Ich grinste glücklich.
„Ich bin in 5 Minuten da!“ trällerte ich in den Hörer, dann legte ich auf.
Sandy saß auf einer niedrigen Mauer, den Kopf in die Hände gestützt. Ihre dichten, braunen Locken hingen ihr über die Schultern.
„Hi“, grüßte ich sie, sah ihr direkt in die Augen und muss dabei ziemlich anschmachtend ausgesehen haben. Ich wollte sie doch in den Wind schießen!
„Hallo, Mirko.“
Eine ganze Weile stand ich da, sie saß vor mir, wir schwiegen uns an. Irgendwann hockte ich mich zu ihr, sie streichelte mir über den Kopf. Sie holte tief Luft, dann brach sie endlich die Stille.
„Ich nehm’ dir das mit dem Flittchen von heute morgen nicht übel, hab’ ich schon vergessen.“
„Ja... Tut mir auch echt Leid“, stammelte ich aufgeregt. „Ich hab’ leider kein Geld bei mir, sonst… würde ich dich… jetzt auf eine Cola einladen… Sozusagen… zur Versöhnung.“
„Cola? Jetzt? Nicht schlimm, ich hab sowieso nicht viel Zeit heute.“
Meine Stimmung fiel von einer auf die andere Sekunde rapide. Sandy muss das wohl bemerkt haben, sie strich mit ihrer Hand über meine Wange.
„Aber Montag, nach der Schule, okay?“
Ich nickte nur. Mir war ganz seltsam zumute, und Sandy schien es zu merken, was mir ziemlich unangenehm war. Sie trug ein hübsches rotes Kleid mit einem verboten tiefen Ausschnitt und schwarze Stiefel. Ihre Strickjacke lag über ihren Knien. Fror sie bei diesen Temperaturen nicht?
„Hey, Mirko, nicht auf meine Brüste gucken, hier oben spielt die Musik!“ Schnell blickte ich hoch, spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg.
„S- Sandy, wir- wir können uns nach der Schule nicht treffen, wenn Martin und Uli uns zusammen sehen, bin ich dran.“
Ich schluckte, als ich die Enttäuschung in ihren Augen sah. Schnell setzte ich mich zu ihr auf die Mauer, strich behutsam und zögernd ihre dunklen Locken zurück.
„Guck doch nicht so betrübt, wir haben Montag in der 4. eine Freistunde. Da gehen wir beide eine Cola trinken, ja?“
Ihr Gesicht hellte sich auf, sie nickte. Ich freute mich, dass ich ihr eine Freude machen konnte.
„Ganz schön kalt.“ Sandy rieb sich die nackten Arme. Klar hatte sie ihre eigene Jacke, aber das dünne Strickjäckchen würde sie nicht richtig wärmen. Also zog ich meinen Anorak aus und legte ihn ihr über die Schultern.
„Danke“, lächelte Sandy. Diese Augen, dieses Lächeln… Ich schmolz dahin wie ein Eis in der Sonne. „Du bist gar nicht so blöd, wie alle immer sagen…“
„Es hat sich auch noch niemand die Mühe gemacht, mich kennen zu lernen“, seufzte ich. „Ich hab’ nun mal andere Hobbys als die anderen Jungs in meinem Alter. Im Fußball bin ich eine Niete.“
Ich erinnerte mich daran, wie enttäuscht Papa gewesen war, als ich mit dem Fußballtraining aufgehört hatte.
Mit fünf war ich in den Verein gesteckt worden, als ich acht war, hatte ich wieder aufgehört. In dem Sport hatte ich einfach zwei linke Füße. Ich hatte in den drei Jahren kein einziges Tor geschossen. Der Trainer hatte erkannt, dass ich auf dem Feld nichts taugte und mich zur Probe ins Tor gestellt. Aber auch da hatte ich keine Glanzleistungen erbracht.
Mein Vater hatte mich nie dafür bestraft, dass ich mit dem Sport aufgehört hatte. Er war nur schrecklich enttäuscht gewesen und hatte zwei ganze Wochen kein Wort mit mir gewechselt.
„Aber es ist nicht wichtig, ob mich die anderen mögen. Ich bin gern allein.“
Mit diesen Worten stand ich auf und ging. Ich hatte keine Lust mehr, mit ihr zu reden, ich fühlte mich in der ganzen Situation nicht wohl. Warum sagte sie mir so etwas? Die Schikanen der anderen hatten mich mit den Jahren misstrauisch gemacht. Was für eine beschissene Eigenschaft!
Mit einer Mischung aus Wut, Trauer, Enttäuschung und Selbstmitleid schritt ich die Straße entlang, die Hände tief in den Taschen vergraben. Mir war kalt. Die Kälte stieg in meinem Körper hoch, ich spürte die Gänsehaut auf meinem Rücken und meinen Armen. Jetzt hatte sie auch noch meine Lieblingsjacke, großartig!
„Mirko!“ Hinter mir hörte ich schnelle Schritte, eine Mädchenstimme rief meinen Namen. Das war unverkennbar Sandy. Aber ich wollte nicht mit ihr reden. Ich ignorierte sie einfach und setzte meinen Weg fort.
„Warte doch mal, Mirko! Ich möchte mit dir reden!“ Sie lief auf mich zu. „Mirko, warum gehst du denn schon? Und hier, du hast deine Jacke vergessen!“
Sie holte mich ein, hielt mir meinen Anorak hin.
„Dankeschön… Sandy.“ Warum stammelte ich so? In meinem Kopf herrschte Chaos.
Ich nahm ihr schnell die Jacke ab und zog diese an.
Meine Lieblingsjacke. Eine weiße Daunenjacke, die auch beim kältesten Wind schön warm hielt.
„Warum gehst du?“ wiederholte Sandy ihre Frage und sah mich mit ihren hübschen grün-blauen Augen an. „Ich hätte gern noch länger mit dir geredet.“
„Ich muss nach Hause, ich hab’ – meinen Computer angelassen“, log ich, ohne sie anzusehen. Sandy konnte nicht wissen, dass ich keinen Computer hatte, also würde ich mit dieser Ausrede bestimmt durchkommen.
Mit einem Ruck zog ich den Reißverschluss meiner Daunenjacke nach oben. Der Kragen ging mir bis zur Nase, ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben.
„Du denkst, du bist so unbeliebt, aber das stimmt eigentlich gar nicht.“ Sandy nahm meine Hand, ich ließ es zu. „Ein paar Freundinnen von mir finden dich total süß, ich mag dich ja auch gern. Ich weiß nicht, was Uli, Martin und Toni gegen dich haben, du bist doch nur ein guter Schüler. Vielleicht solltest du dir mal was anderes anziehen. Dieses Schlabberzeugs passt gar nicht zu dir.“
Wollte sie mich jetzt umstylen?
Sandy lehnte sich mit dem Kopf an meiner Schulter an, sie strich über meinen Arm. Leicht drückte sie auf meine Brandwunde.
„Aua!“ Mein Arm zuckte reflexartig. Es tat höllisch weh, tapfer hielt ich meine Tränen zurück.
„Was hast du denn?“ Sandy klang sehr besorgt, was mir ein bisschen schmeichelte. „Ist was mit deinem Arm?“
„Nur eine kleine Wunde“, erklärte ich, wandte mich von ihr ab. „Ich muss hier die Straße hoch, Sandy, wir sehen uns Montag in der Schule.“
Im Weggehen hörte ich noch ihr „Tschüß!“, dann bog ich um die Ecke und ließ das hübsche Mädchen hinter mir zurück.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Hoffentlich wartete Papa nicht schon darauf, mich mit peinlichen Fragen zu löchern! Ich drehte meinen Kopf nach rechts, sah die Treppe hoch, zu meinem Zimmer. Es waren gut 25 Stufen bis nach oben, vielleicht waren es auch 30, ich hatte sie nie gezählt. Und genau diese Stufen ging ich nach oben.
Der Weg kam mir so lang vor, ich fühlte mich mit einem Mal so schlapp und müde, konnte kaum meine Beine heben. Ich quälte mich die Treppe hinauf, ging in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett.
Auf dem Boden lag mein Skizzenblock, meine Zeichnungen waren über den Teppich verstreut. Neben dem Block war ein Blutfleck auf dem Teppich. Blut von meiner Unterlippe. Oder war es die Oberlippe gewesen? Ich wusste es nicht mehr genau. Jedenfalls war das Blut letzte Woche auf den Teppich gekommen, als mein Vater mich wegen einer Vier im Französischvokabeltest geschlagen hatte.
Viele meiner Kleidungsstücke hatte ich aufgrund von Blutflecken wegschmeißen müssen, auch den Fleck auf dem Teppich hatte ich nicht herausbekommen. Aber das war meinen Eltern egal. Ich war für sie sowieso nur ein Idiot, der Geld kostete und ihnen die Haare vom Kopf fraß.
‚Er scheint nicht gemerkt zu haben, dass ich da bin… Herrlich!’
Zu früh gefreut… Es polterte auf der Treppe, dann stand Papa auch schon in meinem Zimmer. Glücklich sah er nicht gerade aus, sein Gesichtsausdruck machte mir Angst.
„Dein Lehrer hat gerade hier angerufen.“ Seine Stimme durchbrach die Stille, ich zuckte zusammen. Becker, dieses Arschloch! Ich traute mich gar nicht, etwas zu sagen, starrte Papa nur stumm an.
„Was bist du eigentlich für ein mieser Versager? Aber sag mir erst mal, wo du den Stoff versteckt hast!“
„Stoff?“ Natürlich musste meine Stimme mal wieder versagen. „Was für Stoff denn?“
„Na, die Drogen, du Vollidiot! Rede ich vielleicht Chinesisch?! Sag, wo hast du den Stoff versteckt?!“
„Wovon redest du, Papa?“
„Bist du denn nur bescheuert? Dein Lehrer hat mir erzählt, dass er schon seit längerem vermutet, dass du Drogen nimmst! Und jetzt sagst du mir, wo du das Zeug versteckst!“
„Ich nehm’ keine Drogen, Papa, ehrlich nicht“, versuchte ich, ihn zu überzeugen, doch es gelang mir nicht.
Papa sah auf mich herab.
„Du solltest dich sehen!“ brüllte er verspottend. „Wie ein kleiner Wurm kauerst du da! Kannst du nicht Haltung zeigen, wenn ich mit dir rede?! Komm her, stell dich hin!“
Ich zögerte. Jetzt ging es wieder los. Schläge. Harte Schläge. Ich würde wieder bluten, stark, und mit Sicherheit würde es die halbe Nacht dauern, bis die Schmerzen weggingen.
„Na wird’s bald, oder brauchst du ’ne Extraeinladung?!“
Ich stellte mich vor ihn, gerade und steif wie ein Brett, und sah zu ihm hoch. Ich zitterte, wäre am liebsten weggelaufen, doch ich konnte mich ohnehin nicht bewegen.
Papa holte mit dem Arm aus, dann hatte ich seine Hand im Gesicht. Keine Miene verzog ich, jetzt wollte ich es ihm zeigen! Die kleine Wunde in meinem Mund riss wieder auf, ich schmeckte Blut auf der Zunge.
„Kein Wunder, dass du in der Schule eine Niete bist, wenn du dich mit Drogen voll pumpst!“
Wieder ein Schlag.
„Zieh dich aus!“
Oh nein... Bitte nicht das!
Wieder zögerte ich. Panik.
„Zieh dich aus!!!“
Gehorsam zog ich meinen Pullover aus, legte ihn auf mein Bett. Papa fummelte an seiner Hose herum, zog seinen Gürtel heraus.
„Und so etwas ist mein Sohn!“ Ich spürte die kalte, harte Metallschnalle auf meinem Rücken, wie sie sich ins Fleisch bohrte, die Haut wegriss und Blut über meinen Rücken lief. Vor Schmerzen schrie ich auf.
„Manchmal wünschte ich, wir hätten dich nie bekommen!!!“ Er schlug immer fester zu, ich schrie, bettelte, dass er aufhören sollte, weinte.
Als er endlich den Gürtel fallen ließ, ging ich kraftlos zu Boden. Doch Papa zog mich an den Haaren wieder auf die Füße.
„Ich bin noch nicht fertig mit dir, Freundchen!“ brüllte er, ich bekam noch einmal einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann ließ er mich neben meinem Bett stehen, begann, mein gesamtes Zimmer auf den Kopf zu stellen.
Schubladen wurden ausgekippt, er räumte meinen Schrank aus, meinen Schulrucksack, meinen Schreibtisch. Alles lag auf dem Boden, den hellgrauen Teppich konnte man kaum noch erkennen.
„Zieh dich aus, gib mir deine Klamotten!“ befahl Papa streng, und diesmal gehorchte ich sofort.
Ich konnte mich kaum bewegen, mein Rücken tat höllisch weh. Zitternd und schluchzend reichte ich meinem Vater meine Schuhe, meine Socken, meine Hose, meine Unterhose, mein T-Shirt, meinen Pullover und meine Jacke. Er durchsuchte alle Taschen, kippte den Inhalt meines Portmonees auf den Boden. Ich stand daneben, nackt, und konnte nichts unternehmen. Papa glaubte mir einfach nicht.
„Papa, bitte glaub mir doch!“ weinte ich hilflos. „Ich habe keine Drogen genommen und nehme sie auch nicht! Du wirst in meinem Zimmer und auch sonst in meinen Sachen nichts finden!“
„Für deine ständigen Lügen sollte man dich verhungern lassen, du missratenes Etwas!“ Papa zog mir noch einmal seinen Gürtel über den Rücken, ich heulte auf.
„Papa! Warum machst du das mit mir?“ Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, ließ mich bäuchlings auf mein Bett fallen.
„Ich finde schon, was ich suche, verlass dich drauf!“
Wumm! Mit einem lauten Knall schlug Papa die Tür zu und ich war allein. Allein mit meinen Schmerzen, allein mit einem Chaos, wie es mein Zimmer noch nie gesehen hatte. Es würde Stunden dauern, das alles wieder einzuräumen.
Ich lag da, heulte, drückte mein Gesicht ins Kissen. Mit tat alles weh, vor allem mein Rücken.
Langsam begann ich, mich wirklich verweichlicht zu fühlen. Wie konnte man nur wegen ein paar Schlägen heulen? Das war doch nicht normal!
Aber was war schon normal? Ich war es bestimmt nicht, und Uli oder Martin auch nicht. Ich hatte mich schon immer nutzlos gefühlt, schon seit mich mein Vater das erste Mal als Versager bezeichnet hatte.
Damals war ich neun gewesen und hatte gerade meine erste Note für einen Mathetest bekommen. Es war eine Fünf gewesen. Ich hatte neben meinem besten Freund Jan am Tisch gesessen und das weiße Blatt betrachtet. Die mit blauer Tinte geschriebenen Ziffern waren schief und krumm gewesen, die roten Verbesserungen der Lehrerin hatten sofort ins Auge gestochen. Ich war irgendwie geschockt über die Note gewesen, hatte nicht gewusst, was ich denken sollte. Vorsichtshalber hatte ich den Test in meinem Mathebuch versteckt, doch Papa hatte ihn trotzdem gefunden. Ich hatte noch nicht gewusst, was mich bei schlechten Leistungen erwartete, es war ein Schreck für mich gewesen, als er mir mitten ins Gesicht geschlagen hatte, sodass ich zu Boden ging. Damals hatte ich nur den äußeren Schmerz gespürt. Zu meinem Entsetzen hatte meine Mutter nichts unternommen, mich noch nicht mal getröstet, als ich weinend zu ihr gerannt war und ihr unter Tränen erzählt hatte, was Papa mit mir angestellt hatte. Relativ schnell war mir klar geworden, dass ich meinen Eltern egal war.
Meine Angst vor Schlägen wurde so groß, dass ich krampfhaft und ununterbrochen lernte, doch durch den Leistungsdruck wurde meine Konzentration schwächer und ich schrieb schlechte Noten. Ich hatte nie mit jemandem über meinen Vater gesprochen. Früher hatte ich viele Freunde gehabt, doch dann waren wir in einen anderen Stadtteil umgezogen. Die Leute, mit denen ich mich angefreundet hatte, hatten sich ziemlich schnell von mir abgewendet, zogen mit ihren anderen Kumpels durch die Clubs. Ich führte ein richtiges Loserleben, war einer von den Typen, die von allen gehasst wurden. Ja, ich war ein Streber, aber ich hatte auch einen guten Grund dafür.
Unter Schmerzen hievte ich meinen schwachen Körper hoch, setzte mich auf. So leise wie möglich bahnte ich mir einen Weg durch mein Zimmer, schlich auf den Flur, ins Bad. Ich schloss die Tür ab, um nicht gestört zu werden. Mit dem Rücken stellte ich mich vor den Spiegel, drehte den Kopf nach hinten, um zu sehen, wie schlimm es mich diesmal erwischt hatte.
Es war das übliche: Große, blutige Risse in der Haut.
Ich nahm einen Waschlappen aus dem Schrank, machte ihn nass und begann vorsichtig, meinen Rücken abzutupfen. In einer schrecklichen Verrenkung stand ich da, putzte das Blut ab. Eigentlich wollte ich die Wunden nicht berühren, es brannte. Aber es blieb mir nichts anderes übrig.
Irgendwie schaffte ich es, meinen Rücken zu säubern und Pflaster auf die Blessuren zu kleben. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Blass war ich, wirkte fast schon krank. Ich war auch krank, seelisch krank. Ich wusste nicht, wie lange ich das noch durchhalten würde, es ging mir, auf gut Deutsch, echt beschissen. Aber ich konnte mich nicht wehren. Ich durfte mich nicht wehren. Widerstand bedeutete Schläge.
Ich suchte mir eine Unterhose aus dem Wäschetrockner, zog sie an. Mir war kalt. Vor allem meine Füße.
Leise tapste ich auf den Flur, betrat mein Zimmer. Ich hob eins meiner T-Shirts, die mein Vater aus dem Schrank geräumt hatte, vom Boden auf und zog es über, schlüpfte in meine grauen Baggypants. Bei jeder noch so leichten Bewegung schmerzten die Wunden auf meinem Rücken fürchterlich, ich hätte schreien können.
Unter Schmerzen räumte ich mein Zimmer auf, schmiss ein paar Sachen weg, ordnete die Klamotten in meinem Schrank übersichtlicher und fand meine alte Plüschschildkröte „Tinky“ wieder. Ich setzte das grüne Tierchen auf mein Bett.
Als ich aufgeräumt hatte, nahm ich „Tinky“ wieder in die Hand, kniete mich vor meinen Schrank. Mit meinem Daumennagel drehte ich zwei locker eingedrehte Schrauben heraus, nahm dann mit einem Ruck die Schrankrückwand heraus, die ich ein Stück nach vorn gesetzt und mit zwei Schrauben locker befestigt hatte. Das Brett legte ich neben mich auf den Fußboden.
Ich hatte mir ein kleines Geheimversteck gebastelt, in dem ich alte Sachen und Erinnerungen verstaute, damit Papa sie nicht wegschmiss.
Ich streckte meine Arme in den Schrank, tastete mit den Fingern im Dunkeln herum, stieß gegen etwas Hartes. Gefunden!
Ich holte eine kleine Holzschachtel hervor. Sie war mit einem feinen Pinsel und Ölfarben bemalt, mit Schleifenmustern verziert. Mein Werk! Ich war stolz darauf, nur mein Vater hielt so etwas für Kitsch. Das war seiner Meinung nach nur etwas für Mädchen.
Sachte wischte ich den Staub vom Deckel, hob diesen hoch. In dem kleinen Kistchen lagen Fotos von meinen Freunden, von meinem alten Zimmer in unserer früheren Wohnung und einige von meiner Oma, der Mutter meiner Mutter, die vor zwei Jahren leider gestorben war. Darunter war eine Kette, ihre Kette, die sie immer getragen hatte. Papa hätte sie mir sicher weggenommen, wenn er gewusst hätte, dass ich sie hatte.
Ich fand noch meinen Teddy mit Spieluhr im Bauch, meinen letzten Schnuller und zwei Kondome. Ob ich die jemals brauchen würde?
Ich legte „Tinky“ in die Schachtel, schob den Deckel auf das Holzkäschen und verstaute es wieder im Schrank. Dann setzte ich die Rückwand vor mein Versteck, schloss den Schrank ab.
„Tinky“ war mir wichtig, ich wusste gar nicht, wie ich sie in meinem Zimmer hatte herumliegen lassen können.
Die ganze Nacht habe ich auf dem Bauch schlafen müssen, die unbequemste Lage, die ich mir vorstellen konnte, aber anders ging es nicht.
Auch die darauf folgende Woche war furchtbar. Meine Schulsachen trug ich in einer Umhängetasche mit mir herum, konnte einfach keinen Rucksack aufsetzen. Ich konnte mich nicht an die Stuhllehne anlehnen, konnte am Sportunterricht nicht teilnehmen und hatte dafür noch nicht einmal eine Entschuldigung. Auch hielt ich mich von Sandy fern. Sie hätte nur wissen wollen, was mit mir los war, und das musste nicht unbedingt sein. Auch die Verabredung auf eine Cola in der Freistunde hielt ich nicht ein. Ich hatte kein Geld, um das Mädchen einladen zu können.
Und das Schutzgeld für Uli und Martin hatte ich auch nicht.
Am schönsten für mich war der Dienstag.
Papa kam in mein Zimmer, als ich gerade meine Hausaufgaben machte. Es muss so gegen halb fünf gewesen sein.
„Hallo, mein Junge“, begrüßte er mich und legte mir seine Hände auf die Schultern. „Ich muss mich, glaub’ ich, bei dir entschuldigen.“
„Entschuldigen?“ Ich verstand nicht richtig. „Wofür?“
„Dafür, dass ich dir unterstellt habe, du würdest Drogen nehmen. Das war falsch. Es tut mir Leid. Darf ich mal deinen Rücken sehen?“
„Tu dir keinen Zwang an“, meinte ich, stand auf und knöpfte mein Hemd auf.
Seit Samstag trug ich nur noch Holzfällerhemden, die musste ich nicht über den Kopf und somit auch nicht über den Rücken ziehen.
„Leg dich am besten mal auf dein Bett, dann kann ich mir das genauer ansehen“, sagte Papa, ich gehorchte. Ein bisschen mulmig war mir schon, ich wusste nicht genau, was Papa mit mir vorhatte. Dennoch legte ich mich bäuchlings auf mein Bett.
Mein Vater setzte sich neben mich, löste die Pflaster von meinem Rücken. Ich versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. Es tat weh, als Papa die Klebestreifen abzog, doch ich schrie nicht auf. Ich war ganz ruhig.
„Mann, das sieht schlimm aus. Ich geh’ eben etwas zum Desinfizieren holen, dann verarzte ich die große Wunde hier. Sonst entzündet sich das. Ich bin gleich wieder da!“
Ich spürte Papas Hand auf meinem Rücken. Sie war warm und fühlte sich angenehm an. Ich hatte Herzklopfen vor Aufregung. Sollte jetzt alles besser werden? Jetzt, wo Papa einsah, dass er einen Fehler gemacht hatte?
Schnell war er wieder da, reinigte vorsichtig meine Wunden mit einem feuchten Lappen und schmierte irgendein Zeug darauf. Es brannte ein bisschen und ich war froh, als er endlich fertig war.
„So, und jetzt bleibst du zehn Minuten hier liegen, damit Luft drankommt und die Salbe einziehen kann, dann komm’ ich noch mal hoch.“ Papa strich mir durch die Haare. „Ich war ein bisschen hart, tut mir Leid.“
„Schon gut, Papa“, erwiderte ich und stopfte mir ein Kissen unter den Kopf. „Es ist auch nicht mehr ganz so schlimm.“
„Ich hol’ ein Taschentuch oder ein Stück Watte und kleb’ dir das über die Wunden, ich schmier’ da noch ein bisschen Salbe drauf, und dann wird das schon wieder ganz schnell heilen.“
„Dankeschön, Papa, Dankeschön.“
„Ach, Mirko, du bist doch mein einziger Sohn! Und ich werde dir schon irgendwie helfen, damit du schnell wieder auf die Beine kommst. Glaub’ nicht, dass ich dich jetzt hier tagelang bemuttere!“
Er hatte einen strengen Unterton in der Stimme, ich wusste nicht, was ich von seinem letzten Satz halten sollte.
Er stand auf. Ich sah zu ihm hoch, ein bisschen traurig und flehend vielleicht. Doch dann lächelte ich.
„Papa, ich hab einem Mädchen versprochen, dass ich mit ihr eine Cola trinken gehe, aber eigentlich bin ich momentan ziemlich abgebrannt...“
„Ich leg dir einen Zehner auf den Küchentisch.“ Er strahlte mich an. „Du kannst das Mädchen auch mal mitbringen, zum Essen oder so.“
„Ich seh’ mal“, nickte ich. Ein Glückstag, Mirko Stettner hatte einen Glückstag! Ob das jetzt für immer so bleiben würde?
Glücklich seufzend kuschelte ich mich in mein Kissen.
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