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Nur ne Geschichte

Osterchallenge 2006

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Ich drehte den Schlüssel um und nickte den Kollegen noch einmal zu. Ein langes Wochenende stand mir bevor - Überstunden abfeiern.

Ich verließ das Gebäude und ging zum Parkplatz, wo mein Motorrad auf mich wartete. Helm auf, aufsitzen, Zündschlüssel rein und los. Die laue Frühlingsluft umwehte meinen Körper, als ich mich erst durch den Verkehr schlängelte und dann, außerhalb Kölns, endlich richtig Gas geben konnte.

Im Sinnersdorf angekommen drosselte ich das Tempo, fuhr ein paar Schlangenlinien und bog dann in eine Nebenstraße ab. Vor einem Zweifamilienhaus hielt ich an. Zuhause. Mir gehörte die obere Hälfte.

Ich bockte die Maschine auf, öffnete das Garagentor und schob sie neben meinen Wagen. Ein Gebrauchter, aber mit Klimaanlage. Ich hatte schon zu oft im Sommer im Stau gestanden um, darauf zu verzichten.

Nachdem ich die Garage wieder abgeschlossen hatte, nickte ich einem Nachbarn zu, bevor ich die Außentreppe zu meiner Wohnung hochstapfte. Ich schälte mich aus meinen Klamotten und hüpfte als erstes unter die Dusche.

Die Augen geschlossen, den Kopf nach oben gestreckt, genoss ich das Prasseln des Wassers.

Nach ein paar Minuten trocknete ich mich mehr schlecht als recht ab und ging durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Dort griff ich mir eine Boxershorts, als das Telefon anfing zu läuten.

Seufzend wandte ich mich um. Die Ruhe, die ich nach diesem anstrengendem Arbeitstag so genossen hatte, war vorbei.

Wer mochte das sein?

„Bergefeld!“

„Alexander? Bist du es?“

„Ja, wer ist denn da?“ Die Stimme kam mir bekannt vor, aber einordnen konnte ich sie nicht.

„Ich bin es, Tristan.“

„Tristan! - Was ist los?“

„Kannst du mich vom Bahnhof in Pulheim abholen? Bitte!“

„Ähm…“ Was sollte das denn?

„Bitte Alexander!“ Er flehte geradezu, klang regelrecht verzweifelt.

„OK. Am Bahnhofsgebäude in 15 Minuten.“

„Danke!“

Das Telefon gab einen Klickton von sich und fing an zu Tuten.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte schnell in die Shorts, eine bequeme, wenn auch schon leicht fadenscheinige Jeans und ein T-Shirt. Von der Kommode neben der Haustüre grabbelte ich mir den Autoschlüssel und war schon aus der Tür, als mir einfiel, dass das Portmonee inklusive Autopapiere nebst Führerschein nicht schaden könnte. Also noch man ein paar Stufen hoch und zur Garage.

Keine halbe Stunde nachdem ich angekommen war, fuhr ich auch schon wieder ab.

Auf der Fahrt schweiften meine Gedanken ab. Tristan. Von ihm hatte ich schon lange nichts mehr gehört. Klar, hin und wieder lies meine Mutter den Namen mal fallen, wenn wir telefonierten oder sie die Handvoll Male vorbei gekommen war in den letzten drei Jahren. Aber seitdem ich hierhin versetzt worden war, war ich nicht mehr in meine alte Heimat gefahren.

An meiner Mutter lag es nicht, ich hätte auch nichts dagegen, wenn sie öfter vorbei käme. Aber mein Stiefvater, er war das Problem.

Mein Vater, ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller, starb als ich 12 war bei einem Autounfall. Fast drei Jahre später hatte sich meine Mutter verliebt. Ich freute mich für sie und Albert war mir am Anfang auch nicht unsympathisch. Auch dass er einen zwei Jahre jüngeren Sohn hatte war für mich ok. Tristan hieß er. Seine Mutter war etwa ein Jahr vorher an Krebs gestorben.

Wir zogen recht schnell zusammen. Tristan und ich hatten jeder unser eigenes Zimmer und gingen jeder seinen eigenen Interessen nach. Er war halt jünger als ich, ging auf eine andere Schule und hatte natürlich seinen eigenen Freundeskreis. Außerdem war er recht schüchtern, still. Ich hatte, glaube ich, nur ein oder zwei Mal erlebt, wie er aus sich herausging.

Aber Albert wurde mir schnell unsympathisch. Er nörgelt bald mehr und mehr an mir oder meiner Mutter herum, wusste alles besser, wollte alles kontrollieren. Bei mir biss er dabei recht schnell auf Granit. Aber meine Mutter ließ es leider mit sich machen. Mit dem Effekt, dass ihr Selbstbewusstsein mehr und mehr Richtung Null tendierte.

Ich weiß nicht, wie oft ich auf sie eingeredet hatte, versucht hatte, sie aufzubauen, stark zu machen, stark genug um von ihm loszukommen. Vergeblich. Stattdessen heirateten sie.

Nach dem Abitur bewarb ich mich bei der Polizei und wurde genommen. Die Ausbildung samt Studium sollte in einer Nachbarstadt stattfinden. Ich hatte die Wahl. Weiter bei meiner Mutter, Tristan und Albert wohnen bleiben, oder in einem Wohnheim mit meinen Mitauszubildenden. Ich entschied mich, wenn auch zögernd, für letzteres. Nach dem ersten Jahr Wohnheim suchte ich mir mit Kollegen eine Wohnung. Es wurde eine lustige fünfer WG. Zwei Jungs, zwei Mädels und ich.

Zwei weitere Jahre später löste sich das ganze wieder auf. Ausbildungsende. Ich hatte schon vorher in Planung, so schnell wie möglich weg zu ziehen. Die Möglichkeit kam nun. Aus dem Ruhrgebiet Richtung Erftkreis. Arbeiten in Köln. Hier fühlte ich mich schnell wohl, kam mit den Kollegen gut klar und kaufte mir schließlich meine Wohnung. Dank Erbteil meines Vaters, meinem Sparbuch und der Bank.

Anderthalb Jahre hatte ich meine Wohnung jetzt, seit fast schon sechs Jahren war ich von meiner Mutter ausgezogen, vor bestimmt zwei, drei Jahren hatte ich Tristan das letzte Mal gesehen. Er musste jetzt 21 sein.

In Gedanken versunken bog ich in die schmale Straße ein, die zum Bahnhof führte und hielt vor dem Bahnhofsgebäude.

Da stand Tristan. Jeansjacke umgeknotet, ein Ruck- und ein Seesack neben sich.

Ich hupte. Er hob den Kopf, lächelte schief in meine Richtung.

Ich stieg aus und ging zum Kofferraum.

„Willst du da festwachsen?“

Hatte ich so schroff geklungen? Jedenfalls zuckte er zusammen. Er schnappte sich sein Gepäck und hob es schließlich in den Kofferraum.

„Bitte anschnallen.“

„Klar.“

Wir fuhren los.

„Also, was ist los?“ Wiederholte ich meine Frage vom Telefon.

Statt zu antworten, sank Tristan in sich zusammen.

Ich wusste, ich würde jetzt nichts aus ihm heraus bekommen. Wegen irgendetwas war er total fertig.

Bei meiner Wohnung angekommen, führte ich ihn die Treppe hoch ins Wohnzimmer.

„Deine Sachen kannst du da hinstellen. - Was zu trinken?“

Er nickte nur.

„Wasser? Obstsaft?“

„Wasser bitte.“

Ich holte aus der Küche zwei Gläser und eine Flasche. Tristan stand noch am selben Fleck, an dem ich ihn zurückgelassen hatte.

„Las uns nach draußen gehen.“ Ich nickte zum Balkon hin, der das Wohnzimmer an dessen Süd- und Westseite umgab. Auch von der Küche und dem Schlafzimmer, die beide nach Westen lagen, konnte man den Balkon betreten.

Tristan gab keinen Mucks von sich, folgte mir aber umgehend.

Wir setzten uns in die bequemen Gartenmöbel, die draußen standen. An unseren Gläsern nippend, saßen wir da. Tristan versuchte krampfhaft mich nicht anzusehen. Ich beobachtete ihn offen.

Er war dünner geworden. Früher war er ein regelrechtes Moppelchen gewesen. Seine blonden Haare waren länger geworden. Lang genug, um sie im Nacken zusammen zu binden. Ich wandte meinen Blick wieder ab, ließ ihn durch die Gegend schweifen. Zwei bepflanzte Kübel hatte ich schon nach draußen gestellt, so dass es hier nicht so kahl war. Es hatten leider noch nicht alle Bäume Blätter. Der Winter war erst spät gegangen. Umso besser tat das warme Wetter, welches das Rheinland erst seit ein paar Tagen beglückte.

Ich blickte auf die Uhr. Kurz nach 17 Uhr.

„Ich muss in einer Stunde weg. Um sieben will ich in Köln sein. Kannst gerne hier bleiben und pennen …“

Er nickte zaghaft. Man sah ihm an, dass eine Last von seinen Schultern fiel. Sei es, weil er hier schlafen konnte, oder sei es, weil es jetzt noch nicht mit der Sprache herausrücken musste. Er hatte eine Gnadenfrist bekommen.

Ich erhob mich.

„Hunger?“

Er schüttelte den Kopf.

Ich ging in die Küche und machte mir drei Brote. Durch die offene Durchreiche konnte ich ihn draußen sitzen sehen.

Mit dem letzten Brot in der Hand gesellte ich mich wieder zu ihm.

„Du kannst dir nachher an Essenssachen nehmen was du willst. Knös nur nicht rum falls du selber kochen solltest.“

„Werd’ ich nicht.“

„Was? Knösen oder selber Kochen?“

„Knösen. Werd' dir schon nichts dreckig machen.“

„Ich mach mich jetzt fertig.“

„OK.“

Mit ner etwas neueren Jeans und einem Sakko angetan verließ ich die Wohnung.

Tristan hatte ich vorher noch die Couch bettfertig gemacht und ihm Bescheid gegeben, dass es bei mir später werden könnte.

In Köln erkämpfte ich mir in der Nähe des Theaters, in das ich wollte, einen Parkplatz. Das Sakko zog ich über, die Straße lag im Schatten und es war bedeutend kühler geworden. Der Sommer würde noch etwas brauchen.

Im Foyer standen ein paar Grüppchen herum. Ich holte mir etwas zu trinken und beobachtete kurz die anderen Leute. Gemischtes Publikum. Von Studenten bis Rentnern, von gehobener Gesellschaft bis Alternativen schien alles vertreten zu sein.

Schnell wurde es voller. Ich trank mein Wasser aus und ging schnell noch auf Toilette, bevor ich mir einen Platz suchte.

Es gongte im Foyer. Das Zeichen, jetzt die Plätze aufzusuchen. Das Stück war wirklich gut besucht.

Es wurde dunkel. Erst verhalten, dann kräftigerer Applaus brandete auf.

Der Vorhang öffnete sich.

Ein alter Mann stand auf der Bühne. In der einen Hand eine Pinke Wärmflasche – in den Regieanweisungen wurde hierfür ein hier nicht gebräuchliches Wort benutzt: Bettflasche – und in der anderen Hand ein Nudelholz.

„Du bist ein böser Junge gewesen!“ deklamierte der alte Mann und schlug mit dem Nudelholz auf die Wärmflasche ein.

Auftritt einer jungen Frau.

„Aber Opa, was machst du denn da? Hast du wieder deine Medikamente nicht genommen?“

Immer wieder während des ganzen Stücks liefen mir Tränen herunter.

Ich konnte mich noch daran erinnern, wie mein Opa so auf der Straße gestanden hatte. In Bademantel und Hausschuhen. Mit seiner Bettflasche, seinem ständigen Begleiter, die, wenn sie ‚böse’ gewesen war, eins mit dem Nudelholz über bekam. Meine Mutter hatte sich um ihn gekümmert, ihm die Medikamente, die doch kaum halfen, gegeben.

Da war ich vier gewesen. Opa war bald darauf an Alzheimer gestorben. Mein Vater hatte diese Szene als Anfang für einer seiner Geschichten genommen. Er hatte oft autobiographische Erlebnisse verschriftlicht.

Deshalb liebte ich es, eines seiner Bücher zu lesen oder die daraus entstandenen Stücke zu sehen und deshalb machten sie mich immer so traurig. Wenn ich konnte, sah ich mir eines seiner Stücke an.

Am Ende, als allein eine Strickleiter auf der Bühne baumelte, gab es stehenden Applaus. Ich ging hinaus, besah mir die den Saal verlassenden Besucher. Sah Trauer, Freude, Betroffenheit, aber auch Unverständnis oder auch Abscheu ein ihren Gesichtern.

Ja, mein Vater hatte nicht immer leichte Kost geschrieben, aber was er schrieb, war immer noch aktuell, auch wenn er schon so lange Tod war.

Ein paar der Schauspieler kamen ins Foyer. Um sie herum entstand schnell ein Gewusel. Als sich die Menge langsam verlief ging ich zu ihnen herüber. Der Darsteller des alten Mannes unterhielt sich mit dem Regisseur.

Ich räusperte mich.

„Ich wollte mich für die herrliche Aufführung bedanken.“

„Oh, danke schön.“

„Ihre Interpretation hat mir sehr gefallen.“

Ich wollte wieder gehen und drehte mich daher um.

„Warten sie mal. Sie kommen mit irgendwie bekannt vor. Kennen wir uns?“

„Ich bezweifle es.“

„Wie heißen Sie denn, wenn ich fragen darf?“

„Alexander Bergefeld.“

„So heißt doch der Autor!“

„Ja. Schönen Abend noch“

Ich ließ sie endgültig stehen. Hörte sie hinter mir flüstern, dass ich der Sohn sein müsse.

Ich fuhr eine Weile kreuz und quer durch die Gegend, holte mir an einer Burgerkette noch etwas zu essen und fuhr dann schließlich nach Hause.

Tristan schlief. Schnell tat ich dasselbe.

Am nächsten Morgen, es war fast schon Mittag, tappte ich verschlafen ins Bad. Munter geworden von der Dusche ging es dann mit offenen Augen durchs Wohnzimmer.

Dort fiel dann die sauber zusammen gefaltete Decke auf der Couch auf. Daneben lag das Kissen und darauf ein Zettel.

Lieber Ali (ich darf dich doch so nennen?),

danke dass du mich aufgenommen und nicht aus-

gefragt hast. Zu gerne würde ich dir erklären, was los

ist. Aber …

Naja, jedenfalls noch mal Danke.

Falls mein Vater anruft, sag ihm bitte nicht, dass ich

hier wir. Aber wahrscheinlich wird sich eh nur deine

Mutter melden. Ihr kannst du meinetwegen sagen, dass

es mir gut geht.

Bitte sucht nicht nach mir. Ich muss mir erst einmal einen

klaren Kopf verschaffen.

Sei mit nicht Böse.

Mach es gut.

Bis irgendwann einmal

Tris

Ich saß bestimmt zwei Stunden über Tristans Nachricht. Aus dem Jungen war ich noch nie schlau geworden. So auch jetzt nicht. War er zuhause abgehauen? Ich wusste, dass er noch bei meiner Mutter und seinem Vater lebte. Aber warum sollte er abhauen? Ich hatte immer gedacht, er käme mit diesem Leben klar. Er hatte ja nie gemuckst, rebelliert. War ein braver Junge gewesen.

Ich machte mir ein frühes Mittagessen oder spätes Frühstück, wie rum auch immer und fuhr dann zum Tierheim. Mein Gassigehhund würde sich sicher über einen ausgedehnten Spaziergang freuen.

Eine der Mitarbeiterinnen begrüßte mich erfreut.

„Ali, schön dich zu sehen. Ronja wird sich freuen, dich zu sehen.“

„Moin Anni. Geht es ihr gut?“

„Ja, nur wie immer, zu wenig Bewegung.“ Sie schaute betrübt. „Du weißt ja, wo Leine und Maulkorb sind…“

„Yep. Bis nachher.“

Drinnen trug ich mich und Ronja in die dafür vorgesehene Liste ein und schnappte mir die benötigten Sachen. Dann ging ich zu Ronjas Zwinger.

„Hey meine Süße.“ Der kräftige Staffordshire Terrier geriet außer sich vor Freude mich zu sehen. Ich schloss ihren Zwinger auf und ging hinein. Wie immer wollte sie an mir hochspringen, erinnerte sich dann aber doch an ihre gute Erziehung. Zur Belohnung gab es ein Leckerli und dann legte ich ihr Maulkorb und Leine an und los ging’s.

Mit dem Auto fuhr ich ein Stück zu unserer Spazierstrecke. Erst vier Stunden später brachte ich Ronja zurück. Ich war fix und fertig, sie hätte noch gekonnt.

Als ich wieder zuhause war, blinkte mich der AB an.

„Sie hatten zwei Anrufe in Abwesenheit – Anruf 1“ Dann Datum und Uhrzeit „Alexander, hier ist deine Mutter, bist du da?... Anscheinend nicht…. Ich versuche es später noch einmal. – Anruf zwei“ diesmal war nichts auf Band gesprochen.

Tristan kam mir wieder in den Sinn. Hatte sie wegen ihm angerufen?

Gegen Abend meldete meine Mutter sich noch einmal. Ich merkte, wie sie um ein Thema herumlavierte. Aber über Tristan sprach sie nicht.

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich mit Lesen, Kochen und ich ging mit zwei Kumpels ins Kino. Ich bemerkte, wie ich mich draußen immer wieder suchend umschaute.

Auch am Dienstag, als ich am Steuer des Streifenwagens saß, scannte ich unbewusst immer wieder die Straßen nach ihm ab. Aber er blieb verschwunden.

Nachdem wir einen Unfall aufgenommen hatten – der 01 (Unfallverursacher) war zu schnell gefahren, ins Schleudern gekommen und war in ein anderes Auto gekracht – machten mein Streifenpartner Niels und ich uns wieder zur Polizeistation auf. Unterwegs kaufte ich mir noch einen Salat mit Baguette. Auf der Wache war nicht viel los. Ich verdrückte mich in den Gruppenraum, während Niels sich schon mal an den PC setzte und anfing den Unfallbericht zu schreiben. Ich würde gleich nachkommen und die Skizze zeichnen. Das machte ich lieber, als mich mit IGVP zu quälen. Das Programm und ich standen manchmal auf Kriegsfuß.

Der restliche Dienst verlief ruhig. Zwei Anzeigen wegen Ladendiebstahl und kurz gegen Ende eine Ruhestörung. Im Sommer würden die überhand nehmen.

Die Woche verging. Weder meine Mutter noch Albert meldeten sich und ich begann den kurzen Besuch von Tristan zu vergessen.

Am Samstag wurden ich und Sonja, meine Partnerin für diesen Tag, zu einem Einsatz auf einem Schrottplatz gerufen. Genaue Angaben waren nicht gemacht worden.

Am Eingangstor des Schrottplatzes erwartete uns der Besitzer und dirigierte uns in eine hintere Ecke des Platzes. Einer seiner Mitarbeiter würde da auf uns warten.

Dieser führte uns zu einer Blutlache, daneben lagen ein aufgeschlitzter Rucksack und Papierfetzen. Rundherum stapelten sich angerostete Autos, Glasscherben waren auf dem Boden zerstreut, der Boden schimmerte hier und da ölig.

„Tja, ein Kunde brachte ein Auto zum Verschrotten vorbei. Er hatte einen Hund mit und der machte sich selbstständig. Hier haben wir ihn gefunden. Er schnupperte am Blut herum. Der Kunde bestand darauf, die Polizei anzurufen. Mein Chef kann ihnen die Adresse des Kunden geben, wenn sie die brauchen.“

„Ja, die brauchen wir sicher. Und wer sind sie?“

So wie es hier aussah, konnte hier alles passiert sein. Eine Schlägerei? Ein Mord war hier sicher nicht geschehen. Zu wenig Blut. Wenn es denn Blut war und keine rote Flüssigkeit.

Ich beugte mich hinunter und begutachtete die Papierfetzen. Handschriftliche Notizen, eine Bahnfahrkarte, irgendwelche Ausdrucke.

„Leitstelle für Anton drei/elf“

Kollegen von der Kriminalwache – die Kriminalkommissariate waren ja jetzt nicht besetzt – kamen den Tatort aufnehmen. Sonja und ich spielten derweil absperren. Als würde jemand am hintersten Winkel eines Schrottplatzes vorbeikommen.

Irgendwann wurden wir von der nächsten Schicht abgelöst und ich fuhr, nach einem kurzen Kleiderwechsel auf der Wache, nach Hause.

Am nächsten Tag ging ich mit Freunden Bowlen. Es wurde spät und statt von alleine aufzuwachen, weckte mich am frühen Montagnachmittag die Türklingel.

Verschlafen schlüpfte ich in die Klamotten von gestern und schlurfte hin.

Zwei Herren – meiner Meinung nach erschreckend wach aussehend – blickten mir freundlich entgegen.

„Herr Bergefeld?“ fragte der ältere der Beiden.

„Ja?“

„Kripo Köln! Das ist Herr Tennesch und ich bin Herr Otto“ Im gleichen Augenblick zückte er einen Ausweis und eine Kriminaldienstmarke.

Bevor Herr Otto den Ausweis genauso schnell wieder wegstecken konnte, hatte ich ihn mir geschnappt.

Jep, das war ein echter Polizeiausweis. Ein kleines billiges Foto, auf einem scheckkartengroßen laminierten Stück Pappe. Dazu recht Bruchanfällig, wie ich aus Erfahrung wusste.

Ich gab den Ausweis zurück und bat die beiden herein.

„Entschuldigen Sie, ich bin gerade erst aufgestanden. Wenn Sie nichts dagegen haben, verschwinde ich mal kurz im Bad und Sie können hier Platz nehmen.“ Dabei deutete ich auf meine Essecke.

Vier Minuten später war meine Blase bedeutend leerer und meine Augen blickten, dank kaltem Wasser, schon munterer in die Welt.

„Also, meine Herren, was kann ich für Sie tun?“

„Nun, vorgestern wurden auf einem Schrottplatz ein paar verdächtige Dinge gefunden. Unter anderem Papierfetzen. Auf einem von denen stand Ihre Telefonnummer.“

„Samstag?! Auf dem Schrottplatz in der Nähe der Bahngleise? Wurde da auch ein aufgeschlitzter Rucksack gefunden?“

„Wie kommen Sie darauf?“ Die beiden musterten mich argwöhnisch.

„Nun, wenn es von diesem speziellen Schrottplatz ist … ich war dort mit meiner Kollegin Sonja Maier von der Leitstelle hingeschickt worden und war noch dabei, als die Kollegen von der K-Wache eintrafen. – Aber ich verstehe nicht, was meine Telefonnummer da gemacht hat.“

„Haben Sie vielleicht einen Zettel mit ihr darauf dabeigehabt? Vielleicht wollten Sie diese jemandem geben?“

Ich schnaubte leicht durch die Nase.

„Das wäre eine schöne, einfache Erklärung. Nur leider nicht die Wahrheit.“

Ein Gedanke blitzte auf.

„War da nicht auch eine Bahnfahrkarte dabei? Was waren Abfahrts- und Ankunftsort?“

„Von Dortmund nach Pulheim.“

Ich nahm einen Schluck Wasser. Dachte bei mir, meine Idee sei doch total idiotisch, aber mein Gefühl sagte etwas anderes.

„Mein Stiefbruder. Tristan Wegener, er hat mich vorletzten Donnerstag besucht. Das heißt, er hat mich einfach so angerufen, obwohl wir nie viel Kontakt hatten. Ich sollte ihn vom Bahnhof abholen. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Ich habe ihn bei mir schlafen lassen. Dachte, vielleicht würde er ja am nächsten Tag oder so mit mir reden wollen. Aber am nächsten Morgen war er weg. Hat nur einen Zettel hinterlassen.“

„Haben Sie den Zettel noch?“

„Mhm, warten Sie…“

Ich stand auf, ging zu meinem Schreibtisch und kramte darauf rum. Dann fiel mir ein, dass ich ihn ins Altpapier getan hatte.

Ich ging in die Küche und holte den Pappkarton, den ich dafür bereithielt. Am Esstisch wühlte ich darin herum. Unter der Tageszeitung von Dienstag fand ich den Zettel schließlich.

„Hah! - Hier ist er, bitte schön.“

Herr Otto bedankte sich. Die beiden stellten noch ein, zwei Fragen, aber als sie bemerkten, dass ich nicht mehr wusste, bedankten sie sich und gingen.

Ich ging auf den Balkon und sah den Wagen - einer der üblichen zivilen alten Opel Astras - zurücksetzen und die Straße herunterfahren. Auch als ich den Wagen nicht mehr sehen konnte, blieb ich stehen. Eine Minute, fünf Minuten, eine halbe Stunde ... dann fand ich mich im Wohnzimmer mit dem Telefon in der Hand wieder.

„Tut .... tut .... tut“

Welche Nummer hatte ich gewählt? Hatte ich überhaupt eine Nummer in den Nummernblock getippt?

„.... tut ... Wegener?“

„Mama?“ ich schluckte.

„Ali, bist du es?“

„Ja.“ Ich sammelte mich kurz. „Wie geht’s dir?“

Sie zögerte kurz. „Gut. Doch doch, ganz gut.“

„Freut mich.“ Sie war nicht wie sonst. Ich glaubte ihr kein Wort. Aber sie darauf ansprechen?

„Du wunderst dich sicher, warum ich anrufe ... Ich wollte mich nach Frau Wagenknecht erkundigen. Du hattest letztens erzählt, sie wäre wegen eines Oberschenkelhalsbruchs ins Krankenhaus gekommen. Ist sie wieder zu Hause?“

„Ja. Ihr geht es schon wieder gut. Sie ist seit ein paar Tagen aus der Reha zurück.“

„Bestell ihr bitte schöne Grüße ja?“

„Mach ich.“

„Was machen Albert und Tris? Auch alles ok?“

„Ja. Albert geht es gut. Viel Arbeit, aber sonst alles ok. Weißt du, er wird vielleicht bald befördert. Da muss er richtig reinklotzen. Er ist viel im Büro und ...“ Sie plapperte vor sich hin.

Als sie kurz Luft holte fragte ich noch mal nach Tris.

„Dem… dem geht es natürlich auch gut. Du, ich glaube, es hat an der Tür geklingelt. Ich melde mich demnächst mal wieder bei dir. Mach es gut.“ Und schon legte sie auf.

Irgendetwas war da im Busch.

Nach einem kurzen Imbiss schwang ich mich auf Motorrad und fuhr durch die Gegend. Erst spät am Abend kam ich zurück und ging sofort ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte ich Frühschicht. Also früh aufstehen, duschen, anziehen und ins Auto. Ich parkte, ging zur Tür und tippte den Türcode ein. Das Türschloss surrte und auf meinen Druck hin ging sie auf. Ich grüßte den Wachleiter der Nachtschicht, und zwei Kollegen, die bei ihm standen. Ein Bürger, oder Kunde, wie es ja offiziell hieß, war nicht anwesend. Im hinteren Bereich der Wache befand sich ein Umkleideraum. Dort schlüpfte ich aus meinen Alltagsklamotten in die Uniform. Nach und nach trudelten auch Kollegen meiner Schicht ein und zogen sich auch um.

Wieder vorne im Wachbereich öffnete ich mein Fach und holte meine P6 heraus. Die neue P99 sollten wir erst in zwei Monaten bekommen. Dann begab ich mich in den Gruppenraum. Die Frühschicht versammelte sich, die meisten mit einer Tasse heißen Kaffees bewaffnet.

Der neue Wachleiter teilte die heutigen Streifenpartner ein. Zwei waren schon im Läpperwagen unterwegs. Es sollte ja Präsenz auf der Straße gezeigt werden, obwohl die Frühschicht noch nicht draußen, die Nachtschicht aber schon auf der Wache war.

Auf gemeinsamen Wunsch wurde ich mal wieder mit Sonja zusammen getan.

Als wir losfuhren, war noch nicht viel los. Wir fuhren in Richtung einer in unserem Gebiet liegender Synagoge, fuhren die Straße einmal hoch und runter und blieben für etwa 10 Minuten vor ihr stehen. Nach und nach kam mehr Verkehr auf. Der Berufsverkehr startete. Und natürlich wurden wir kurze Zeit später mal wieder zu einem VU gerufen. Bis auf Blechschäden war zum Glück nichts passiert. Nur andere Verkehrteilnehmer hupten ungeduldig.

Gegen später Vormittag kam die Meldung vor einem Geschäft befände sich eine HiLo. Hier mussten wir einen Krankenwagen rufen. Diese hilflose Person hatte einen Zuckerschock erlitten. Die umstehenden Neugierigen hatten auf Trunkenheit getippt.

Wir waren fast am Ende der Schicht, da kam ein Funkspruch, ich möge mich doch sofort auf Polizeipräsidium melden. Wir drehten um und fuhren los.

Sonja fragte natürlich, was denn los sei. Ich sagte, ich wüsste von nichts, aber eine Ahnung hatte ich schon.

Herr Otto erwartete mich am Haupteingang.

„Herr Bergefeld. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. - So viel ich weiß, ist Ihre Schicht gleich zu Ende,“ wandte er sich an Sonja. „Es wird wahrscheinlich etwas länger dauern. Wir bringen Ihren Kollegen nachher schon zurück zur PI.“

Erst als ich mein OK dazu gegeben hatte, fuhr sie zurück.

Herr Otto bat mich in sein Büro. Der jüngere, Herr Tenesch, war auch anwesend.

„Kommen Sie mal bitte her, ich habe hier erste Handschriftenanalyseergebnisse. Leider vorerst nur auf dem Laptop, die Admins haben die Bilder noch nicht fürs Intranet freigeben.“

Ich folgte ihm zum Schreibtisch, auf dem er hektisch auf dem Laptop herumtippte. Herr Tenesch öffnete schließlich dass Programm, während Herr Otto mich leicht verlegen anlächelte. Schließlich fuhr er fort.

„Die Zettel, die auf dem Schrottplatz gefunden wurden, tragen laut einer ersten Ansicht durch eine Handschriftenspezialistin, dieselbe Handschrift, wie der Brief, den sie uns mitgegeben haben.“ Er zeigte mir auf einem Laptop eingescannte Vergleiche der Buchstaben und Sätze.

„Haben Sie mich deswegen rufen lassen?“

„Nein.“ Er seufzte tief. „Wir würden Sie gerne bitten mit in die Gerichtsmedizin zu kommen.“

Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

„Na…natürlich.“

Wir setzten uns zu dritt in den Zivilwagen und fuhren los. Wie seit Jahren geübt, bekam ich es hin, meine Gedanken auszusperren. Ich sah den übrigen Verkehr vorbei ziehen, sonst nichts.

In der Gerichtsmedizin durfte ich dann Tris’ Leiche identifizieren. Ruhig gab ich die Angaben von seinem nächsten Verwandten, Albert.

Wir rätselten kurz, was geschehen war. Warum Tristan nach Köln gekommen war. Wer ihn warum getötet hatte. Die Ermittlungen würden es hoffentlich bringen.

Nachdem die beiden sich vergewissert hatten, dass es mir gut ging, fuhren sie mich zur Polizeistation.

Ich ging hinein, legte meine Waffe zurück und zog mir wieder meine Alltagsklamotten an.

Dann fuhr ich an den Rhein. Setzte mich an einer stillen Ecke ins Gras und starrte das vorbei fließende Wasser an.

Jetzt konnte ich meine Gedanken nicht mehr beherrschen. Wie eine Walze brachen sie meine schützende Mauer ein. Die Mauer, die mich begleitete, seit mein Vater gestorben war, die noch höher wurde, als meine Mutter sich mehr und mehr veränderte.

Bilder stürzten auf mich ein. Von allen denen, die ich verloren hatte. Vor allem mein Vater, aber auch meine Mutter- obwohl sie ja noch lebte. Aber sie war für mich unerreichbar geworden. Jetzt war die einzige Person tot, die ich gerne an mich heran gelassen hätte. An die ich mal kurzeitig versucht hatte, näher zu kommen, wie mir nun wieder einfiel. Doch ich war an SEINER Mauer abgeprallt. Ein guter Grund für mich, meine eigene Mauer weiter zu erhöhen.

Meine Ziegelsteinmauer zerbrach, würde nun Stahlbeton Einzug halten? Ich wusste es nicht, musste die Zukunft auf mich zukommen lassen. Nur sie konnte Antworten bringen.

Mein Vater, wenn er denn noch lebte, hätte aus diesem Ereignis sicher eine seiner Geschichten geschrieben - absurd, viel zu realistisch, aber gewiss auch ins Komische hinein gezogen. Nur mir kam es im Moment gar nicht komisch vor.

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