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Was bringt der Winter?

Winterchallenge 2005

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von der Redaktion

Dies war ein Beitrag zur WinterChallenge 2005

Was bringt der Winter?

„Jetzt beeil dich endlich, wir haben noch viel vor“, hörte ich meine Mutter irgendwo sagen.

Hallo! Ich bin 17 und dein Sohn und nicht dein Schwertransporter. Mühsam schleppte ich die ganzen Tüten diverser Modegeschäfte und Einrichtungshäuser durch die Einkaufspassage. Jedes Jahr zu Weihnachten das selbe Spiel: Meine Mutter zückt die Kreditkarte meines Vaters und macht die Stadt unsicher. Und ich, ihr heiß geliebter, einziger Sohn, darf Packesel spielen. Toll, oder?

„Kommst du jetzt endlich?“

„Ja! Ich bin unterwegs. Kannst du mir vielleicht mal was abnehmen? Ich seh kaum noch was.“

„Stell dich nicht so an, die paar Sachen.“

Klar, wenn es nur ein paar Sachen wären, würde sie mich dabei ja nicht brauchen. Manchmal kam mir der Gedanke, die einzigen Gründe für sie, mich wahrzunehmen, sind diese Weihnachtspackesel-Geschichten, die natürlich auch an meinem Geburtstag, Ostern, dem Geburtstag meines Vaters, eigentlich ist er ja mein Stiefvater, ihrem Geburtstag und und und stattfinden und natürlich zum Angeben.

Erst letztens wieder, bei einem Empfang von Vaters Firma – naja nicht ganz seine, er ist Teilhaber. Ich musste mal wieder einen dieser schrecklichen Anzüge anziehen, dabei bleibt mir allein, wenn ich Krawatten auch nur ansehe, schon fast die Luft weg, und dann wurde ich von einem der Geschäftspartner zum anderen geschleppt.

„Adriaan Jeroen“ – zur Info, das ist meine Wenigkeit –„hat schon wieder so eine gute Klausur in Wirtschaft und Politik geschrieben!“ – sie sagte natürlich nicht Sozialwissenschaften, obwohl es ja nur Bestandteile dieses Fachs sind – „...und die Mathematikklausur, Hildegard, du wirst es nicht glauben, die beste Klausur der Jahrgangsstufe. Er wird ein hervorragender BWL-Student werden, obwohl er ja auch mit Jura liebäugelt…“ Dabei tätschelte Sie mir den Arm und ich versuchte, mir meine Gedanken nicht am Gesicht ansehen zu lassen. Es wäre ja nicht so, als dass BWL oder Jura keine interessanten Fächer wären, nur leider sind sie absolut nicht mein Fall. Aber ich sollte ja später in die Firma eintreten.

Am liebsten wäre ich in meinem Zimmer gewesen, wäre etwas im Web gesurft, hätte was gelesen oder auch nur die Hausaufgaben gemacht, Hauptsache, ich wäre nicht im „Salon“ gewesen. Mit Hausaufgaben als Ausrede flüchtete ich auch eine halbe Stunde später.

Leider konnte ich damit jetzt nicht kommen. Meine Mutter wusste, dass ich sie schon erledigt hatte – diese Ausrede hatte ich gestern Abend schon verbraucht – und da samstags keine Schule war, konnten leider auch nicht auf noch so wundersame Weise welche dazu gekommen sein.

Meine Mutter schlüpfte gerade in noch ein „letztes“ Geschäft herein. Da sie, bis auf den versteckt gelegenen Sexshop, schon alle Läden abgeklappert hatte, war es diesmal sogar wirklich das letzte. Zumindest in dieser Einkaufpassage.

Ich trottete ergeben hinter ihr her. Meine Mutter kam natürlich nicht auf den Gedanken, dass ein fast 18 jähriger, knapp sechs Monate vor dem Abitur stehender Junge, an einem Samstagnachmittag etwas besseres vor haben könnte, als sie zum Einkaufen zu begleiten.

Leider hatte sie auch noch Recht damit. Freunde hatte meine Mutter schon lagen vergrault, mit ihrem angeberischen neureichen Getue, und so blieb mir nicht viel. Trotzdem wäre ich lieber allein losgezogen.

Meine Mutter war sogar überraschend früh fertig in diesem Laden. Ihre schärfste Konkurrentin in Sachen „Hübscher, Reicher, Klatschthema der Woche“ befand sich nämlich auch darin. Es war natürlich unter ihrer Würde, dieselbe Luft wie sie zu atmen – aber sie kam erst heraus, nachdem sie sich lauter Nettigkeiten an den Kopf geworfen hatten.

Nachdem wir das Geschäft verlassen hatten, hörte ich von schräg hinten Getuschel.

„Guck mal, der Obermayr, dieses Muttersöhnchen.“ und „Schwuchtel“ erklang es dort verächtlich. Mitschüler von mir. Automatisch nahm mein Gesicht einen neutralen, andere würden vielleicht sagen, snobistischen, Gesichtsausdruck an.

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Weihnachten war wie immer die Hölle. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Drei Tage später wurden mein Vater und seine zwei Partner verhaftet. Veruntreuung von Firmengeldern, Abzocke der Anleger, falsche Börseninfos, Insidergeschäfte, hab ich noch was vergessen? Nein, die paar Kleinigkeiten waren es.

Nun war meine Mutter definitiv das Klatschthema der Woche. Theatralisch wie sie war, schluckte sie ihre gesammelten Kollektionen an Schlaf- und Beruhigungstabletten.

Ich glaube nicht, dass sie sich umbringen wollte, aber sie sprang dem Tod nur noch so eben von der Schippe.

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Am Morgen, nachdem ich sie nachts in ihrem Schlafzimmer entdeckt hatte, klingelte das Telefon. Das, von dem nur eine Hand voll Leute die Nummer hatten, und die auch noch nicht von den Scharen von Journalisten und erbosten Anlegern ausfindig gemacht worden war.

Daher ging ich hin und hob den Hörer ab.

Aber sagen tat ich nichts.

„Erika?“, fragte unsicher eine Stimme.

Erika ist der Name meiner Mutter, sie benutzte allerdings immer ihren mittleren Namen, Giselle.

„Nein, Sie ist nicht hier.“

„Adriaan? Bist du es?“

„Wer ist da?“

„Deine Tante Veronika, Erikas Schwester… erinnerst du dich noch?“

„Ja.“ Mutter hatte tatsächlich eine Schwester, auch, wenn sie schon seit meinem fünften Lebensjahr total zerstritten waren und sich auch vorher eher gemieden hatten.

„Was willst du?“, fragte ich daher eher misstrauisch.

„Meine Hilfe anbieten.“

„Wie kannst du uns helfen?! Und warum solltest du es überhaupt tun?“

„Erika ist meine Schwester, du bist mein Neffe, und Eckehard, naja …“, sie verstummte.

Eckehard ist der Name meines Stiefvaters.

„Was wärst du denn bereit, zu tun, für uns?“

„Ich … ich weiß nicht, braucht ihr was?...“

„Wie wäre es mit einer neuen Familie für mich!“, ich schrie fast in den Höher. Dann legte ich auf.

Meine Hand zitterte.

Erst am nächsten Tag versuchte sie, mich wieder zu erreichen.

„Adriaan? Ich bin es, Veronika.“

„Hallo. Tut mir Leid wegen gestern, irgendwie… ich weiß nicht….“

„Adriaan, soll ich vorbeikommen? Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Erika einen Nervenzusammenbruch hatte und im Krankenhaus ist.“

Nervenzusammenbruch hatten sie es genannt? Ich hatte keine Zeitung mehr angefasst.

„Nein, tu dir das nicht an. Aber…“ Mir kam spontan ein Gedanke. „Kann ICH nicht zu dir kommen? Ich weiß, wir kennen uns gar nicht und …“

Sie unterbrach mich.

„Dagegen hätte ich ja nichts, aber willst du deine Mutter nicht besuchen … und deinen Stiefvater?“

„Meinen Vater will ich nicht sehen, und meine Mutter will mich nicht sehen. Sie sagt, ein Besuch von mir würde sie nur an ihren doch so heißgeliebten Ehemann erinnern, der ihr doch so großes Unglück zugefügt hat.“ Ich bemühte mich, nicht verbittert zu wirken, doch meine Stimme brach.

„Ach Adriaan“, sie sagte das mit so viel Gefühl und Verständnis in der Stimme, ohne mitleidig zu wirken, dass ich tatsächlich anfing zu heulen.

„Pack deine Sachen. Ich hole dich morgen früh ab, und wenn ich die ganze Nacht durchfahren muss.“

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Im Endeffekt dauerte es einen Tag, bis ich mitdurfte. Das Jugendamt hatte keine Probleme damit gehabt, mich allein im Haus zu lassen, aber mit meiner Tante durfte ich erst mit, als sie Theater machte und darauf verwies, dass ich doch schon fast volljährig wäre.

So kam es, dass ich mit Beginn des Jahres von zu Hause auszog, von München weg nach Norddeutschland. Von zu Hause weg, unter ganz anderen Bedingungen als ich es mir früher immer ausgemalt hatte.

Und ich trug seit 14 Jahren zum ersten Mal wieder meinen richtigen Nachnamen, Nijhoff. Denn mein Stiefvater, mit dem schönen Nachnamen Obermayr, hatte mich nie adoptiert und wohl auch immer auf ein eigenes Kind mit meiner Mutter gehofft. Ich weiß bis heute nicht, mit welchen Tricks es meine Mutter hinbekommen hatte, dass alle dachten, ich hieße auch Obermayr.

Mein leiblicher Vater, Willem Pieter Nijhoff, hatte sich kurz nach meiner Geburt von meiner Mutter getrennt. Vielleicht war es auch anders herum, weil er ihren Ansprüchen nicht genügte. Wer weiß?

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Das Haus von Tante Veronika war ganz anders als mein Elternhaus. Um einiges kleiner, aber dafür besaß es etwas, das mir immer gefehlt hatte – Gemütlichkeit.

Es lag in einem kleinen Dorf am Stadtrand, war schon etwas älter und von einem kleinen Garten umgeben.

Im Erdgeschoß wurde ich durch den Flur direkt ins Wohnzimmer geführt. Veronikas Mann wartete schon auf uns. Herbert. An ihn konnte ich mich noch gut erinnern. Sie waren einmal - war ich da vier? - bei uns gewesen und er hatte mich mit seinem Vollbart, dem etwas stämmigen Körper und der Reibeisenstimme an einen gemütlichen Räuber Hotzenplotz erinnert. Der Bart war verschwunden, aber er strahlte immer noch diese Ruhe und Gelassenheit aus, wie damals.

„Adriaan. Ich freue mich, dich wiederzusehen.“ Er streckte mir seine Hand zum Schütteln hin.

„Danke für die kurzfristige Aufnahme.“ Ich war verlegen. Am Telefon und in München hatte es sich so gut angefühlt, wegzugehen, einfach nur wegzugehen. Doch jetzt war ich in einer fremden Umgebung, musste Hilfe annehmen von Leuten, die mich kaum kannten und die ich kaum kannte.

Ob Herbert meine Unsicherheit bemerkte? Auf jeden Fall zog er seine Hand wieder zurück und mich zu sich hin, in eine Umarmung.

„Willkommen zu Hause.“

Diesmal krächzte ich nur ein Danke heraus.

Er wandte sich an Veronika.

„Schatz, du bist sicher sehr müde. Ich habe in der Küche Abendbrot zubereitet – ein paar Brote. Den Tee habe ich aufgesetzt, als ich den Wagen gehört habe.“

„Danke, du bist ein Schatz.“ Sie gab ihm einen Schmatz auf den Mund.

„Oder willst du lieber Kaffee, Adriaan?“

„Nein danke, sonst kann ich nachher nicht schlafen.“

„Natürlich. Geht schon essen. Ich kümmer mich um das Gepäck und trage es in dein Zimmer hoch.“

„Das brauchst du nicht, das kann ich selber mache.“

„Keine Widerrede, Junge. Ich will mich doch nützlich fühlen.“

Er zwinkerte Veronika zu, ging in den Flur und schnappte sich eine Jacke vom Haken, bevor er in die Kälte hinausstapfte.

Von Veronika wurde ich in die Küche geführt. Eine Küchenzeile, Buche, zur Seite weisende Fenster und eine Essecke, auf deren Tisch ein großer Teller mit Butterbroten wartete.

An diesem Abend ging ich direkt nach dem Essen und einem Sprung unter die Dusche ins Bett.

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Am nächsten Morgen wachte ich orientierungslos auf. Das Bett stand auf der falschen Seite, zwei große Reisetaschen auf dem Boden. Doch langsam dämmerte es mir, wo ich war. Im Gästezimmer, nein, jetzt meinem Zimmer, im Haus meiner Tante.

Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Fernseher, und als ich aufstand und die Rollläden hochzog, ein wunderschöner Ausblick vom ersten Stock auf verschneite Wiesen und Bäume. Es hatte nachts geschneit.

Meine Blase meldete sich plötzlich eindringlich. Ich versuchte, mich an den Weg zum Badezimmer zu erinnern und fand ihn auch spontan. Netterweise war es frei. Denn im Gegensatz zu München würde ich es mir teilen müssen. Mit Tante und Onkel und mit Mark, meinem Cousin.

Dieser war zur Zeit in Hamburg, bei Freunden, und würde erst am Sonntagnachmittag, rechtzeitig vor Schulbeginn zurückkommen. Mir war es recht, so konnte ich mich in Ruhe mit dem Haus und den älteren Anverwandten bekannt machen.

In dieser Woche lernte ich die wichtigsten Dinge, die das Haus betrafen, erkundete das etwa 1.000 Einwohner zählende Dorf und die nahe Kreisstadt, in der meine neue Schule sein würde und einmal fuhren Veronika und ich ans ca. 20 km entfernte Meer und gingen den gefrorenen Strand entlang.

Bei diesem Spaziergang ließ ich mir vom kalten Wind das Gehirn freiblasen. Endlich konnte ich richtig abschalten. Mich frei fühlen.

Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als wir zum Auto zurückkehrten.

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Der Sonntag kam und mit ihm Mark. Herbert holte ihn vom Bahnhof ab. Ich war sehr gespannt.

Aus den Erzählungen wusste ich, dass er zwei Jahre älter war als ich, in der zwölf, da einmal sitzengeblieben, und … etwas ungewöhnlich. Aber wie genau, das wusste ich nicht.

Er würde mich morgen zur Schule begleiten, ich würde auch wieder in die zwölf gehen. So ein Wechsel des Bundeslandes tat der Schullaufbahn definitiv nicht gut. Aber da ich einmal eine Klasse übersprungen hatte, war es für mich persönlich nicht so schlimm.

Gepolter und lautes Auf- und wieder Zustoßen der Haustür riss mich aus meinen Gedanken.

„Mum, dein Teufelchen ist wieder da!“

„Ich höre es“, erklang es amüsiert. „Na, wie war es in der Großstadt? Alles gut gelaufen?“

Ich ging leise die Treppe hinunter.

„Jap, alles in Ordnung. Wo ist denn der Sohn deiner Schwester?“

„Er heißt Adriaan, das weißt du doch.“

„Und er steht direkt hinter dir. Wenn du nicht so laut gewesen wärst, hättest du mich garantiert gehört.“

Er drehte sich um und mir stockte der Atem. Dunkle, mit Kajal schwarz umrandete Augen blickten mich an, die Kapuze des Parkas rutschte ihm bei der Bewegung vom Kopf und entblößte lange, schwarze, im Nacken wohl zusammengebundene, Haare. Die Augen musterten mich kritisch von oben bis unten.

„Kannst den Mund wieder zumachen, Kleiner. Bin vollkommen harmlos.“ Er zwinkerte mir zu. „Naja, fast zumindest.“ Dann lachte er leise.

Ich weiß nicht warum, aber ich fiel ins Lachen ein.

„Und, schon ein bisschen eingewöhnt?“ Er stapfte in den Flur, stieß seine Docs von den Füßen, ignorierte dabei das leicht verärgerte „Mark!“ von seiner Mutter und hängte den Parka auf.

Ein schwarzes, eng anliegendes Sweatshirt kam zum Vorschein. Die Kapuze verdeckte einen Teil des Totenkopfs, der den Rücken zierte.

Beim Abendessen erzählte Mark etwas über seine Erlebnisse in Hamburg. Doch so recht konnte ich mich nicht aufraffen, dem zu folgen. Die Gedanken an die neue Schule lenkten mich zu sehr ab. Und dann war da noch die Befürchtung, erkannt zu werden, als der Sohn eines Betrügers.

Klar, mein Nachname würde mir helfen… Aber vielleicht geisterte irgendwo ein Foto von mir herum? Ich hatte zwar immer versucht, mich vor Terminen und den dabei obligatorischen Fotos zu drücken, doch war mir das immer gelungen?

Ich entschuldigte mich verhältnismäßig schnell nach dem Essen und ging in mein Zimmer.

Wider Erwarten schlief ich tief und fest.

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Am Morgen quetschte ich mich in Marks Klapperkiste. Für meine 1,87 m war sie eindeutig zu klein. Und Mark war auch noch ein paar Zentimeter größer als ich.

Er bemerkte wohl meinen kritischen Blick.

„Habe letzte Sommerferien gejobbt. Dieses Prachtstück konnte ich mir danach leisten.“ Er grinste schief.

„Hauptsache, er fährt.“

„Jep.“

Schweigend fuhren wir weiter, um etwa 10 Minuten später auf den Parkplatz des Gymnasiums zu landen.

„Soll ich dich ans Händchen nehmen, oder willst du dich alleine durchkämpfen?“ Der Ton war - nicht zu diesen Worten passend - freundlich. Und er zwinkerte mir eindeutig zu.

„Hmpf ... sind die Leute hier denn so schlimm, dass ich einen Aufpasser brauch?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Er wurde ernster. „Gibt natürlich immer welche, mit denen man sich nicht anlegen sollte. Aber das checkst du schon.“

„So viel traust du mir zu?“

Er sah mir direkt in die Augen, als er ja sagte.

„Los, komm, lass uns nicht im Auto versauern.“

Wir verbogen uns also, um den Wagen verlassen zu können und landeten in der kalten Winterluft.

„Was hast du jetzt?“

Ich reichte Mark meinen Stundenplan.

„Hey, dann komm gleich mit, den Kurs haben wir zusammen.“

„Du belegst Religion?“

„Ja.“ Er grinste mich an. „Ich liebe den Ausdruck des Lehrers, wenn ich auftauche und der dann noch erschrockener wird, wenn ich mich anschicke, den Mund aufzumachen. - Dabei bin ich doch gaaanz harmlos.“

„Ich lass mich überraschen.“

„Nein, ich halte mich wirklich zurück. Aber die katholischen Religionslehrer sind hier alle stockkonservativ.“

„Schlimmer als in Bayern können sie doch nicht sein?!“

Der sich Lehrer schimpfende Typ, Herr Wühlmert, war schlimmer als mein bayerischer. Und der Kurs war klein, richtig überschaubar. Die meisten Schüler waren wohl evangelisch. Ich gehörte also einer Minderheit an.

Zum Leidwesen Herrn Wühlmerts kannte ich mich gut in Religionsthemen aus. Nachdem er das herausgefunden hatte, nahm er sich jemanden anders zum Piesacken vor. Auch Marks Aufzeigbemühungen übersah er geflissentlich.

Nachdem die Stunde endlich vorbei war, verzogen wir uns zwecks Raumwechsels auf den Gang.

„Und, wie fandest du es?“

„Ich bin begeistert. Solch einer pädagogischen Korifäe bin ich schon lange nicht mehr begegnet.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Hach, noch ein Bewunderer des alten Wühlmäuschens?“, erklang eine raue Stimme neben uns.

„Stian!“, quietschte mein Cousin los, hüpfte auf einmal wie ein kleines Teufelchen auf und ab, um den Besitzer des Reibeisens zu umarmen.

Stian ließ das über sich ergehen, um sich nach und nach mit Gegenknuddlern aus Marks Griff zu befreien. Dann streckte er mir eine Hand hin.

„Hi, ich bin Stian, und du?“

„Adriaan – Marks Cousin.“

Nach den Handshakes musterte er mich von oben bis unten.

„Willst du dich an deinem ersten Schultag bei den Lehrern einschleimen?“

Was sollte das jetzt? Ich muss in angeguckt haben wie den gerade auferstandenen Elvis. Dann fand ich meine Sprache wieder.

„Sorry. Wie meinst du das?“

„Ja, deine Klamotten!“

Hey, das waren mit meine legersten. Was ich auch zum Ausdruck brachte.

„Gut, Memo an Mark – heute Nachmittag bei dir, wir nehmen Andriaans Klamotten unter die Lupe. Sonst kann man sich ja nicht mit ihm sehen lassen. Schadet sonst noch unserem Ruf. – Du hast da doch nichts gegen?“ Jetzt wandte er sich wieder mir zu.

Leicht überfahren schüttelte ich den Kopf.

„OK, guter Junge. Man sieht sich.“

Nachdem ich mir meine Mitschüler betrachtet hatte, stellte ich fest, dass ich wirklich leicht overdressed war. OK, ein paar liefen schon so wie ich rum, aber das waren die Art von Typen, die ich nicht mochte. Angeberische Protzer, die nichts auf die Reihe bekamen, aber nur mit dem Geld ihrer Eltern winken brauchten, damit alles nach ihrer Pfeife tanzte.

Eine Gruppe solcher Jungs wollte mich auch in der Pause bei sich einspannen. Ich entdeckte zum Glück Stian, winkte ihm versteckt und ließ meinen Lippen stumm, aber wohl so eindeutig, das Wort „Hilfe“ bilden, dass er sofort seine Richtung änderte und wie zufällig angeschlendert kam.

Die Jungs bemerkten ihn dann auch.

„Adriaan Jeroen.“ Woher wussten die Idioten meinen Mittelnamen? „Da kommt gerade jemand an, den man am besten ignorieren sollte.“

Ich tat verblüfft. „Wer denn?“

„Einer aus dieser gruftigen Schwulenclique.“

„Stian Soundso“, fiel ein anderer ins Wort und zeigte auf Stian, der jetzt so nah war, dass er jedes Wort hören musste.

Ich drehte mich um.

„Schwul?“, fragte ich wieder stumm.

Er reagiert nicht drauf und ich zuckte nur angedeutet mit den Schultern.

Nun blieb er vor uns stehen.

„Hey Jo.“ Wieso blickte er dabei mich an?

„Um wie viel Uhr bei dir, war es heute Nachmittag noch mal?“

Ich merkte, wie die Nervensägen in meinem Rücken zurückwichen.

Stian zwinkerte mir zu.

Ich drehte mich zu den anderen um, nickte ihnen kurz zum Abschied zu, und harkte mich bei Stian ein, was dieser mit einem Grinsen quittierte. „Wann hast du noch mal Schule aus?“

„Für dich? – immer doch, wann du willst“, sagte er mit anzüglichem Tonfall und so laut, dass man es auch hinter uns hören konnte.

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Am Nachmittag quetschten sich Mark, Stian und ich in mein Zimmer und wollten meinen Kleiderschrank inspizieren.

„Was hab ich gehört? Du hast Adriaan vor den Weidenauern gerettet?“ Weidenau war ein Dorf in der Nähe – Gutshöfe, Villen etc. Dort wohnten wahrscheinlich die Mitschüler, die mich in ihren erlauchten Kreis hatten aufnehmen wollen.

„Jep, Jo verdankt mir sein Leben.“

„Wieso eigentlich Jo?“

„So heißt du doch mit zweitem Vornamen? Oder nicht?“

„Nein, Jeroen – ist aber egal, nenn mich ruhig Jo.“

„OK, Jo“, meinte sich jetzt Mark melden zu müssen.

„Ich kann mich nicht erinnern, dir erlaubt zu haben, mich Jo nennen zu dürfen“, knurrte ich ihn an, um gleich darauf, ob seines blöden Gesichtsausdruckes, in Lachen auszubrechen.

„Gut, gut, Erlaubnis erteilt…“, keuchte ich dann noch halb lachend.

Dann nahmen wir uns den Kleiderschrank vor. Beziehungsweise, die beiden Verrückten taten das und alberten mit meinen Sachen rum und ich flüchtete auf´s bequeme Bett.

„Du hast Recht“, verlautete Stian schließlich, „Der Rest deiner Kleidung ist noch schlimmer.“

Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Wo zum Teufel hast du das Zeug her?“

Rumms! Bei mir machte alles dicht. Mein Gesicht fiel wieder in seine alten Gewohnheiten zurück und schaltete auf ausdruckslos.

Stian sah daraufhin Mark an. Doch der konnte auch nichts sagen, denn er wusste so gut wie nichts darüber, warum ich hier war und wie ich vorher gelebt hatte.

Ich presste schließlich ein „Frag nicht“ heraus.

Zu meiner Erleichterung wechselten wir daraufhin das Thema, wenn auch nicht die Thematik.

„Gut. Stimmst du mit uns überein, dass du andere Sachen brauchst?“ Mark zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, schon, aber … kein Geld.“ Ich zuckte, halb entschuldigend, mit den Schultern.

„Kein Problem!“

„Nicht?“

„Nein. Es sei denn, du hast was dagegen, einen Teil deiner Sachen in Geld zu verwandeln oder gegen bessere Klamotten einzutauschen?“

„Nee.“

„Schön.“ Stian grinste mich an, dreht sich um und fing an, ein paar der teuersten Sachen in zwei große Taschen zu stopfen. Ein paar weniger scheußlichen Sachen ließ er im Schrank.

„Man weiß ja nie, wann man mal solche Sachen braucht“, kommentierte er seine Selektion. „Auch, wenn ich so was nie tragen würde.“ Er schüttelte sich theatralisch.

„Mark!“, erklang es auf einmal von unten. „Telefon!“

„Komme!“ Und schon verschwand mein Cousin polternd die Treppe runter.

„Jo, darf ich dich was fragen?“

Hoffentlich wollte Stian jetzt nicht doch auf meine und die Herkunft meiner Kleidung eingehen.

„Ja? Was denn?“, fragte ich daher leicht misstrauisch.

„Wieso hast du mit den Schultern gezuckt, als ich auf deine Frage nicht reagiert habe?“

„Welche Frage?“ Ich wusste nicht, was er meinte.

„Heute in der Pause, ob ich schwul bin.“

„Ich habe das für eins dieser Gerüchte gehalten. Du weißt schon, um über jemanden noch abfälliger reden zu können.“

Er schaute mich nachdenklich an. Ich erwiderte seinen Blick.

„Tja, da muss ich dich enttäuschen...“

Ich runzelte die Stirn.

„…ich bin nämlich tatsächlich schwul. Und in meinem Freundeskreis sind das einige.“

Was soll man auf so eine Ankündigung hin sagen? Mit fiel nur ein „Das muss ich erst mal sacken lassen. OK?“ ein.

Wir schwiegen kurz.

Stian war der erste, der wieder etwas sagt.

„Fahren wir jetzt trotzdem Klamotten für dich organisieren?“

„Klar.“ Ich war überrascht. „Wieso denn nicht?“

„Na, weil … ach, vergiss es.“ Der Schalk schlich sich zurück in seine Augen.

Wir schwiegen eine Weile, dann verschwand er Richtung Toilette.

Und ich, ich hatte jetzt Zeit, nachzudenken.

Stian hatte gerade eben freimütig geäußert, schwul zu sein.

Irgendwie hatte ich immer erwartet …ja was eigentlich. Die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, war gelinde gesagt, konservativ. Homosexuelle wurden nicht geduldet und wenn über „solche Subjekte“ gesprochen wurde, dann wurde darüber hergezogen.

Das viele Vorurteile und Fehlinformationen da zusammenkamen, war mir klar gewesen. Aber ob nicht doch auch Wahrheit dahinter steckte? Aber wie das Trennen können?

Mir blieb nichts übrig, als mir ein eigenes Bild zu machen. Und Mark würde mein „Forschungsobjekt“ werden, beschloss ich mit einem Schmunzeln.

Ich war fast so weit, mir einen Notizblock zu schnappen, aber dann überlegte ich, dass es doch ziemlich peinlich wäre, damit erwischt zu werden.

Also würde ich mit „internen“ Notizen Vorlieb nehmen.

1. Vorurteil: männliche Homosexuelle sind alles Tunten und man sieht es Ihnen auf den ersten Blick an.

Nun, Stian war eindeutig keine Tunte. Er lief wie Mark mehr im Gothiklook rum. Schwarze Lederhose. Schwarze Docs. Schwarzes T-Shirt mit irgendeinem obskuren Aufdruck. Schwarzer Ledermantel. Kein abgespreizter kleiner Finger, keine gebrochenen Handgelenke, im Gegensatz zu Marks Augen-Make-up keine Schminke, keine Highheels.

Und Stian war, wie man aufgrund des T-Shirts gut erkennen konnte, gut gebaut. Auf muskulöse Art und Weise gut gebaut. Nicht übermäßig á la aufgepumpter Bodybuilder, sondern schön definiert. Zum Neidisch-werden…

Mitten in meine Überlegungen platzten Stian und auch Mark herein.

Ich betrachtete Mark nachdenklich. War er auch schwul? Stian hatte ja gesagt, dass das einige aus seinem Freundeskreis wären. Und Mark gehörte eindeutig zum Freundeskreis.

Ich musste meine Überlegungen auf später verschieben, denn wir brachen auf.

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Zu dritt quetschten wir uns in Marks Sardinenbüchse und brausten in die Kreisstadt. In einer verwinkelten kleinen Gasse hielten wir an. Mark warf uns und die zwei Taschen raus und fuhr dann weiter, um zu parken.

Ich schaute mich um. Ein Geschäft konnte ich weit und breit nicht entdecken.

„Komm.“ Stian nickte in Richtung eines Hauses und ging dann hin, um zu klingeln.

Ein schräger Paradiesvogel öffnete bald darauf. Rotes enges T-Shirt, kunstvoll zerfetzte Jeans, ein paar Piercings und Tatoos über den Körper verteilt und türkis, grün, orange gefärbte Haare.

Ich musste wohl leicht skeptisch geguckt haben.

„Keine Angst, ich beiße nicht. Jedenfalls nicht sofort bei der ersten Begegnung. - Ich bin Jan.“

Er nahm mir die beiden Taschen aus der Hand und verschwand wieder im Haus.

Mark sah mich fragend an. „Willst du etwa in der Kälte draußen stehen bleiben?“

Als ich mich immer noch nicht rührte, griff er sich einfach meine Hand und zog mich rein.

Nicht nur der Bewohner, auch das Haus war bunt. Der Flur war knallorange gestrichen, die Küche blass violett, ein weiterer Raum war gelb, rot gesteift. Und überall waren Pflanzen und kleine Accessoires verstreut. Aber das hatte was. Es wirkte trotzdem gemütlich.

Am Ende des Flurs kamen wir in einen gänzlich anderen Raum. Er war riesig, weiß gestrichen, mit Tageslichtleuchten ausgeleuchtet. An der Türe standen ein großes Sofa und zwei Sessel, an der Wand waren zwei, aus schwarzen Stoffvorhängen bestehende, Umkleidekabinen, daneben ein großer Spiegel, mit abklappbaren Seiten, und den Rest des Raums nahmen Regale und Kleiderstangen ein. Alles Mögliche war dort zu finden. Von punkig zu hochelegant. Von billig bis bestimmt sauteuer. Von Düster bis schreiend bunt.

Jan drehte sich um. „Tada, Willkommen in meinen heiligen Hallen!“

Dann blickte er mich musternd an und ließ seinen Blick dann von mir zu Stian wandern.

„Ihr seid zusammen? – Süß!“

Ich wurde knallrot und stotterte. „Wie… wie… nein… aber….“

Da merkte ich, wie Stian schnell meine Hand losließ. Klar, er hatte mich ja vorhin ins Haus reingezogen. Und anscheinend nicht wieder losgelassen. Komisch, das fiel mir so richtig erst jetzt auf. Und jetzt, wo er sie nicht mehr hielt… Ich schüttelte innerlich den Kopf.

„Schade!“, kommentierte Jan unser nun doch nicht Zusammensein.

„Dann schauen wir mal, was ihr mir mitgebracht habt.“ Er zog einen Kleiderständer heran und fing an, die Taschen auszupacken. Er beäugte die hervorkommenden Hemden, Hosen, Jacketts und Pullover kritisch, befühlte die Stoffe, untersuchte Nähte und Knopflöcher, hängte sie nach dieser Prozedur auf und gab dabei keinen Ton von sich.

Ich fing an, mich unwohl zu fühlen. Stian stupste mich an und deutete zum Sofa. Ergeben setzte ich mich hin. Stian plumpste neben mich, deutete auf Jan und meinte, so wäre er bei Kleidungsstücken immer.

Es klingelte. Stian wollte aufspringen. Jan hielt ihn mit der Hand zurück und ging zur Wand. Dort entdeckte ich einen Türöffner.

Kurz darauf stieß Mark zu uns und fläzte sich auf einen der Sessel.

Nach einer halben Stunde war Jan mit seiner Begutachtung fertig. Er kam auf mich zu.

„Tu mir bitte einen Gefallen, ja? Geh in die Umkleide und zieh dich bis auf die Unterhose aus. Dann kann ich deine Proportionen besser einschätzen.“

Ich seufzte, tat ihm aber den Gefallen.

Ich tapste nur in Boxershorts aus der Umkleide. Unsicher sah ich die drei an, blieb an Stians Blick hängen. Sein Blick ging durch und durch und wirkte doch wie, ja, wie zärtliches Streicheln. Er bemerkte auf einmal, dass ich ihn ansah. Quasi wie auf Kommando, sahen wir beide weg und wurden rot. Was war das gewesen?

Mark und Jan schienen nichts gemerkt zu haben. Jan bedeutete mir, mich umzudrehen.

Ich drehte mich zum Spiegel um und versuchte, mich mit ihren Augen zu sehen.

Durch Leichtathletik in jungen Jahren und Tennisspielen in letzter Zeit, verteilten sich klar definierte Muskeln über meinen Körper, trotzdem wirkte ich irgendwie schlaksig, als würde noch etwas fehlen, das zum Erwachsenwerden nötig wäre. Ich hielt mich wie immer gerade. Das war mir von klein an eingebläut worden. Und durch regelmäßiges Skifahren am Wochenende und Besuche im Außenbecken eines Münchener Thermalbades war ich naturgebräunt. Meine Gesichtszüge waren markant. Eine gerade Nase, volle, aber nicht mädchenhaft wirkende Lippen, mittelgroße blaue Augen mit braunen Einsprenklern über breiten hohen Wangenknochen. Die Haare in einem klassischen Kurzhaarschnitt, Nacken ausrasiert und mit Gel die leichten Locke gebändigt.

Im Großen und Ganzen konnte ich zufrieden sein.

Jan klatschte in die Hände.

„OK, Junge, wie heißt du eigentlich?“

„Adriaan Jeroen.“ Meinte Mark.

„Jo“, kam es gleichzeitig aus Stians und meinem Mund.

Jan schmunzelte. „Zwei zu eins. ‚Jo’ hat gewonnen. – Gut, ich nehmen an, dass du nichts in dieser Art haben willst, Jo, sonst hättest du das ja wohl nicht ausgesondert.“

Ich nickte zustimmend und mein Blick schwenkte kurz zu Stian herüber, denn er hatte ja aussortiert.

„Hast du eine Vorstellung davon, was du stattdessen willst?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur, dass ich so was nicht mehr will. Hat mir noch nie sonderlich gefallen.“

„Willst du so was, wie Stian und Mark es tragen?“

Ich druckste rum. „Hmh, ehrlich?“

„Natürlich ehrlich. Du musst es ja tragen und dich darin wohlfühlen. Es bringt nichts, von etwas ungeliebtem in ein neues zu rutschen.“

„Nun, es steht den beiden zwar gut und passt auch zu ihnen, aber …nein, für mich ist das zu düster.“

„Dann las mich mal machen.“ Und schon wuselte er los.

Tja, statt mit zwei Taschen mussten wir uns nun mit derer dreien ins Auto quetschen. Aber ich war endlich mal zufrieden mit meinen Anziehsachen.

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Ich begann, mich richtig gut einzuleben. In der Schule wären die Weidenauer nun nicht mehr auf die Idee gekommen, mich anzusprechen. Nicht, dass meine neue Kleidung so sehr einen Unterschied machte. Es waren vor allem weitere Jeans im Cargostil, dazu enge T-Shirts, Longshirts oder Sweater, kombiniert mit dicken langen Schals und ein kuscheliger Parker mit Teddyfell.

Nein, mein Auftreten veränderte sich merklich. An die Stelle gespielter Coolness trat langsam echtes Selbstbewusstsein. Ich hing mit Mark und Stian und deren Freunden ab – die im Übrigen nicht alle im Gothikstil herumliefen – und diese wussten nichts von mir. Sie nahmen mich so, wie ich bin, akzeptierten auch, dass ich so gut wie nichts über meine Vergangenheit preisgab. Klar gab es Witzeleien darüber. Ich wäre der Sohn eines Mafiapaten oder ein Auftragskiller auf der Flucht oder ähnlicher Quatsch.

Aber die Wahrheit sagte ich nicht.

Ende Januar fror die Nordsee in Strandnähe zu. Kleine Eisberge trieben über die offenen Wasserflächen. Ich feierte in kleinem Kreis meinen 18. Geburtstag. Aus München hörte ich nichts.

Obwohl ich mir vorgenommen hatte, das Projekt „Schwule Jungs – Vorurteile und Wahrheit“ über das Versuchsstadium heraus, weiterzuführen, verlief es doch im Sande.

Ich hatte mich gut eingelebt und endlich einmal einen Freundeskreis aufgebaut – auch wenn dieser nicht dem Mainstream entsprach. Bei Veronika und Herbert, Tante und Onkel ‚durfte’ ich nicht sagen, fühlte ich mich wohl und sie frotzelten mit mir genauso rum wie mit Mark. ‚Normales’ Leben pur.

Zwar versuchten die beiden, mit mir über mein ‚Münchner Leben’ zu reden, aber ich blockte immer so stark ab, dass sie es bald aufgaben.

Und eine kleine Stimme in meinem Inneren meinte, dass diese Normalität bedroht werden könnte, wenn ich meine Studien weitertrieb.

Also ließ ich sie fallen und das Projekt geriet nach und nach aus meinem Bewusstsein.

Klar bekam ich mit, wenn sich die Anderen über den einen oder anderen süßen Jungen unterhielten oder Liebeskummer hatten. Genauso wie ich dies auch bei den Heteros in der Clique mitbekam.

Aber aus solchen Gesprächen hielt ich mich eher raus.

Mit Stian freundete ich mich richtig gut an. Wir saßen manchen Abend bis spät in die Nacht und snackten – wie man hier sagt.

Zuerst hatte es den Anschein, als wenn Mark etwas eifersüchtig wäre, da er doch selber so gut mit Stian befreundet war, aber mit dem Eifersüchtig sein, war es zum Glück nicht so und am Ende des Winters kam er auch mit einem netten Mädchen zusammen.

Wir unternahmen dann auch oft etwas zu viert.

Über Ostern fiel noch mal Schnee. Den einen oder anderen Abend hockte ich bei heißem Tee bei Stian in der Bude und irgendwie kamen wir gegen Ende der Osterferien auf München zu sprechen. Ich hatte es im Gefühl, kannte ihn nun gut genug, dass man sich auf ihn 100 Pro verlassen konnte. Und so erzählte ich ihm meinen ganzen familiären Schlamassel. Er hörte ruhig zu, stellte nur selten, aber dafür an den richtigen Stellen, Fragen und am Ende nahm er mich einfach so in den Arm. Nicht bedauernd – unterstützend.

Ja, Stian war zu meinem besten Freund geworden.

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Der Winter wich endlich dem Frühling und dann kam auch schon der Sommer mit großen Schritten. Das Wetter war perfekt. Zwar hin und wieder mal eine Regenwoche, aber meist um die 25°C Grad bei Sonnenschein. Das hieß, Strandaufenthalt nach der Schule.

Jonas, einer aus der Clique, versuchte, mir das Surfen beizubringen, doch ich versagte kläglich.

Das nun hoffentlich endgültig letzte Schuljahr brach bei weiterhin gutem Wetter an und Mark, Stian und ich büffelten öfters zusammen.

Die Herbstferien kamen und gingen und die ersten Kälteeinbrüche kamen.

Dann, am ersten November war ein Brief aus München in der Post. An mich adressiert.

Er kam von der Staatsanwaltschaft.

Sehr geehrter Herr Nijhoff,

ich bitte Sie, sich am Montag, den 10. November im Gebäude der Staatsanwaltschaft München einzufinden.

Zur Vorbereitung des Prozesses gegen Herrn Eckehard Obermayr, dem Ehegatten Ihrer Mutter, benötigen wir von Ihnen noch ein paar Auskünfte.

Ich mache Sie vorsorglich schon einmal darauf Aufmerksam, dass Sie gegebenenfalls im Prozess vor dem Landgericht München, der vom 06. bis zum 21. Dezember angesetzt ist, aussagen müssen.

Da Herr Obermayr zwar mit Ihrer Mutter verheiratet ist, Sie aber nicht adoptiert hat, können Sie sich nicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen und sind verpflichtet, zu erscheinen und die Wahrheit zu sagen.

Sollte Sie aus wichtigen Gründen verhindert sein, bitte ich, dies unverzüglich anzuzeigen, damit ein schnellstmöglicher Ersatztermin gefunden werden kann.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag

Unleserliche Unterschrift

(Leithamm)

Nun saß ich in meinem Zimmer mit dem Brief der Staatsanwaltschaft in der Hand und das letzte Jahr zog wie ein Film an meinem inneren Auge vorbei. Sollte das jetzt alles vorbei sein? Der Umzug, der Schulwechsel, umsonst gewesen? Hier, wo ich mich heimisch fühlte, aufgehoben wie noch nie, als hätte ich immer hier gelebt und als wäre mein altes Leben in München nur ein lange vergangener Alptraum.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich hatte zwar auch Angst vor den Journalisten, auf Fotos von mir in der Zeitung konnte ich verzichten, aber viel mehr fürchtete ich mich davor, meiner Mutter und meinem Stiefvater zu begegnen, von denen ich nichts mehr gehört hatte, noch nicht einmal zu meinem Geburtstag.

Mir war klar, ich würde nach München fahren müssen, aber mein Gefühl wollte, dass ich, wie auch sonst immer, flüchtete – egal wohin.

Flüchten tat ich dann auch, nämlich aus dem Haus. Ich musste mir die Seele freilaufen, mir war es egal, wohin ich ging. Und doch fand ich mich auf einmal vor Stians Wohnung wieder. Keine Ahnung, wie lange ich hierhin gebraucht hatte. Aber die Dunkelheit umhüllte die Gegend schon mit winterlicher Schwärze.

Zunächst war ich unschlüssig, aber dann dachte ich mir, was soll’s, es ist kalt und du bist hier, also klingle auch.

Stian öffnete mir.

„Jo, was machst du hier? Du meintest doch, dass du heute noch für die Klausur lernen willst und nicht kannst?“

„Stian. Darf ich rein? Mir ist kalt.“

„Klar, komm rein. Wieso hast du denn keine Jacke an? Bist du mit dem Auto?“

„Nein, zu Fuß.“

„Aber warum…?“

Wir waren in der Wohnküche angekommen. Ich sah Stian im Licht eines einzelnen Deckenfluters stehen. Doch immer wieder schoben sich Bilder aus München darüber.

„Stian? Kannst du mich bitte einfach mal festhalten?“ Ich brauchte dringend einen Halt im Hier und Jetzt.

„Äh…“, er fuhr sich unsicher durch die Haare.

„Bitteee….“ Ich fühlte Tränen in meine Augen steigen, hielt sie aber krampfhaft zurück.

Endlich trat er auf mich zu und nahm mich in seine Arme. Ja, das war eine gute Entscheidung gewesen. Ich fühlte mich sofort geborgen. Ich legte auch meine Arme um ihn herum, kuschelte mich regelrecht an ihn heran.

Nach bestimmt fünf Minuten hatte ich mich wieder etwas beruhigt. Dennoch blieb ich noch etwas an ihn gelehnt stehen, bevor ich mich langsam löste.

„Danke.“ Ich lächelte ihm zu.

Er lächelte warm zurück. „Für dich immer.“

Mit einem leisen Seufzer setzte ich mich dann auf die Couch. Stian tat auf einmal geschäftig und holte uns etwas zu trinken.

Erst, als auch er sich gesetzt hatte, erzählte ich ihm von dem Brief.

„Am 10. November?“

„Mhm.“

„Ich komme mit.“

Ich war baff, aber auch gerührt.

„Das brauchst du nicht…“, antwortete ich leise.

„Doch. Ich kann dich doch nicht allein dahin lassen. Dafür bist du mir einfach zu wichtig. Ich …“, er zögerte kurz, fing dann neu an, „Du …du bist schließlich mein bester Freund.“

Damit war es beschlossen.

War machten uns eine Kleinigkeit zu essen und Stian versuchte, mich, durchaus mit Erfolg, mit kleinen lustigen Anekdoten aufzuheitern. Ich glaube, wenn es jemand anders als er gewesen wäre, hätte diese Person es nicht so leicht geschafft.

„Wie kommst du nach Hause? Ohne Jacke kann ich dich bei dem Wetter“ – es war dicker Nebel aufgezogen und die Temperatur war annähernd bei Null Grad – „doch nicht zu Fuß gehen lassen.“

Als ich mich damit einverstanden erklären wollte, hörte ich mich stattdessen fragen: „Kann ich nicht hier bei dir schlafen? Ich … ich möchte die Sache jetzt nicht noch mal bei Veronika und Herbert erklären.“

„Klar, du kannst mein Bett nehmen und ich nehme die Couch.“

„Auf keinen Fall! Ich nehme dir doch nicht dein Bett weg.“

Ich konnte mich durchsetzten.

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Ich rief zu Hause an, dass ich mich erst am nächsten Morgen wieder einfinden würde, nacheinander benutzten wir das Bad und dann gingen wir schlafen.

Ich schlief sehr schlecht, schreckte immer wieder auf, konnte mich aber nicht daran erinnern, was ich geträumt hatte. Das Gefühl des Alleinseins wurde bei jedem Aufwachen stärker.

Ohne weiter Nachzudenken schnappte ich mir gegen zwei Uhr morgens das Kissen und die Decke und schlich in Stians Schlafzimmer. Leise, um ihn nicht zu wecken, legte ich mich neben ihn, auf sein Doppelbett.

Nachdem ich ihm eine Weile beim Atmen zugesehen hatte, schlief ich endlich richtig ein.

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Irgendetwas kitzelte mich im Nacken und etwas Schweres lag auf meinem Bauch. Das waren die ersten Dinge, die ich beim langsamen Wachwerden registrierte. Angenehme Wärme war an meinem Rücken, ich tastete kurz hinter mich und ich entschloss mich, einfach weiterzuschlafen. Also rückte ich noch etwas mehr nach hinten, kuschelte mich an das, was mein Unterbewusstsein als einen menschlichen Körper identifiziert hatte und schlief einfach weiter.

Beim nächsten Mal wurde ich wirklich wach. Meinen linken Arm hatte ich um etwas geschlungen und meinen rechten spürte ich aus irgendeinem Grund nicht. Meine Beine waren irgendwie verheddert. Ich schlug langsam die Augen auf – und blickte in Stians Gesicht, der mich aufmerksam anschaute, direkt in seine moosgrünen Augen.

„Guten Morgen“, begrüßte er mich. Mir schoss er durch den Kopf, dass ich von diesem Lächeln gerne jeden Morgen geweckt werden könnte.

„Morgen“, brummte ich. „Entschuldige, dass ich mich in dein Bett geschlichen habe.“

Stians Gesichtsausdruck wurde ernster. War es für ihn doch nicht OK?

Ich spürte, wie ich rot wurde, wollte es ihm aber nicht zeigen, wie peinlich mir das war und ließ meinen Kopf Richtung Matratze sinken. Nur, da war keine Matratze, da war Stians Brust. Erst jetzt realisierte ich so richtig, wie wir hier lagen. Eng hatte ich ihn umschlungen, unsere Beine waren ineinander verhakt.

Eigentlich hätte ich meinen Kopf wieder heben, ihn loslassen und uns entheddern sollen, aber … ich wollte es nicht. Ich wollte weiter an diesem Sonntagmorgen hier liegen bleiben, meinen Kopf auf Stians Brust liegend und getragen werden vom Auf und Ab im Rhythmus seines Atems.

Als ich spürte, wie er Anfing sich, zu entwinden, hielt ich ihn etwas mehr fest. Sofort stoppte er. Nur sein Atmen wurde etwas schneller.

„Ach Jo, was machst du bloß mit mir?“, hörte ich ihn murmeln.

Ich blickte auf. Wollte „Wieso?“ fragen. Doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Der Blick, mit dem Stian mich bedachte, verursachte eine Gänsehaut, mir lief es Heiß und Kalt den Rücke herunter. Darin lag so viel Vertrauen, Freundschaft und Liebe, vor allem Liebe, gepaart mir Traurigkeit.

Warum war er Traurig? Es war doch gerade so…, ja, so schön. Wundervoll. Unbeschreiblich, hier zu liegen und ihn in meinem Arm zu halten.

Wieder überlegte ich nicht, sondern handelte einfach. Ich ließ ihn los, umfasste mit den nun freien Händen sein Gesicht und lehnte meine Stirn an seine.

Meine Stimme kam wieder. „Was ist los? Warum bist du Traurig?“

Als würde er sich aus einer Erstarrung lösen, ändert Stian seine Position nur unwesentlich und doch hatte es große Auswirkungen. Seine Lippen bedeckten die meinen. Weich und hart zugleich brannten sie sich regelrecht ein. Ich schloss die Augen. So etwas hatte ich noch nie gespürt.

Da Stian verharrte, küsste ich ihn nun. Ich wollte nicht auf dieses Gefühl verzichten. Als Stian nicht zurückküsste öffnete ich meine Augen wieder.

„Jo, ich mag dich. Ich mag dich unheimlich gern. Ehrlich gesagt war ich, seit du so verlegen vor Jans Haus gestanden hast und nicht wusstest ob du diesem Paradiesvogel folgen solltest oder nicht, in dich verknallt. Und nach und nach kam dann noch unsere Freundschaft hinzu. Du hast dich mir geöffnet, hast nie vor mir zurückgeschreckt, wenn ich dich umarmt habe.

Doch auf meine Signale hast du nie reagiert. Also habe ich dich nach und nach abgeschrieben. Du hast zwar nie eine Freundin gehabt, aber du musst doch einfach hetero sein.“ Er wurde leiser, murmelte fast.

„Und dann wache ich heute Morgen auf und du liegst in meinem Bett, aber nicht nur neben mir, sondern an mich gekuschelt. Und dann umarmst du mich auch noch und … naja, der Kuss jetzt. Gefühle kann man nicht wegsperren, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht…. Ich LIEBE dich, Adriaan.“

Nun war er es, der rot geworden war, der verlegen den Blick senkte.

Ich musste schlucken. Das war die erste Liebeserklärung, die ich je bekommen hatte. Klar, mir hatten diesen Sommer durchaus ein paar Mädels Avancen gemacht. Doch ich hatte sie immer ignoriert. Warum eigentlich? Warum war der Funke nie übergesprungen?

Mir fielen die zwei Wochen Sommerferien, als Stian weggefahren und wir uns nicht gesehen hatten, ein. Meine schlechte Laune, meine Unausstehlichkeit. Veronika hatte aus Scherz gemeint, ich würde mich aufführen, als hätte ich Liebeskummer.

Ich hatte Stian vermisst. Er war schließlich mein bester Freund. Aber würde man sein Herz im Tausch dafür anbieten, dass er schneller wiederkommt? Wegen eines ‚einfachen’ Freundes?

Was fühlte ich genau für ihn? Konnte das Liebe sein? Große, riesengroße, Zuneigung war es auf jeden Fall.

Mein Herz hatte bei diesen Gedanken, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch meinen Kopf schossen, angefangen zu flattern.

„Stian“, flüsterte ich. „Liebe…“ Er sah auf, sein Blick schwankte zwischen Hoffnungslosigkeit und Klammern an Zuversicht. Ich erwiderte diesen Blick fest und fing noch mal an.

„Stian, ich … ich weiß nicht, ob ich dich Liebe, Himmel!, eigentlich weiß ich auf einmal gar nichts mehr, aber was ich weiß, ich mag dich unheimlich. Ich will dich am liebsten jeden Tag sehen, wenn das nicht geht, denke ich an dich. Du gehst mir oft vor dem Einschlafen nicht aus dem Kopf, du … du bist einfach du, Stian, vielleicht der wichtigste Mensch in meinem Leben.“

Während ich diese Worte sprach, schwand die Hoffnungslosigkeit in Stians Augen mehr und mehr. Dieses süße, ja, sein verdammt noch mal süßes Lächeln breitete sich wieder in seinem Gesicht aus. Ich konnte nicht anders, ich musste es erwidern.

„Wir sind schon zwei Bekloppte, oder?“, fragte er noch, bevor er mich erneut küsste. Und ich, ich ließ mich einfach fallen, brach die Mauer, die ich um mich herum aufgebaut hatte, weiter ein.

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Stian begleitete mich nach München. Wir reisten schon samstags an und ich zeigte ihm die schönsten Seiten dieser Stadt.

Am Montag begleitete er mich nur vor das Gebäude der Staatsanwaltschaft. Ich bestand darauf, allein hineinzugehen.

Viel zu lange hatte ich nicht gemuckt, wenn etwas von mir verlangt wurde, oder war allenfalls geflüchtet. Jetzt würde ich meinen Mann stehen. Die Wahrheit Aussagen. Mich nicht dem Druck der Staatsanwaltschaft, aber auch nicht dem Druck des Anwalts meines Stiefvaters, der nun doch mit mir Kontakt aufgenommen hatte, beugen.

Dienstagnachmittag hatte mich Stian von einem Termin mit dem ‚Vater’ Strafverteidiger abgeholt. Da ich kaum etwas wusste, also weder zur Anklage, noch zur Verteidigung beitragen konnte, hatten mir beide Seiten signalisiert, dass sie auf mich als Zeugen verzichten wollten.

Diese Last war ich los. Und so lief ich laut lachend auf Stian zu, umarmte ihn stürmisch und ohne mich um die Passanten um uns herum zu kümmern, küsste ich ihn mit ganzem Herzen.

Frei, frei, ich war frei von der Last meiner Familie, frei, eine Beziehung einzugehen, frei, die letzten Mauern einzureißen, frei, Stian zu lieben, und das wollte ich der ganzen Welt zeigen…

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