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My real life
Teil 4
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Informationen
- Story: My real life
- Autor: Daniel-Alexander
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Der große Knall
- Treffen in der Pause
- Meine Wurzeln
- Der Orkan und seine Ausläufer
- Endlich Ruhe
- Nachwort:
Vorwort
Als Erstes möchte ich mich bei allen herzlich bedanken, die mir nach meinem letzten Teil geschrieben haben. Es war wirklich schön so viel Lob zu hören. Wie versprochen gibt es den nächsten Teil meiner Geschichte etwas schneller als den letzten (ist ja auch kein Kunststück). Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei Basti, der mir den letzten Teil korrigiert hat und mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. Und jetzt viel Spaß beim Lesen.
Der große Knall
Verdammt! Ich bin zu spät! Genau heute musste ich zu spät kommen. Es war doch verhext. Ich hatte gestern Abend vergessen meinen Wecker zu stellen. So dass ich anstatt eines Weckerklingelns die aufgeregte Stimme meiner Mutter rufen hörte, dass meine Wenigkeit verschlafen hatte (Was davon schlimmer ist, möchte ich mich gar nicht entscheiden).
Ich lief so gut es ging auf dem rutschigen Weg durch den Park, an dessen Ende die Schule lag. Trotzdem musste ich aufpassen, denn obwohl ich wieder halbwegs zusammengewachsen war, konnte man die vorhandenen blauen Flecken noch spüren.
Verweichlichte Schwuchtel ... abnormaler Perverser ... gnade dir Gott ...
Plötzlich musste ich anhalten, mir wurde schwarz vor Augen. Die Welt drehte sich und mir wurde schummerig.
Ich stützte mich an einem großen Felsen ab, die hier im Park überall aufgestellt wurden. Die Gedanken an gestern Vormittag holten mich ein ...
Ich saß am Esszimmertisch, las in einem meiner neuesten Fantasybücher und meine Mutter war gerade am Umdekorieren ihrer Kommode - man musste sich ja langsam auf Weihnachten einstellen - als gerade mein Vater zur Haustür hereinkam, in seinem giftgrünen, uralten Schneeanzug.
„Hey du, hilf mir Schnee zu räumen“, befahl er mir.
„Und wie? Der Arzt hat mir verboten, schwere Arbeiten zu verrichten.“
„Unsinn, ich werd schon wissen, was gut ist für meinen Sohn. Dieser aufgeblasene Hanswurst von einem Arzt soll gefälligst sein blödes Maul halten“, fuhr mich mein Vater an.
Jetzt hieß es langsam in Deckung gehen, es würde nicht mehr lange dauern und er würde explodieren.
Doch diesmal erhielt ich von meiner Mutter Rückendeckung. Sie hörte wie immer zu, aber heute mischte sie sich das erste Mal ein.
„Jetzt lass ihn halt, er ist noch immer nicht ganz gesund und er soll auf sich aufpassen. Außerdem bist du auch nicht besser, wenn du krank bist - oder sollte ich sagen ‚Das Leiden Christi‘ ist ein Dreck dagegen?“
Du liebe Güte, was war denn das, so kannte ich sie gar nicht. Sonst gab sie immer klein bei, wenn mein Vater sauer wurde. Anscheinend überraschte es auch meinen Vater, denn er schaute erst mal ziemlich blöde drein. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, ich hätte sofort losgelacht. Aber der Zustand reiner Fassungslosigkeit hielt nicht lange an. Denn sofort nahm sein Gesicht wieder die rote Gesichtsfarbe an, bei Atomkraftwerken nannte man diesen Moment immer „kurz vor der Kernschmelze“. Komischerweise verzichtete mein Vater auf einen seiner cholerischen Anfälle. Er sah uns mit vernichtendem Blick an: „ Gut ... In Ordnung ... Aber wundere dich nicht, wenn unser Sohn eine von diesen verweichlichten Schwuchteln wird, dann ist es deine Schuld.“
Er sah mich dabei eindringlich an. Sein Blick war so voll Hass und Wut, dass mir Angst und Bange wurde.
„Wehe dir, du wirst einer dieser abnormalen Perversen, dann gnade dir Gott, aber ich werde es nicht tun.“ Er warf noch einen wütenden Blick zu meiner Mutter, beließ es aber dann dabei und verließ mit einem Türknallen das Haus.
Meine Mutter sah mich erleichtert an. Ich war richtig stolz auf sie, sie hatte sich endlich zum ersten Mal gewehrt.
Verweichlichte Schwuchtel - abnormaler Perverser - gnade dir Gott ...
… die ganzen Gesprächsfetzen schwirrten noch in meinem Kopf herum und wollten keine Ruhe geben. Sie erinnerten mich die ganze Zeit an diese grauenhafte Situation, es machte mich schon ganz kirre. Dabei hieß es gerade jetzt tief durchatmen und cool bleiben. Heute würde ich denen in die Augen sehen, die mich zusammengeschlagen hatten. Diese „Menschen“ würden noch ihr blaues Wunder erleben. Sie würden es büßen, was sie mir antaten, denn es konnte so einfach nicht weitergehen. Bis jetzt hatte ich immer den Mund gehalten und habe nie was gesagt, aber heute würde ich aufstehen und ihnen zeigen, dass ich kein kleines Weichei bin. Also versuchte ich, weiter auf dem Eis zu rutschen.
Schlussendlich konnte man sagen, dass ich nur zehn Minuten zu spät kam, sogar manche Lehrer huschten noch mit mir durch die Eingangstür. Erst die Eingangshalle, dann drei Treppen und ich stand vor dem Klassenzimmer, in dem meine Klasse Religionsunterricht hatte. So stand ich nun vor der blauen Tür, die mich von meinen geliebten Klassenkameraden trennte.
Meine Anspannung stieg. Ich zögerte, noch konnte ich nicht, noch war es mir nicht möglich, ihnen in die Augen zu sehen, denn die Gefahr, dass ich spontan kotzen müsste, war zu groß. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
„Tief durchatmen. Keine Panik. Ein Moment Ruhe.“
Es hatte keinen Zweck wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Tür zu huschen.
Aber da musste ich durch. Wenn nicht jetzt, wann dann. Also griff ich nach der kühlen Türklinke, drückte sie herunter und zog die Tür auf. Es war alles wie in Zeitlupe: Die Tür ging auf, ich sah, wie Köpfe sich zu mir drehten. Im ersten Moment sah man keine Reaktionen auf den Gesichtern. Dann wurde daraus Überraschung, bei ein paar ganz Bestimmten Ekel, Abscheu, ja sogar Hass. Sofort hörte ich tuscheln und glaubte schon Worte wie „Schwuchtel“ oder „Der! Hier!“ zu hören. Meine Peiniger saßen in der letzten Reihe. Das Ganze dauerte höchsten zwei oder drei Sekunden. Denn schon wurde ich von Herrn Becker begrüßt: „Ah guten Morgen, Nils. Schön dich zu sehen. Endlich wieder gesund, da sind wir aber froh, dass du wieder da bist.“
Die teils undeutlich geflüsterten Bemerkungen, die manch einer von sich gab, überging ich geflissentlich, was meiner Ansicht auch besser war. Also setzte ich mich neben Noah in der zweiten Reihe. Mit meinem Blick versuchte ich, Toms, Gisis und Olis Aufmerksamkeit zu erregen. Gisi versuchte mir zu signalisieren, dass sie mir leider keinen Sitzplatz frei halten konnte, und formte ein „Tut mir leid“ mit den Lippen. Als wenn mein Banknachbar es gemerkt hatte, musterte er mich mit einem abschätzigen Blick, dann rückte er mit seinem Stuhl weiter weg von mir. Mir fiel ein, was er von mir hielt und dachte mir, dass es schade war. Denn eigentlich bin ich immer gut mit ihm ausgekommen. Er war ein sehr intelligenter Mensch, bei dem ich solche Engstirnigkeit eigentlich nicht vermutet hätte. Das war aber im Moment mein kleinstes Problem ...
Weiter nachdenken konnte ich aber nicht, denn schon fuhr Herr Becker mit seinem Unterricht fort.
„Also ... heute wollen wir ein neues Thema anschneiden. Dazu möchte ich mit dem Zitat zweier bekannter Punkrocksänger beginnen.
Er räusperte sich.
„Sex ist etwas sehr Wichtiges. Aber er sollte nicht nur aus reinem Fortpflanzungstrieb geschehen, sondern auch aus Liebe. Da dies bei zwei Männern oder zwei Frauen nie die Fortpflanzung der Grund sein wird, sie also immer der Liebe wegen miteinander schlafen, sollten sie gleich doppelt gesegnet sein.“
Die Klasse schaute, als hätte sie sich gerade verhört. Es war jetzt mucksmäuschenstill. Jeder wartete auf das nächste Zitat.
„So nun das zweite:
Wenn du heute ein Star bist und einen Jugendfreund für 55 Stunden heiratest, ist das ok. Wenn du Jennifer Lopez heißt, und sechs Männer jeweils eine Woche heiratest, ist das ok. Aber wenn zwei Menschen desselben Geschlechts sich lieben oder gar heiraten, heißt es, wie kannst du nur?“
Ich glaube, meine Klasse hätte alles erwartet - wahrscheinlich hätten sie die Nachricht, dass draußen auf dem Schulhof gerade Alf gelandet war weitaus gelassener aufgenommen. Keiner wagte zu atmen, es schien, als hätten alle die Luft angehalten. Jeder starrte ungläubig auf unseren Religionslehrer. Das alles dann auch noch von ihm, dem Theologen. Von jedem anderen, aber nicht von der Kugel. Es vergingen endlos lange Sekunden. Herr Becker sah sich zufrieden um, als er merkte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Vier der Anwesenden blieben seelenruhig, denn diese vier wussten, was passieren würde. Ich sah mich um. In den meisten Mündern hätten Vögel brüten können, soweit standen sie offen. Langsam kam wieder leben in die Klasse, aber mehr als ein Tuscheln wurde es nicht, denn keiner traute sich, etwas laut zu sagen.
„Ich will eure Meinung hören, was sagt ihr dazu? Normal oder nicht?“
Er hätte genauso gut fragen können, ob jemand von uns Schwimmhäute oder Flügel hätte, denn keiner sagte etwas - nicht den geringsten Pieps.
„Na los, kommt schon, ist es denn so schwer, seine Meinung zu sagen“, ermunterte Herr Becker die Klasse und blickte in die Runde.
Das leise Tuscheln wurde ein bisschen lauter, der Geräuschpegel war aber trotzdem noch unter der Norm.
„... so lächerlich! Pfff.“
Es sollte wahrscheinlich nur geflüstert sein, nicht für aller Ohren bestimmt, aber genauso gut hätte die Person es herausschreien können. Bei normalem Lärmpegel hätte es wahrscheinlich niemand gehört. Keiner wagte zu atmen, jeder wartete darauf, dass einer den nächsten Schritt machte und antwortete. Viele erwarteten, dass ich auf diesen Kommentar antwortete. Ich konnte mir vorstellen, dass es in der Klasse ein offenes Geheimnis war, wer mich zusammengeschlagen hatte. Einige schauten mich erwartungsvoll an. Mein Religionslehrer kam mir aber zuvor: „Habe ich da nicht was gehört? Markus - hast du was gesagt oder warum haben sich deine Lippen bewegt?“
Markus sah Herrn Becker trotzig an, seine Augen blitzten gefährlich. Mich beschlich das Gefühl, dass das hier eine sehr schmutzige Angelegenheit werden würde.
„Was ich gesagt habe, wollen Sie wissen? Das ist alles so lächerlich. Warum sollte man soviel Wind um solche ‚Menschen‘ machen. Diese ganzen Homos sollten alle irgendwo eingesperrt werden, wo sie nie wieder ans Tageslicht kommen“, sagte er mit soviel Kälte in der Stimme, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass er überhaupt menschlich war. Seine Kumpels, die ihm geholfen hatten, nickten abwechselnd.
„Ja, genau!“, rief Florian.
„Die wollen es doch, diese dämlichen Tunten“, pflichtete Simon ihm bei.
Leider schaffte es keiner, seine Meinung hinterm Berg zu halten. (Diese geistige Inkontinenz machte mich richtig wütend)
„Wissen Sie, es kotzt einen an, wenn die Freundin den ganzen Tag von ihrem schwulen Schwager spricht, mit dem man ja so toll einkaufen kann und eine Frau ja so toll versteht. Diese ganzen Perversen sind einfach so was von dermaßen anormal. Außerdem sind sie gut, um Druck abzulassen, diese verweichlichten Schwuchteln wehren sich nicht - was es uns noch einfacher macht, ihnen das zu geben, was sie verdienen, nämlich Abreibungen. Schade dass DER da ...“, er zeigte mit dem Finger auf mich und funkelte mich hasserfüllt an, „... so glimpflich davongekommen ist.“
Spontan stellte ich mir dieselbe Frage, wie damals beim Arzt, der meine Wunden versorgte: „GLIMPFLICH?“
Jetzt war wirklich die ganze Klasse sprachlos, sogar unser Lehrer wusste nicht, was er sagen sollte. Es dauerte einige Sekunden, bis er etwas sagen konnte und selbst dann stotterte er noch herum.
„A-Also gibst du zu, dass du dafür verantwortlich bist, was mit Nils passiert ist! Diese grässliche Tat hast du begangen?“
„Tja, da es sowieso auf das herauslaufen wird, sage ich es lieber gleich: Ja, das war ich - oder besser gesagt - wir“, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln.
Dann deutete er mit den Fingern auf Florian, Simon und Michael.
„Und wir sind stolz darauf, irgendjemand musste das einfach mal tun. Immer heißt es, wir sollen nett und tolerant zu ihnen sein. Dieser ganze Toleranzscheiß pisst mich so was von dermaßen an, ich kann es gar nicht oft genug sagen. Niemand wird mich da umstimmen können. Auch nicht ein Religionslehrer, der denkt, er wäre besonders intellektuell, wenn er auf einmal besonders solidarisch ist und versucht, so etwas in den Religionsunterricht einzubauen.“
Mit diesen Worten lehnte er sich zurück und grinste zufrieden. Es war wie ein Horrorszenario. Ich war wie versteinert von soviel Homophobie, endlich gab es mir einen Einblick in die Gedanken dieser Menschen. Aber langsam wusste ich nicht, ob ich noch mehr erfahren wollte, denn je mehr er sagte, desto schockierter wurde ich. „Stopp! Halt! Aus!“, rief ich.
Ich wusste nicht, ob mir übel werden oder ich vor Wut explodieren sollte. Aber Markus’ Selbstsicherheit überraschte mich keineswegs, er war so gefangen von seinem Bild und seinen engstirnigen Idealen, dass er wahrscheinlich gar nicht merkte, was er genau von sich gab. Bestimmt dachte er, dass ich immer eine „verweichlichte kleine Schwuchtel“ blieb, die sich nicht wehrte. Da hatte er sich aber gewaltig geschnitten, genau jetzt sollte ich aufstehen und es ihm zeigen, nur um ihn nicht in seinem Menschenbild zu bestätigen. Denn er dachte, dass keiner von „diesen Schwulen“ sich jemals wehren und er genau deshalb immer ungeschoren davonkommen würde. Aber genau das wollte und konnte ich nicht mehr ertragen. Also stand ich auf und blickte in Markus Richtung. Dieser schüttelte den Kopf und fing noch mehr an zu lachen.
„Ohh! Wird der kleinen Schwuppe Angst und Bange, wenn die großen, starken Jungs kommen und ihn verhauen“, sagte er mit einer nachgeäfften Babystimme.
Am liebsten hätte ich ihm bei diesem Satz eine reingehauen, so viel Wut, Hass und Abscheu hatte sich in mir angesammelt. Aber wenn ich jetzt irgendwie ausfallend werde, dann wäre ich auch nicht besser als all diese primitiven Typen. Ich atmete tief ein und aus, um mich ein bisschen zu beruhigen. Die ganze Situation hatte mich aufgewühlt und mitgenommen. Genau deshalb hieß es jetzt „Ruhe bewahren“.
„Ich und Angst. Pah, das war einmal“, sagte ich mit annähernd ruhiger Stimme. „Ich habe keine Angst und ich möchte auch keine mehr haben vor Typen wie euch. Bloß weil ihr es nicht schafft, euer eigenes Leben zu regeln, müsst ihr euren Stress an anderen auslassen. Ihr tut mir leid, ich bemitleide euch in eurer Kurzsichtigkeit, die es nicht zulässt, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Es ist armselig, so werdet ihr nie neue Erfahrungen machen können, oder gar euch weiter entwickeln. Die Menschen werden sich verändern, aber ihr werdet immer auf der Stelle treten, weil eure bornierten Ansichten euch daran hindern werden, so etwas wie Toleranz zu empfinden.“
Während ich das sagte, fühlte ich mich immer besser und meine Stimme wurde immer sicherer und selbstbewusster. Langsam bewegte ich mich auf die Tische von den Vieren zu. Markus lachte immer noch und je mehr ich sprach, desto mehr begann er den Kopf zu schütteln, um zu zeigen, wie lächerlich er mich fand. Aber ich war noch lange nicht fertig mit reden.
„Was habe ich dir denn getan? Sehe ich dich lüstern an oder berühre ich dich unanständig? Außerdem habe ich dich bestimmt nie vergewaltigt, obwohl ihr doch keine Gelegenheit auslasst, um zu behaupten, jeder Schwule würde über arglose Männer herfallen und - sagen wir mal - schlimme Sachen anstellen. Bloß weil ich auf Männer stehe, muss ich noch lange nicht auf jeden Mann stehen, du würdest doch auch nicht jedem Mädchen an die Wäsche gehen. Naja ... bei dir wäre ich mir da nicht so sicher, so geistig und emotional verarmt, wie du bist, musst du ja um jede froh sein, die du kriegen kannst. Und seid doch nicht immer so eingenommen von euch, nicht jeder steht auf euch. Denn egal für wie geil und gut aussehend du dich hältst, für mich hast du die erotische Anziehungskraft eines eingewachsenen, entzündeten Zehnagels. Also müsste ich schon sehr verzweifelt sein, um mit dir Vorlieb zu nehmen.“
Endlich konnte ich wieder Leben in der Klasse wahrnehmen, denn mein letzter Satz hatte zu allgemeiner Belustigung geführt, besonders die Mädchen konnten ein Lachanfall nicht unterdrücken. Das gab mir wieder mehr Selbstbewusstsein und nahm meinem Gegenüber den Wind aus den Segeln. Das konnte man auch daran erkennen, dass sein Grinsen verschwand und er etwas angenervt aussah. Außerdem hatten seine Klassenkameraden über den Witz eines dummen Homos gelacht und sich somit mehr oder wenig schon ein wenig von ihm abgewandt.
„Kommt also mal runter von eurem hohen Ross. Das Sonnensystem dreht sich nicht nur um euch. Ach ja übrigens, wenn du es so zum Kotzen findest, dass deine Freundin immer so gern shoppen geht mit ihrem Schwager und weniger Zeit mit dir verbringt, dann hätte ich da einen Vorschlag. Geh doch einfach mal mit. Sie würde sich bestimmt freuen. Vielleicht würdest du dann auch feststellen, dass nicht jeder Schwule gleich eine Tunte ist. Viele mussten bisher mehr Scheiße mitmachen, als du dir vorstellen kannst. Fast alle wissen, wie es ist, zu leiden oder alleingelassen zu werden. Die Meisten haben mehr Persönlichkeit und stehen gefestigter im Leben. Gerade weil sie so viele Konflikte lösen müssen, die sie sehr, sehr viel Überwindung kosten. Dadurch erhält man so etwas wie Reife, etwas was ihr wahrscheinlich nie erlangen werdet.“ Ich machte eine kleine Pause um in die verdatterten Gesichtsausdrücke meiner Kontrahenten blicken.
„Ohh, sind unsere intoleranten Kleinhirne noch nicht auf diese Idee gekommen? Aber was will man bei solchem Kleingeist auch erwarten.“
Ich wandte mich von ihm und freute mich innerlich riesig, denn diese Runde hatte anscheinend ich gewonnen. Ich sah mich in der Klasse um - fast alle nickten mir zu. Aber Markus wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. Jetzt war er auch aufgestanden, wahrscheinlich, um sich möglichst schnell auf mich zu stürzen. Aber darauf hatte ich keinen Bock, denn ich zog einen kleinen weißen Umschlag aus meiner Hosentasche und warf ihn auf seinen Tisch.
„Und was soll das?“, kam es verständnislos von Markus.
„Ein Brief! Da ich mir nicht sicher bin, ob es dir möglich ist, Buchstaben zu einem sinnvollen Wort oder gar einem Satz zusammenzusetzen, sage ich es dir. Es ist eine Vorladung vor Gericht, für dich und deine Freunde. Ihr werdet wegen schwerer Körperverletzung angeklagt, von irgend so einer blöden Schwuchtel.“
Ungläubig starrten jetzt alle vier auf das kleine Kuvert. Langsam dämmerte ihnen, was sie angerichtet hatten.
„Ach noch etwas. Ihr könnt eure Sachen packen und nach Hause gehen. Ihr seid hier nicht mehr erwünscht.“
Jetzt fanden sie alle wieder zu sich.
„Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, rief Simon bestürzt.
„Damit ist doch unsere ganze Zukunft am Arsch!“, sagte Michael.
„Tja, das hättet ihr euch früher überlegen sollen“, erwiderte ich ungerührt.
„Du kannst uns nicht rausschmeißen, das geht nicht“, beharrte Markus.
„Er vielleicht nicht, aber ich“, mischte sich Herr Becker ein. Ihn hatte ich ja ganz vergessen. Er hatte mir versprochen, sich nicht einzumischen, denn es war mir wichtig, diese Angelegenheit alleine zu regeln, ohne irgendeine Einmischung von ihm – außer, die Situation sollte eskalieren.
Florian, Michael, Simon und Markus sahen sich hilflos in der Klasse um, aber keiner sah zustimmend zu ihnen, keiner schloss sich ihnen an.
„Ist das euer Wille, mit einem Weichei zusammenzuarbeiten? Sie werden es nie weit bringen!“ Dann wandte er sich zu unserem Lehrer. „Sie haben mich auch enttäuscht, gerade als Religionslehrer sollten sie das Statement der Kirche zum Schwuchteltum wissen. Aber wenn sie das wollen, dann gehe ich. Denn umgeben von diesen rückratslosen Perver...“
Das schien das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben.
„Haltet endlich eure verdammte Klappe!“ Es war fast nur ein Flüstern unseres Lehrers aber jeder hörte es. „Verschwindet, ich will euch nie wieder sehen. Und wenn doch dann kann ich nicht dafür garantieren, dass ich euch ganz lasse.“ Während er das sagte, wurde seine Stimme immer lauter.
„Aber, die ...“
„NEIN!!!! GEHT!! RAUS!“, schrie Herr Becker.
Alle vier sahen sich zorn- und hasserfüllt um, dann packten sie ihre Sachen. Fast keiner würdigte ihnen eines Blickes. Sie versuchten vergebens, jemanden dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschließen. Die drei gingen langsam mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, unfähig Worte zu fassen. So verließen Intoleranz, Hass, Engstirnigkeit und Zwietracht unsere Klasse.
Die Tür fiel ins Schloss.
Lange Sekunden passierte gar nichts.
Es begann irgendjemand zu klatschen.
Dann noch einer.
Und dann die ganze Klasse.
Treffen in der Pause
Ein Stunde später.
Nach einer Doppelstunde Religion war ich endlich froh, in die Pause zu gehen. Nach alldem was passiert ist, war die Klasse so aufgekratzt, dass sie sich nur schwer wieder beruhigte. Aber unser Lehrer ließ sich nicht davon abbringen, seinen Unterricht weiter zu führen, zwar war das Thema diesmal wirklich interessant, aber trotzdem war fast keiner in der Klasse fähig, dem Unterricht zu folgen. Mein Banknachbar würdigte mich keines Blickes und rutschte sogar noch weiter weg von mir, so als hätte ich Pest, Cholera und die Masern gleichzeitig. Aber ich wollte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, denn jetzt hatte ich mir meine Pause wirklich verdient. Der Gong war wie eine Erlösung, ich packte meine Sachen zusammen und wartete, bis alle rausgegangen waren, dann ging ich nach vorne ans Lehrerpult. Herr Becker wischte noch die Tafel. Ich wollte mich noch bei ihm bedanken, dass er sich so für mich eingesetzt hatte. Fünf Minuten später öffnete ich die Klassenzimmertür, von draußen hörte ich schon das Geschrei der anderen Schüler. Als meine Wenigkeit aus dem Klassenzimmer trat, hatte sich dort eine Menschentraube gebildet, die schon ungeduldig auf mich wartete. Es war fast meine komplette Klasse, viele hatten sich versammelt. Gisi stand in der Mitte und trat einen Schritt auf mich zu. Sie sah mich an und nickte dann den anderen zu, bevor sie zu sprechen begann: „Lieber Nils, ich möchte dir im Namen der Klasse sagen, dass sich viele Gedanken gemacht und in der Woche, als du weg warst, mit dem Thema auseinender gesetzt haben. Damit wollen wir dir sagen, dass alle, die hier stehen, dich unterstützen werden und dich so akzeptieren, wie du bist.“
Alle sahen mich zustimmend an, viele kamen zu mir und wollten noch mit mir reden, aber leider hatte ich andere Pläne.
„Ich bin ja wirklich gerührt von eurer Zustimmung, aber ich würde jetzt noch gerne etwas essen, das Alles hat mich heute angestrengt und jetzt könnte ich ein ganzes Wildschwein verdrücken, also seid mir nicht böse, wenn ich euch jetzt verlasse.“
Mit einem Lachen ging ich und war froh, ein bisschen für mich alleine zu sein. Auf dem Weg zum Getränkeautomaten und zum Kiosk unseres Hausmeisters war ein bisschen Zeit meine Gedanken zu ordnen. Zwar konnte man sich das bei dem Lärm der Pause kaum vorstellen, aber im Moment reichte mir das Alleinsein ohne Freunde oder Klassenkameraden voll aus, um kurz abzuschalten. Nachdem ich viel zu ungesunde und fettige Sachen zu mir genommen hatte, machte ich mich auf dem Weg zum Biologieraum (derjenige, der dieses dämliche Fachraumprinzip erfunden hat, sollte zur Strafe einen 40 Kilometer Marathon laufen, dann wäre das annähernd soviel wie ich jeden Tag laufe, um die jeweiligen Räume zu erreichen). Noch ein Gang und eine Treppe trennten mich von meinem Ziel. An der Treppe, die hinaufführte, lehnte ein Junge, der mir sehr bekannt war - Noah. Er war einer derer gewesen, die nach dem Religionsunterricht nicht auf mich gewartet hatten. Eine Hand war in seiner Hosentasche, mit der anderen Hand tippte er unentwegt auf das Geländer der Treppe. Noah schien sehr nervös zu sein. Als er sah, dass ich kam, wurde er noch aufgeregter und sah mich ganz ängstlich und verschüchtert an. Ich wollte gerade an ihm vorbei die Treppe hoch. Als er mich leicht an meinem Arm festhielt. Aus lauter Reflex zog ich meinem Arm sofort zurück, als hätte mich etwas Ekelhaftes berührt.
„Lass mich los“, zischte ich giftig.
„Hey“, kam es leise von ihm.
„Was ist? Was willst du von mir?“, gab ich umso lauter zurück.
„I-i-ich wollte d-doch nur ...“, stammelte er herum.
Langsam begriff ich, dass es ihm wirklich schwerfallen musste, mit mir zu reden, also versuchte ich, nun doch etwas netter zu sein.
„Ich wollte nur sagen, dass es mir wirklich leidtut“, kam es von meinem Gegenüber, der jetzt nicht mehr als flüsterte.
„Ja und, was willst du jetzt von mir?“, sagte ich kühl.
„Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich schlecht über dich geredet habe und bei dem ganzen Scheiß zugeschaut habe und nichts unternommen habe“, sagte er und sah dabei betreten zu Boden.
„Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich mir das alles anhören soll“, sagte ich leicht genervt und war schon wieder dabei zu gehen.
„Warte bitte!“, sagte Noah.
„Na, wenn du meinst. Aber ich sehe keinen Sinn mich noch länger mit dir zu unterhalten“, sagte ich abweisend. Mist! Warum konnte ich nicht ein bisschen netter sein? Vielleicht war ich noch zu angenervt von, da ich ihn eigentlich mochte und sein Verhalten mich einfach maßlos enttäuscht hat.
„Mehr hast du über meine Entschuldigung nicht zu sagen?“
„Das klingt ja alles ganz nett, aber ich möchte, dass, bevor du dich bei mir entschuldigst, es vielleicht gut wäre, mal über das Ganze nachzudenken. Heute Morgen hast du dich von mir abgewendet, weil ich schwul bin und jetzt ist es auf einmal total toll und kein Problem mehr. Das kann es doch nicht sein. Ich möchte eine ehrliche Entschuldigung und nicht eine, die du nur sagst, um dein eigenes Seelenheil zu beruhigen oder um dich nur wieder einer Mehrheit anzupassen.“
„Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut - was willst du mehr?, flehte er schon fast. „Denn eigentlich finde ich dich wirklich nett.“
„Was ich mehr möchte? Beweise mir, dass du es ernst meinst! Und zwar nicht durch hohle Worte, sondern durch Taten. So, dass ich glauben kann, dass du es ernst meinst und dich nicht wieder durch andere beeinflussen lässt! So etwas nennt man übrigens eigene Meinung.“
Das bisschen Ironie konnte ich mir nicht verkneifen. Denn ich hatte schon Grund etwas sauer zu sein. Mit diesen Worten ließ ich ihn einfach stehen, denn ich wollte noch einigermaßen pünktlich zum Unterricht kommen. Ob man es glauben mag oder nicht, im Moment zog ich die Wissensaufnahme der Situation hier vor. Gerade noch rechtzeitig mit dem Gong kam ich zum Unterricht. Die anderen waren schon alle im Klassenzimmer. Ich huschte unauffällig in die zweite Reihe, neben Olli, der schon auf mich wartete. Unser Lehrer baute noch irgendwelche Präparate von exotischen Tieren auf. Dementsprechend war es noch relativ laut und alle unterhielten sich. Es dauerte auch noch geschlagene zehn Minuten, bis der Lehrkörper es schaffte, die Klasse zu beruhigen. Fünfzehn Minuten lustloses Unterrichten waren vergangen, als unser Lehrer einsah, dass es keinen Zweck hatte, und schlug vor einen Film anzusehen. Nach mäßiger Resonanz begann der Lehrkörper, den Fernseher und den Recorder aufzubauen. Ich war im Moment schon mehr als gelangweilt vom ganzen Unterricht. Mal wieder waren wir mit ganz anderen Sachen beschäftigt, sodass ich gar nicht merkte, dass mein bester Freund Olli mich mit seinem Finger in die Seite piekste.
„Hmm ...“, brummelte ich gelangweilt und drehte mich zu ihm hin.
„Kann ich dich etwas fragen?“, kam es etwas verschüchtert von ihm.
„Klar! Was immer du willst!“, sagte ich mit einem Gähnen.
„Also ... wie frage ich das am besten ... hmm ... schwierig ... ähm ... Seit wann weißt du denn, dass du schwul bist?“
Diese Frage traf mich so unvorbereitet, dass ich Olli im ersten Moment nur ganz erstaunt ansah.
„Ist die Frage etwas zu intim? Bin ich damit etwas zu weit gegangen? Tut mir leid!“, sagte Olli.
„Nein, bist du nicht, ich war nur etwas überrascht, weil ich nicht gedacht hätte, dass du mir so eine Frage stellst. Vor allem, weil du gesagt hast, du bräuchtest Zeit, um offen darüber zu reden“, sagte ich etwas verwundert.
„Ich weiß, was ich gesagt hatte, aber ich hatte jetzt eine Woche zum Nachdenken und jetzt bin ich neugierig wie ein Reporter der Bild-Zeitung.“
„Ok, wenn du meinst. Also ja ... eine gute Frage, tja was antworte ich da denn? Darf ich das Publikum befragen? Nee war nur ’n Scherz ...“,sagte ich um noch etwas Zeit zu gewinnen, aber Olli war fest entschlossen alles zu erfahren.
Bevor ich aber weiterreden konnte, fuhr mir mein bester Freund dazwischen: „Ja ja, so ist das, wenn dir etwas unangenehm ist, dann laberst du ewig um den heißen Brei herum.“
„Dräng mich doch nicht so. Ich möchte ja den richtigen Anfang finden. Denn ich glaube ich habe das schon immer gewusst ...“, begann ich, wurde aber gleich wieder von meinem besten Freund unterbrochen.
„Ach jetzt hör doch auf, du wusstest schon im Kindergarten, dass du na ja ... schwul ... bist.“
„Du musst schwul nicht so leise aussprechen, ich glaube es juckt hier niemanden. Natürlich wusste ich im Kindergarten nicht was schwul oder Sex oder weiß der Geier, was ist. Aber als ich mit acht Jahren die Bravos meines Bruders angeschaut hatte, wusste ich, dass ich Männer interessanter finde als Frauen. Frag mich nicht warum, aber Jungs hatten einfach den gewissen Reiz, den Mädchen nie auf mich ausüben konnten. Mädchen waren schlicht und ergreifend nur langweilig. Außerdem kann ich mich noch an eine Szene aus dem Kiga erinnern, in der meine damalige Erzieherin mit meiner Mutter sprach ...“
Meine Wurzeln
„Nun hören Sie doch, Frau Schneider, ihr Kind ist in manchen Beziehungen anders als die anderen Kinder, oder sollte ich besser sagen Jungen“, sagte meine Erzieherin.
Ihr Name war Frau Haller und ich mochte sie sehr gerne.
„Ich kann ihnen leider nicht ganz folgen“, meinte meine Mutter etwas ratlos.
Ich war in den Umkleiden, vor den eigentlichen Gruppenräumen. Damals besuchte ich die Mäusegruppe. Die anderen Kinder waren schon draußen beim Spielen, nur ich musste mich noch anziehen. Die liebe Frau Mama hatte mir versprochen, dass ich noch zehn Minuten mit den Anderen spielen dürfe. Meine Mutter und die Erzieherin standen im Gruppenraum, direkt vor der Bauecke, einer meiner Lieblingsbereiche. Damals hatte ich das Gespräch eher unbewusst mitgehört, aber ich konnte mich noch an jedes einzelne Wort erinnern.
„Damit möchte ich sagen, dass ihr Sohn sehr gerne mit Mädchen spielt oder auch mit Puppen. Er grenzt sich auch in anderen Sachen sehr klar von anderen Jungen ab, z.B. beim Fußballspielen. Die anderen Kinder verstehen das nicht und deshalb wird er oft ausgelacht“, erzählte Frau Haller mit fürsorglichem Blick.
„Ich weiß, dass Nils in vielen Beziehungen anders ist als die anderen Kinder, aber ich finde es auch toll, dass er so anders ist, denn sonst wäre es richtig langweilig in meiner Familie. Ich habe ja schon ein Fußball-Kind“, kommentierte meine Mutter mit einem Schmunzeln.
Nun stand Frau Haller auf und fing an noch ein paar Gläser abzuwaschen, die vom Vormittag übrig geblieben waren.
Ich sah zwar nicht hin, aber ich konnte ganz genau die Geräusche hören, die sie dabei machte. Jetzt zog ich mich mit Absicht langsam an, denn ich wollte noch mehr hören, auch wenn ich manche Sachen nicht verstand.
„Es ist sehr vorbildlich, dass Sie Nils so viel Freiraum zugestehen, dass er das machen kann, was ihm Spaß macht. Aber bitte, bitte, bitte nehmen Sie das alles nicht auf die leichte Schulter. Wenn er sich weiter so entwickelt, könnte er vor allem später Probleme mit anderen Menschen haben. Da viele nicht fähig sind, Menschen, die anders sind oder die gegen den Strom schwimmen, zu akzeptieren. Wenn er Probleme hat, bitte nehmen Sie ihn Ernst und helfen Sie ihm, damit er immer so einzigartig bleiben kann, wie er ist“, erklärte sie meiner Mutter.
„Ich versuche, es zu beherzigen, aber ich finde es schon etwas merkwürdig, dass Sie von meinem Kind sprechen als wäre er schon ein erwachsener Mensch. Es sind doch nur Kinder, was sollen die denn schon machen. Sonst heißt es doch auch immer, wir sollen unseren Kindern Platz für freie Entfaltung geben“, sagte meine Mutter mit etwas schnippischen Unterton.
Nun war eine kleine Pause und ich hörte einen Seufzer, wahrscheinlich von meiner Erzieherin.
„Nein, es sind nicht einfach nur Kinder. Kinder können oft viel gemeiner und verletzender sein als ein Erwachsener. Nils kann unter Umständen auch psychische Schäden davontragen wie z.B. Verdrängung. Er könnte auch aufhören und sich der Norm anpassen, so würde er aber vielleicht nie glücklich werden, denn er würde immer darunter leiden, dass er nicht das machen kann, was ihm Spaß macht. Sondern nur das, was er tun muss, um sich ‚normal‘ zu verhalten. Damit er in keiner weise Schwierigkeiten hat.
Nun war es meine Mutter die einen Seufzer machte, dazu ließ sie die Schultern hängen und setzt ihr Hundert-Tage-Regenwetter-Gesicht auf.
„Soll ich ihn also aus dem Ballett nehmen, mit dem er erst vor vier Wochen angefangen hat, nur damit er keine Schwierigkeiten hat und ihm so seiner Freude berauben?“, äußerte sich meine Mutter missmutig.
„Nein natürlich nicht, bitte unterstützen Sie seine freie Entfaltung so gut wie möglich, denn sie ist wichtig. Aber viele verwechseln das Wort ‚freie Entfaltung‘ mit ‚Anpassung‘, denn Jungs spielen nun mal Fußball, basta. Es ist wunderbar, dass Ihr Sohn letzten Monat mit dem Balletttanzen angefangen hat. Auch deswegen wird er gerne von anderen Kindern gehänselt. Was ich sagen will, ist, dass er es unbedingt weitermachen soll, weil es auch mutig von ihm ist. Aber Sie sollten für ihn da sein, wenn andere ihn deswegen auslachen, und sie müssen ihn in seinem Tun bestätigen, dass das richtig ist.“
Nun war sie mit dem Abspülen fertig und auch mit meiner Mutter. Sie verabschiedeten sich voneinander und meine Mutter versprach, ihr Bestes zu geben, um mir zu helfen. Als beide in die Garderobe traten, war ich schon längst weg. Meine Mutter ging in den Garten des Kindergartens und sah nach mir, schaute noch ein paar Minuten zu und rief mir dann zu, dass es Zeit wäre, zu gehen. Ich spielte gerade mit Tom (derselbe, mit dem ich auch zur Schule ging) im Schnee. Wir versuchten einen Schneemann zu bauen. Schnell lief ich zu ihr, sie kniete sich hin und fuhr mir mit der Hand sanft durchs Gesicht.
„Komm, gehen wir! Daheim wartet schon das Mittagessen“
Und so gingen wir durch den dichten Schnee nach Hause.
Tja, einerseits musste ich sagen, dass ich von meiner Mutter wirklich viel Freiraum erhielt, was meine Hobbies oder meine Vorlieben anging. Ich hatte Barbies, tanzte Ballett, mochte deshalb auch klassische Musik (heute nur noch sehr in Maßen), las gern und so weiter. Viele im Dorf redeten darüber und fanden es merkwürdig, aber seltsamerweise ließ meine Mutter dieses alberne Geschwätz kalt. Normalerweise ist sie immer total aufgelöst, wenn jemand im Dorf über sie spricht, weil etwas nicht normal ist. All das erzählte ich Olli in der Biologiestunde, denn unser Lehrer gab irgendwann den K(r)ampf gegen die Technik auf und gab sich leise fluchend zufrieden, dass er heute keinen Unterricht machen könnte. Auch in der nächsten Stunde wurde es nicht aufregender, denn unser Lehrer war krank und wir hatten eine Freistunde, die wir auch im Klassenzimmer verbringen konnten. Also musste ich weiter erzählen.
Also erzählte ich auch von meinen ersten sexuellen Erfahrungen. Tja, das hatte er nicht gedacht, aber ich bin nicht gerade stolz darauf. Ich war elf und der andere Junge war 13. Das war kurz bevor ich Olli in der Realschule kennenlernte. Der andere Junge war noch jemand aus meiner Grundschulzeit, der einmal durchgefallen war. Deshalb waren wir in derselben Klasse. Tom müsste ihn auch kennen. Damals hatte er mich nur gefragt, ob wir es einfach mal ausprobieren wollen. Ich wusste am Anfang gar nicht, was er wollte. Eigentlich war es nur Ringelpieps mit Anfassen. Wir waren jung, dumm und wir wussten nicht, was wir taten. Es war nicht viel mehr passiert, als ein bisschen den Körper des anderen zu erkunden, richtiger Sex ist etwas anderes. Trotzdem gefiel es mir und hatte einen gewissen Reiz. Wir taten das dann noch ein paar Mal, eigentlich immer, wenn wir uns trafen, sprachen aber nie darüber. Am Ende des Jahres trennten sich dann unsere Wege und seitdem haben wir zum Glück keinen Kontakt mehr. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich wirklich froh bin, dass wir nicht mehr miteinander sprechen. Er wechselt sogar die Straßenseite, wenn er mich sieht, vielleicht hatte er Angst ich könnte ausplaudern, was er in jungen Jahren angestellt hatte (was würde seine Freundin dazu sagen …).
„Aber warum hast du mir nie davon erzählt!“, fragte mein bester Kumpel ungläubig.
„Hättest du mir denn geglaubt ...?, fragte ich leicht genervt.
„Ähm ... nein ... also ja ... Äh ich weiß nicht“, gab sich mein bester Freund geschlagen. „Ich hab halt immer gedacht, du würdest auf Frauen stehen, da du ja eh schon ein paar Mal etwas mit einem Mädchen gehabt hattest, und ich deshalb immer dachte, dass du auf Frauen stehst. Darum war das auch so ein Schock für mich, als du mir erzähltest, du wärst ... schwul.“
„Ich weiß, dass ich da vielleicht ein bisschen früher mit dir darüber hätte reden sollen, aber weißt du, dass es manchmal wirklich schwierig ist, über solche Themen zu reden. Dieser ganze Selbstfindungsprozess ist nicht einfach. Wenn man dann herausgefunden hat, dass man anders als die anderen ist und es sich dann auch noch selbst eingestehen muss, kann das schon einige Zeit dauern“, erklärte ich Oli.
Manch einer mag es vielleicht nicht nachvollziehen können, aber dieser Selbstfindungsprozess ist unheimlich kompliziert, oder zumindest bei mir war es so. Es soll ja welche geben, die laufen schon aus dem Bauch der Mutter heraus zu ihrer ersten Schwulenparade, natürlich nur mir Regenbogenflagge. Ich hingegen versuchte immer wieder etwas mit dem weiblichen Geschlecht anzufangen. Auch wenn ich von Anfang an immer kein gutes Gefühl dabei hatte. Einmal, als wir auf Klassenfahrt waren, habe ich angefangen, an unserem Ausflugsort mit einem Mädchen, das dort wohnte, herumzuflirten. Damals war ich 15. Alles ging dann aber auch nur solange gut, bis auch sie mehr wollte als ein bisschen knutschen. Immer, wenn es dann soweit war, hatte ich den Körper meines alten Grundschulfreundes vor meinen Augen. Ich wollte es mir zu diesem Zeitpunkt nicht eingestehen, aber dies waren die Gedanken, die mich erregten. Nicht das wirklich gutaussehende Mädchen, nur die Gedanken an ihn ließen mich diese Tortur überstehen. Es war nur einmal, dass es mit einem Mädchen passiert ist. Ich sah sie nie wieder, zu groß war die Scham, ihr irgendwie auch nur in die Augen zu sehen. Zum Glück fiel mir das sehr einfach, denn schon zwei Tage später reisten wir mit der Schule wieder ab und ich hatte glücklicherweise nicht das Problem, ihr auch nur noch einmal in die Augen sehen zu müssen. Schon damals wusste ich ganz genau, was mit mir los war, aber ich wollte das nicht. Ich wollte keine von diesen abgebrochenen Tunten sein, die man die ganze Zeit im Fernsehen herumhoppeln sah und die sowieso alle Aids hatten. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Mein Verstand tat alles nur als Phase ab, die wieder ging, wie sie kam. Mein Bauchgefühl konnte ich sehr gut überspielen, denn ich redete mir manchmal fast krankhaft ein hetero zu sein. Dann gäbe es keine Probleme und die Welt wäre in Ordnung. Tagsüber klappte das auch ganz gut, da ich versuchte mit den anderen Jungs um die Frauen zu wetteifern, wer die Schönste und Geilste war. In der Nacht lag ich schweißgebadet im Bett und versuchte krampfhaft an Frauen zu denken, wenn ich es mir machte. Es half aber alles nichts, denn irgendwann kamen wieder die gutaussehenden Jungs aus der Schule und dem Fernsehen zurück, die dann wieder meine Gedanken beherrschten. Mein Verstand fing an zu bröckeln - immer mehr. Es wurde mir immer klarer, was ich war und was nicht. Tja, und dann sah ich eines Tages zwei Männer bei uns in der Stadt Hand in Hand laufen, einfach so. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Die Leute starrten sie wie die berühmten Marsmännchen an und tuschelten darauf los. Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen lassen, denn sie waren so anders als ich mir ein schwules Pärchen vorgestellt hatte. Keine gebrochenen Handgelenke, kein Herumhopsen, keine bunten abstrakten Klamotten, sie sahen so ... so ... normal aus - nur dass sie Händchen hielten und an den Schaufenstern vorbeischlenderten. Das war für mich der Augenblick, in dem ich wusste, dass ich das auch mal wollte. Ich wollte einen liebevollen Freund haben, mit dem ich auch Hand in Hand bummeln konnte. Das war alles, was ich wollte.
„Schau dir mal diese Perverslinge an, die sollte man wegsperren wie zu Hitlers Zeiten“, schimpfte eine alte Rentnerin.
Als ob sie mich damit gemeint hätte, zuckte ich schuldbewusst zusammen und senkte den Blick auf den Boden. Das war der Preis für das Leben als homosexuelles Paar? Demütigungen Beleidigungen und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Zumindest hier auf dem Land.
„Mami, guck mal die zwei Männer laufen Hand in Hand“, rief ein kleiner Junge.
Die Mutter, die sehr dominant wirkte und bis obenhin zugeknöpft war, zog ihren Jungen sofort in die andere Richtung.
„Hör auf, dir solch unbiblisches Verhalten anzusehen, sonst wirst du auch noch so und dann müssen dein Papa und ich dich hergeben in eine Klinik, die das wieder aus dir heraustherapiert, weißt du. Also bleib immer so normal wie du jetzt bist.“
Sie drehten sich um und gingen, aber nicht um noch einmal einen von Ekel erfüllten Blick auf die beiden Männer zu werfen.
Ich war 15, fast 16, es schockierte mich total, wie man so etwas sagen konnte, diese Intoleranz, diese Engstirnigkeit. So etwas war unfassbar für mich. Im Gegensatz zu den Eltern mit ihrem Kind starrte ich weiter auf die beiden. Die ganze Zeit schauten sie sich verliebt an und turtelten miteinander herum. Es schien als würden ihnen die Blicke der Passanten nichts ausmachen. Es war so schön, ihnen zuzusehen.
Irgendwann riss ich meinen Blick von ihnen los. Ich lief nach Hause und schloss mich in mein Zimmer ein, dort weinte ich lange Zeit. Jetzt konnte ich die Augen definitiv nicht davor verschließen, dass ich das war, was ich nicht sein durfte. Tja, ich machte mir eine Menge Gedanken um meine Freunde, die ich ja eigentlich nicht belügen wollte. Aber trotzdem hatte ich Angst. Diese Angst blieb, und deshalb hatte ich dann auch eine Beziehung zu Uschi angefangen, es war ein letztes Aufbäumen in mir, um meinem Schwulsein zu entkommen. Aber es war einfach nicht zu verdrängen. Vielleicht war es kein besonders feiner Schachzug, sie an der Nase herumzuführen, denn eigentlich wusste ich die ganze Zeit, dass es nicht klappen würde und unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt war, noch bevor sie richtig angefangen hatte. Es war da, besser gesagt, ich war es und nichts und niemand konnte daran rütteln. Den Rest kannte Oli dann schon, da er ja wusste, wie meine Freunde reagiert hatten oder besser gesagt, wie er reagiert hat.
Das alles hatte ich ihm in dieser Freistunde erzählt, umgeben von unseren Klassenkameraden. Wir redeten, als ob es das Normalste wäre auf der Welt. Vor einer Woche hätte ich das nicht gekonnt, es wäre mir einfach nicht über die Lippen gekommen. Mein Selbstbewusstsein hatte in den letzten Tagen sehr zugenommen, da ich erfahren habe, wie viel Leute mich unterstützen und hinter mir stehen. Das hat mich bestätigt, in meiner Person und meinem Tun.
Auch Oli hatte sich seine Gedanken gemacht. Er hatte zwar gesagt, es würde dauern, bis er richtig frei darüber reden konnte, aber dann hatte seine Neugier gesiegt. Er wollte einfach wissen, wie es mir ging, wie ich mich selbst gefunden hatte, damit er auch besser damit umgehen könne. Obwohl er damit keinerlei Probleme mehr hätte, wie er mir mehrmals versicherte.
Der Orkan und seine Ausläufer
Diese letzten Stunden waren für mich anstrengender, als die ganzen letzten Wochen zusammen. Es war noch nicht einmal die zweite Pause und schon fühlte ich mich, als hätte ich mehr als 12 Stunden ohne Unterbrechung gearbeitet. Das viele Erzählen und das Diskutieren mit ungeliebten Klassenkameraden war sehr nervenzehrend. Eigentlich wollte ich mich vom Unterricht befreien lassen, aber ich war viel zu gut erzogen, um einfach blauzumachen (ich weiß, ich bin ein Streber). Ich freute mich, dass ich jetzt noch Geschichte und Deutsch hatte, denn erstens mochte ich diese Fächer und zweitens konnte man dort einfach ein bisschen entspannen, denn die Lehrer ließen mich dort weitestgehend in Ruhe.
Aber wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo die Exfreundin her. Es war gerade die zweite Pause und ich stand noch mit Judith, Mike, Yvonne, Simone und Manuel zusammen und unterhielt mich ein bisschen mit ihnen, was soviel hieß, dass sie mich mit Fragen bombardierten, die ich brav und adrett beantwortete. Am Anfang bemerkte ich sie gar nicht, erst als ich die Blicke der anderen bemerkte, drehte ich mich um und sah in die zornig funkelnden Augen von Uschi. Erst erstarrte ich, weil mir einfiel, dass ich ja mit ihr auch noch eine Rechnung offen hatte. Unentwegt starrte sie mir in die Augen, mit einem Blick, der mich töten könnte. Ich glaube, wäre sie in der Hölle, säße sie auf dem Thron und der Teufel würde packen. Mit den Händen in den Hüften und ihrem wütenden Gesichtsausdruck konnte sie einem wirklich Angst machen.
„Wen haben wir denn da?“, flüsterte sie mit gefährlicher Ruhe.
„Was meinst du denn?“, sagte ich betont unschuldig.
„Das weißt du ganz genau“, sprach sie und bewegte sich langsam auf mich zu.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte ich gespielt unwissend.
„Ach so“, sie änderte ihre Stimme von einem auf den anderen Moment, von leise gefährlich auf laut und wütend. Ihre Augen blitzten auf. „Du hast also nichts dagegen, wenn deine Klassenkameraden erfahren, was für eine blöde Schwuchtel ihr Freund ist, oder?“
Jetzt sprach sie betont laut, damit es auch jeder hörte. Nur zu dumm, dass sie nicht in meiner Klasse war, sondern eine der Parallelklassen besuchte. So hatte sie wahrscheinlich noch nicht erfahren, was heute schon alles passiert war.
„Du hast ja bestimmt meinen Brief erhalten und auch die Bilder darin. Also wenn du nicht noch mehr in Schimpf und Schande fallen möchtest, dann mach endlich, was ich von dir verlange. Verpiss dich und es wird dir nichts geschehen“, sagte sie wieder im Flüsterton.
Ich wollte gerade wieder zum Sprechen ansetzen, als ich von Mike unterbrochen wurde: „Ey Nils hast du Probleme? Hab ich das richtig gehört?“
„Ja das hat er, wenn er nicht bald pariert. Ja du hast richtig gehört, er ist einer von diesen Arschfickern“, sagte sie mit hasserfüllter Stimme.
„Ich hab gedacht, er hätte Probleme. Ich sehe aber keine Probleme. Ich find das toll“, sagte Simone mit einem Grinsen im Gesicht. „Gell Nils, ein Schwuler im Bekanntenkreis ist immer toll. Vor allem für uns Frauen! Schwule verstehen Frauen einfach und wissen was sie wollen.
Zu Mike und Manuel gedreht sagte sie: „Sorry, Jungs, es ist einfach so.“
Jetzt wusste Uschi nicht mehr, was sie sagen soll, denn ihr Gesicht erstarrte für einen Moment und verzog sich dann zu einer hässlichen Grimasse.
„A-Aber was soll denn das? Ihr solltet ihn doch eigentlich hassen“, begann sie hilflos. „Er hat euch jahrelang belogen, was das betraf, und ihr Jungs solltet doch Angst haben, dass er sich an euch vergeht in einem arglosen Augenblick.“ Ihre Stimme hatte zeitweise wieder ihr Selbstbewusstsein erlangt.
Nach dieser Aussage mussten wir alle schmunzeln.
„Bloß weil er schwul ist und auf Männer steht?“, fragte Manuel ungläubig.
„Klar, diese Tunten haben doch sowieso nichts anderes im Sinn. Wieso denkt ihr, dass die alle Aids haben? Es ist doch der beste Beweis, dass sie die Schande der Menschheit sind“, steigerte sie sich langsam hinein.
Irgendwie nervte es mich. Konnten diese Leute denn nicht einmal aufhören? Immer dieselben Argumente! Es wiederholte sich immer und immer wieder. Sie sollten sich langsam mal was Neues einfallen lassen.
„Jetzt mach mal langsam, du aufgeblasene Ziege. Wofür, glaubst du, hältst du dich eigentlich?“, mischte sich jetzt Manu noch einmal ein. „Bloß weil er auf Männer steht, muss er doch nicht auf jeden Mann stehen! Du läufst doch auch nicht jedem Dreibein hinterher, oder?“
Er machte eine kleine Pause, dann zwinkerte er mir schelmisch zu und bewegte sich langsam zu mir. „Außerdem: von so einem Süßem wie Nils würde ich mich sofort verführen lassen“, säuselte er mit betont erotisch-tuntiger Stimme und ging weiter auf mich zu. „Na du, Schlimmer. Heute Abend schon was vor, arrrrrrh.“ Dazu legte er mir noch seine Hand auf die Schulter.
Ich glaube, wir mussten alle an uns halten, um nicht laut loszulachen. Zumindest ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um mich nicht auf dem Boden zu kugeln. Leider sah Uschi das ganz anders. Sie starrte uns mit einer Mischung aus Unglauben, Ekel und Wut an.
„Ihr abnormales Pack! Was glaubt ihr eigentlich, für wen ihr euch haltet? Das wird noch ein schlimmes Nachspiel für euch haben, ihr ...“
„Jetzt mal halblang, du Paris Hilton Verschnitt für Arme. Lass unseren Nils hier in Ruhe, wir sind froh, dass es ihn gibt. Bloß weil du nicht über eure Trennung hinwegkommst, musst du hier nicht so ein Theater machen. Also zisch ab und lass Nils in Zukunft in Ruhe. So jemanden wie DICH brauchen wir hier nicht. Hau ab und lass dich nicht mehr blicken“, warf Judith Uschi an den Kopf.
Diese sah nun ganz hilflos aus, denn jetzt wusste sie endgültig nicht mehr, was sie sagen sollte. Ein bisschen leidtun konnte sie einem schon und auf eine gewisse Art und Weise verstand ich sie auch. Trotzdem war das kein Grund, so etwas wie mit den Fotos zu machen.
Uschi war schon fast den Tränen nahe. Inzwischen hatten sich meine Klassenkameraden in einem Halbkreis hinter mir aufgestellt. So dass es bestimmt ganz schön einschüchternd auf sie gewirkt haben musste, wie wir da so standen.
Trotz allem holte sie ihren letzten und schmutzigsten Trumpf aus der Tasche. Uschi machte den Schulranzen auf, zog ein paar der Photos aus ihrem Rucksack und knallte sie auf den Boden. Es waren genau dieselben wie damals in meinem Briefkasten.
„Ach, ist das niedlich“, giftete sie uns an. „Aber seht euch doch diese Bilder an und die moralischen Abgründe, die sich auftun. Seht das, in eurer nicht mehr ertragbaren Solidarität und Toleranz. Denn bei solchen Schweinereien hört normalerweise Toleranz auf.“ Sie zeigte mit ihren Fingern auf die am Boden zerstreuten Bilder.
„Kannst du nicht verstehen, wann genug genug ist und uns nicht einfach in Ruhe lassen? Geh! Geh!! GEH!!!“, das letzte Wort hatte Yvonne geschrieen.
„Ab...“
„NEIN! GEH!!!!“, schrien wir sie alle an.
„Und nimm deine unverschämten Photos mit“, sagte Mike barsch.
Anscheinend hatte sie nicht mit solch einer geballten Übermacht gerechnet. Sie starrte uns nur noch voller Unverständnis an, dann klaubte sie die schändlichen Bilder zusammen. Einen Moment schaute sie uns allen noch in die Augen. Dann verschwand sie laut fluchend in einem hysterischen Anfall.
Wir sahen uns an und mussten schallend lachen.
„Also wie du mich angemacht hast, fast wäre ich wuschig geworden“, rief ich Manu zu.
„Immer wieder gerne“, gab er lachend zurück. „Muss ich meiner Freundin halt gestehen, dass ich jetzt mit dir zusammen bin.“
„Ach, nicht doch! Ihr seit doch so ein hübsches Paar“, rief ich mit gespielter Bestürzung. „Aber umso besser für mich.“
Plötzlich wurde unsere heitere Runde von Oli, Tom und Gisi unterbrochen. Diese wurden von unserem Lachen angelockt, waren sie doch die ganze Pause vor dem Lehrerzimmer gestanden, da sie dort noch etwas mit ein paar Lehrern zu besprechen hatten.
„Was ist denn hier los?“, fragte Thomas.
„Um es in einem Satz zu sagen: Manu verlässt seine Freundin, um mit Oli was anzufangen“, berichtete Simone.
Eigentlich hätte es ein Erdbeben der Stufe zwölf geben müssen, so fest, wie die Münder zum Boden herunterklappten. Sie starrten uns an, als wären wir alle Außerirdische. Leider konnten wir uns nicht lange ruhig halten und bogen uns bald vor Lachen.
„Nein, das war nur ein Scherz ...“, sagte ich fast unter Tränen zu Ihnen.
„... den Uschi gar nicht so zum Lachen fand“, warf Judith ein.
„Hä?“, fragte Gisi mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht. „Uschi? Was haben wir verpasst?“
Endlich Ruhe
Vier Wochen später.
Es war viel passiert. Vielleicht zuviel. Natürlich war es an der Schule wie ein Lauffeuer herumgegangen, dass nun offiziell ein Schwuler im Haus war. Komischerweise, oder besser gesagt, zum Glück, hatte ich keine offenen Anfeindungen. Natürlich wurde hin und wieder von Schülern getuschelt, wenn ich an ihnen vorbeiging. Das war in Ordnung und damit konnte ich leben. Dank der Lehrer und meiner Klasse, die mich unterstützten, fiel es mir viel einfacher, durch die Schule zu gehen. In meiner Klasse war ich in einem geschützten Bereich, wo mir niemand etwas tat und ich meine Ruhe hatte. Von Markus, Michael, Simon und Florian hörten wir nichts mehr, außer dass alle vier nach dem disziplinarischen Urlaub nicht mehr unsere Schule besuchten. Es trauerte ihnen aber niemand nach. Uschi war bei allen unten durch. Sie versuchte noch mehrmals, Leute gegen mich aufzuhetzen, aber es war alles zwecklos, denn keiner wollte ihr zuhören. Wo sie doch so schöne gefälschte Bilder hatte. Jetzt ging sie immer alleine durch die Schule und schaute demonstrativ weg, wenn sie mich sah. Insgesamt ist ihr keiner ihrer ehemaligen Freunde geblieben, sie hatten sich alle abgewendet. Tja, wahre Freundschaft ließ sich nun mal nicht erkaufen, egal wie viel man bot. Wie gesagt, eigentlich konnte sie einem leidtun.
Meine Freunde und ich sind jetzt noch mehr zusammengewachsen, eine total coole Gemeinschaft. Auch mit den anderen aus der Klasse verstand ich mich besser.
Es war ein klarer sonniger Tag und wir vier gingen spazieren. Der Winter hatte noch einmal seine letzten schweren Geschütze aufgefahren. Es lag noch eine Menge Schnee, aber für Mitte Januar war das ja eigentlich normal. Gisi, Tom, Olli und ich spazierten einen kleinen Feldweg entlang und unterhielten uns über dies und das.
„Hoffen wir, dass das neue Jahr etwas ruhiger wird wie das Ende des letzten Jahres“, seufzte Gisi.
Wir konnten ihr nur zunicken. Die letzte Zeit hatte es wirklich in sich. Ich wollte auch nicht weiter zurückblicken. Die Chance, dass alles besser werden sollte, lag in der Zukunft. Diese könnte zwar schwierig werden, aber umgeben von meinen wundervollen Freunden würde alles leichter werden. Dieses Jahr machte ich meinen Abschluss und wäre fort von dort. Inzwischen mochte ich die Schule sogar etwas, aber es war dort einfach zuviel Scheiße passiert. Ich sah in den klaren Himmel, in den sich nur ein paar kleine Wölkchen verirrt hatten. Die Sonne schien herunter und verbreitete eine angenehme Wärme. So ließ es sich sogar für mich Frostbeule aushalten. Es war ein schöner Tag, alles schien so friedlich und harmonisch, dass man so manche Unannehmlichkeit aus den letzten Tagen einfach vergessen musste.
Da kam mir ein Gedanke. Was war mit meinen Eltern, Brüdern oder Verwandten? Vor allem an meinen Vater wollte ich nicht denken. So wie ich ihn kannte, würde er bestimmt ausrasten, wenn ich mich outete. Es lag noch so viel vor mir, das ich zu bewältigen hatte. Aber das lag noch in weiter Zukunft. So schnell wollte ich es ihm nicht sagen. Irgendwann ja, aber jetzt war ich einfach noch nicht dazu bereit. Wenn es dann doch dazu käme, würde ich es schon überleben, denn es war ja
„my real life!“
Nachwort:
Ich weiß es klingt wie ein Ende, und das ist es auch irgendwie. Denn hier endet die Realschulzeit für Nils. Aber danach wird es weitergehen. Nur nicht jetzt, da ich mich im Moment noch anderen Storys widmen möchte, wird es etwas dauern, bis der nächste Teil veröffentlicht wird. Ich hoffe es ist mir keiner böse. Aber es sei gesagt, dass der nächste Teil definitiv positiver für Nils verlaufen wird, auch wenn er noch einige Sachen auszustehen hat, die vielleicht nicht den Anschein haben als seien sie besonders erfreulich.
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