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Der Prinz
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Informationen
- Story: Der Prinz
- Autor: Dario und Dennis
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Prinz Wallice --- Folthmore, England
- Axel-- Hamburg, Germany (vor einem Monat)
- Eindrücke (Wallice)
- Axel - Ängste
- Wallice – Entscheidungen (vor zwei Tagen)
Prinz Wallice --- Folthmore, England
Irgendwie hatte ich Hummeln im Kopf. Große und laute Hummeln. Sie verursachten Kopfschmerzen und das in mein Zimmer einfallende Sonnenlicht trug auch nicht gerade zur Besserung bei.
Diese Party war zwar echt genial, aber Sekt und Rotwein hatten ihre Spuren hinterlassen. Langsam richtete ich mich in meinem Bett auf, versuchte hastige Bewegungen zu vermeiden. Was war da passiert letzte Nacht? Viel, eigentlich zu viel und nur allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Man wird zwar nur einmal Achtzehn in seinem Leben, aber dass man da immer auch zu Übertreibungen neigt...
Ich roch nach Parfüm. Fremdes Parfüm, ziemlich süß und aufdringlich. Überall haftete es an mir und irgendwie ekelte es mich an.
Ich schlug die Decke zurück, stand ganz langsam auf und zog neben dem Himmelbett an dem Stoffband, welches die Klingel in der Küche betätigte. In der Regel dauerte es keine zehn Minuten, bis Mortimer mit dem Frühstück erschien.
Die Sonne in meinen Augen tat richtig weh, aber ich zwang mich dennoch, aus dem geöffneten Fenster zu sehen. Hinaus in diese herrliche Natur an jenem Sommermorgen.
Achtzehn, dachte ich. Erwachsen. Ein Mann. Oder doch noch nicht?
Ich trat vor den großen Spiegel und betrachtete mich. War ich ein Jahr älter geworden letzte Nacht? Nein, befand ich. Vor vierundzwanzig Stunden hatte ich genauso ausgesehen. Nicht ganz so verknautscht, aber sonst...
Meine blonden, halblangen Haare standen wirr vom Kopf ab. Ich fuhr mit meinen Händen hindurch und musste grinsen. Jane hatte mir mal gesagt, ich hätte Borsten wie ein Wildschwein. Hatte sie nicht ernst gemeint, aber sie hatte recht. Die blauen Augen, die ich von meiner Mutter geerbt habe, lagen allerdings nicht im reinen Weiß wie sonst. Das war wohl noch eher rötlich. Ich bleckte meine weißen Zähne, auf die ich richtig stolz war und streckte mir die Zunge raus. Der dumme Alkohol. Mein Blick wanderte im Spiegel über meinen Körper und ich fand es an der Zeit, wieder ein bisschen Farbe auf die Haut zu bekommen. Die wenigen Haare auf meinem Körper sammelten sich auf dem Brustbein und nicht viel mehr befanden sich um meinen Bauchnabel, um von dort in einem schmalen Streifen in meiner Short zu verschwinden. Ich griff in meine Hose und überzeugte mich, dass da drunter noch alles so war wie gestern. Alles in Ordnung.
Ich holte tief Luft. Was würde sich ab heute ändern? Mehr Rechte, mehr Pflichten? Davon hatte ich schon früher reichlich genug. Und ab jetzt noch mehr? Ich ahnte, dass meine unbeschwerten Jahre vorbei sein würden. Ende des schönen Lebens und dabei hatte ich es noch nicht mal geschafft, mit einem Mädchen zu schlafen. Chancen hatte ich mehr als genug, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Naja, meine Verwandtschaft war froh drum, auch wenn ich sie diesbezüglich hätte anlügen können. Aber diese erzkonservative Gesellschaft sah es nun mal am liebsten, wenn man keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr ausübte. Wegen der Moral an sich und überhaupt. Und dann die ewigen Schlagzeilen, wenn einen die Paparazzi beim Küssen erwischten oder wenn man mal einen zu viel getrunken hatte. Mein Aussehen konnte ich kaum verändern, das wurde sofort auf Seite 1 der "Sun" dokumentiert. Ich hätte auch gern einen Ohrring getragen oder meinen Haaren ein paar Strähnchen verpasst, wie viele meiner Kommilitonen. Nach Schulschluss ins Freibad, einfach nur Blödsinn machen. Mit meinem Pferd ausreiten, ganz allein. Wirklich allein war ich nur am Abend in meinen vier Wänden.
Manchmal war es schon komisch. Ich lag in meinem Bett und holte mir genüsslich einen runter und da draußen gab es Millionen, die sich genau das vorstellten.
"Wie der wohl nackt aussieht?" Tja, Pech gehabt. Das werden die wenigsten von ihnen jemals rauskriegen. Es sei denn, ich ließe mich bewusst von einem Paparazzi erwischen. Und dann wäre ich tagelang in der "Sun". Nur die Überschrift dazu fiel mir da grad nicht ein. Noch komischer war die Vorstellung, dass ich damit eine Menge Geld verdienen könnte. Erst das Geld, dann die Fotos. Und anschließend verschwinden, ein für alle mal. Südsee. Hawaii. Nur noch Cocktails am Strand...
»Guten Morgen Wallice«, begrüßte mich Mortimer, den ich nach seinem Klopfen herein gebeten hatte.
Er rollte den silbernen Tablettwagen an meinen Tisch und verneigte sich höflich. Mortimer war seit Urzeiten Bediensteter des Hauses und immer freundlich. Er war im Winter siebzig geworden und noch einer der alten Garde. Ich hatte ihn schon vor Jahren gebeten, mich nicht mit meinem Titel anzureden, fühlte mich einfach zu jung dazu. Ich mochte Mortimer, denn er war weder aufdringlich noch arrogant. Dabei gab es schon einige um mich herum, die solche negativen Eigenschaften besaßen. Die meisten Bodyguards bildeten sich nämlich furchtbar viel ein, mich beschützen zu dürfen. Dabei dachte ich oft daran auf sie verzichten zu können. Wer wollte mir schon was antun? Sicher gab es Anarchisten, solche Verrückten Typen, die sich keine Gedanken darum machten, warum sie jemandem nach dem Leben trachteten. Aber wenn die unbedingt wollten, dann kamen sie eh an einen ran. Da nützten auch ein paar monströse Fleischberge um einen nicht viel.
»Danke«, sagte ich nur knapp, denn schon allein dieses Wort scheuchte die Hummeln wieder auf.
So leise wie er kam verschwand Mortimer und ich setzte mich an den Tisch. Wie lange konnte ich heute alleine sein? Allein mit mir selbst? Zehn Minuten, eine viertel Stunde? Mir grauste vor den Feierlichkeiten. Das Hineinfeiern in meinen Geburtstag war ganz allein meine Planung. Die besten Freunde und Freundinnen, sonst niemand.
Aus Schatten in meinem Kopf wurden bunte Figuren. Mit jedem Schluck Kaffee wurde der Abend lebendiger.
Anne. Meine beste Freundin. Hübsch, intelligent, aus gutem Hause. Aber ihre Art, wie sie in der Nacht mit mir redete, gefiel mir nicht. Sie machte sich Hoffnungen und das ist etwas, das ich nicht vertrage. Ich meinte sogar so etwas wie das Wort "Aussteuer" gehört zu haben.
Beatrice. Klein, pummelig, rote Haare. Irische Abstammung. Nicht mein Fall, aber wenigstens war sie weder aufdringlich noch ordinär.
Das war Jane dafür umso mehr. Sie war es auch, die ihr Parfüm auf mich übertragen hatte. Dauernd hing sie mir am Hals, versuchte mich zu küssen und gab sich ständig als meine Zukünftige aus. Ich traute mich nicht zu sagen, dass sie mir gestohlen bleiben könnte. Aber sie würde es eh bald merken.
Rachel. Sie war mein Stern diese Nacht. Groß, schlank, schmales, ebenmäßiges Gesicht, umrahmt von langen, kastanienfarbenen Haaren. Die Schwester meines besten Freundes Peter. Ich kannte sie schon lange, trotzdem schien es mir, als hätten wir uns gerade erst kennen gelernt. Ich suchte ständig ihre Nähe, aber irgendwie wich sie mir aus. Vielleicht war sie viel zu schüchtern, um sich mit mir in der Öffentlichkeit so zu geben, wie wir es sonst taten. Oder sie dachte, die Sache mit Jane wäre etwas Ernstes.
Aber in dieser Nacht war noch etwas geschehen, das nicht aus meinem Kopf ging. Etwas, das ich nicht für möglich gehalten hatte. Und dennoch war es passiert.
Steven, ein Schulfreund, war auch auf der Party. Ein ruhiger, besonnener junger Mann. So alt wie ich aber etwas kleiner, schlank, dunkle Haare, braune Augen und... Naja, irgendwie war er neben Jane ständig um mich herum.
Jedenfalls ging ich um Mitternacht auf die Toilette und als ich herauskam, stand er mit verschränkten Armen vor der Tür. Er hatte so einen komischen Gesichtsausdruck.
»Ist dir nicht gut?«, fragte ich ihn deswegen.
»Nein, ist mir nicht.«
»Willst du nach Hause gebracht werden?«
»Nein. Mir ist nicht schlecht, wenn du das meinst.«
»Was ist es dann?«
Steven sah mich plötzlich auf eine Art an, dass es mir ganz anders wurde.
»Du bist es.«, sagte er wie beiläufig.
»Was meinst du damit? Hab ich mich daneben benommen?«
Trotz des diffusen Lichts sah ich, dass seine Augen feucht waren.
»Quatsch, das kannst du gar nicht.«
»Ja, aber was ist es dann?«
Er kam auf mich zu, legte seine Hände um meine Taille und noch ehe ich mich versah drückte er mir einen Kuss auf die Wange.
Schlagartig trat er wieder zurück, aber seine Augen strahlten plötzlich.
»Ich hab Prinz Wallice geküsst.«
Ich stand wohl da wie eine Salzsäule. Irgendwie war ich es gewohnt, von allen möglichen Leuten aus der weitläufigen Familie einen solchen Kuss zu bekommen. Ich mochte die meisten, die es taten, ja auch, aber das, das war etwas ganz anderes.
Die Erkenntnis, dass Steven schwul sein könnte, würde mein freundschaftliches Verhältnis zu ihm nicht trüben. Er sah mit einem Mal richtig glücklich aus und ich freute mich irgendwie mit ihm. Wenn man einen Menschen mit so einer Kleinigkeit aufheitern konnte, dann war das auch für mich in Ordnung. Ich umarmte ihn meinerseits.
»Hey, Steve, egal was du für Gefühle hast, du bist und bleibst mein Freund.«
Er lächelte umwerfend und strahlte mich mit glitzernden Augen an.
»Ehrlich?«
»Wenn der Prinz etwas sagt, dann ist es so.«
Lange standen wir so da, bis Peter vor uns trat.
»Nanu, gibt's Probleme?«
Ich trennte mich von Steve.
»Im Grunde nicht. Steven hat ein kleines Problem und das haben wir gerade aus der Welt geschafft.«
»Herein«, rief ich, als es an der Tür klopfte.
Mein Vater stand in der Tür, mit einem komischen Grinsen im Gesicht.
»Na, junger Mann, gut geschlafen?«
Ich nickte und er ahnte mit Sicherheit wie es mir wirklich ging. Seine Augen suchten das Zimmer ab. Natürlich dürfte er gehofft haben, dass ich die Nacht nicht alleine in meinem Bett verbrachte, das sah ich ihm deutlich an. Auch die Enttäuschung, dass sich seine Erwartung nicht erfüllt hatte.
Er winkte nur kurz.
»Wann kommst du runter? Die Scotbys sind unterwegs.«
Ich schluckte. Ja, die Scotbys. Der gesamte Adel aus dem Land. Angefangen von meinen Großeltern bis runter zu den Sirs und Lords.
»Lass mir etwas Zeit, die Nacht war lang.«
»Ja, aber nicht zu lange. Die Presse ist auch auf dem Sprung. Und du weißt, du kannst dich denen nicht immer entziehen.«
»Ja«, stöhnte ich, »ist mir bekannt.«
Nichts hasste ich so wie die Öffentlichkeit und das Schlimmste waren die Reporter. Ihnen konnte man praktisch kaum entgehen. An einem Tag wie diesem erst recht nicht.
Erneut trat ich vor den Spiegel. Nein, nichts hatte sich geändert.
Die ausgiebige Dusche danach galt vor allem diesem schrecklichen Parfüm. Auch als ich mich abtrocknete, schien es noch immer an mir zu haften. Ich würde Jane in jedem Fall aus dem Weg gehen, sollte ich auch nur ansatzweise diesen fast schon penetranten Duft wieder aufschnappen.
Ich sah aus dem Fenster unseres Landsitzes Folthmore im südwestenglischen Gloucestershire. Prinz zu sein ist nicht eben einfach. Die Welt schaut auf einen, ob man will oder nicht. Eine Menge Autos waren inzwischen vorgefahren, die meisten gehörten wohl diesen Hyänen, wie ich die Reporter treffenderweise bezeichnete. Kameras wurden aufgebaut, ein richtiges Getümmel. Sehnsüchtig sah ich in den Wald, der sich weit hinter dem Anwesen erstreckte. Dort drinnen zu verschwinden war in dem Moment mein sehnlichster Wunsch. Vielleicht noch, dass es wie aus Eimern schütten dürfte und dieses Pack nass würde bis auf die Knochen. Aber es war ein herrlicher Tag und untertauchen ging eh nicht. Ein Prinz, der in zweiter Thronfolge stand, durfte sich nicht dem Mob entziehen. Die Leute wollen ihn sehen, teilhaben an seinem Leben. Vielleicht bin ich auch Teil ihrer Träume. Der Traum vom ewigen Faulenzen, Geld ausgeben und dem vielen Spaß, den man angeblich hat. Und jede Frau dieser Welt würde einem zu Füßen liegen. Wenn die wüssten... Dabei wollte ich nichts als meine Ruhe haben. Studieren wie tausende anderer Jungen auch, ohne diese heimlichen Blicke ertragen zu müssen. Und das Tuscheln erst. Die Mädchen waren oft mehr als lästig. Das ein oder andere Mal hatte ich mich schon in meinem Zimmer eingeschlossen und geheult. Gebettelt, dass ich so sein durfte wie die anderen da draußen. Aber es half nichts. Künftiger Prinz zu Witham - und eines Tages König. Wollte ich das wirklich? War das meine Bestimmung?
Sicher, ich hatte auch eine Menge Annehmlichkeiten. Viele sogar. Meine Arbeit im Ausland. Ich hatte den Vortritt, egal in welchem Verein auch immer. Man versuchte, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen, an nichts durfte es mir fehlen.
Am meisten Freude machten mir die regelmäßigen Besuche in Kinder- oder Tierheimen. Da gab es keine Effekthascherei, kein Neid, keine übertriebene Höflichkeit. Da durfte ich der Mensch sein, der ich wirklich bin.
Aber es gab eben auch die andere Seite. Zwar hatte ich noch keine richtigen Verpflichtungen und der Thron samt der Verantwortung war weit weg. Dennoch - jeden Tag wurde mir mehr bewusst, was einmal auf mich zukommen würde.
Im Ballsaal des Schlosses standen sie, die lieben Verwandten aus allen Ecken des Landes. Angefangen vom Lord bis hin zu meiner Oma, der Königin von Witham. Und die Knuddelei fing an. Ich nahm es tapfer hin, schließlich blieb mir auch nicht viel anderes übrig. Mich freute, dass ich Peter in der Menge ausmachen konnte. Mein bester Freund war nie weit von mir und ich schätzte ihn als den liebsten Menschen, der um mich war. Seine Nähe bedeutete Geborgenheit, Trost in schweren Stunden, Freude, Spaß. Er war es auch, der mich tagelang getröstet hatte, als meine Mutter starb. Ich weiß nicht, wie es ohne ihn ausgegangen wäre. Peter war sehr weitläufig, über tausend Ecken oder so, mit mir verwandt. Wir kannten uns von klein auf und ich glaube, für unsere Freundschaft hätte ich auf den Thron verzichtet. Nun sah ich ihn, ganz dezent im Hintergrund. Er kam mir manchmal vor wie ein Leibwächter, denn er ließ mich kaum aus den Augen. Und ich brauchte diese Nähe, an diesem Tag mehr als sonst. Dabei hätte ich ihn gern am Arm geschnappt und wäre rausgelaufen. Irgendwohin, nur weg von all dem hier. Aber ein Prinz darf das nicht. Er darf so vieles nicht. Und wenn, dann unter Beobachtung. Nur die winzige Kabine eines Klos irgendwo bei irgendwelchen Anlässen war es oft, in der ich minutenlang alleine für mich sein konnte. Dann schloss ich die Tür, setzte mich auf den Klodeckel und horchte in mich hinein, versuchte für Minuten alles um mich herum zu vergessen. Dachte über meine Zukunft nach und mein Leben im Allgemeinen. Aber was auch immer ich mir da zusammendichtete – kurz darauf stand ich wieder im Rampenlicht.
»Steven?«
Ich sah dem Jungen unvermittelt ins Gesicht. Mit jedem hatte ich hier gerechnet, aber nicht mit ihm. Aber klar, er war immerhin der Sohn meiner Großtante Agnetha, warum sollte er nicht hier sein?
Da waren sie wieder, diese braunen Augen, dieses Lächeln. Und ein Blick, den ich nicht zu deuten verstand. Ich neige selten zu einer Gänsehaut, aber da kam sie. Umschloss meinen ganzen Körper für Sekunden, um dann von einem sehr angenehmen Gefühl abgelöst zu werden. Plötzlich spürte ich seinen Kuss wieder und gelangte zu der Erkenntnis, dass es mir nicht unangenehm gewesen war. Das war Janes Parfüm schon viel eher.
Das Bankett am Abend war auch wieder so ein Theater. Zum Glück saß rechts von mir Peter, links Steven. Ich hatte mir diese Sitzordnung gewünscht und war damit bei einigen Familienmitgliedern auf erheblichen Widerstand gestoßen, schließlich wurde die Sitzordnung schon Wochen vorher ausbaldowert. Aber das war mir an diesem Abend echt egal, niemand war mir wichtiger als die beiden. Naja, einige böse Blicke kamen von Julie, einer meiner zahlreichen Nichten. Aber die ist echt nicht der Knaller. Und von Sarah. Nun gut, über Geschmack lässt sich trefflich streiten. Sie ist schon hübsch, irgendwie, aber genauso unterbelichtet. Nichts zog mich zu denen hin und das Adelsvolk um mich herum betrachtete diese Dinge mit Missbilligung, auch wenn es das nicht offiziell zugab. Die Angst ging um, ich könnte eines Tages eine Bürgerliche anschleppen. Das durfte nicht passieren. Im Grunde waren es solche Reglementierungen, die mich oft ärgerten. Und dann gute Mine zum bösen Spiel zu machen, fiel mir besonders schwer.
Meine Geschenke waren denn auch der Höhepunkt des Abends. Paps schenkte mir einen neuen VW Golf, genau den, den ich Wochen zuvor bei einem Einkauf in Dover so angehimmelt hatte. Die anderen Präsente zähle ich nicht auf, das würde den Rahmen sprengen. Aber den Armreif von Peter muss ich erwähnen. Aus Kupfer. Er solle mich lange bei Gesundheit halten und ich freute mich darüber mehr als über all die anderen Sachen. Nun gut, Oma hatte es sich nicht nehmen lassen, mir einen Computer zu schenken. Ich kannte mich mit den Dingern ja gut aus, aber einen eigenen hatte ich bislang noch nicht. Wozu auch, ich war ja eher selten zu Hause.
Was konnten die feiern. Nach den verschiedenen Ansprachen meines Vaters und einigen Onkels wurde der Abend lang und länger. Zum Glück ging das Ganze in eine Art Stehparty über und so konnte ich mich mit Peter und Steve eine Zeit lang davonstehlen. Mir war nach einer Zigarette und einem kräftigen Glas Rotwein. Das hätte ich auch so trinken können, aber es schmeckte einfach besser, wenn da nur Menschen um mich waren, die mir etwas bedeuteten.
Wir schlichen in die Küche, wo ich normalerweise nie zugegen war. Die Köche und Köchinnen fielen fast in ihre Töpfe, als wir da zu später Stunde auftauchten. Ich hatte das Gefühl, man hätte sie mit einem Elektroschocker gelähmt. Aber nach wenigen erklärenden Worten hob sich die Stimmung und es wurde eine ganz tolle Stunde unter ihnen. Wir rauchten mit den Köchen wie die Bekloppten, tranken Sherry und Wein, knabberten an Hummerschwänzen und löffelten Kaviar. So wohl hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt.
Leicht angesäuselt kehrten wir dann in den Ballsaal zurück. Niemand hatte uns wirklich vermisst, zu viele Leute waren da.
Mein Vater trat vor mich.
»Du weißt, dass wir in vier Wochen die Europareise antreten?«
Klar, wie hätte ich das vergessen können. Zum Glück diesmal nichts hochoffizielles. Besuch der Airbus – Produktionsstätten. Hamburg, Toulouse, Illescas, Cadiz. Eine Woche mal was anderes sehen als nur Politiker und irgendwie freute ich mich sogar darauf. Und das Schönste war – keine meiner Nichten oder sonstigen Anhängsel war dabei. Meine Oma, Vater, der Finanz- und Bildungsminister und dann halt noch der übliche Tross. Bei manchen fragte ich mich allerdings, was die auf so einer Tour zu suchen hatten, aber es lag – noch nicht – in meinen Händen, das zu entscheiden. In Hamburg stand ein Empfang des deutschen Kanzlers auf dem Programm. Nun gut, was solls. Ich werde es überleben, dachte ich mir. Peter hatte keine Zeit, was mir sehr leid tat, denn mit ihm an meiner Seite wäre das alles sicher noch schöner geworden. Immerhin waren wir sehr an der Fliegerei interessiert und überdies wollte ich einmal Luftwaffenoffizier werden.
Es war weit nach Mitternacht als die ersten Gäste gingen und ich war todmüde. Die vorige Nacht war noch nicht ganz verdaut und ich war nun echt froh, ins Bett zu kommen. Steven war schon früh gegangen, der war auch noch ganz hinüber. Peter folgte ihm kurz darauf und ab da wurde es natürlich richtig langweilig.
Es wurde dann doch drei Uhr in der Früh bis endlich der Letzte aus dem Haus ging. Richtig schlapp zog ich mich am Geländer zu meinen Gemächern im oberen Stockwerk hinauf. Nichts mehr sehen und hören.
Aber mit Schlaf wurde es zunächst nichts. Auf meinem Handy waren 20 SMS eingegangen und die musste ich natürlich erstmal lesen. Freunde aus der Uni, fast alle hatten sich gemeldet. Unter anderem auch Steven.
"Hi Wallice. Ich hoffe es geht dir gut nach dieser anstrengenden Nacht. Ich wollte mich entschuldigen für den Kuss, der ist mir echt so ausgerutscht. Aber... ich denke ja nicht, dass du nachtragend bist. Oder siehst du mich nüchtern mit anderen Augen? Ich hab dich das heute Abend nicht fragen wollen, es war so schön. Eine gute Nacht noch. Gruß Steve."
Aha, klar. Er fürchtete, ich hätte es ihm trotzdem übel genommen. Das tat ich nicht. Ich legte mich auf mein Bett und las die Nachricht noch ein paar Mal. Wieder sah ich Steve vor mir, spürte seine sanften, weichen Lippen auf meiner Wange. Sah diese glitzernden Augen, dieses Lächeln.
Ich löschte das Licht und drehte mich auf die Seite. Obwohl ich so müde war, bekam ich Steve nicht aus meinem Kopf. Dabei hatte ich doch so viele andere Sachen, die mich beschäftigen müssten. Meine Geschenke, mein neues Auto, die Reise durch Europa. Nein, Steve klebte wie ein Pflaster in meinem Kopf und verstopfte den Zugang anderer Gedanken.
Wieder und wieder erschien sein Gesicht vor mir. Diese niedliche Stupsnase, diese Augen. Und... roch ich ihn gerade? Kein Parfüm. Ich fuhr mit zitternden Fingern über die Stelle, wo mich sein Kuss getroffen hatte. War es eben erst? War es überhaupt? Was passierte denn da gerade?
Aufgerührt von meinen Gefühlen stand ich auf und ging zum Fenster. Ein paar Laternen vor dem Haus boten Licht genug, um die Leibgarde zu erkennen, die ihre Runden drehte. Einer der Männer hob die Hand und winkte mir verhalten zu. Diesen Leuten entging nichts, gar nichts.
Und in diesem Augenblick hob sich ein Vorhang. Geräuschlos glitt er nach oben, wie man das aus Theaterstücken kennt. Dahinter offenbarte sich mir eine andere Welt.
Wie war das neulich in Dartmoore? Der Premierminister hatte zu einem Empfang geladen. Den Grund weiß ich nicht mehr, spielt aber auch keine Rolle. Jedenfalls ging ich damals neben meinem Vater Richtung Eingang, als ein junger Leibgardist vor mir stand. Er starrte mich an und nickte ganz verstohlen, keiner außer mir bekam das mit. Dann trat er zur Seite und ließ mich vorbei. Nun, in diesem Moment tauchte dessen Gesicht wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ein sehr hübscher junger Mann war das gewesen, aber das wurde mir erst in diesem Moment bewusst. Einige Male war er mir begegnet an diesem Abend und immer dieser Blick. Von nun an wusste ich, dass er mich genauso angezogen hatte; ich hatte es schlichtweg ignoriert.
»Du kannst nicht schwul sein.«, sagte ich mir leise. »Das darfst du gar nicht. Blaublüter sind niemals schwul.«
Immer wieder sah der Gardist zu mir ans Fenster hoch. Er konnte nur meinen Schatten sehen, denn es war dunkel in meinem Zimmer.
Merkten die, was mit mir los sein könnte? Las ich nicht mal, dass Schwule spüren, wenn ihresgleichen in der Nähe war? Küsste mich Steve nur deshalb, weil er sich dessen sicher gewesen war?
Mir wurde heiß. Sehr heiß. Warum buhlten nicht Beatrice, Jane oder Rachel in meinem Kopf um mich? Das wäre doch logisch gewesen.
Ich setzte mich zurück auf mein Bett und starrte auf das Handy. Ich musste Steve antworten, egal wie.
Ein Blitz erhellte mein Zimmer. War das ein Zeichen? Begann nun etwas, womit ich nie gerechnet hatte? Und wenn es wirklich so war?
Es würde wohl mein Geheimnis bleiben, ein Leben lang. Ich musste mir eine adelige Frau suchen, sie heiraten und Kinder kriegen. Das verlangte die Etikette. Ein schwuler Prinz? In diesem Land? Niemals.
Donnergrollen bestätigte mir, dass ich nicht geträumt hatte. Von dieser Nacht an würde mein Leben anders aussehen. Nein, nicht ein Leben. Zwei. Das, was der Staat sehen möchte und das, was ich wirklich lebte. Mein Leben.
Ich spürte Tränen in meinen Augen. Nicht, dass es welche der Enttäuschung über mich und meine Gefühle selbst gewesen wären. Nein, es war nichts als die Gewissheit, niemals der Mensch sein zu können, der ich wirklich bin.
Der zweite Morgen in Folge, an dem es mir nicht sonderlich gut ging. Aber diesmal war nicht nur der Alkohol schuld.
»Nanu, ist etwas?«, wollte mein Papa dann auch gleich wissen, als ich in das Esszimmer kam. Er war schon immer ein guter Beobachter, was mir manchmal auch auf die Nerven ging.
Sagen was los war konnte ich ihm nicht, niemals. Er gehörte zu den Erzkonservativen, die jede Art von alternativen Lebensformen verabscheute. Und Schwule standen sowieso ganz oben auf dieser Liste. Zugegeben, ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, denn ich hatte keine Berührung mit ihnen.
Mit ihnen? So zu denken jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich gehörte zu ihnen, auch wenn ich es zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht richtig wahrhaben wollte.
»Nein, es ist nichts.«
Ich spürte, dass er mir nicht glaubte.
»Hier, lies das mal.«, sagte er und legte mir eine Liste vor. Der Ablauf unseres Europa – Trips.
»Wenn du kleine Änderungen einfügen möchtest, dann tu das frühzeitig. Du weißt, dass das Protokoll drei Tage vorher stehen muss. Ich lass dich jetzt alleine, ich muss ins Parlament. Bis dann.«
Er fuhr mir durch die Haare, was mir all die Jahre nichts ausgemacht hatte. An diesem Morgen zuckte ich zum ersten Mal unter der Berührung zusammen und Papa merkte das.
Aber er grinste nur über beide Ohren.
»Aha, mein Junge ist erwachsen.«
Mit diesem komischen Spruch ließ er mich sitzen und verschwand.
Es gab auf der Liste einige interessante Punkte. Am meisten freute ich mich auf Hamburg. Ich war wohl schon mal da gewesen, aber ich konnte mich daran fast nicht mehr erinnern. Es war kalt und ich quengelig. Irgendwie hatte ich damals meinen Stoff - Knuddelbären verloren.
"Begrüßung durch den Bürgermeister von Hamburg auf dem Rathausplatz. Anschließend Besuch der Airbus Fertigungshalle in Hamburg – Finkenwerder. Danach Treffen mit dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland im Rathaus. Am Abend Bankett im großen Saal."
Naja, konnte mir recht sein, nach Stress jedenfalls hörte sich das nicht an. Der drohte mir ja immerhin von einer ganz anderen Seite. Dauerstress mit meinen Gefühlen.
Ich verzog mich in mein Zimmer. Zum Glück waren Ferien und ich musste mich nicht auch noch um Dinge wie das Studium kümmern.
Ich hielt mein Handy vor mich und war versucht, Steve anzurufen. Aber es ging nicht. Ich brachte es nicht fertig. Peter? Auch nicht, den würde ich verlieren, wenn er es wüsste. Ich konnte nicht von ihm erwarten, dass er Verständnis aufbringen würde. Peter war ein kleiner Weiberheld und ich hatte schon oft bemerkt, dass er mich gern in Gesellschaft der jungen Ladys sah. Vielleicht schwebte ihm ja sogar eine Doppelhochzeit vor, wer konnte es wissen? Aber dass sein bester Freund schwul sein sollte, das dürfte eher eine Katastrophe für ihn sein. Irgendwie sah ich meine Felle davon schwimmen. Sicher würde ich es bis ins Greisenalter geheim halten können. Aber wollte ich das wirklich, um den Preis der Krone? Zugegeben, es reizte mich, König zu sein irgendwann.
Aber in dieser Zeit dachte ich auch an all die anderen. Jene, die nicht das Glück hatten bei Hofe aufgewachsen zu sein und da draußen in ärmlichen Verhältnissen leben mussten. Die kaum Geld für Kleidung und Essen hatten und den Kampf des Überlebens jeden Tag neu ausfechten mussten. Da waren Alkohol, Drogen und Prostitution nie weit. Ich wusste um diese Umstände, aber ich verdrängte sie regelmäßig.
»Die meisten sind selbst Schuld.«, hörte ich oft, wenn es um dieses Thema ging. Aber immer hatte ich das Gefühl, dass niemand hier wirklich etwas damit zu tun haben wollte.
Dabei stand an jedem Tag etwas von uns in der Zeitung. Irgendeine Besichtigung, eine Feier, eine Hochzeit oder Geburtstag. Dann sah ich die Bettler und Gestrandeten vor meinem geistigen Auge, wie sie die Zeitungen aus den Müllkörben fischten und sich die Fotos ansahen. All das viele Essen, die sündhaft teuren Kleider und Anzüge, die strahlenden Gesichter. Wie musste sich ein Mensch am Rande des Abgrunds dann wohl fühlen?
Vielleicht passte ich ja gar nicht hierher. War hineingeboren worden in die High Society ohne etwas dafür zu können. Ich hasste meinen Wankelmut zusehends und wusste dennoch nicht, wie ich ihm begegnen sollte.
"Da draußen ist einer, der dich begehren und verstehen wird." hörte ich meine Gedanken.
Da draußen? Niemals konnte ich dort sein.
Mein Handy klingelte.
»Hallo Steve.«
»Nun mein Prinz, wie geht's heute Morgen?«
Ich freute mich seine Stimme zu hören.
»Du sollst mich nicht immer Prinz nennen.«, meckerte ich ins Handy.
»Das bist du aber.«
»Ja, okay, was gibt's?«
Ich schluckte. Nichts sehnte ich mir so herbei wie ihn und nichts fürchtete ich gleichzeitig so stark.
»Morgen ist Fuchsjagd. Du bist doch sicher dabei?«
Fuchsjagd. Das war ein Albtraum und ich hasste es. Ich liebte Tiere, egal in welcher Form und Füchse ganz besonders. Diese schlauen, heimlichen Wesen; sie hatten ein Recht auf Leben wie wir alle. Aber der Adel sah das anders. Nicht, dass sie diese kleinen Hunde nicht mochten, aber seit Hunderten von Jahren war man hinter ihnen her. Und irgendwie störte sich niemand wirklich an der Brutalität dieses "Sports".
Aber ich musste mit, einmal im Jahr verlangte man von uns daran teilzuhaben. Alle waren richtig heiß auf diesen Tag und ich als einziger behielt meine tiefe Abneigung für mich. Naja, Steve hatte das letzte Mal auch geschimpft. Irgendwas von Mord erzählt, aber wir hatten keine Möglichkeit, uns dem Gemetzel zu entziehen.
»Ja, klar, ich bin dabei.«
»Prima. Wir reiten doch zusammen?«
»Sicher.«
»Ist was?«
»Nein, Steve, es ist nichts. Wir sehen uns dann morgen.«
Natürlich war Steven feinfühlig genug um zu erkennen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich mutmaßte, dass Steve nur mitritt, weil ich dabei war.
Ich warf mich auf mein Bett. Nichts hasste ich so wie die Fuchsjagd, aber ich konnte mich nicht ausschließen. Wobei auch ein Prinz einmal krank werden kann. Ich begann, mir eine recht simple und doch wirksame Krankheit auszudenken.
Nichts war's mit Krankheit. Der Blick in den Spiegel reichte mir an jenem Morgen, ich sah aus wie das blühende Leben, kein Mensch hätte mir eine Krankheit abgekauft.
Also zog ich meine Reiterkluft an. Die stand mir, wie ich fand, sehr gut. Nur eben nicht zu diesem Anlass.
Und die Sonne schien. Kein Sauwetter, kein Sturm. Nichts, was der Jagd hätte abträglich sein können. Ich mag die Sonne und den Sommer, aber an diesem Tag wäre mir ein gewaltiges Unwetter lieber gewesen.
Am meisten freuten mich immer die vielen Hunde und Fips war mein Liebling. Der Kleinste unter all den Hunden. Manchmal nahm ich ihn hoch auf mein Pferd, wenn die Strecke zu lang für ihn wurde. Er gehörte Lord John, aber wenn mich der Kleine sah flippte er regelmäßig aus.
Das stolze Pferd stellte sich neben mich.
»Hallo mein Prinz.«, sagte Steven so leise, dass nur ich es hören konnte. Wie sah er aus auf seinem Rappen? Eher ein Prinz als ich.
»Hallo Steve. Du sollst mich doch...«
»... nicht Prinz nennen.«, lachte er. »Aber was soll ich machen? Du bist und bleibst es.«
Steve war eine Schönheit unter all den anderen hier, er sah einfach gut aus. Dieses blasse Gesicht, die dunklen Haare lugten in Locken unter seinem Reiterhelm heraus und verliehen dem Jungen eine gewisse Wildheit. Diese Augen, dieses umwerfende Lächeln und die schmale Taille in der Reiterkluft. Wäre ich jetzt nicht viel lieber mit ihm im Schweinsgalopp durch Wald und Au galoppiert, immer dicht nebeneinander? Einfach nur aus Spaß?
Aber so sammelte sich die ganze Gesellschaft wie immer im Hofe des Gestüts, das dem Landsitz angegliedert war.
Sekt, Rotwein, Campari. Damit stärkten sich die Reiter erstmal und dann ging die Hetze los. Querfeldein, gefolgt von der Presse. Und ich meinte sogar, ein Kamerateam im Hof gesehen zu haben. Die waren im Stande, uns mit einem Hubschrauber zu folgen.
Steve und ich hielten uns zurück. Was früher wie selbstverständlich für mich war, gewann nach seinem Outing eine andere Dimension.
Mitten im Wald mussten wir an einem querliegenden Baumstamm stoppen und da waren sie, die Hyänen. Blitzlichtgewitter, Mikrofone, Fragen.
Steve und ich schauten uns an. Alles was ich den Reportern sagen konnte war »kein Kommentar« und dann preschten wir beide in die Büsche. Ich wusste, dass die Fuchsjagd abgeschafft werden sollte und darauf zielten auch die Fragen ab; aber ich durfte mich dazu genauso wenig äußern wie Steven.
Wir ritten als wäre der Leibhaftige hinter uns her und schon kurze Zeit später hatten wir die lästigen Fragesteller abgehängt.
An einem kleinen Bach stiegen wir ab und tränkten unsere Pferde.
Ohne irgendwelche Worte öffnete Steve seine Satteltaschen und begann, ein Picknick vorzubereiten.
»Sollen sie uns doch suchen, ich hab keinen Bock drauf die armen Tiere zu jagen. Unsere Leute haben gesehen, dass wir da waren, alles andere kann ihnen egal sein.«
Ich wusste, das gibt Ärger. Der Hof verzieh solche Mätzchen höchst selten und ich fühlte mich nicht wohl. Paps würde mir den Hintern versohlen – auch mit Achtzehn noch.
»Hey Wallice, was ist? Willst du lieber bei diesen Mördern sein?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann komm, ich hab einige Leckereien geordert. Lust, sie wieder mitzunehmen, hab ich aber nicht.«
Brot, Wurst, Schinken, geräucherter Fisch, Käse, Tomaten, Obst und eine Flasche Rotwein zierten kurz darauf die Decke, die Steve ausgebreitet hatte.
Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn. Eigentlich war es doch herrlich in diesem Moment. Aber war es nur das Wissen um ein recht sorgenfreies Leben? Speis und Trank? Der schöne Sommertag? Unsere Pferde, die neben uns gemütlich das Gras rupften?
Nein, das alleine war es nicht, ich spürte es genau. Eine Faszination. Steve war an meiner Stimmung Schuld.
Er haute rein als hätte er tagelang nichts zu Essen bekommen. Ich tat mich da schon etwas schwerer, bei jedem Blick zu ihm verging mir der Appetit ein wenig mehr. Das lag nicht daran, dass er schwul war. Das lag an mir. Schweißtropfen rannen meine Schläfe hinunter.
Ich betrachtete seine Hände und Finger, wie er den Schinken abschnitt, die Tomaten viertelte und das Brot abbiss. Filigran waren seine Bewegungen bisweilen und mit einem Mal fühlte ich mich zu ihm hingezogen.
»Kein Hunger? Hast doch seit Stunden nichts gegessen.«, fragte er kauend nach einiger Zeit.
»Schon, aber...«
Er sah mich an mit seinen schönen Augen und mir wurde wieder ganz anders.
»Was aber?«, fragte er und knabberte an dem Fisch.
»Nichts. Es ist nichts.«
Er ließ seine Hände in den Schoß fallen und starrte mich an.
»Was heißt nichts?«
Plötzlich verschwand das Lächeln von seinen Lippen. Ewigkeiten sah er mich an.
»Es ist der Kuss, nicht wahr? Du lehnst mich und meine Gefühle ab, stimmt's?«
»Nein, Steve, gar nicht.«
»Dürfte ich dann erfahren was es ist?«
»Lass uns den Wein aufmachen.«, lenkte ich ab.
Wie Steve es fertiggebracht hatte, echte Gläser ohne Bruch bis hierher gebracht zu haben, war mir ein Rätsel.
Wir stießen an, wobei sich sein Blick nicht änderte. Er spürte, dass etwas in mir brodelte, aber er konnte ja nicht ahnen was es war.
Nachdem der Alkohol in meinem Magen ein wohliges Brennen ausgelöst hatte, konnte ich mich nicht mehr halten. Wir waren alleine hier draußen, niemand konnte uns sehen. Und Steve war es Wert.
Ich legte meine Hand auf seinen Arm, worauf ich einen ungläubigen Blick erntete. Ich sah hinein in diese braunen Augen, studierte seine Wimpern, seine Nase, den sinnlichen Mund.
Als Steve dann auch noch so ulkig zu blinzeln begann, ließ ich mich fallen. Hinein in eine Welt, die ich noch nicht kannte, aber kennen lernen wollte. Langsam kamen sich unsere Köpfe näher.
»Steve, ich weiß auch nicht...«
Er hielt seinen Zeigefinger an meinen Mund.
»Du musst jetzt nicht reden.«
Sein Kuss auf meine Lippen war zart, wie ein warmer Windhauch an diesem Tag. Seine Hände, die meinen Rücken streichelten, spürte ich fast nicht. Aber sie waren da.
Es dauerte nur wenige Sekunden, aber sie reichten, um meine wahren Gefühle an den Tag zu bringen.
Ich fuhr mit der Zunge über meine Lippen.
»Du schmeckst total nach Fisch.«, grinste ich.
»Tja, da hast du selber Schuld.«, lachte Steve zurück. »Hättest du auch davon gegessen, wäre dir das nicht aufgefallen.«
Allmählich bekam ich dann doch Appetit und wenig später war kaum noch etwas von dem Picknick übrig.
»Du stehst also auch auf Jungs?«, fragte mich Steve nach einer langen Redepause.
»Ich denk, so ist das wohl. Aber du hast es doch vorher schon gewusst.«
Er sah mich nachdenklich an.
»Nicht gewusst – gehofft. Du gehst mir in letzter Zeit nicht mehr aus dem Kopf und ich hatte keine Ahnung warum. Bis jetzt.«
Seine Augen wurden auf einmal groß.
»Scheiße.«
»He, das sagt man nicht.«
»Doch. Wie willst du das denn machen? Wenn das die Presse rauskriegt, kannst du auswandern.«
»Ob sie es rauskriegt oder nicht, das tu ich sowieso.«
Er riss die Augen auf.
»Was?«
»Glaubst du ich will hier Wurzeln schlagen? Mit einer Frau, die ich nicht lieben kann, mit Bälgern, die mich Tag und Nacht ärgern? Nein Steve, ich habe es bereits beschlossen. In drei Jahren ist mein Studium beendet und danach ist Feierabend. So lange können wir es geheim halten. Oder?«
Er streichelte durch meine Haare.
»Okay, ich hab verstanden.«, sagte er und seine Enttäuschung über meinen Plan war nicht zu übersehen.
Damit hätte ich rechnen müssen, aber es war eh alles egal.
»Und was ist mit Peter? Dem wirst du es sagen müssen.«, sagte er schließlich.
»Nicht vorher. Wir sind Freunde, ja, aber wenn ich es ihm sage ist Schluß.«
»Bist du dir sicher?«
»Nein, natürlich nicht. Aber in Prozenten gerechnet, was seine Akzeptanz angeht, sehe ich da drei Nullen davor. Er wird mich meiden. Und je später das passiert, umso besser. Ich lebe halt so lange mit einer Lüge, aber etwas anderes fällt mir nicht ein.«
Wir sahen uns unendlich lang in die Augen.
»Was wolltest du eigentlich mit dem Kuss damals ausdrücken?«, fragte ich dann.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, du hast diesen Kuss beabsichtigt, Zufall oder Spontaneität war das wohl kaum.«
Er grinste.
»Nein, das war reine Absicht.«
»Und hast du das getan, weil... weil du mich vielleicht... ein bisschen liebst?«
Steve zuckte mit der Schulter.
»Komm, wir müssen los.«
Papas Standpauke an diesem Abend war wie erwartet ausgefallen. Wie ich es wagen konnte, den Tross zu verlassen und so weiter.
»Wallice, ich wünsche keine Alleingänge. Du hast Verpflichtungen und du musst dich ihnen stellen. Außerdem – du bist jetzt Achtzehn..«
Ich wusste, was kommt.
»Du weißt, dass man von dir Disziplin erwartet. Wir alle hoffen, dass du die ehrbare Linie nicht durch irgendwelche Eskapaden durchbrichst.«
Plötzlich wurde er sehr leise.
»Wenn du dich schon mit Mädchen herumtreiben musst, dann tu das bitte nicht... mit irgendeiner von der Straße. Hier gibt es genug, die dir ebenbürtig sind.«
Damit war es gesagt und ich nickte nur brav, dabei kochte ich beinahe über. Es war nicht mein Papa, der da sprach, das war der Mob. Der verlangte danach. Mein Vater war nämlich beileibe nicht der Engel des Adels. Ich wusste, dass es Teile in seiner Vergangenheit gab, die mehr als nur in Grau erschienen. Aber scheinbar wollte er mich ja nur vor den Folgen solcher Fehltritte warnen. Allein, es nutzte ihm nichts. Keine Schwiegertochter, keine Enkelkinder. Wann würde ich es ihm sagen müssen?
Nach meinem Studium. Dann stand ich wirklich auf eigenen Füßen und konnte mich um mich selbst kümmern.
Meine unterschwellige Angst, durch Steve würde alles herauskommen, zermürbte mich. Wie weit konnte ich ihm trauen? War er so glücklich über unsere "Beziehung", dass er das in einem ungeschickten Augenblick ausplaudern würde? Dummerweise hing er oft mit den größten Plaudertaschen des Hofes zusammen und ein berechnender Typ war er auch nicht. Aber ich musste mich auf sein Schweigen verlassen. Ihn jetzt nochmals darauf hinzuweisen, würde er als Vertrauensbruch ansehen, das durfte ich ihm nicht antun.
Dass er mir auf meine Frage, ob er mich ein bisschen lieben würde, keine Antwort gab, beschäftigte mich auch. Ich konnte nicht sagen, dass da Liebe im Spiel gewesen wäre, von meiner Seite aus jedenfalls nicht. Ich mochte ihn sehr gern, zweifellos. Aber Liebe?
Einen Tag nach der Fuchsjagd kam Peter zu Besuch, im Schlepptau die Baroness Sonja von Altstetten. Auch so ein alter Adel, deutschstämmig aber hier lebend. Peter war wirklich ein Schwerenöter, jeden Monat zerrte er eine andere ins Rampenlicht. Aber mir war es egal.
Bis genau zu diesem Abend.
Eigentlich spürte ich nie irgendwelche Auras oder solche Dinge, aber bei dieser merkwürdigen Sonja zog sich etwas in mir zusammen. Abgesehen davon, dass sie ihre Arroganz rechtzeitig spüren ließ, gefiel mir ihre ganze Art nicht. Und sie mochte mich nicht, von der ersten Minute an.
Dumm dass ich einst gelesen hatte, dass Frauen die homoerotischen Wünsche eines Mannes ziemlich deutlich spüren konnten. Nicht alle, aber auch nicht wenige. Und ich fühlte mich von Anfang an von ihr durchschaut.
»Du warst auch schon mal gesprächiger.«, machte mich Peter dann beim Dinner auf meinen Zustand aufmerksam. Ich traute mich einfach nicht so frei zu reden wie sonst. Diese Frau ließ alle roten Lampen in meinem Kopf aufleuchten und ich ahnte, dass eine gewisse Gefahr von ihr ausging. Sie war von ihrer Art her wie geschaffen dafür, Freundschaften zu zerstören. Eifersucht in höchstem Maße. Ich traute mich nicht ihr in die Augen zu sehen und vermied jedes unnötige Wort.
Als ich später in mein Zimmer ging, um kurz nach meinem Handy zu sehen, stand Peter plötzlich hinter mir.
»Sag mal, was ist denn mit dir los? So hab ich dich ja noch nie erlebt.«
Ich sah ihn an, vielleicht zum ersten Mal mit den Augen eines Schwulen. Peter war etwas größer als ich, schlank, dunkelblond. Erst jetzt fielen mir seine blauen Augen richtig auf, sein Mund. War da grade das Verlangen, ihn einmal zu küssen?
Ich schämte mich meiner Gedanken, aus denen er mich dann riss.
Er packte mich recht unsanft an den Armen.
»Sonja ist eine hübsche, liebenswerte Frau. Aber du musst nicht fürchten, dass ich dich wegen ihr sitzen lasse. Wir sind Freunde, vergiss das nicht.«
Ich giftete ihn an.
»Ach ja? Ihre Blicke... wenn die töten könnten. Was hast du ihr alles über mich erzählt?«
Er schluckte und starrte mich an.
»Was soll dieser Ton? Und was soll ich erzählt haben? Das übliche halt. Was wir so machen... Aber sag mal, du hast dich doch sonst nicht um sowas gekümmert?«
»Nein, das war da auch nicht nötig. Bei ihr aber schon. Sie ist eifersüchtig auf mich, das erkennt ein Blinder am Krückstock.«
»Du siehst Gespenster.«
»Nein, Peter, tu ich nicht. Sie ist nichts für dich. Ich gebe euch vier Wochen, dann fliegen die Fetzen.«
Er packte mich noch fester und schüttelte mich.
»Sag mal, spinnst du?«
»Nein, bestimmt nicht. Und nun lass mich bitte alleine, ich mag ihr nicht mehr unter die Augen treten.«
Er lief zur Tür und machte sie zu.
Langsam kam er zu mir.
»Wallice, was um Himmels Willen ist in dich gefahren? Mit dir stimmt doch etwas nicht.«
Ich setzte mich auf das Bett und vergrub mein Gesicht in den Händen, Peter musste meine Tränen nicht sehen. Niemals hatte ich vor ihm oder er vor mir geheult. Aber nun war es soweit, es brach mit mir durch. Wenn er seine Baroness schon verteidigte und meine Warnung in den Wind schoss, dann konnte er auch die Wahrheit über mich wissen. Peter würde dicht halten, das wusste ich. Freunde, das würden wir nicht mehr sein können, aber auf seine Verschwiegenheit konnte ich zählen - und brauchte Sonjas Nähe nicht mehr zu ertragen.
Er nahm meine Hände und zog sie weg von meinem Gesicht. Es war mir richtig peinlich ihn mit nassem Gesicht anzusehen, aber ich hatte die Kraft nicht, mich zu wehren.
Er nahm mich in die Arme und drückte mich.
»Dummkopf. Ich hab dir immer gesagt, dass ich dich niemals im Stich lassen werde. Eher jag ich die Weiber zum Teufel. Du bist mir viel zu wichtig in meinem Leben.«
Seine Worte machten alles nur noch schlimmer.
»Würdest du das auch dann noch tun... wenn du wüsstest... dass dein bester Freund schwul ist?«
Nebel tauchte ringsum auf. Grauer, kalter Nebel und er verschleierte meine Gedanken, meine Gefühle. Es war, als hätte ich keine Beine mehr. Würde nur noch schweben in einem Einerlei aus Raum und Zeit.
Peters Umarmung löste sich nicht. Immer noch hielt er mich fest, streichelte mit seinen Händen meinen Rücken, während meine Arme schlapp herunterhingen. Ich wollte, ich konnte ihn nicht berühren. Vielleicht auch aus Angst, er könnte das falsch verstehen.
Die Tür flog auf. Ich zuckte erst zusammen, dann registrierte ich nur noch böse funkelnde Augen. Normalerweise hätte ich dieses Weib mit verbalen Mitteln bis vor das Grundstück hinauskomplimentiert, aber ich war über diese Unverschämtheit einfach nur sprachlos.
Peters Umarmung lockerte sich und er drehte sich um.
»Sonja?«
»Aha. Höchstinteressant. Was geht hier denn ab? Versucht dich unser schwuler Prinz herumzukriegen?«
Ich konnte es einerseits nicht fassen, andererseits bestätigten sich meine Vermutungen. Sie war noch schlimmer als meine kühnsten Träume es vermuten ließen. Nun lag es an Peter, die Sache in den Griff zu bekommen.
»Was redest du für einen Schwachsinn? Wie kommst du überhaupt darauf?«, fragte er dann auch.
»Auf was? Dass dein sogenannter Freund schwul ist? Ich wusste es schon, da hab ich ihn noch gar nicht kennen gelernt. Man muss sich ja nur die Fotos genauer betrachten. Oder im Fernsehen beobachten. Der ist doch hinter dir her, oder? Klasse. Der künftige König ist schwul.«
Sie lehnte sich provozierend an den Türrahmen und verschränkte die Arme.
»Peter, lass das bloß keinen wissen. Die ziehen dich mit rein und dann kannst du bei der Müllabfuhr anfangen.«
Ich starrte ihn an; Peter, meinen besten Freund...
Sekunden später wusste ich, dass ich ihn verloren hatte.
Langsam drehte er sich zu mir um und sah mich an. Lange tat er das, dabei atmete er sichtlich nervös. Er focht scheinbar einen bitteren Kampf mit sich aus. Hier sein bester Freund seit Ewigkeiten, dort eine sicher hübsche Frau. Ja, und mit der konnte er jede Menge mehr anstellen als mit einem Schwulen. Ich spürte wie sich Peter von mir entfernte. Langsam, aber sicher.
Wieder sah er zu Sonja hinüber, die unverändert am Türrahmen lehnte. Sie erwartete eine Reaktion, egal welcher Art. Peter wusste, sie würde reden, wenn er sie wegen mir zum Teufel jagte. Ich konnte ihm ja egal sein, aber diese Schlampe würde behaupten er sei schwul. Das ging natürlich nicht und so wandte ich mich von ihm ab und trat ans Fenster.
»Peter, es ist besser wenn du gehst.«, sagte ich leise und der Nebel war immer noch da. Oder waren es Tränen, die ihn vortäuschten?
Ich spürte seine Blicke in meinem Rücken. Sonja sagte nichts, ich hätte sowieso nicht hingehört. Den besten Freund zu verlieren, dieses Gefühl dürfte sie nicht kennen. Aber ich wünschte ihr in diesem Augenblick alles an den Hals, was man ansonsten seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Peter schloss ich aus, er konnte nicht anders handeln.
»Was ist? Hast du ihn nicht gehört? Komm endlich, diese Umgebung macht mich wahnsinnig.«
Jedes ihrer Worte war wie ein Dolchstoß in meine Brust. Wäre Peter Steven gewesen, hätte ich sie umgebracht, unter dieser Tür.
»Wie kannst du es wagen. Vergiss nicht, wo du bist.«, fauchte ich bösartig.
Einen Moment schien sie perplex, dann setzte sie dieses widerliche Grinsen auf.
»Wie könnte ich es vergessen. Tschuldige, ich stehe ja Prinz Wallice gegenüber. Nur leider ist der wohl ein wenig aus der Art geschlagen. Und ob dem wohl zusteht, so mit normalen Menschen zu reden?«
Nachdem Peter sich nicht rührte, lief sie zu ihm, packte seinen Ärmel und zog ihn hinter sich her. Bis zu dieser Sekunde hatte ich gehofft, er würde sich für mich entscheiden, aber er tat es nicht. Seine Angst war zu groß und ich verstand ihn. Meine Wut konzentrierte sich ausschließlich auf sie. Vermutlich hatte sie noch jene Gene aus dem Mittelalter im Blut, die Hexenverbrennungen schätzten. Mich jedenfalls hätte sie bestimmt liebend gerne auf dem Scheiterhaufen gesehen.
Ich blieb lange am Fenster stehen, beobachtete wie die beiden in den Wagen stiegen. Peter sah noch einmal zu mir hoch, dann brausten sie die Ausfahrt hinaus.
Ich hatte keine Tränen mehr. Ganz tief in meinem Inneren wusste ich, dass das kein Abschied für immer war, nicht sein konnte. Er würde diese Schlampe bald schon vor die Türe setzen, mit welchen Argumenten auch immer. Möglicherweise war er schlau genug, irgendetwas über ihre Vergangenheit herauszukriegen. Die kleinste Kleinigkeit würde ihm reichen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Ich musste abwarten, wir hingen viel zu sehr aneinander. Von daher bezeichnete ich diesen Vorgang schon fast als Plan.
Die kommenden drei Wochen war ich mit Besuchen, Kongressen, Einweihungen und Eröffnungen etlicher Institutionen beschäftigt. Peter besuchte mich ein paar Mal ohne seine neue Bekanntschaft, aber wir redeten über diesen Abend nicht mehr. Ich spürte nur die Wand, die sich zwischen uns aufgebaut hatte. Anscheinend hielt er doch mehr zu ihr als zu mir und obwohl ich es bedauerte, musste ich es auch akzeptieren.
Steve sah ich selten, er sagte er müsse büffeln, seine Noten waren nicht die besten.
Die Abende waren bis dahin das Schlimmste. Papa war anscheinend irgendwie neu liiert, ich gönnte es ihm. Immerhin lag der Tod von Mama schon fünf Jahre zurück, warum sollte er sich nicht neu verlieben dürfen. Feuer gab es nur, weil seine Neue nicht dem Hof entstammte. Das rührte den Mob wieder gewaltig auf und ich ließ es inzwischen bleiben, die allerneuesten Neuigkeiten über seine Liebe den Klatschblättern zu entnehmen.
Aus diesen Gründen wollte er sie auch nicht auf die Reise mitnehmen.
Die Europareise rückte langsam näher. Endlich Abwechslung, endlich was anderes sehen. Einerseits war ich aus dem Häuschen als mir Peter am Telefon erklärte, er könne nun doch mitkommen. Andererseits kam der Dämpfer dazu, weil er seine Sonja mitnehmen wollte. Nun gut, ich würde mich soweit von ihr fernhalten wie es ging. Inzwischen hatte ich mir auch ein kleines seelisches Polster zugelegt, mit dem es mir gelang die Sache nicht mehr so tragisch zu nehmen.
Der Tag vor der Abreise war freilich wieder hektisch wie immer. Ich musste mir meine Klamotten nicht zusammensuchen, das erledigten die Diener. Unter anderem war es deswegen egal, weil ich eh nicht anziehen konnte, was ich wollte. Allenfalls die Unterwäsche hatte da eine Chance. Und die nutzte ich auch. Feine Retros und weiße T-Shirts waren angesagt.
Am Abend sagte mir Papa, dass er stolz auf mich wäre und er mich – sobald er den Thron bestiegen hätte – zu seinem Vertreter machen wollte. Irgendwie war das komisch, denn ich liebte meine Oma und hoffte, sie würde noch lange dieses Land regieren.
Mit sechs Limousinen fuhren wir am nächsten Morgen zum Flughafen. Es regnete wie aus Eimern, aber in Hamburg schien laut Wetterbericht die Sonne. Ich freute mich auf die Tour, auch wenn ich in einem der Wagen Peter und Sonja wusste. Papa, Oma und ich fuhren in getrennten Wagen, man wollte kein Risiko eingehen. Denn auch in unserem Land war man nicht immer und überall sicher. Somit flogen wir auch mit nicht nur einer Maschine nach Hamburg.
Landung in Hamburg. Die Maschine mit Oma und den Abgeordneten war schon da, dann kamen wir.
Die Sonne schien tatsächlich und der Empfang war schon überwältigend. Ich lief neben Papa und Oma, grüßte das Wachbataillon, das sich in einer langen Reihe neben dem roten Teppich aufgestellt hatte. Verstohlen sah ich den einen oder anderen Wachsoldaten auch mal genauer an. Hübsche Jungs waren darunter, wenn auch schon etwas älter. Wie gut, dass in diesen Momenten niemand meine Gedanken lesen konnte.
Der Bürgermeister empfing uns, neben einer Reihe anderer Persönlichkeiten und nach der üblichen Zeremonie fuhren wir im Tross zum Rathaus. Erstaunlich viele Leute standen am Straßenrand und winkten uns zu. Auch hier wieder die Suche meiner Augen nach etwas, das mein Herz erfreute. Aber das war Fehlanzeige. Kein Junge, der mir diesen Wunsch hätte erfüllen können. Mädchen, Frauen, ältere Männer. Klar, wen sollte unsereiner sonst interessieren? Durch Omas neuen Computer erfuhr ich im Internet, dass ich viele weibliche Fans in Deutschland hatte. Klar, wäre ja auch eine gute Partie... "...der sehr gut aussehende Prinz von Witham ist scheinbar noch solo..." hieß es da. Und darum waren die an dem Tag alle da. Wegen mir...
Zugegeben, ein schönes Gefühl war das schon. Dennoch, ich dachte sehr oft an Steve, der zu Hause sitzen und büffeln würde. Dachte er auch an mich? Ich schickte ihm aus dem Auto eine SMS.
Die Wagen hielten unmittelbar vor dem Rathaus und wieder war ich erstaunt, wieviele Menschen hier versammelt waren. Sie riefen und klatschten, aber es entging mir nicht, dass es in einiger Entfernung auch Transparente gegen uns gab. "Stoppt die Fuchsjagd" konnte ich da lesen. Ja, auch hier war man gegen diese Tierquälerei und insgeheim freute mich diese, wenn auch kleine, Demonstration.
Wir liefen Richtung Eingang des Rathauses und plötzlich sah ich doch einige Jungen, die begeistert Fähnchen schwenkten.
Ich weiß nicht mehr wieso, aber einer von ihnen zog mich irgendwie magisch an. Sein Gesicht, die Haare, seine Figur, dieser Blick in seine Augen. Steve verlor in diesem Augenblick an Bedeutung. Wie unter Zwang steuerte ich auf ihn zu, meine Augen fest auf seine geheftet. Es war wie ein innerer Befehl. Kaum war ich auf Armlänge bei ihm, griff er nach meiner Hand.
In diesem Moment blendete ein Blitz meine Augen, es folgte ein ohrenbetäubender Knall. Sein Griff tat weh, fast wie ein Schraubstock und er zog mich in die Menge. Plötzlich waren nur noch schreiende Menschen um mich. Ich drehte mich um und sah, wie die Bodys meinen Vater und Oma rasch fortzerrten. Peter rannte zu einem leblosen Körper auf der Straße und sekundenlang dachte ich an Sonja.
Schreie erfüllten die Luft, in die eine dicke, schwarze Rauchwolke stieg. Unvorstellbare Panik um mich herum, aber der Schraubstock umklammerte meinen Arm noch immer und begann mich mitzuziehen. Niemand beachtete mich, ich war Teil dieser panischen Menschen geworden. Immer weiter zog mich dieser Fremde mit sich, im Strom der flüchtenden Menge.
Sirenen, Hubschrauber, Lautsprecherdurchsagen. Mir lief der Schweiß am ganzen Körper herunter und ich geriet nach dem Schock langsam selbst in Panik.
Vor allem aber, wer war der junge Kerl, der mich unablässig mit sich zog?
Axel-- Hamburg, Germany (vor einem Monat)
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Super gerädert wachte ich an diesem beschissenen Morgen auf, die Party gestern war doch ziemlich heftig gewesen. Besonders die Sache mit Felix machte mir Kopfzerbrechen. Musste diese Aktion auf dem WC sein?
Dass ich ihm einen geblasen habe, okay. Aber dieses Beziehungszeug, das ich mit meinem breiten Schädel dann noch von mir gegeben hatte. Mist.
Ich hatte null Bock auf 'ne Beziehung mit Felix und redete solch einen Stuss. Von wegen ich liebe ihn und so ein Quatsch. Da hatte ich wohl einiges richtig zu stellen.
Ich verdrängte diese Gedanken erst einmal, denn primär war jetzt für mich wichtig etwas gegen meine Kopfschmerzen zu unternehmen. Also ging ich in unsere Küche und fand dort auch schon meine Mitbewohner vor.
In einer WG zu leben hatte so seine Vor- und Nachteile. Ein Vorteil war, dass ich von meinen Eltern wegkam. Ein Nachteil war, dass ich wohl mit den beiden schlampigsten Menschen zusammen wohnte, die es auf diesem Erdball gab. Mit mir zusammen bildeten wir das Trio Infernale. Die Küche sah dementsprechend aus. Töpfe, Schüsseln und Teller stapelten sich auf und in der Spüle. Einiges erweckte man zum Leben durch bloßes Ansehen.
Ich musste kotzen und rannte ins WC. Dieser Anblick gepaart mit meinem Kater war einfach zu viel für mich.
Nach dem Kotzen und Zähneputzen ging ich zurück in die Küche, wo mir auch schon zwei hämische Fratzen entgegen grinsten.
»Na, harte Nacht gehabt?«
Der, der das sagte, war Shokki. Eigentlich heißt er Rainer. Da der Name aber nun überhaupt nicht zu ihm passte und er auch noch keine 40 war, halt dieser Spitzname. Shokki war unser Bastler. Alles, was er in die Hände kriegte, zerpflückte er. Dummerweise hatte er dann das Problem, die Geräte wieder fachgerecht zusammen zu montieren.
Ich brauchte da nur an meinem DVD-Player zu denken, den er reparieren wollte. Jetzt lag er funktionsuntüchtig in irgendeiner Ecke.
Dann gab es noch Jo (von Joachim).
Jo ist ein Kopfmensch, ein Grübler. Bevor der mal was macht, denkt er stundenlang darüber nach. Überdenkt alle Eventualitäten und hat er fertig gedacht, fängt er von vorne an.
Die beiden konnten sich stundenlang über irgendein weltpolitisches Thema unterhalten. Gerne in der Nacht, bei einer Flasche Rotwein und Gras zum Rauchen.
Wir kannten uns seit unserer Kindheit. Auch wenn wir sehr unterschiedlich waren, ergänzten wir uns optimal. Jeder hatte so seine Stärken und Schwächen, die wir tolerierten.
Meine Stärken hatte ich zwar noch nicht gefunden, dafür aber meine Schwächen. Und da gab es einige.
Männer.
Soll heißen: mein schwanzgesteuertes Denken. Aber genug davon.
»Was für 'ne Nacht?« Ich war immer noch nicht ganz da und holte mir eine Aspirin aus dem Schrank.
»Na gestern Abend? Du scheinst ja 'ne harte Nacht gehabt zu haben.«
»Wieso?«
»Na wegen dem Kotzen?«
»Wenn ich euch so am frühen Morgen sehe? Ist das dann ein Wunder?«
»Früher Morgen?« Die beiden lachten. »Es ist 15Uhr.«
»Sag ich doch, früher Morgen. Und was habt ihr gestern so getrieben?«
»Getrieben haben wir überhaupt nichts, nur gemacht.«, stellte Jo klar und nippte an seinem Tee.
»Schon klar. Wann hattest du das letzte Mal Kontakt mit einem weiblichen Wesen? Im vorigen Jahrhundert?«
Dazu muss ich wohl noch erwähnen, dass die beiden auf Frauen stehen. Na ja, kann ja nicht jeder perfekt sein.
»Muss ja nicht jeder so rumhuren wie du.«
»Was habt ihr denn nun gemacht? Mal wieder die Weltverbesserer gespielt?«
»Ich habe noch nie einen solch unpolitischen Menschen wie dich gesehen, Axel.«
»Bal bla, was wollt ihr denn schon ausrichten?«
»Hier.«, sagte Shokki und schob mir einen Artikel von Attac rüber. Irgendwas über das englische Königshaus, was mich aber nicht sonderlich interessierte. Viel interessanter fand ich das Bild, das Prince Wallice zeigte.
»Hmm, der ist süß. Bei dem würde ich bestimmt nicht Nein sagen.«
Die beiden sahen sich fassungslos an und schüttelten den Kopf.
»Ich glaube, wenn du deinen Schwanz nicht hättest, hättest du überhaupt kein Gehirn.«
»Wieso? Der ist doch aber wirklich süß!«
»Du sollst dir nicht diesen Aristokratenarsch ansehen sondern den Artikel lesen. Weißt du eigentlich, wie viele Steuermittel das Königshaus für so einen Schwachsinn wie Empfänge usw. verpulvert?«
»Nö.«
»Interessiert dich auch nicht, oder?«
»Nicht wirklich.«
»Was die da treiben ist die reinste Geldvernichtung, für nichts und wieder nichts.«
»Hmm, die Tourismusbranche profitiert davon.«
»Tourismusbranche! Wenn ich das schon höre.«
Jo so richtig in Rage zu bringen war nicht allzu schwer. Er regt sich gerne über dies und das auf. Eigentlich über alles. Ich ließ ihn dann meist in Ruhe und verpisste mich. Was er aber nun wieder gegen die Tourismusbranche hatte? War er nicht erst diesen Sommer mit LTU in Urlaub geflogen?
Aber das erwähnte ich da wohl besser nicht, sonst würde er mich noch köpfen.
Die beiden fingen an zu diskutieren und ich fühlte mich irgendwie fehl am Platze. Also ließ ich die beiden alleine und ging in mein Zimmer.
Ich musste mit Felix reden, um diese Sache klar zu stellen, und rief ihn an.
»Felix Brückner.«, meldete er sich am Telefon.
»Hi, Axel hier.«
»Oh, von den Toten erwacht?«
»Frag nicht, mir geht es immer noch beschissen.«
»Kann ich mir denken, so wie du gestern hingelangt hast.«
»Ja, war Scheiße. Können wir uns vielleicht irgendwo treffen?«
»Bei dir oder bei mir?«
»Ich dachte da mehr so an den Hauptbahnhof?«
»Ja, okay, wann?«
»So in etwa zwei Stunden?«
»Okay, sollte klappen, vor Mc Doof, Wandelhalle?«
»Prima, bis dann.«
»Jupp.«
Die Wandelhalle des Hbf Hamburg ist das Kopfstück, in dem sich mehrere Geschäfte und Restaurants befinden. McDonald`s befindet sich im ersten Stock, eigentlich mehr eine Empore. Als Treffpunkt ziemlich perfekt, da die Reisenden sich mehr im Erdgeschoss aufhalten oder atemlos durchschreiten.
Ein anderer Vorteil ist, dass der Hauptbahnhof der Knotenpunkt im Hamburger U- und S-Bahn Netz ist. Man erreicht ihn also recht unproblematisch.
Ich kam eine halbe Stunde zu früh im Bahnhof an. Langsam trottete ich die Stufen der Empore hoch und ging zu dem Durchgang neben Mc Doof. Hier lehnte ich mich an das Geländer, um die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten. Irgendwie mag ich Bahnhöfe, es keimte immer ein Gefühl des Fernwehs in mir auf. Was ich noch mochte war Menschen beobachten. Ich spann mir dann immer kleine Geschichten zu den Menschen, die hier warteten oder rumwuselten, zusammen.
Auf wen der ältere Herr an der Ecke wohl warten mochte? Auf seine Enkelkinder, die er zu Mc Doof eingeladen hatte? Auf seine Frau, die beim Shoppen war? Oder auf einen der zahlreichen Stricher, die hier herumhingen?
Das junge Mädchen, das fünf Meter von mir ebenfalls an das Geländer gelehnt stand. Ob die schon einen Freund hatte? Wahrscheinlich wartete sie nur auf ihre Freundinnen, um dann über andere Jungs abzulästern.
Meist irrte ich mich kolossal. Der ältere Herr wurde von einem weiteren älteren Herrn mit einem Kuss auf seinen Mund begrüßt. Ich musste grinsen.
Das Mädchen wurde von einer Frau abgeholt, wohl ihre Mutter.
Mein Blick fiel zu einem Typen, der Zeitung las. Riesige Überschrift auf der Titelseite einer berühmten Boulevardzeitung:
"Königin Patricia besucht Deutschland". Darunter ein Bild von ihr, dem ihres Sohnes und des Enkels, die wohl auch mit kommen würden. Prinz Wallice. Wow. Ist schon ein geiles Teil dieser Kerl.
Meine Gedanken schweiften ab und ich musste wieder an Felix denken. Er ist lieb und nett, das ist wohl auch der Grund, warum ich mir mit ihm keine Beziehung vorstellen konnte. Felix ist einfach zu lieb. Es gab einfach keine Reibungspunkte, an denen wir uns auch mal fetzen konnten. Er würde eher zurückstecken als mit mir einen Streit anzufangen und das brauchte ich nicht. Ich brauchte jemanden mit Ecken und Kanten, der mir ebenbürtig ist. So einen musste ich aber erst einmal finden und das war leichter gesagt als getan. Es war ja nicht so, dass ich wirkliche Probleme hatte jemanden kennen zu lernen. Meist war es dann aber nur für eine Nacht. Ich bin wohl tatsächlich beziehungsunfähig wie Jo und Shokki immer behaupten.
Die Liste meiner Beziehungen ist wirklich kurz. Eine einzige. Wow! Mit Sven war ich drei Monate zusammen gewesen, und es klappte auch wirklich gut. Bis zu dem Tag, als ich mit einem anderen in die Kiste stieg, mein Schwanz hatte mal wieder gesiegt. Sven bekam es irgendwie raus. Es gab 'nen Megazoff und wir trennten uns letztendlich, oder besser, er trennte sich von mir.
Die Liste meiner Sexpartner ist, ähm, länger. Viel länger. Die kriege ich schon gar nicht mehr alle zusammen. In der Beziehung bin ich wohl tatsächlich eine alte Schlampe.
Im Grunde hasste ich mich dafür. Der Abend war immer schön. Das Kennen lernen, der neue Körper, der Sex an sich. Der Morgen danach einfach nur Scheiße. Dieses schlechte Gewissen fraß mich regelrecht auf. Ein schlechtes Gewissen deshalb, weil ich dem anderen nicht das geben konnte, was er sich vielleicht wünschte. Eine Beziehung.
Das erste Mal Sex mit einem Jungen hatte ich mit 15. Ein Klassenkamerad, mit dem ich bis heute noch befreundet bin. An Mädchen hatte ich nie auch nur einen einzigen Gedanken verschwendet. Dass ich schwul war, das wusste ich eigentlich schon immer. Auch das Coming Out bereitete mir kein Kopfzerbrechen. Ich machte es einfach ohne lange darüber nachzudenken. Für meine Eltern war das schon schwieriger. Ein Grund warum ich schon mit 18 zu Hause auszog. Das war vor einem Jahr. Mittlerweile haben sich meine Eltern damit abgefunden. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Für uns alle war es positiv, dass ich nicht mehr zu Hause wohnte und wir uns jeden Tag sahen. Das lenkte unser Verhältnis in eine andere, positivere, distanziertere Bahn.
Felix kam mit einem fetten Grinsen auf mich zu.
Er umarmte mich.
»Hey, schön dich zu sehen.«
Etwas verlegen grinste ich zurück und sagte:
»Schön, dass du Zeit hast.«
»Klar, für dich doch immer. Wo wollen wir hin?«
»Hmm, ins Schweinske?«
»Okay.«
Das Schweinske liegt direkt neben McDonald´s und ist eine Restaurantkette mit gutbürgerlichem Essen.
Wir setzten uns an einen Tisch und bestellten bei der Bedienung. Felix nahm einen Salat mit gebratener Putenbrust, ich die Spaghetti Bolognese.
»Axel?«
»Hmm?«
»Na sag schon, was ist los?«
»Wegen gestern Abend, also das was ich gesagt habe.«
»Du meinst deine Liebeserklärung? War richtig süß.«
Oh Shit, wie sollte ich da nur wieder raus kommen? Ich versuchte es mal anders.
»Das war Scheiße von mir. Ich liebe dich nicht und kann dich wohl auch niemals lieben.«
So, die harte Tour. Ja ich bin manchmal ein gefühlloser Kotzbrocken.
»Du Spielverderber!«
Nun war ich überrascht aufgrund dieser Antwort.
»Wie? Spielverderber?«
»Ich wollte dich eigentlich gerne noch so stundenlang beim Herumdrucksen zusehen – und du? Machst alles kaputt! Menno.«
»Ups, das war nun das letzte, womit ich gerechnet hatte.«
»Schon klar, du glaubst doch nicht wirklich, dass wir auch nur annähernd zusammen passen würden? Also ich für meinen Teil sicher nicht. Und dann dein Geschwafel gestern, booaahhrr so was von grottenschlecht, nee Axel wir passen halt nicht zusammen.«
»Ich weiß, trotzdem habe dich sehr gerne.«
»Ich dich auch. Aber bitte nie wieder so ne Szene wie gestern, okay? Wenn du Sex haben willst, dann sag es und gut ist, deswegen brauchst du dir nicht so einen abzubrechen.«
»Hmm, okay. Freunde?«
»Für immer.«
Und wieder einmal hatte mich meine Menschenkenntnis vollkommen in Stich gelassen. Daran sollte ich vielleicht einmal arbeiten. Hatte ich mit dem Schlimmsten gerechnet: also Geheule und Gezeter, wurde ich nun schlichtweg überrumpelt.
Innerlich machte ich drei Kreuze, und das Gerumpel von dem Stein, der mir vom Herzen fiel, hörte man wohl noch meilenweit.
Schon komisch, wie man sich in Menschen täuschen kann.
Wir verabschiedeten uns dann kurz darauf und versprachen in Kontakt zu bleiben. Aus diesem - Kontakt - wurde dann eigentlich ein fast tägliches Sehen.
So kam es dann, dass ich die meisten Abende bei Felix abhing und wir über alles Mögliche sprachen, nur nicht über Sex mit uns beiden. Das wurde so ein Tabuthema. Ein Positives. Wir waren Freunde und keine Sexpartner mehr und das brachte uns enorm voran.
Was enorm zurücksteckte war das WG-Leben. Früher konnte ich mit den beiden über alles reden – wirklich über alles. Über unsere Sexualität, bis dahin, dass sich Shokki gerne einen im Badezimmer runter holte. Warum? Keine Ahnung. Er mochte es eben, sich dabei selbst im Spiegel zu betrachten. Punkt, aus. Nun, halt die kleinsten Geheimnisse wussten wir übereinander. Und jetzt?
Wir schwiegen uns an. Nein, besser, sie schwiegen mich an. Irgendwie fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen.
Nun gut, wir wurden erwachsen – was auch immer das zu bedeuten hatte. Aber so? Dass dadurch unsere Freundschaft in die Brüche gehen würde? Dann möchte ich nicht erwachsen werden!
Es war ja auch nicht so, dass die beiden sich ablehnend mir gegenüber verhielten, es war mehr ein diffuses Gefühl von nicht mehr verstanden werden.
Wir redeten immer häufiger aneinander vorbei. Das Schlimmste daran war, dass wir es alle begriffen, aber niemand etwas dagegen tat. Die Probleme wurden immer mehr totgeschwiegen. Hätten wir uns früher stundenlang darüber auslassen können, wer welche Probleme mit wem hatte, schwiegen wir uns heute nur noch an.
Wir entfernten uns voneinander. Ja, wir lebten zwar zusammen, aber nicht mehr miteinander.
Für die beiden wurden andere Themen wichtiger. Ein Beispiel: Wir sahen uns zusammen die Nachrichten an, in denen unter anderem ein kurzer Bericht von einer Fuchsjagd in England gezeigt wurde. In den Fernsehbildern sah ich auch Prinz Wallice, wie er mit anderen auf der Jagd war. Es wurde in England ja schon länger kontrovers gestritten, ob diese Tradition abgeschafft werden sollte. Ich persönlich konnte dieses Tiergemetzel ebenso wenig ertragen wie Jo und Shokki. Aber die beiden redeten sich mal wieder so dermaßen in Rage, dass ich mich innerlich ausklinkte und mir den Prinzen ansah. So richtig glücklich sah der auch nicht aus. Hmm, vielleicht hasste er die Jagd genauso wie die meisten Menschen. Und diese Vermutung äußerte ich laut. Nun war ich das Feindbild geworden und die beiden gingen auf mich los. So viel zum Thema aneinander vorbei reden.
Das Dumme daran war, dass ich wohl an dieser Situation mehr litt als die beiden zusammen. Ich liebte sie noch immer. Wie Brüder. Die sie für mich auch mal waren – da ich nie Geschwister hatte, wurden sie so was wie ein verdammt guter Ersatz.
Was ich noch mochte war unsere Wohnung. Klassischer Altbau, mit hohen, stuckverzierten Wänden. 4 Zimmer mit einem langen Flur, zu kleinem Badezimmer aber großer Küche. In jedem Zimmer Holzfußboden, den wir beim Einzug aufwendig abgeschliffen, neu versiegelt und poliert hatten.
Und unsere Nachbarn… ein Thema für sich.
Direkt gegenüber von uns die Familie Grabner, wohl noch die Normalsten im Haus. Beide so Mitte 30, zwei Jungs. Tom, 17 und Sascha, 16. Corinna, unsere Nachbarin, mit 17 schwanger, mit 18 den anderen Braten in der Röhre gehabt. Sven, ihr Mann, nicht gleich abgehauen, sondern geheiratet – tja, so was gibt es noch.
Die beiden holten jetzt ihre verlorene Teeniezeit nach. Freitags und Samstags ab 22.00Uhr waren die beiden weg. In Discos. Hätte ich wohl ähnlich gemacht. Die Kinder sind groß, was solls.
Die beiden waren schon schwer in Ordnung. In irgendeiner Form – vermutlich geistig - immer noch 25. Das lebten die beiden auch vor.
Die beiden "Kinder" unterschiedlicher wie sie nicht sein könnten. Corinna behauptet ja noch heute, dass man sie im Krankenhaus verwechselt haben muss. Zu der Vermutung war ich auch schon gekommen –wenn nur das äußere nicht wäre. Sie sahen aus wie Brüder und verhielten sich auch so.
Sascha, der jüngere von den beiden, poppte alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war, vorzugsweise am Freitag und Samstag nach 22.00 Uhr in seinem Zimmer. Wohlgemerkt das andere Geschlecht, dessen Geschreie sich dann durchs ganze Haus zog.
Tom? Das genaue Gegenteil. Während Sascha sehr extrovertiert war, war Tom sehr introvertiert. Eigentlich der niedlichere von den beiden, aber er hatte noch nie ne Freundin angeschleppt. Geschweige denn das Treppenhaus vollgekotzt; im Gegensatz zu seinem Bruder.
Ich persönlich tendierte dahin, dass Tom schwul ist. Warum? Meine Menschenkenntnis. Ha, ha.
Über uns wohnten die Harlings, ein Rentnerpaar, wohl schon seit Ewigkeiten verheiratet. Frau Harling hatte 'nen Wellensittich mit dem sie sich angeregt unterhielt. Ihr Mann, so ein notorischer Nörgler, hatte wohl seit Jahrzehnten kein Wort mit seiner Frau geredet. Sind sie deswegen noch zusammen? Hmm, man weiß es nicht.
Gegenüber von Harlings wohnte Herr Sachsleer, oder auch das Phantom, wie wir ihn nannten. Ein Mensch, der von der Arbeit nach Hause kam, seine Türe schloss und fertig. Kein Besuch, nichts, nur immer zu Hause.
Wenn man bei ihm klingelte, öffnete er nicht. Ein Eigenbrötler, Shokki hatte mal die Vermutung, dass er so ein typischer "Messi" sei. Na ja, so lange keine Ratten aus seine Wohnung laufen? Soll er machen. Jedem das seine.
Unter uns wohnte Susanne. Die Frau hatte uns anfangs wirklich Kopfzerbrechen bereitet. Allein stehend, mehr als nur attraktiv, Anfang 30, sehr gepflegt, absolute Topfrau ohne Beruf. Jo tippte darauf, dass sie die Wohnung von ihrem Ehemann geerbt hatte. Etwas nachgeholfen, dem Tattergreis im Bett, dass er endlich abnibbelt.
Bis ich dann eines Tages mal Susanne nachts um 2.00 Uhr in ihrer Arbeitskleidung sah. Eine Hure wie in einem Kitschroman. Aber genau so sah sie aus. High Heels, Netzstrumpfhose, Minirock, 'ne rote Lederjacke, alles sehr Figur betont. Wir trafen uns im Treppenhaus und erst wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, aber dann gewann die Neugierde:
»Hi, Susanne, na jemanden abschleppen?«
»Hi, Axel, nee Beruf!«
»Du gehst anschaffen?«
»Jepp, wieso? Wusstest du das nicht?«
»Nee! Und wo?«
»Herbertstrasse.«
»Herbertstrasse? Ach du Scheiße.«
»Wieso denn ach du Scheiße? Was Besseres gibt es nicht.«
Susanne sah auf ihre Uhr, dann mich an und meinte schließlich:
»Hmm, 'nen Freier um diese Uhrzeit ist unwahrscheinlich, also Feierabend! Hast nicht noch Lust auf 'nen Schluck Rotwein, Axel?«
»Oki.«
So kam es dann, dass Susanne mich in ihre Wohnung einlud und wir uns unterhielten.
Ihre Wohnung war WOW! Anders kann man es nicht ausdrücken. Modern und gemütlich. Weiße Ledergarnitur auf weißen Fliesen, Bilder die wohl echt waren, keine Kunstdrucke, zierten die Wand. Die Bilder, die dort hingen, hatten es mir besonders angetan, wohlige Farben im Kontrast zu dem Rest. Unbeschreiblich, aber es passte irgendwie alles. Fast schon zu perfekt.
Was diese Wohnung gemütlich machte, waren diese Kleinigkeiten: Kissen auf dem Boden, perfekt abgestimmt auf die Wandfarben. Kerzen, noch und noch.
Einfach nur schön.
Ich war fasziniert. Fasziniert von den Farben und von dieser Wohnung. Am allermeisten war ich fasziniert von dieser Frau, die jetzt in bequemeren Klamotten wie eine Freundin auf mich wirkte.
»So, nun erzähl mal, was hast du gegen die Herbertstrasse?«
Die Herbertstrasse ist wohl neben der Reeperbahn die berühmteste Straße in Hamburg. Ich war einmal da gewesen aus Neugierde. Eine richtige Straße, also mit Autos und so, ist sie gar nicht mal. Abgeschottet mit einem Sichtschutz zur Reeperbahn, kann man die Herbertstrasse nur durch eine kleine Tür betreten. Für Frauen ist die Herbertstrasse tabu. Es ist eine Sackgasse rundherum mit Schaufenstern, wo sich die Huren drin räkeln. Die Schaufenster kann man durch eine eingelassene Tür betreten und dann mit den Damen in ein hinteres, von außen nicht einsehbares Zimmer verschwinden.
»Ich finde sie ziemlich menschenverachtend, so wie eine Fleischbeschau, was anderes ist sie doch nicht.«
»Stopp mein Lieber, nicht so schnell.«
Ich sah sie fragend an und sie sprach weiter:
»Also: Die Herbertstrasse ist für Huren und auch für Freier das Beste was es gibt. Nun schau nicht so skeptisch, ist so. Erstens, es ist alles legal, also alle Frauen haben nen Bockschein, werden einmal im Monat untersucht, bezahlen ihre Steuern.
Wir sitzen im Warmen und müssen nicht in der Arschkälte draußen auf Freier warten. Aber das wichtigste ist: Es ist relativ sicher. Wir haben keine Zuhälter, sondern einen privaten Sicherheitsdienst.
Zweitens: Für die Freier ist es einfacher, da wir nen Einheitstarif haben, und sie brauchen nicht noch so ein dreckiges Stundenhotel zu bezahlen.«
»Hmm, aus der Sicht habe ich es noch nicht betrachtet.«
»In der Herbertstrasse gibt es lange Listen für Huren, die dort auch arbeiten möchten. Und komm bloß von deinem Klischeedenken weg. Von wegen arme Frauen, die dazu gezwungen werden. Die gibt es sicher noch reichlich, aber die meisten bei uns tun es wegen der Kohle. Ich zumindest und weil ich Bock auf Ficken habe. Ja, so einfach ist das.«
»Aber ist es nicht super eklig, mit so nem fetten Arsch in die Kiste zu hüpfen?«
»Klar ist es das. Aber welcher Beruf macht schon immer Spaß? Außerdem braucht man nicht jeden zu nehmen. Das ist sicher der größte Unterschied zu den Frauen, die auf der Straße anschaffen müssen, und ihr Geld dann bei ihren Zuhälter abliefern müssen.«
»Aber.. ähm, warum gehst du denn eigentlich anschaffen? Also ich meine du bist eine intelligente Frau?«
»Hach Gott, du meinst warum ich nicht als Sekretärin irgendwo in einem Büro sitze?«
»Ja, so in etwa.«
»Nee, lass mal. Keinen Bock drauf. Du wirst lachen, ich habe tatsächlich eine Ausbildung zur Speditionskauffrau gemacht, aber dann schnell gemerkt, dass mir so etwas nicht liegt. Außerdem stehe ich halt auf Sex. Nun, ist tatsächlich so. Ich hatte einige Beziehungen, aber kein Mann konnte mir das geben, was ich wollte: mindestens zweimal täglich. Nenn mich Nymphomanin, was ich wohl auch bin, aber ich kann nicht anders. Und dann sprach mich 'ne Freundin an, die in der Herbertstrasse anschaffen ging, ob ich nicht Lust hätte ihren Platz einzunehmen, da sie aufhören wolle. Ja, das war vor fünf Jahren, seitdem bin ich dabei.«
»Und, was wirst du später mal machen wollen?«
»Du meinst, wenn ich zu alt bin, um einen Freier abzukriegen?«
Ich nickte zaghaft.
Susanne lachte.
»Braucht dir nicht peinlich zu sein, auch deine biologische Uhr tickt. Ich werde noch drei Jahre anschaffen gehen und dann ab nach Kreta. Das Häuschen ist schon gekauft.«
»Kreta?«
»Hmm, ja, meine Trauminsel. Dort werde ich ein kleines, schnuckeliges Restaurant eröffnen, um den Touris das Geld abzunehmen.«
Susanne lachte. Es war ein angenehmes, offenes Lachen, so wie die ganze Frau sehr angenehm war.
»Und, wenn es dann eröffnet ist, kommst du mich besuchen.«
Ich musste grinsen.
»Joo, mach ich, mit meinem Traumprinzen.«
»Gerne, für euch wird immer ein Bett zum Übernachten bereitstehen.«
Dazu sollte es allerdings nie kommen. Zwei Wochen später wurde Susannes Leichnam in ihrem Hinterzimmer in der Herbertstrasse gefunden. Erstochen von einem durchgeknallten Freier, der zu viel Speed an dem Abend nahm.
Es schellte an der Tür. Wach, aber immer noch schläfrig, drehte ich mich zum Wecker: 13.00Uhr. Ich wartete noch eine Minute bis es wieder schellte.
»Ja, ja, ich komme doch schon!«
Grummelnd erhob ich mich aus meinem warmen, kuscheligen Bett. Nur mit meinen H&M Shorts bekleidet ging ich zur Tür, um sie zu öffnen. Corinna stand davor und tausend Worte auf einmal prasselten auf mich ein. Ohne darauf zu antworten drehte ich mich um und ging in die Küche.
»Corinna, komm rein, mach die Tür zu und setz dich.«
Sie folgte mir, setzte sich auf einen Stuhl an unseren Küchentisch und sah mich an.
»Willst du auch ein Kaffee?«, fragte ich sie.
»Gerne.«
Ich holte zwei Pads aus dem Schrank und legte sie in meine neueste Errungenschaft, eine Senseo - Kaffeemaschine. Die hatte ich mir vor drei Tagen mal gegönnt, da ich sie außerordentlich praktisch fand. Jo und Shokki wetterten mal wieder heftig dagegen an. So von wegen noch mehr Müll und Ressourcenverschwendung. Das hielt die beiden aber nicht davon ab, sie mitzubenutzen.
Ich stellte die zwei Tassen Kaffee auf den Tisch.
Corinna nahm sich eine und nippte an der Tasse.
»Danke. Hmm, der ist gut.«
»Und Corinna? Was gibt es so wichtiges, dass du mich mitten in der Nacht weckst?«
Sie grinste mich an.
»Hach, Axel. Ich hätte auch gerne Studieren wollen, einfach mal ausschlafen, wenn man keine Lust auf die Uni hat, herrlich.«
Ich musste schmunzeln. Eingetragen hatte ich mich schon, aber erst fürs nächste Semester. Nach dem Abi wollte ich einfach mal pausieren. Ein Jahr lang nichts machen. Überlegen, was ich wirklich wollte, nur nicht wieder büffeln ohne Ende. Meine Eltern finanzierten mir die Wohnung und den Rest jobbte ich mir an einer Tanke zusammen.
»Deswegen bist du hier?«
»Ach nein, es ist wegen Tom.«
»Wegen Tom? Hat er was angestellt?«
»Tom? Quatsch, du kennst ihn doch. Es ist mehr deswegen, was er nicht angestellt hat.«
»Corinna?«
»Ja?«
»Ich Axel, ich Mann. Du Corinna, du Frau. Frau darf nicht mit Mann in Rätseln sprechen.«
Corinna prustete los.
»Komisch. Das sagt mein Göttergatte auch immer.«
»Und? Hat er Recht?«
»Wann hat ein Mann schon mal Recht?«
Nun musste ich lachen.
»Also was ist mit Tom?«
Anstelle einer Antwort griff sie zu ihrem Rucksack und holte ein Magazin hervor, welches sie auf den Tisch legte. Das "Hinnerk", in Hamburg besser als die Schwulenzeitung der Stadt bekannt.
»Hmm. Meinst du nicht, dass er es vermissen wird?«
»Ach was, in seinem Nachttisch liegen Dutzende davon.«
»Du schnüffelst Tom also hinterher?«
Ich konnte mir ein süffisantes Grinsen nicht unterdrücken.
Corinna lief leicht rot an.
»Nein! Natürlich nicht. Aber ich muss doch wissen, was mit meinem Jung los ist. Er redet ja kaum noch mit mir. Ach Scheiße. Habe ich als Mutter wirklich so versagt? Ach Axel, wir sind doch nun wirklich tolerant und Tom hätte doch damit zu uns kommen können. Als wenn wir einen Aufstand gemacht hätten, dass er schwul ist. Bestimmt nicht.«
»Ich weiß Corinna. Nur hast du dir einmal überlegt, dass Tom es erst selbst begreifen und was noch viel wichtiger ist, akzeptieren muss?«
Corinna sah mich ratlos an.
»Tom ist 17. Da sollte er es doch eigentlich wissen? Ich meine, du hast mit 15? Richtig?«
»Richtig. Aber Tom ist nicht Axel, und Axel nicht Tom. Es ist nicht gerade leicht für einen Schwulen, das auch zu akzeptieren. Einige brauchen Monate, bei anderen, wie bei mir, dauert es Tage. Und wiederum andere merken es erst mit 30, wenn sie verheiratet sind und zwei Kinder haben. Obwohl "merken" ist vielleicht der falsche Ausdruck, akzeptieren der wohl richtigere.«
»Aber er hätte doch mit uns darüber reden können?«
»Und? Was hättet ihr auf seine Frage geantwortet: Woran merkt man das man schwul ist?«
»Hmm. Vielleicht weiß ich was du meinst. Es ist nur so… schwer. Verstehst du? Man behütet ihn 17 Jahre lang und plötzlich von einen Tag auf den anderen kann man nichts tun.«
»Axel?«
"Ja, Corinna?"
»Könntest du nicht mit ihm reden? Ich meine so von…«
»Schwulem zu Schwulem?«
»Ja, so ähnlich. Oder besser gesagt, von Freund zu Freund?«
»Corinna! Du willst uns doch nicht verkuppeln…?«
Sie blinzelte mit ihren Augen.
»Ach.. Axel. Wo denkst du hin? Obwohl, dich als Schwiegersohn könnte ich mir schon vorstellen.«
»Danke. Ich werde mit Tom mal reden, okay?«
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und knuddelte mich, so dass ich kaum noch Luft bekam.
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Tom traf ich dann zwei Tage später, es war ein Freitag, im Treppenhaus.
Ich kam gerade von Felix, mein Bike geschultert, schloss ich die Eingangstür auf.
In der einen Hand meinen Haustürschlüssel, in der anderen das Bike am Rahmen packend,
kam ich durch die Tür. Das Vorderrad stellte sich quer, so dass ich eingeklemmt zwischen Tür und Wand war. Tom kam mir entgegen und lächelte mich an.
»Na, brauchst du Hilfe?«
»Ja, der Hengst hier«, dabei zeigte ich auf mein Bike, »ist mal wieder störrisch.«
»Männer halt.«
Wir mussten beide grinsen. Tom nahm mir das Bike ab, damit ich unseren Briefkasten leeren konnte. Das meiste war für Jo. Irgendwelche Organisationen, die ihn anschrieben –und da gab es viele. Ich überholte Tom auf der Treppe, damit ich unsere Wohnungstür öffnen konnte.
Tom stellte mein Bike in den Flur und ich warf die Post auf den Küchentisch.
»Tom?«
»Ja?«
»Hast du heute noch was vor?«
»Hmm. Nicht wirklich. Ich wollte mir ein paar DVD`s ausleihen. Sonst nichts.«
»Hast du nicht Bock noch hier zu bleiben? Mucke hören oder so? Ne Flasche Wodka habe ich auch noch da, und ebenfalls nichts vor.«
Normalerweise jobbe ich Freitags immer an der Tanke, aber Heute wollte der Chef 'nen Neuen einarbeiten. Und mir kam es eigentlich auch ganz recht, die Kohle sollte reichen ohne zu verhungern, also stimmte ich zu.
Tom sah nach unten.
»Hey ich habe gerade erst gewischt, der Boden ist sauber, keine Angst. Dich springt schon nichts an.«
Er musste lachen. Das war das erste Mal, dass ich ihn richtig lachen sah. Seine Augen sprühten förmlich. Ich spürte wie er ein wenig wuchs. Nicht in Maßangaben, es war seine Ausstrahlung.
»Du meinst… ähm, du lädst mich ein?«
»Wenn du es so ausdrücken möchtest? Ja klar, und hast du Lust?«
Seine Augen erinnerten mich nun an ein Rehkitz, total eingeschüchtert. Als ob es gerade eine Strasse passiert und nun vor blendenden Scheinwerfern eines Autos steht. Nicht wissend wohin es flüchten soll, vor Schreck starr, so stand Tom nun vor mir.
Es dauerte nur einige Sekunden, bis er sich wieder fing.
»Ich weiß nicht. Du hast doch bestimmt Besseres vor?«
»Als was?«
»Nun, sich mit mir abgeben zu wollen?«
»Nö! Habe ich nicht! Also was ist?«
Immer noch unsicher starrte Tom von einer Wand zur anderen.
»Ja, okay warum nicht?«
Ich bot ihm einen Platz auf mein Bett –oder besser gesagt Matratze- an. Seine Blicke schweiften durchs Zimmer und blieben an einem Buch auf meinem Tisch hängen.
»Hey, das habe ich auch.«
»Und wie findest du es?«
Das Buch, um das es ging, war "Die Mitte der Welt" von Andreas Steinhöfel.
»Hmm, geht so. Nicht schlecht, aber vom Hocker gehauen hat es mich auch nicht gerade. Aber wieso liest du so was?«
Ich stand mal wieder ein wenig auf meiner ach so langen Leitung. Früher hätte man mit ihr wahrscheinlich Europa mit den USA verbinden können.
»Hää? Wieso sollte ich das nicht lesen?«
»Nun, weil es ein schwuler Roman ist?«
Endlich begriff ich. Tom hatte keinen blassen Schimmer davon, dass ich schwul war. Wieso nahm ich nur immer an, dass die ganze Welt wüsste, dass ich es bin? Ähnliches war ja schon mit Susanne passiert.
»Tom! Ich bin schwul.«
»Uff! Das hätte ich nun nicht gedacht. Ich meine, du siehst nicht aus wie ein Schwuler, benimmst dich nicht so – ach ich weiß auch nicht.«
»Scheiß Klischees. Ich benehme mich wahrscheinlich genauso wie 90% andere Schwule auch. Wie viele Schwule kennst du denn?«
»Eigentlich nur einen.«
Tom wurde rot. Süß!
»Aha, und wen noch?«
»Meinen Freund?«, erklärte mir Tom schüchtern.
Nun war ich von den Socken. Tom hatte einen Freund? Wieso hatte ich ihn noch nie gesehen?
»Deinen Freund?«
»Jupp. Jemand aus meiner Klasse. Ein super lieber Knuffi.«
So wie Tom das sagte und seine Augen strahlten, wurde ich doch ein wenig neidisch.
»Und wieso bringst du ihn dann nie mit?«
»Du meinst wie mein Bruder, wenn wir sturmfreie Bude haben?«
»Ja.«
»Angelo muss dann meist jobben, an der Tanke bis 24.00Uhr, und danach ist er oft zu geschafft.«
»Angelo? Angelo? Doch nicht der Angelo von meiner Tanke? Diese Sahneschnitte? Oh, man.«
»An welcher Tanke arbeitest du? Esso?«
Ich nickte nur kurz. Angelo, der mit Abstand geilste Typ bei uns. War ja klar, dass so was schon einen Freund hatte.
»Ach dann bist du der Axel, der ihn manchmal ablöst?«
»Genau der. Wie lange seit ihr schon zusammen?«
»Ein halbes Jahr.«
»So lange schon? Und wieso erfahre ich so was nicht? Menno.«
»Du spannst ihn mir ja eh nur aus.«, kicherte Tom.
»Aber du hast ihn nie mit nach Hause genommen, stimmts?«
»Hmm ja, stimmt.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube meiner Mutter würde das nicht gefallen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nun, ich sehe doch, wie ihre Augen strahlen, wenn mein Bruderherz mal wieder eine Neue angeschleppt hat und wenn ich dann mit einem Typen aufkreuzen würde? Ich weiß nicht?«
Ich musste lachen. Meine Fresse, ist diese Welt doch kompliziert.
»Hey! Warum lachst du? Ich finde das gar nicht lustig.«
»Warte.«
Ich ging in die Küche um das Hinnerk zu holen.
»Hier, das gehört dir.«
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«
»Also Corinna weiß, dass du schwul bist.«
»Wie? Woher das denn?«
Ich wedelte mit dem Hinnerk in der Hand herum.
»Sie hat es bei mir gefunden, richtig?«
»Jupp. Hat sie.«
»Und wie kommst du dann dazu?«
Ich erzählte ihm alles von Corinnas Auftritt und seine Gesichtszüge erhellten sich mehr und mehr.
»Du meinst sie findet es vollkommen in Ordnung?«
»Klar! Sie hatte nur Probleme damit, dass du in deinem Alter noch keinen oder keine gefunden hast.«
»Umpf. Wow ist das cool.«
»So, ich glaube du hast deiner Mutter etwas zu erzählen!«
»Joo, denke ich auch. Danke!«
»Kein Problem, gern geschehen. Und falls du mal solo sein solltest, du weißt ja wo ich wohne.«
Tom grinste und zwinkerte mir zum Abschied zu.
Die nächsten Tage ließ ich mich nur noch selten in der WG blicken. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Felix. Ich war eigentlich nur noch in der WG, wenn ich Wäsche zu waschen oder Felix jemanden aufgerissen hatte und alleine sein wollte. So auch an diesem Tag.
Ich schloss die Tür unserer WG auf und entdeckte Shokki am Esstisch in der Küche.
»Hey Shokki, ist Jo da?«
Shokki futterte gerade ein Brot und nickte.
»Prima!«
Shokki wollte wohl noch etwas sagen, aber ich vernahm nur noch ein Husten und Krächzen von ihm, als ich auf dem Weg zu Jos Zimmer war. Ohne anzuklopfen öffnete ich die Zimmertür. Jo lag splitternackt auf seinem Bett - und auf ihm saß eine rothaarige Frau.
Scheiße! Pippi Langstrumpf reitet gerade meinen Jo! Ihr Gesicht war mir zugewandt, zum Glück mit geschlossenen Augen. Ihre unförmigen Titten klatschten gegen ihren Brustkorb und dabei schrie sie: "Jaa, gut so mein Hengst!"
Meine Kinnlade fiel nach unten und ich schloss leise die Tür.
Ich holte mir die fast volle Flasche Lakritzschnaps aus dem Kühlschrank und nahm erst mal einen großen Schluck aus der Pulle, dann setzte ich mich zu Shokki.
»Was bitte schön, war denn das?"
»Das, mein lieber Axel, ist Jo`s neue Freundin Doris.«
»Bitte wer?«
»Doris. Soll ich es dir buchstabieren?«
»Doris?«
Ich nahm noch einen großzügigen Schluck aus der Flasche.
»Wie alt ist denn diese Doris?«
»So an die 40.«
Prust. Röchel. Scheiß Schnaps.
»Oh mein Gott, so alt schon?«
»Ja, und? Sie ist nett und passt zu Jo. Freust du dich denn nicht mit Jo?«
»Wie lange geht das denn schon so?«
»3 Monate.«
«Was, so lange schon? Und wieso erfahre ich erst jetzt davon?«
»Wann warst du denn mal hier? Die meiste Zeit warst du bei Felix.«
»Hallo! Bin ich ein Alien? Hast du nen Schuss, oder was? Ich bin euer Freund! So was sollte ich schon wissen!«
»Warum? Es interessiert dich doch eh nicht.«
Ich nehme einen Schluck aus der Pulle.
»Das meinst du nicht ernst, oder? Hey, ihr seid meine Freunde, wie kommst du nur auf solch einen Scheiß?«
In dem Moment öffnete sich die Tür zu Jo`s Schlafzimmer und heraus trat Pippi. Angezogen mit knallgrünen Leggins und einem selbst gestrickten Pullover in Regenbogenfarben.
Ihre roten Haare bildeten den Kontrast zu diesem Styling.
»Hallo.«, begrüßte uns Pippi.
»Hallo Pippi!«, erwiderte ich. Schon ein wenig betrunken achtete ich nicht mehr auf diese "Neu-Begrüßungsrituale" und lallte munter drauf los:
»Na gut abgestiegen vom Ross?"«
Verwundert sah sie mich an.
»Bitte? Von wem redest du, Junge? Und wer ist Pippi? Vielleicht solltest du mal weniger trinken?«
Ich nahm noch nen Schluck aus der Flasche, sah sie an und kicherte los.
Pippi sah mich von oben herab an und an Shokki gerichtet:
»Wer bitte schön ist das denn? Noch so ein Ignorant?«
Ich antwortete ihr:
»Nee, Pippi, ein Mitbewohner und Freund des Hauses.«
Ich mochte sie von Anfang an nicht. Dieser Blick, den sie auf mich richtete, war dieser typischer "Ach Junge was willst du denn?" Blick. Ich hasste sie dafür, und wurde fies.
»Und du?«, sagte ich zu ihr, »willst also Robin Hood Konkurrenz machen? Die Aufmachung dafür hast du ja schon.«
Anstatt zu antworten sah sie mich nur an.
»Schlaf deinen Rausch aus, und dann sehen wir weiter.«
Aber ich war der Meinung, dass ich noch mehr vertragen könnte, und lächelte sie nur an.
Noch einen Schluck aus der Flasche. Ich sah nun zwei Pippis vor mir, aber egal.
Ich hörte Jo, dem ich um den Hals sprang. Warum? Keine Ahnung? Ich wollte Pippi loswerden! Schnell! Ganz schnell. Ich hoffte auf Jo.
Aber dann nahm er Pippi in seine Arme.
»Axel, das ist Doris! Meine neue Freundin!«
Ich griff zur Flasche und nahm den nächsten Schluck, sah auf in Jo`s Augen.
»Meine Fresse Jo, Doris soll ihren Gerhardt vögeln, aber doch nicht dich!«
Das fand Jo nicht wirklich witzig und haute mir eine rein. Der Schlag saß, so dass ich eine blutige Lippe bekam. Meine Zähne fühlten sich schwammig an und ich sah auf in das Gesicht von Jo. Ohne irgendeine Regung stand er vor mir, bereit mir eine zweite Schelle zu verpassen. Mein Freund Jo schlägt mich! Mich?
Es war nicht der Schmerz, der schmerzte, vielmehr Jo, mein Freund, und die Erkenntnis, dass wir nicht mehr Freunde waren. Das schmerzte vielmehr.
»Wichser!«, schrie ich Jo an.
»Ach ja, und du? Eine kleine eifersüchtige Tucke? Du kannst mich mal.«
Die Faust die ihn traf war heftig, und sie kam von mir. Er sollte wohl besser morgen nen Zahnarzt aufsuchen.
»So viel zum Thema Tucke, Arschloch!«
Ich drehte mich um und ging in mein Zimmer, schloss ab und ging ins Bett. Ich konnte nicht schlafen, musste nachdenken. Was jetzt?
Keine Freunde mehr! Ich musste hier raus, und das alles nur wegen Pippi! Ich hasste diese Frau! Abgrundtief! Diese Schlampe!
Der nächste Morgen war grauenhaft. Mein Schädel brummte wie ein Bienenschwarm und ihren klebrigen, ranzigen Honig mussten sie wohl in meinem Mund vergessen haben. Ich befühlte meine aufgesprungene Lippe. Sie schmerzte.
Alles schmerzte, besonders der Klumpen in meinem Magen. Dieses beschissene Gefühl alles verloren zu haben. Ich hatte Nachdurst.
Am Kühlschrank kam mir auch schon diese widerliche Person namens Pippi ähm, Doris, entgegen und zeterte auch gleich los.
"Du hast Jo einen Zahn abgebrochen!"
Bla, bla, bla. Ich nahm mir ne Cola aus dem Kühlschrank und trank.
Angewidert sah mich Doris an.
»Dieses Gesöff trinkst du?«
Ich drehte mich zu ihr um und lachte schallend los. Diese Frau sah aber auch dermaßen bescheuert aus, mit ihren Klamotten. Angefangen von diesem Wollknäuel, den sie anhatte, endete es mit einer Jogginghose und merkwürdigen Latschen. Es war aber vor allem diese Farbkombination, die es so grotesk aussehen ließ. Alles irgendwie super verwaschen mit undefinierbaren Farben.
In diesem Augenblick gesellte sich Shokki zu uns und umarmte Doris von hinten, um ihr einen Kuss auf den Hals zu geben. Mir drehte sich der Magen um.
Ich sah Shokki an und fragte ihn:
»Macht ihr jetzt schon nen Dreier oder was soll das?«
Anstelle Shokki antwortete Doris:
»In einer Kommune haben sich halt alle lieb.«
Würg.
Ich ließ die beiden ohne ein Wort zu sagen stehen und ging in mein Zimmer, um meine Sachen zu packen.
Fertig gepackt rief ich Felix an und bat ihn, mich mit seinem Wagen abzuholen.
Wir schleppten die Sachen – so viel war es eh nicht - zu seinem Wagen (meine Kaffeemaschine nahm ich natürlich mit) und fuhren davon. Ich habe mich weder bei Jo noch bei Shokki verabschiedet. Ich wollte einfach nur noch weg hier. Unterwegs erzählte ich Felix, was sich so zu getragen hatte.
"Krass!" war seine einzige Antwort. Und natürlich, dass ich erstmal bei ihm wohnen könnte.
Drei Tage waren seitdem vergangen. Weder ich noch einer aus der WG meldete sich bei dem anderen.
Felix und ich gingen in der Mönckebergstrasse shoppen. Eigentlich nicht ganz meine Preisklasse, aber gucken kann man ja trotzdem. Wir kamen am Rathaus vorbei und sahen einen Menschenauflauf. Neugierig, wie wir ja nun mal waren, gingen wir auch zum Rathausplatz. Hinter Absperrungen reihten sich Menschenmassen und fragend sahen wir uns an, bis Felix schließlich sagte:
»Die Queen kommt doch heute.«
»Ach ja, da war ja was.«
Felix sah mich an und grinste breit:
»Und Wallice.«
»Dann lass doch mal sehen, ob der in Natura genauso gut aussieht.«, grinste ich zurück.
Ein paar kleine Mädchen neben uns winkten mit kleinen Fähnchen. Wie süß, dabei waren sie sicher auch nur wegen Wallice hier.
Die Menschen drängten immer enger an einander, um die Engländer sehen zu können.
Wie sie ankamen konnte ich nicht genau sehen, zu viele Menschen standen vor uns. Hören konnten wir es aber sehr wohl. Ein Raunen ging durch die Massen.
Der Bürgermeister wartete auf der Rathaustreppe. Ob die Queen wohl weiß, dass der schwul ist? Hmm.
Einige Personenschützer kamen als erste an uns vorbei und stellten sich neben der Treppe auf.
Wir kamen dann doch noch etwas weiter voran, bis an die Absperrung. Da kreischten die Mädchen ohrenbetäubend. Wallice kam direkt auf uns zu, um unsere Hände zu schütteln. Ja, die Fernsehbilder logen nicht, der Prinz sah wirklich verdammt gut aus. Zu gut. Überrascht bemerkte ich, dass er mich direkt ansah und scheu lächelte. Scheiße, ist der süß. Die Mädchen kreischten immer heftiger, was den Prinzen aber nicht zu stören schien. Seine Augen waren immer noch mit diesem scheuen Lächeln auf mich gerichtet und plötzlich spürte ich seine Hand in der meinen. Er hielt sie lange… Zu lange wie ich fand.
Ich sah ihm direkt in die Augen und dann spürte ich diese Explosion. Nur dummerweise nicht auf Grund chemischer Reaktionen in meinem Körper, sondern außerhalb.
Die Detonation brachte die Fensterscheiben des Rathauses zum Zerspringen. Die Scherben flogen mit einer solchen Wucht in die Zuschauermenge, dass man fast keine Chance mehr hatte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich sah einen Leibwächter zusammenbrechen, als in eine Scherbe in den Hals traf. Auch eine Frau, die wohl zum Königshaus gehörte, fiel mit einem Schrei blutüberströmt auf die Straße, sie schien es mit voller Wucht getroffen zu haben. Überall war plötzlich Blut. Die Menschen schrien in Panik und stoben auseinander. Ich hatte ein Gefühl, als wäre ich in Watte eingepackt. Ich sah die Menschen schreien, aber ihre Stimmen erreichten mein Ohr nicht. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Bring dich in Sicherheit!
Und so lief ich davon. Felix neben mir schrie mich an und deutete nach hinten. Ich nickte ihm nur zu, da ich seine Worte nicht verstand. Immer energischer deutete er nach hinten, bis ich mich umdrehte. Mit meiner linken Hand zog ich den Prinzen mit. Ach du Scheiße!
Ich spürte die Wärme dieser Hand und sah genauer hin. Blut rann darauf und lief in schmalen Fäden von Wallice Hand. Er musste durch die Explosion verletzt worden sein.
Das war wohl der Augenblick, in dem mein Hirn ganz abschaltete. Ohne an die Folgen zu denken, drückte ich noch fester Wallice Hand und zog ihn mit. Weg hier und in Sicherheit – zu Felix.
Eindrücke (Wallice)
Ich hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Tausend Gedanken sausten durch meinen Kopf, als mich dieser Junge immer weiter hinter sich herzog. Was war mit meinem Vater, mit Peter passiert? Was war denn überhaupt passiert?
Ich verlor das Gefühl für Raum und Zeit, wusste nicht, wo ich war. Allmählich nahm die Menschenmenge ab, wurde das Geräusch der Panik leiser. Ich drehte mich um und sah die Rauchwolke des Feuers im Rathaus. Ich wollte zurück, zu Peter, zu meinem Vater, aber der Junge ließ mich nicht los. Mit unverminderter Geschwindigkeit zerrte er mich fort vom Ort des Geschehens.
Ich weiß nicht mehr wie lange oder wie weit wir rannten, irgendwann hielt der Junge keuchend an. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir nicht alleine waren. Ein zweiter Junge stand neben uns und schnaufte so arg, dass er sich mit den Händen auf den Knien abstützen musste. Er sah mich unten herauf an und trotz der ganzen Hektik sah ich ein paar wunderschöne Augen.
Langsam kam ich zu mir. Von der Straße, in der wir angelangt waren, hatte man keinen Blick mehr auf das Rathaus und es war richtig still hier. Fast so, als wäre gar nichts passiert.
Dann drehte ich mich um und betrachtete zum ersten Mal den Jungen, der mich fortgezerrt – und mir vielleicht das Leben gerettet hatte.
Groß, schlank, hübsches Gesicht. Und auch schöne Augen. Und diese Lippen...
Ich riss endlich meine Hand aus seiner.
»Ich will zurück.«, sagte ich und in diesem Moment fiel mir ein, dass ich in Deutschland war. Ich verstand die deutsche Sprache recht gut, aber reden... das war nicht so mein Fall. Der Junge, den ich grade losgelassen hatte, sah mich an.
»Dann geh zurück.«
Ich starrte ihn an, weil er das so schön sagte. Akzentfreies Englisch.
»Na, los, wir wollen dich nicht festhalten. Geh zurück und lass dich abmurksen. Die warten auf dich. Du bist das Ziel des Anschlags gewesen, nehme ich mal an. Der künftige König. Man wird versuchen, dich ein zweites Mal in die Luft zu jagen.«
Ich stand da wie angewurzelt, hatte noch gar keine Zeit gehabt darüber nachzudenken, warum das alles passiert war. Angst kam auf, richtige Angst. Was, wenn dieser fremde Junge Recht hatte? Terrorristen gab es überall auf der Welt und wie ich es schon ahnte – man war vor ihnen nirgends sicher.
Ich sah dem Jungen in Augen und ich weiß nicht, was plötzlich passierte. Auf einmal wollte ich nicht mehr zurück. Es war wie ein Zwang, bei den beiden zu bleiben. Abwechselnd sah ich sie an. Einer so hübsch wie der andere.
»Warum hast du das getan? Warum hast du mich hierher gebracht?«, fragte ich dann nach einer Weile.
Der Junge sah mich an und zog die Schultern hoch.
»Ich weiß es nicht.«
Unschlüssig standen wir dann da herum, bis Sirenen von Polizei und Feuerwehr zu hören waren.
»Entweder du gehst jetzt zurück oder du kommst mit. Für eine Entscheidung hast du aber nicht mehr viel Zeit.«
Ich wusste in dem Moment gar nichts. Alles drehte sich in meinem Kopf und das Wichtigste waren meine Oma, mein Vater und Peter.
»Mensch, Wallice, was ist jetzt?«
Der Junge wurde nervös. Aber warum? Er hatte doch nichts getan außer mir wahrscheinlich das Leben gerettet.
Der andere schloss die Haustüre auf, vor der wir standen, mein Retter folgte ihm.
Sie standen in der Tür und sahen mich an. Ich dachte noch eine Sekunde nach, dann folgte ich ihnen in den düsteren Hausflur.
Im Fünften Stock angekommen spürte ich den Schweiß an meinem ganzen Körper herunterlaufen. Es fühlte sich an, als säße ich in der Badewanne. Sofort knöpfte ich meine Anzugjacke auf und warf sie über die Sessellehne, dann lockerte ich meine Krawatte und knöpfte auch die Weste auf.
»Jaja«, grinste mein Retter, »zieh dich ruhig aus...«
»Axel...«, ermahnte ihn der andere Junge.
Ohne zu fragen ließ ich mich in den Sessel fallen. Ich war einfach nur noch kaputt.
Was für ein Schnaps es war, den mir mein Retter hinstellte, wusste ich nicht, aber danach ging es mir ein wenig besser.
»Ich heiße übrigens Axel, das ist mein Freund Felix.«
Ich starrte die beiden an. Mich vorzustellen war sicher unnötig, aber ich tat es trotzdem. Dazu stand ich auf und gab den beiden die Hand.
»Wallice, Prinz von...«
»...wissen wir.«, unterbrach mich Axel mit einem breiten Grinsen.
Er hielt meine Hand fest und sah sie sich an.
»Du hast nen Splitter abgekriegt. Warte, ich hole Lupe und Pinzette.«, sagte er und verschwand im Badezimmer.
Erst jetzt sah ich mich genauer in dem Raum um. Schön und einfach eingerichtet. Hier und da ein bisschen unordentlich, aber das störte mich nicht. Im Gegenteil, wie gern würde ich mal was in meiner Bude herumfliegen lassen.
Axel nahm meine Hand und hielt sie zum Fenster hin.
»Komm näher, ich muss den Splitter finden.«, sagte er.
Er nahm meine Hand und ich musterte seine schönen Finger, wie zart er damit an der Wunde fummelte. Sie war nicht groß, es tat auch nicht besonders weh und der Splitter bestimmt bloß ein paar Millimeter groß.
Mit der Pinzette zog Axel schließlich den Glassplitter heraus.
»Da haben wir ihn ja.«
Er klebte noch ein Pflaster auf die Wunde.
Irgendwie blieben die beiden dann in einem gewissen Abstand zu mir und musterten mich andauernd.
»Du weißt schon, wen wir hier im Zimmer haben.«, hörte ich Felix zu Axel flüstern.
Axel starrte mich an.
»Ja, aber fassen kann ich es nicht.«
»Was machen wir denn nun? Wenn die uns finden gehen wir in den Knast wegen Entführung. Wär vielleicht nicht schlimm, aber ausgerechnet Prinz Wallice...«, setzte Felix fort.
»Wenn man weiß, dass er hier ist, kommt eine Armee hier aufmarschiert. Die knallen uns ab wie die Hasen.«
»Langsam. Woher sollen sie es erfahren? Und Wallice... ist ja eigentlich freiwillig hier.«
Dabei sah er fragend zu mir herüber.
Das Radio lief und Axel sagte nach einer Weile zuhören:
»Eine Sonja von Altstetten hat es wohl erwischt. Sie war in unmittelbarer Nähe der Bombe... Sonst ist niemandem etwas passiert. Aber die suchen dich, wie die Bekloppten...«
Ich schluckte, traute mich nicht nachzufragen. Sonja? Ich blickte kurz an die Decke.
Niemandem war etwas passiert, mehr wollte ich nicht hören. Dass es Sonja... nun ja, ich war nicht traurig. Was Peter jetzt durchmachte war mir egal. Obwohl ich normalerweise so nicht denke, war mir ihr Tod nicht gerade nahegegangen. Ohne es wirklich zu wollen dankte ich, dass es sie und nicht meinen Vater, Peter oder mich getroffen hatte.
Nun saß ich da auf dem Sessel, vor zwei wildfremden Jungs und kam mir ziemlich verloren vor. Hier bleiben konnte ich nicht, man würde mich finden, irgendwann und dann waren diese beiden Jungs dran. Und das wollte ich nicht. Steven tauchte auf in meinen Gedanken. Was er wohl dachte? Ganz England stand bestimmt jetzt schon Kopf wegen mir.
Und plötzlich begann es in meinem Körper zu kribbeln. Angenehm war das, fast schon Angst einflößend angenehm. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich unabhängig. Keiner da, der mich reglementierte, keine Etikette, kein Dienstplan... Nichts. Freiheit.
»Nanu, du grinst ja plötzlich.«, sagte Axel.
»Ja, das hat auch seinen Grund. Ich möchte vorerst nicht zurück.«
Die beiden Jungen sahen sich an, dann mich.
»Aha. Woher diese Erkenntnis?«
Ich stand auf und lief zum Fenster. Dort unten konnte man Blaulichter sehen, die Stadt schien im Ausnahmezustand.
»Ich glaub, ich hab ein bisschen Freiheit hier – und die will ich eine Weile behalten.«
»Diese Freiheit werden Felix und ich mit Knast bezahlen, wenn man dich hier findet.«
»Nein, ich bin ja nicht gewaltsam hierher gebracht worden. Macht euch darüber keine Gedanken.«
So richtig beruhigt hatte ich sie damit wohl nicht, aber irgendwie war mir das plötzlich egal. Ein paar Tage hier, warum nicht. Und die Gesellschaft der beiden war mir alles andere als unangenehm.
»Du willst also wirklich hier bleiben?«, fragte Axel.
»Vorerst ja, wenn ihr nichts dagegen habt.«
»Schön, dann geh ich jetzt einkaufen, wir haben nichts mehr im Haus.«
Gerne hätte ich Felix Geld dafür gegeben, aber ich hatte keine einzige Pfundnote dabei.
Kurz darauf waren Axel und ich alleine in der Wohnung. Meine Gefühle schwankten hin und her. Alles war so neu, so völlig unbekannt.
Der Fernseher lief, praktisch alle Stationen unterbrachen ihre Sendungen mit Nachrichten über mein Verschwinden. Ich sah Oma, Papa, einmal auch kurz Peter. Sie unversehrt zu sehen beruhigte mich. Über Sonja hatten sie wohl eine Decke gelegt. Ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte. Zu deutlich war jener Abend mit ihr und Peter in meinem Kopf. Ich hatte ihr alles Mögliche an den Hals gewünscht... und jetzt?
Sollte ich mich melden? Nur bei ihnen? Sagen, dass es mir gut geht? Ja, das musste ich tun, das war ich ihnen schuldig.
"Hallo Papa. Es geht mir gut, es ist nichts passiert. Ich bin auch nicht entführt worden, bin noch in der Stadt, aber ich kann im Moment nicht zu euch zurück. Ich melde mich wieder. Viele Grüße an Oma und Peter."
Mehr schrieb ich nicht in der SMS.
Dann klingelte mein Handy.
»Ja, Papa, ich bins.«
»Was ist los? Wo bist du?«
»In Sicherheit. Es geht mir gut, glaub mir.«
Eine lange Pause.
»Wallice... es geht dir wirklich gut?«
»Ja, Papa, sehr gut. Bitte sucht nicht nach mir, es ist meine freie Entscheidung.«
»Mensch. Junge, das geht doch nicht.«
»Doch Papa, für eine Weile schon. Lass dir was einfallen, ich melde mich wieder.«
Dann legte ich auf.
Plötzlich stand Axel ganz dicht bei mir und sah mich an.
»Du wirst dennoch bald wieder gehen, es bleibt dir ja nichts anderes übrig.«
Ich nickte.
»Und was willst du damit sagen?«
Er sah verlegen zu Boden.
»Wir werden uns nie wieder sehen, in unserem ganzen Leben nicht.«
»Ja, möglich.«
»Darf ich mir einen Wunsch erfüllen? Einen einzigen? Und nur einmal?«
Ich zog die Schultern hoch. Was sollte das für ein Wunsch sein?
»Wenn ich ihn dir erfüllen kann, du hast sogar drei Wünsche frei... Du hast mir das Leben gerettet.«
Er streckte eine Hand nach mir aus und berührte plötzlich mein Gesicht. Mit seinen schönen Fingern strich er mir zart über die Wangen. Ein Schauer fuhr durch meinen Körper. Und dann der Blick in diese Augen. Axel war verdammt hübsch, das wurde mir in diesen Sekunden bewusst.
Ganz langsam kam er mit seinem Kopf immer näher, schloss die Augen und... dann küsste er mich auf den Mund. Eine Sekunde vielleicht, eher weniger. Seine Lippen waren so weich, so warm und trotzdem bekam ich eine Gänsehaut. Sie überzog meinen Körper von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln. Meine Güte, was für ein Gefühl...
»Tschuldige.«, sagte er und ging schnell zwei Schritte zurück.
»Ich hab... das nicht gewollt... aber... es war mein Wunsch.«
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Muss dagestanden haben wie in Beton gegossen.
Axel drehte sich zum Fenster.
»Tut mir leid, wirklich, aber du... du bist so ne Art Idol für mich. Immer wenn ich dich in Zeitschriften oder im Fernseher sehe, dann hab ich mir gedacht, den würde ich mal gerne küssen wollen. Es war ein Traum, der eigentlich nie hätte in Erfüllung gehen können.«
Er drehte sich wieder zu mir.
»Und eigentlich kann ich es nicht glauben. Ich danke dir dafür.«
Axel war also genauso schwul wie ich. Ich ging auf ihn zu und packte ihn an den Armen. In diesem Moment war mir alles egal. Trotz der Sirenen da unten, der ganzen Panik, die da auf der Mattscheibe flimmerte... Ich sank plötzlich ab. Hinunter in eine tiefe, ruhige Stille.
Axel sah mich ungläubig an.
»Ist was? Ich hab mich doch entschuldigt.«
Lieb wir er das sagte. Seine Stimme...
»Es war schön, was du da gerade gemacht hast.«
Axels Blick war unbeschreiblich, seine Augen wurden so groß wie die einer Eule.
»Was?«
»Ich weiß, mein Deutsch ist schlecht...«
Er stand da und sah mich an wie einen Außerirdischen.
»Was hast du gerade gesagt?«
»Dass mein Deutsch schlecht ist...«
»Nein, vorher...«
Er machte mich verlegen, zumal ich mir diese Worte wohl nicht so genau überlegt hatte.
Aber ich wollte es nicht noch einmal sagen. Ich zog ihn zu mir und nahm ihn in die Arme, drückte ihn ganz fest.
Ich hörte wohl die Türe gehen, auch dass jemand herein kam ins Zimmer, aber ich konnte Axel einfach nicht loslassen.
»Ach du Scheiße.«, hörte ich nur und es war Felix' Stimme.
Axel - Ängste
Felix stand im Raum und starrte uns mit groß aufgerissenen Augen an. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, also blieb mir nur ein dämliches Grinsen übrig.
So ein: "Es ist nicht so wie es aussieht Felix" wäre jetzt reichlich blöde gekommen. Wallice stand neben mir und schien ebenso unsicher zu sein wie ich. Schon süß, wie er so da stand den Blick auf mich dann wieder auf Felix gerichtet. Unsicher wie die Situation sich entwickeln würde. Einfach zum Knuddeln der Prinz. "Prinz" ja Prinz! Ich musste es mir erst einmal in mein Gehirn trommeln, dass er ein Prinz ist. Er wirkte auf mich bisher mehr wie… ja was? Wie ein großer Junge, der in meiner Nachbarschaft wohnt? Mit dem ich gerne mal vögeln würde? Oder doch mehr? Mit dem ich eine Beziehung anfangen könnte? Endlich mal? Und dann ausgerechnet der Prinz? Scheiße!
Ich fand als erster meinen Sprachschatz wieder:
»Felix, wir haben ein kleines Problem!«
»Klein? Klein, nennst du so was? Was ist bei dir denn ein großes Problem? Felix: ich habe nen Außerirdischen gepoppt?«
»Hmm. Ja das wäre ein größeres Problem. Wie poppt man mit nem Außerirdischen?«
Felix fing an zu lachen.
»Du bist so dermaßen Kacke Axel!«
»Ich weiß.«
Wallice genoss die Zeit bei uns. Je länger er hier war, desto mehr taute er auf. Seine anerzogene konservative Art schob er schon sehr schnell beiseite. Er entpuppte sich als ein super angenehmer Gesprächspartner und sehr witziger Freund. Felix brauchte nicht all zu lange, um mit ihm warm zu werden. Die beiden mochten sich. Auch wenn ich insgeheim die Vermutung hatte, dass Felix ein wenig eifersüchtig war. Er ließ es sich aber nicht anmerken.
Eine andere Sache beschäftigte mich viel mehr. Wallices Handy! Es ist nicht wirklich ein großes Problem Handys zu Orten. Umso mehr war ich überrascht, dass in unserer Wohnung noch kein Einsatzkommando des SEK stand. Wahrscheinlich hatte Wallices Vater wohl die Hand darauf. Warum? Ich konnte nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht gönnte er seinem Sohnemann einfach diese Auszeit. Oder, und das traf wohl mehr den Kern der Sache, war er froh, dass Wallice aus der Schusslinie war.
Die Medien berichteten nur, dass Wallice sicher in England gelandet sei und schoben altes Archivmaterial nach. Wer hinter dem Anschlag stehen könnte, da gab es nur Verdächtigungen. Sie reichten von Al-Kaida bis zur IRA.
Nun, auf jeden Fall war klar, dass wir überwacht wurden. Das BKA tummelte sich vor oder wahrscheinlich schon im Haus. Sie waren wirklich unauffällig – zu unauffällig. Der Passat, der vor unserem Wohnblock stand und sich alle sechs Stunden mit einem Audi abwechselte, war sehr auffällig unauffällig.
Am zweiten Tag, nachdem Wallice bei uns "einzog", ging ich Brötchen holen. Ich kaufte Mehrkorn- und Sonnenblumenkernbrötchen ein, außerdem vier halbe belegte, mit Putenaufschnitt und Käse.
Die unbeschmierten Brötchen packte ich in meinen Rucksack, die belegten nahm ich in meine rechte Hand und trug sie wie ein Tablett vor mir her. Und zockelte damit direkt auf den Audi zu.
Ich klopfte an das Seitenfenster und es surrte nach unten.
»Bitte?«, kam es von dem Menschen, der es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht hatte.
»Ich dachte, unsere Leibgarde könnte was zum Essen gebrauchen?«
Der angesprochene sah mich an und fing dann an zu grinsen:
»Gerne! Setz dich rein, nach hinten!«
»Okay!«
Ich setzte mich auf die Hinterbank des Audis und gab ihnen die belegten Brötchen.
»Na das nenn ich doch mal Service!«, grinste der Fahrer.
»Und seit wann beschattet ihr uns schon?«
»Hmm. Seit Anfang an.«, antwortete der auf dem Beifahrersitz.
»Das Handy?«
»Nicht nur. Unsere englischen Kollegen haben den Prinzen natürlich gespickt mit Peilsendern. Ebenso wie wir es mit unseren Politikern machen. Ganz normal.«, und biss ins Brötchen.
»Hmm das ist gut. Morgen bitte mehr davon, James!«
Die beiden lachten.
»Und von welchem Dienst seid ihr? BND? Verfassungsschutz? BKA?«
»Such dir was aus. Ist egal. Weiß die Königin eigentlich, dass ihr Enkel schwul ist?«
Die beiden prusteten los vor Lachen.
»Ha, ha, Scherzkekse!«
»Okay. Scherz beiseite. Ihr habt ein Problem.«
Die beiden sahen mich nun ernst an.
»Ach was?«
Nur ein Problem? Mir fielen Tausende ein!
»Ich heiße Olaf.«, sagte der Fahrersitzhocker zu mir.
»Und ich bin Ole.«, grinste mich sein Pendant an.
»Mich nennt man Lisa. Oder auch Axel.«
»Okay Schluss mit lustig. Hier Axel, da hast du einen Peilsender und wir möchten, dass du ihn Tag und Nacht bei dir trägst.«
Olaf gab mir ein kleines Gerät, das die Größe einer SD-Karte hatte. Ich nahm sie und begutachtete das Teil.
»Axel, steck es in deine Brieftasche oder sonst wo hin, nur trage es immer bei dir. Siehst du den kleinen eingefassten Knopf an dem Teil?«
Ich sah mir das Teil an und tatsächlich gab es so was.
»Ja.«
»Gut! Drücke ihn, wenn ihr in akuter Gefahr seid. Nur dann, und wir sind sofort da! Hörst du?«
»Was passiert, wenn ich ihn drücke?«
»Das ist das Zeichen für uns den Raum, wo immer ihr euch auch aufhaltet, zu stürmen. Also nur im Notfall benutzen!«
»Verstanden! Ihr hört alles mit?«
»Bei euch? Ja klar!«
»Okay!«
Ich stieg aus dem Wagen und bekam ein leichtes Gefühl von Kotzattacken. Sie wussten alles! Alles!
Sie wussten von der ersten Nacht mit Wallice, wie wir Sex hatten, worüber wir sprachen. Diese erste Nacht, die so dermaßen schön war. So verkuschelt und so ein Fallen lassen, wie ich es in meinem Leben noch nicht gekannt habe. Und dass andere diese erste Nacht mitbekommen hatten, das durfte nicht sein!
Ich fühlte mich verletzt, ausgenommen von diesem System, hintergangen.
Während ich auf dem Rückweg zu Felix war, zermarterte ich mir mein Gehirn. Wallice! Sind wir fest zusammen? Kann man diese Frage nach nur zwei Tagen beantworten? Und wenn ja, was dann? Mir war schon klar, dass er eines Tages zurück nach England musste. Wäre es das Aus für unsere Beziehung oder ein Weitermachen und sich verstecken? Ein Leben lang ein Katz- und Mausspiel mit der Öffentlichkeit? Das würde ich nicht durchhalten. Keine Minute lang. Sollte ich dann vielleicht die Beziehung abbrechen bevor sie richtig begann?
Als ich die Wohnungstür aufschloß, kamen mir die beiden schon entgegen.
»Wo bist du so lange gewesen?« fragte Felix mit einer Sorgenmiene.
»Habe noch kurz ne Nummer im Park geschoben.«
»Was? Nur eine? Wirst auch langsam alt.«
Damit war das Thema vom Tisch.
Wallice, der neben Felix stand, sah uns nur verdattert an. Um es richtig zu verstehen, war sein Deutsch dann doch nicht gut genug, was mir auch ganz recht war.
Wir frühstückten ausgiebig und bequatschten, was wir denn heute noch machen würden.
»Also ich hätte Bock ein wenig spazieren zu gehen. An der Alster. Na wie sieht es aus?«
Felix sah mich mit seinem typischen "wie viele Pillen hast du denn geschluckt" Blick an und meinte dann nur:
»Aber sonst geht's noch?«
»Was? Warum denn? Draußen scheint die Sonne, Wallice verpassen wir ne Sonnenbrille und ein Käppi, dann noch mit meinen Klamotten, merkt doch keine Sau.«
Ich hörte regelrecht wie Felix Gehirn am Rattern war, bis er dann schließlich meinte:
»Hmm. Okay. Warum nicht? Er wird eh nicht in Hamburg vermutet.«
»Dürfte ich vielleicht auch mal was sagen?«
Upps. Die Hauptperson ist ja noch gar nicht gefragt worden. Bisher verlief die Konversation nur zwischen mir und Felix.
»Und? Hast du Lust?«
Wallice strahlte förmlich und bejahte meine Frage.
Es wurde ein schöner Nachmittag. Die Sonne schien auf uns und ich lebte ein wenig auf. Eine kurze Zeit konnte ich meine Ängste vergessen und einfach nur genießen.
Wir wurden tatsächlich von den Hamburgern nicht weiter beachtet. Selbst als ich mit Wallice Hand in Hand ging. Er war zwar anfangs ein wenig irritiert, aber ich erklärte ihm, dass die Hamburger daran gewöhnt wären und dass es ganz normal sei.
Schlendernd umrundeten wir die Binnenalster, kauften uns Eis und flachsten herum. Wallice genoss es spürbar, einmal so in inkognito einen Spaziergang zu machen. Ohne Leibwächter und dieses ganze Gedöns. Nun, natürlich hatten wir unsere Leibwächter. Aber die hielten sich im Hintergrund auf und warum sollte ich es ihm erzählen?
Am Abend besorgte Felix Sushi und wir spielten ein wenig Karten. Die Stimmung war sehr gelöst und entspannt, bis es an der Wohnungstür klingelte.
Felix ging, um die Tür zu öffnen. Wir konnten aus dem Wohnzimmer nicht sehen, wer an der Tür war. Aber hören. Ein Aufschrei und gepolter. Wallice sah mich mit einem erschrockenen Blick an und meiner war wohl nicht minder verwundert. Sollten Wallices Leibwächter ihn doch schon holen, um ihn nach England zu verfrachten?
Felix flog ins Wohnzimmer – und das war nicht übertrieben. Ein wenig weiter, und er wäre auf dem Tisch gelandet. Nun sprangen Wallice und ich auf, um gleich auch wieder einen Schritt zurück zu machen. Wir sahen in den Lauf einer Pistole, die auf uns gerichtet war.
Eine mir vollkommen fremde Person stand in der Tür und zielte auf uns. Ich hielt den Atem an. Mein Gehirn sprang auf Generator um oder besser gesagt auf Notstromgenerator, denn ich konnte mit dieser absurden Momentaufnahme überhaupt nichts anfangen. Ich hörte ein Kommando in einer Sprache, die mir unbekannt war. Ich tippte auf Gälisch. Irisches Gälisch.
Mit hasserfülltem Blick sah uns dieser Mensch an und kam zwei Schritte auf uns zu. Er brüllte nur:
»Hinsetzen!«
Auf Englisch. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so schnell wieder hingesetzt wie in diesem Augenblick. Shit. Mein Herz bollerte, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, sah vor mir nur dieses Arschloch mit seiner Pistole, die auf uns gerichtet war.
Felix lag gekrümmt am Boden und sah aus wie das Elend in Person. Aus einer Platzwunde an seinem Kopf rann Blut. Er sah nicht auf, seine beiden Hände schützend über seinem Kopf, lag er dort in einer Embryostellung.
Zwei weitere Personen stolperten ins Wohnzimmer.
Jo und Shokki! Ich war erstaunt, die beiden hier zu sehen. Sie sahen mich an und wirkten sehr verängstigt.
Ein weiterer Typ kam, mit einer Pistole vor sich, in den Raum und stellte sich vor den beiden auf. Jo und Shokki setzten sich neben Felix, mit den Händen an ihren Hinterköpfen in den Schneidersitz.
Dann erblickten diese Arschlöcher Wallice. Einer rief was auf Gälisch und eine Frau erschien.
Pippi!
Diese blöde Kuh stöckelte triumphierend in den Raum und blieb vor uns stehen.
Sie hatte, wie die beiden anderen Arschlöcher, eine Pistole in der Hand.
Allerdings sah sie jetzt nicht mehr so Ökotussi-mäßig aus wie ich sie kennen gelernt hatte. Sie hatte Jeans und nen schwarzen Rolli an. Außerdem Turnschuhe und ihre Haare waren auch anders. Sie wirkte irgendwie tougher auf mich.
»Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Die königliche Warze himself mit meinem Freund. Da haben wir ja nen richtig guten Fang gemacht. Hat sich also diese Kinderfickerei doch noch bezahlt gemacht.«, gluckste die blöde Kuh und sah dabei Jo und Shokki an.
»O´Raelly! Ich dachte du wärst tot?«, sagte Wallice.
»Ach Prinzchen, das hebe ich mir für später auf. Aber nett, dass du mir dabei Gesellschaft leisten wirst. Das erhöht nur den Einsatz und du weißt ja, ich spiele gerne.«
»Wallice? Du kennst sie?«
Ich war erstaunt.
»Ja leider, jedes Kind in England kennt diesen Bastard.«
»Och Prinzchen, werden wir jetzt ausfallend? Ts, Ts.«
Wallice fuhr fort:
»Cathy O´Raelly war einst Abgeordnete von Sinn Fein. Bis es ihr nicht mehr reichte und sie im Namen der IRA Anschläge gegen uns verübte.«
Wallice sah sie wutentbrannt an, so hatte ich ihn noch nie gesehen. Seine Halsadern kamen empor und er wurde immer roter im Gesicht.
»Diese Terroristin brachte 32 Menschen um, fünf davon waren noch unter 15 Jahre alt. Das ist ihr Werk gewesen. Wir hatten eigentlich gehofft, sie bei einem Einsatz getötet zu haben, aber wie ich sehe ist es nicht so.«
Wallice spuckte ihr die Worte förmlich entgegen.
»Terroristin? Terroristin?«
Pippi lief ebenfalls rot an und schrie nun Wallice entgegen:
»Wir, die IRA, sind Freiheitskämpfer! Wir wehren uns gegen eine Monarchie, die Teile unseres Landes besetzt hält. Hätte Hitler damals England besetzt und du würdest gegen die Nazis kämpfen, wärst du dann auch ein Terrorist?«
Wallice schüttelte den Kopf und sagte dann:
»Das ist doch Bullshit. Hier geht es nicht um eine Monarchie oder einem Nazi-Regime, es geht um Protestanten gegen Katholiken, das ist das Problem. Und meine Großmutter ist nun einmal das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche. Weil die Protestanten damals im Mittelalter von den Katholiken niedergemetzelt wurden, ist sie ihr Oberhaupt und damit ihr Schutz geworden. Das weißt du genau O´Raelly.«
»Ja und damit unsere Feindin. Hättet ihr nicht Nordirland eingenommen, wäre es soweit nicht gekommen.«
»Nordirland gehörte schon immer den Protestanten, das weißt du. Sicher haben wir Fehler gemacht, indem wir Nordirland an England gebunden haben. Aber hatten wir je eine andere Möglichkeit?«
»Ja. Die hattet ihr! Wir wollten Frieden. Wir haben den Protestanten das Recht eingeräumt in Nordirland zu leben. Doch was geschah? Immer mehr kamen, immer mehr Land wurde uns weggenommen, was hättet ihr an unserer Stelle getan? Sag! Was?«
Wallice blickte auf den Boden.
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich einen Kompromiss ausgehandelt? Wie schon gesagt, wir haben Fehler gemacht. Aber im 21. Jahrhundert sollte es doch möglich sein, den zu überwinden?«
»Nein. Niemals! Irland ist ein freies Land und wird so lange kämpfen, bis es gewinnt.«
»Irland ist frei! Nur ihr seid es nicht, ihr seid immer noch im vorigen Jahrtausend, die Bevölkerung steht nicht mehr hinter euch, das einzige was ihr wollt ist Terror.«
»Diese Dummköpfe, vom Ale ganz hirnzerfressen, nur wir, die IRA, wissen was unser Volk braucht. Unsere Tradition und irisches Denken.«
»Das wollte Hitler auch.«
»So genug jetzt! Ihr fünf geht in die Küche, setzt euch dort hin und ich will keinen Ton mehr hören, ansonsten...«, Pippi sah auf die beiden Gorillas, die mit ihreren Pistolen herumfuchtelten.
Wir gingen dann im Gänsemarsch in die Küche, hinter uns die beiden IRA Gorillas.
Sie gaben uns Zeichen, dass wir uns auf den Boden setzen sollten. Eng aneinander taten wir es. Einer der Arschlöcher nahm sich die Schublade vor, in dem sich das Essbesteck befand, und holte es heraus um es ins Wohnzimmer zu bringen. Ja, war klar, Messer und Geiseln zusammen machten sich nicht gut.
Gefesselt wurden wir nicht, wahrscheinlich hielten sie es nicht für nötig. Im Grunde genommen sahen sie uns als Teenies, die nicht wirklich gefährlich werden konnten. Sie hatten ja recht damit. Wir durften sogar miteinander reden. Meine erste Frage war an Jo gerichtet:
»Was ist passiert?«
»Scheiße Axel! Nur ganz große undurchdringliche Scheiße! Ich verliebte mich in Doris – oder besser Cathy. Es war wie eine Gehirnwäsche was sie mit uns machte. Sie laberte von toller Gemeinschaft, wir zu dritt, dich Axel nahm sie von vorne rein aus. Ich wusste, dass du sie nicht mögen würdest. Ich liebte sie aber. Ach Scheiße! Sie sah mit uns Fernsehen und dann kamen diese Bilder von der Fuchsjagd und Wallice und alles staute sich in mir hoch. Meine ganze Wut. Gegen diese Ungerechtigkeit auf dieser Welt, warum müssen Kinder noch immer verhungern? Und andere. Wir! Leben in Reichtum und schmeißen Sachen weg, die anderswo so dringend benötigt werden? Und dann kam halt Doris/Cathy und fokussierte alles auf das englische Königshaus. Ich jobbte ja schon damals für die Feuerlöschanlagenbauer, du erinnerst dich?«
»Ja.«
Jo jobbte in dem Laden, wo Feuerlöscher geprüft und gewartet wurden.
»Nun, es war ein Leichtes für mich die Feuerlöscher im Rathaus gegen unsere auszutauschen.«
Mit einmal war ich hellwach. Mein Gehirn schaltete vom Notstromaggregat auf Normalbetrieb.
»Was soll das heißen? Du hast den Bombenanschlag verübt?«
»Jein. Doris/Cathy gab mir die neuen Feuerlöscher, die ich eintauschen sollte. Ich wusste aber nicht, dass in den Geräten Syntax war.«
»Jo, hallo? Wie bescheuert seid ihr eigentlich? Hast du nicht mal nachgefragt, als diese Pippi euch neue Feuerlöscher brachte? Das glaube ich euch nicht! Sorry, aber so beknackt seit ihr nicht!«
Jo und Shokki sahen betreten zum Boden.
»Wir wussten es. Wir wollten diesen Anschlag verüben.«, sagte Shokki.
Ich war fassungslos. Ich erkannte die beiden nicht wieder. Das waren meine Freunde? Die haben die Bomben gelegt? Die, die jetzt Mörder sind?
»Ihr habt einen Menschen umgebracht! Ist euch das klar?«
Jo war am Winseln:
»Wir wollten das doch nicht. Scheiße! Hätte ich gewusst, dass die Ladung so stark war, hätte ich niemals mitgemacht.«
Ich war am verzweifeln. Ich hatte das Gefühl, als wenn ich in meinem Grab läge und jemand, den ich mal sehr gut gekannt hatte, erzählte mir ich wäre unsterblich. Fassungslosigkeit machte sich breit. Ich kannte die beiden nun schon ein Leben lang, und nun das?
Ich konnte kein Wort mehr reden. Felix sprach dann die beiden an:
»Und warum seid ihr jetzt hier?«
»Das BKA war hinter uns her und wir wussten keinen Ausweg mehr, besonders dann, wenn man ne Pistole im Rücken spürt. Und da fiel mir nur Felix Wohnung ein. Entschuldige!"
»Super! Tolle Freunde seid ihr! Nicht nur euch selbst in Gefahr zu begeben, nein andere mit hinein zu reißen, toll!«
Die beiden sagten kein Wort mehr und sahen bedröppelt die geflieste Wand an.
Meine elektrischen Impulse im Gehirn fingen an miteinander zu korrespondieren. Wir waren in der Küche. Wenn der Zugriff kam, dann vom Wohnzimmer aus, wo es einen Balkon gab, die Küche war zum Hinterhof hin gerichtet. Hier würden sie wohl nicht rein kommen. Also Wohnungstür und Wohnzimmer. In meiner linken Jeanstasche hatte ich die "SD-Karte", ich fing an, sie unbemerkt heraus zu holen. Das Arschloch, das uns bewachte, hatte seine Augen auf Wallice gerichtet. Wohl in der Annahme, wenn was passieren würde, dann von ihm aus.
»Hey!«, schrie das Arschloch plötzlich und hielt mir die Pistole vor die Stirn. Er schrie weiter auf Gälisch, was ich nicht verstand.
Ich hob meine beiden Hände und legte sie an meinem Hinterkopf. Diese Geste sollte
Zeigen, dass ich wehrlos war. Und nichts bei mir hatte. Bis auf die kleine Karte, die nun unter meinem Arsch lag.
Mit seiner Linken zog er an meinen Haaren, so dass ich nach vorne fiel. Nun lag die Karte an meiner linken Schuhsohle. Und mit einer Bewegung hatte ich sie zu Wallice rüber gestoßen.
»Drücke den Knopf Schatz!«, sagte ich leise.
Wallice drückte ihn. Allerdings bekam ich es nicht mehr mit. Das Arschloch schlug mich mit dem Kolben seiner Pistole bewusstlos. Ich spürte nur noch einen fiesen Schmerz und das war es dann auch für mich.
Ich erwachte, als die Blendgranaten zündeten. Ein lauter Knall, ein greller Blitz! Pistolenschüsse fielen.
Ich fühlte mich noch immer betäubt. Das SEK stürmte die Wohnung, nachdem Wallice auf den Knopf gedrückt hatte.
Danach nur noch Facetten, Polizisten in grau-blauen Uniformen um mich herum, dann Blaulicht und grelles Licht im Rettungswagen. Ein Arzt beugte sich zu mir, sagte mir etwas, was ich nicht verstand.
Dämmerung.
Wallice!
Alles nur ein Traum?
Wenn, dann ein verdammt intensiver Traum!
Wallice – Entscheidungen (vor zwei Tagen)
Es dauerte eine Weile, bis ich mich zurechtgefunden hatte. Die neue Umgebung, diese beiden Jungs. Ich traute ihnen einfach nicht, alles war so neu und letztlich auch schrecklich kompliziert.
Was passierte gerade zu Hause? Man vermisste mich doch. Steve, Peter... Menschen, die mir wichtig waren. Papa? Der Rest ging mir am Hintern vorbei, darauf konnte ich verzichten.
Aber dennoch, mit jeder Minute fühlte ich mich sicherer bei ihnen, versuchte einfach nur das zu sein, was diese beiden Jungs auch waren: Ein ganz normaler Mensch.
Irgendwie kam es mir dann vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Wir lachten viel und ich fühlte mich einfach nur wohl.
Die erste Nacht verbrachte ich auf der Couch, ich war sowieso einfach nur tot und hätte auch auf der Fußmatte vor dem Klo gepennt.
Der Tag danach war somit nur dem Ausspannen gewidmet. Wir spielten Karten, lachten und blödelten herum. Immer lief das TV und manchmal gab es doch so einen kleinen Stich ins Herz, wenn sie meine Heimat zeigten. Wie es weitergehen sollte, daran dachte ich noch nicht.
Am zweiten Abend fuhr Felix zu seinen Eltern, sein Vater hatte Geburtstag und Felix wollte wegen der Entfernung die Nacht bei ihnen verbringen.
Axel und ich beschlossen, uns eine Pizza in den Ofen zu schieben.
Wir saßen vor der Mattscheibe, aßen die Pizza und sahen uns Nachrichten an. Priorität dort hatte natürlich der Anschlag. Axel stierte in den Fernseher und ich konnte die Stimmung des Jungen richtig einfangen. Er hielt die Hände ans Gesicht und schluckte. Ich war froh, dass da mein Vater zu sehen war, meine Oma und auch Peter.
»Was haben wir da bloß für ne Scheiße gebaut.«, sagte Axel nach einer Weile.
»Wir? Ihr habt Mist gemacht, nicht ich.«
Aber ich konnte mir ein Grinsen dabei nicht verkneifen.
Irgendwann sagte ich Axel, dass ich müde sei und schlafen gehen wollte.
»Du kannst in Felix' Bett.«, rief er mir nach. Er dachte wohl, ich hätte auch mal das Recht, in einem anständigen Bett zu schlafen.
»Aber du kommst doch dann auch?«, fragte ich, ohne genauer darüber nachgedacht zu haben.
»Ja, ich komme gleich.«, rief er mir hinterher.
Ich fürchtete kaputtzugehen bei dem Gedanken, mit Axel in einem Bett zu pennen. Aber dann machte es "klick". In den Tiefen meiner Seele wollte ich es. Ich wollte mit Axel schlafen, auch wenn es ein Wunschtraum war, der so nicht in Erfüllung gehen konnte.
Wenig später hörte ich Axel ins Schlafzimmer kommen. Vorsorglich stellte ich mich lieber schlafend. Ich hatte noch nie richtigen Sex gehabt, vor allem mit einem Jungen nicht. Wollte ich das in dieser Nacht? Ich hatte keine Angst davor, aber ich war plötzlich unheimlich nervös. Aufgeregt besser gesagt.
Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung. Würde er sich neben mich legen? Klar, wo sonst, hier im Zimmer gab es keine andere Möglichkeit.
Panik stieg auf einmal in mir auf. Nein, ich durfte das nicht. Ich durfte nicht mit einem Jungen schlafen. Nicht mit Axel oder sonst wem. Ich durfte nicht schwul sein und wenn das Geringste zwischen uns passieren würde, so im Sinne von Streit oder so, würde er es vielleicht hinausposaunen. Und dann wäre mein Schicksal besiegelt.
Ich stand auf, als er sich ins Bett legen wollte.
»Ich muss noch mal kurz.«, log ich und ging ins Bad.
Dort sah ich in mein Spiegelbild.
"Du kannst nicht zu ihm ins Bett. Jetzt nicht, Morgen nicht, niemals.", redete ich mir ein. Sicher, er wusste worauf er sich da einließ, aber vielleicht suchte er ja auch nur meine Nähe. Weiter nichts. Ich griff in meinen Slip und fasste nur einen Gedanken: ich musste mir jetzt einen runterholen, dann dürfte nichts mehr passieren. Ich konnte ja zusätzlich Kopfschmerzen oder Übelkeit vorschieben.
Ich streifte meinen Slip auf die Oberschenkel und begann mit der reichlich geübten Prozedur.
»Wallice?!«
Sofort schrumpfte meine Erektion zusammen.
»Ja?«
»Wo bleibst du denn?«
Wo sollte ich schon bleiben? Gut, er hatte es nicht anders gewollt. Wenn etwas passierte, war das immerhin nicht nur meine Schuld...
»Ich komme.«, rief ich und zog meinen Slip wieder hoch.
Ich bin kein Typ, der schnell nervös wird, aber das, was jetzt kommen könnte, brachte mich zum Zittern.
Ich legte mich zaghaft neben Axel, immer bedacht, ihn ja nirgends zu berühren. Ich registrierte in nur Millisekunden, dass Axel nichts anhatte.
»Gute Nacht.«, sagte ich leise.
Keine Antwort. Auch gut. Das ließ mich vermuten, dass er von mir nichts wollte. Es war unbeschreiblich schön neben ihm. Nur daliegen und wissen, dass da jemand war. Jemand, den ich begann sehr gern zu haben. Meine Erektion war fast schon schmerzhaft, aber das würde sich legen. Wobei ich da auf einmal nicht mehr sicher war, immerhin hatte ich bestimmt schon drei Tage nicht mehr gewichst, weil ich einfach nicht dazu gekommen war.
Plötzlich drehte er sich zu mir um, legte seinen Arm um meine Brust. Wie sich das anfühlte. Ich dachte, in die Luft zu fliegen. Sollte ich den Arm berühren? Streicheln? Was war das für ein betörender Duft, der mich umnebelte? Tief sog ich die Luft ein und auf einmal wurde ich ruhig. Ganz ruhig. Ich begann, es zu genießen. Axel fing an, mich zu betäuben. Alles, was hinter uns lag, versank in Bedeutungslosigkeit. Ich machte in dieser Richtung die Schotten dicht. Zum ersten Mal in meinem Leben entrückte ich der Wirklichkeit. Wollte nur noch hier liegen, bei ihm, und sonst nichts.
»Es ist schön, neben dir.«, flüsterte er nach ewigen Minuten ganz nah an meinem Ohr und weil das kitzelte, jagte es mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper.
Nicht nur was, sondern auch wie er das sagte. Mein Gott, ich neben einem Jungen und der war auch noch splitternackt. Ich stellte mir vor wie es wäre, wenn das herauskäme. Dass ich neben ihm lag in dieser Nacht.
Plötzlich rückte er näher, bis sich sein Körper an den meinen schmiegte. Ich spürte seine Wärme, und ich durfte erneut diesen süßen Geruch aufschnappen, der von ihm ausging.
»Axel... bitte nicht...« Ich musste mich wehren und versuchte von seinem warmen, flauschigen Körper abzurücken. Aber so groß war das Bett nun auch nicht und er rückte nach.
»Hey, mein Prinz.«, hauchte Axel, »Ich mag dich haben. Jetzt.«
Wie viel Erotik konnte eine Stimme noch haben? Nicht viel mehr, da war ich mir sicher.
»Warte.«, sagte Axel und stand auf.
Mit einer Flasche Sekt kam er zurück.
»Ich denk, es gibt was zu feiern.«
Und dann war es um uns geschehen. Ich wehrte mich nicht mehr und ließ seine Hände dort, wo sie mich streichelten. Seinen Mund, wo er meinen suchte und traf. Ich stürzte ab. Mit ihm. Eine zauberhafte Welt, in die ich in den nächsten Stunden eintrat. Axel war dermaßen zärtlich... Ich begann, mich in den Jungen zu verlieben. Und meine Pflichten schienen sich aufzulösen, in das reine Nichts. Tief in meiner Seele nahm ich Abschied vom König von Witham. Axel war jetzt mein Reich. Und nur in dem wollte ich dienen und regieren.
Nicht alleine aufzuwachen, was für ein Gefühl. Axels Kopf lag auf meiner Schulter und der Junge atmete tief und ruhig. Sachte fuhr ich über seine Wange und darauf räkelte sich Axel, rückte ganz dicht an mich. Nein, dieses Gefühl wollte ich nicht mehr missen, niemals. Vielleicht war es Steve gegenüber ungerecht, aber ich dachte nicht, so neben ihm liegen zu können. Egal welche Entscheidung ich zu treffen hatte, er würde sie akzeptieren müssen.
Axel roch nach Schlaf, irgendwie. Und da war sie wieder, diese Betäubung. Liegenbleiben bis zum Untergang der Welt, dachte ich.
Dass Felix plötzlich im Zimmer stand, schockte mich dann auch nicht mehr.
Langsam kam er zu uns ans Bett und stemmte die Hände in Hüfte. Er schüttelte ganz langsam den Kopf und brachte nur ein "zzzz" hervor.
Ich hielt meinen Zeigefinger an den Mund und deutete ihm ruhig zu sein, damit Axel nicht aufwachte.
Felix kam zu mir herum und kniete sich vors Bett.
»Ich glaub nicht was ich da sehe. Habt ihr... «, flüsterte er ganz leise.
Ich nickte.
Felix stand auf.
»Aufstehen, verschlafenes Pack!«, rief er auf einmal.
Axel zuckte zusammen und ich hätte Felix eine scheuern können.
»Was ist los? Geht die Welt unter?«, fragte Axel verschlafen.
»Ja, ist sie bereits, heute Nacht.«
»Wieso?«
»Du hast mit dem Prinzen von Witham geschlafen.«
»Und, sind Prinzen keine Menschen?«
Axel lächelte mich an und küsste meine Brustwarzen.
»Ihr seid nicht mehr zu retten, stimmt's?«
»Stimmt.«, antwortete ich.
Wenig später kam Axel aus dem Badezimmer.
»Ich geh denn mal los, Frühstück holen. Und Felix, du lässt deine Finger von meinem Schnuffi, verstanden?«, feixte er.
Felix verbeugte sich vor ihm.
»Ich werde mein Möglichstes versuchen, Eure Hoheit nicht anzufassen.«, grinste er.
Axel schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung.
»Du Felix?«
»Ja?«
Wir standen in der Küche und Felix brühte den Kaffee auf.
»Was ist Axel eigentlich für ein Mensch?«, wollte ich wissen.
Felix starrte mich an.
»Du willst wissen, was ich von ihm halte?«
»Ja.«
Er grinste.
»Axel ist manchmal ein Arschloch. Mehr als einmal hätte ich ihn am liebsten auf den Mond geschossen – ohne Rückflugticket.«
»Das ist ja wohl nur die eine Seite.«, sagte ich.
»Ja, das ist seine eine Seite. Und wenn sie Gewicht hätte, würde sie ein paar Gramm wiegen.«
Ich musste eine Weile über diese Worte nachdenken.
»Gegenüber der anderen Seite... die viele Kilo wiegt, oder?«
»Ja. Er ist mein bester Freund. Und ich mag ihn, mit all seinen Ecken und Kanten. Er ist eigentlich der liebenswerteste Mensch, den ich mir vorstellen kann.«
Ich musste grinsen.
»Aha, du hättest dem etwas hinzuzufügen?«, fragte Felix.
»Habt ihr beiden was zusammen?«
»Wer? Axel und ich?«
Felix lachte laut.
»Nee, wir passen nicht zusammen.«
»Habt ihr nie, ich meine...«
»Doch, haben wir, kannst es ja wissen. Aber das war nichts als Neugier. Notgeile Jungs machen eben manchmal Sachen, die stehen nicht im Drehbuch des Lebens.«
»Ich... ich glaub es gibt keinen, der so... zärtlich sein kann...«
Ich musste das loswerden und es stimmte schließlich auch.
Felix lachte.
»Das, mein Lieber, kann ich nun gar nicht beurteilen. Das heißt... naja... irgendwie schon...
Wo er bloß so lange bleibt? Der Bäcker ist doch gleich um die Ecke.«, warf Felix dann in das Gespräch.
»Vielleicht hat er noch jemanden getroffen?«, versuchte ich eine Erklärung zu finden. Dabei wurde mir langsam mulmig.
»Möglich.«, antwortete Felix, ebenfalls mit Sorge in der Stimme.
Wir hatten schließlich etwas zu verlieren. Wie lange konnten wir dieses Spiel eigentlich treiben? Angst kam in mir auf. Angst, etwas zu verlieren, das mir auf einmal sehr viel bedeutete. Diese beiden – das durfte nicht passieren, niemals. Scheiß auf das Königshaus, scheiß auf den Thron. Ich begann so zu denken und zu handeln wie sie, das war meine Welt. Nicht jene, in der man permanent im Rampenlicht stand. Wo schon das Wichsen am Abend zum Problem wurde, weil man sich beobachtet fühlte.
Ich fasste in diesem Moment einen Entschluß, vor dem ich mich einerseits fürchtete, der mir aber andererseits ein neues, mein neues, Leben schenken würde.
»Ich muss jetzt was trinken.«, sagte ich, eilte ins Schlafzimmer und holte die angebrochene Flasche Sekt.
»Spinnst du? Es ist nicht mal Elf Uhr.«
»Mir egal.«, antwortete ich. Immerhin war die Entscheidung meines Lebens gefallen, das wäre auch um Sechs in der Früh ein Grund gewesen.
»Was hast du vor?«, fragte Felix mit großen Augen.
»Wir sollten feiern.«
»Was denn?«
»Ich geh nie wieder zurück nach England.«
Felix' Augen wurden noch größer.
»Was willst du nicht??«
»Zurück.«
Er ließ sich mit einem lauten Seufzer auf den Küchenstuhl fallen.
»Ist nicht dein Ernst, oder?«
Ich grinste.
»Ernster geht es nicht.«
»Wie willst du das anstellen?«
Die Tür ging und Axel kam in die Küche.
Das Thema war zunächst vom Tisch. Wir frühstückten und gingen anschließend spazieren. Es war unbeschreiblich schön. Schon aus dem Grund, weil keiner von uns Notiz nahm. Der Höhepunkt des Nachmittags war, als Axel mich plötzlich an der Hand nahm. Ich ließ es zu, einfach so. Und ich war wirklich im siebten Himmel.
Aber dann, als wir wieder zu Hause waren... Alles ging so schnell, unfassbar was da ablief. Ich war so geschockt, dass ich nicht mal die Hälfte von allem mitbekam.
Cathy O´Raelly und zwei eklige Typen, mehr registrierte ich nicht, es war die Todesangst, die mir im Nacken hockte. Pistolen, Drohungen...
Ich diskutierte wohl über Land und Leute, Religion, Besitztum, Recht und Unrecht. Aber ich wusste, das würde nichts bringen. Die drei hatten etwas vor und sie würden es durchziehen, mit allen Mitteln und um jeden Preis.
Es dauerte auch eine Weile, bis ich kapierte, was Axel mit einem Chip, den er mir mit den Worten:
"Drück den Knopf, Schatz" zuschob, wollte. Er liebte mich, das stand jetzt fest. Und ich nahm alles zusammen, um uns zu retten. Ich drückte den Knopf – und Minuten später brach die Hölle los.
Ich konnte plötzlich nichts mehr sehen, war blind. Richtig blind und der Gedanke daran versetzte mich so in Schock, dass ich kaum mehr etwas mitbekam. Schreie, Schüsse, Rauch, unglaubliches Durcheinander. Es ergriffen mich starke Hände, zerrten mich irgendwohin. Ich glaube, ich hab auch geschrien, aus purer Angst.
Irgendwann beruhigte ich mich. Saß wohl in einem Fahrzeug, hörte den Motor und Funkgespräche. Nach ewiger Zeit bildeten sich auf meiner Netzhaut wieder Konturen ab.
»Na, junger Mann, alles Ok?«
Ich nickte verhalten mit dem Kopf. So eine Frage stellte niemand, der einem an die Wäsche wollte. Offenbar war ich einer Katastrophe entgangen.
Ich sah langsam die Landschaft draußen, die beiden Männer die da vorne saßen. Der Beifahrer sah ständig zu mir nach hinten.
»Fehlt dir irgendwas? Hast du Schmerzen?«
Ich schüttelte den Kopf, froh, endlich wieder sehen zu können.
»Was ist mit Axel?«, fragte ich, voller Angst vor einer Antwort.
Der Mann sah mich fast schon aufdringlich an.
»Im Krankenhaus.«
Ich fing an zu zittern, wusste, was er damit meinte.
»Was ist mit den anderen passiert?«
»Zwei haben wir festgenommen. Rainer Schulte und Joachim Heilmann.
Eine O´Raelly und zwei unbekannte Typen hat es erwischt...«
Die beiden lebten noch, was ein Glück. Das SEK hatte ganze Arbeit geleistet.
»Bringt mich zu ihm.«, forderte ich dann.
»Zu wem?«
»Zu Axel.«
»Das geht nicht. Das halbe Land ist in Aufruhr, dein Vater möchte nicht, dass du gefunden wirst.«
»Aber ihr habt mich doch gefunden.«
»Nein, nicht wirklich.«
Ich verstand nichts.
»Was heißt das?«
»Wir wissen nicht, wer noch alles hinter den Anschlägen steckt. Wir müssen sicher gehen und solange bleibst du unsichtbar. Ganz einfach.«
»Ich muss zu Axel.«
»Geht nicht.«, brummte der Mann auf dem Beifahrersitz erneut.
Ich spürte Tränen aufsteigen. Wie kaputt war mein Leben auf einmal?
»Ich geb euch Geld, soviel ihr wollt. Oder andere Sachen, die ihr haben wollt, aber bitte, bringt mich zu meinem Freund!«
Plötzlich fuhr der Wagen an den Straßenrand und hielt an.
Der Fahrer drehte sich zum mir.
»Was meinst du damit?«
»Verdammt, ich hab's grade gesagt. Bringt mich zu ihm.«
Die beiden sahen sich an. Wahrscheinlich wurde ihnen gerade bewusst, welchen Vorschlag ich da gemacht hatte. Er war abstrus, aber ich hatte ja ansonsten keine Möglichkeit. Wenn sie darauf eingingen, hatte ich Glück.
»Wenn du uns schon bestechen willst, muss dir ja verdammt viel daran liegen, ihn zu sehen.«
»Würden Sie mich jetzt bitte ins Krankenhaus fahren?«
Der Fahrer zog die Schultern hoch und gab Gas.
Mein neuer Freund sah nicht gut aus. Ein dicker Verband um seinen Kopf und Axel dämmerte vor sich hin.
Er lag alleine in dem Zimmer, zum Glück keine Intensivstation. Obwohl sein Anblick alles andere als beruhigend war, konnte ich davon ausgehen, dass keine Lebensgefahr bestand.
Ich tippte ihm sachte auf die Schulter.
»Hallo Axel.«
Langsam öffnete er die Augen.
»Hallo Wallice.«, flüsterte er schwach.
»Alles ok mit dir?«
Er nickte leicht.
»Es ging mir schon mal besser.«
Ich setzte mich auf den Bettrand und nahm seine Hand.
»Hey, Kleiner, das wird wieder.«
»Was ist mit Jo und Shokki?«
»Die werden wohl erst mal ne Zeit im Knast verbringen.«
»Und O´Raelly? Die anderen beiden?«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Scheiße... verdammte Scheiße.«, rief er.
»Lass, sie hatten selbst Schuld. O´Raelly und ihre Anhänger haben es nicht besser verdient.«
»Wallice, du... du bleibst doch bei mir, oder?«
Ich holte tief Luft. Die Entscheidung war eh schon gefallen, aber jetzt ging es an die Umsetzung.
Ich lief zum Fenster. Ein schöner Tag da draußen. Die Bäume so herrlich grün, Blumen in dem Park da unten. Ja, ich wollte mich um solche Dinge kümmern. Nicht um Etikette, nicht um zickige Adelsweiber. Nicht um Kinder, nicht um Pflichtprogramme. Hatte ich bei diesen Gedanken in letzter Zeit auch immer das Gefühl, etwas Wertvolles damit hinzuschmeißen, genügte nun ein Blick zu meinem Freund. Seine Augen, dieses Flehen. Nein, das konnte ich gegen nichts eintauschen.
Ich ging an Axels Bett, beugte mich zu ihm hinunter und wir küssten uns leidenschaftlich.
Plötzlich ging die Tür auf und ein unbekannter Mann trat ins Zimmer. Es ging viel zu schnell, als dass Axel und ich noch reagieren konnte. Er merkte anscheinend sofort, dass er die falsche Tür genommen hatte, aber auf einmal starrte er mich an. Dann wischte er sich über die Augen. Ich spürte instinktiv, dass er mich erkannt hatte.
»Tschuldigung, bin wohl im falschen Zimmer.«, stotterte er fast, machte kehrt und verschwand.
»Hey Wallice, du bist so blass. Ist was?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, Axel, ich dachte nur einen Moment lang, er hätte mich erkannt.«
Ich schlief die kommende Nacht in Axels Zimmer. Naja, Schlaf an sich war das nicht, denn ich saß an dem kleinen Tisch und hatte meinen Kopf auf den Arm gelegt.
Entsprechend gerädert wachte ich auf, Axel war auch schon wach und strahlte mich an.
»Hey Großer, dir geht es wohl wieder ganz gut, oder?«
Axel grinste.
»Ja, das tut es. Aber du siehst reichlich zerknittert aus. Warum bist du auch nicht zu mir ins Bett, wie ich es dir angeboten habe?«
»Wenn da jemand reingekommen wäre die Nacht... Nee, das können wir uns ja aufheben.«
Kurz darauf kam die Krankenschwester in das Zimmer und begann ohne Wort Axels Bett zu machen. Er kam zu mir.
»Komm, lass uns auf dem Gang laufen, ein paar Meter wenigstens.«
»Darf er?«, fragte ich die Schwester.
Sie lächelte.
»Ja, aber kein Gewaltmarsch, die Visite kommt gleich.«
In den Gängen war nicht viel los am Morgen und so fanden wir rasch eine Stelle, wo wir uns einen Kuss geben konnten. Einen sehr intensiven – und fast stürmischen.
Viel zu spät bemerkten wir die Person und wurden durch ein Blitzlichtgewitter aus der kurzen Traumwelt gerissen.
Der Mann von Gestern. Er ließ langsam seine Kamera sinken und lächelte uns zu.
»Möchten Sie diese Fotos kommentieren?«
Er hielt uns seine Visitenkarte hin. Dieses Tageblatt wurde in ganz Deutschland gelesen...
Axel und ich sahen uns an, dann ihn. Ich kannte das Gesetz der Pressefreiheit, es war unmöglich, diesen Mann an der Veröffentlichung zu hindern. Höchstens wenn man ihm Geld bot. Aber in diesem Augenblick sah ich meine, sah ich unsere Chance kommen. Mein Herz klopfte wie wild, ich erkannte am Funkeln in den Augen des Mannes dessen wilde Entschlossenheit. Allerdings war es besser, nichts zu sagen. Er würde eh jedes Wort so hindrehen, wie es die Leser wünschten.
Meine Stimme zitterte, als ich zu dem Mann sagte:
»Schreiben Sie, was Sie wollen.«
Ich nahm Axel am Arm und wir gingen zurück in sein Zimmer.
Dort sah er mich an wie ein Ungeheuer.
»Sag mal, spinnst du? Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja, mein Großer, das weiß ich. Vor dir steht der Prinz von Witham, der keiner mehr ist.«
»Wallice, das ist doch Schwachsinn. Du gibst den Thron auf, einfach so?«
»Nicht einfach so. Ich tu es wegen dir.«
Er starrte mich an.
»Wegen mir?«
Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und küsste ihn leicht auf die Lippen.
»Ja, wegen dir.«
Während der Visite ging ich im Park des Krankenhauses spazieren. Überdachte mein Leben, was es einmal war, was es einmal werden würde. Ändern konnte ich es nicht mehr, dafür war es zu spät. Aber letztlich hatte ich es so gewollt. Ein neues Leben stand vor mir und ich würde es hinkriegen, irgendwie.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Axel im Zimmer, wir dachten viel nach, begannen aber auch langsam, unser Leben neu zu strukturieren. Axel nahm die Sache sehr ernst und irgendwann in der Nacht war uns klar, wie wir das meistern konnten. Auch wenn bis dahin noch alles offen stand, hatten wir dennoch ein Ziel.
In dieser Nacht schlief ich dann doch in seinem Bett.
Früh am Morgen machte ich mich auf zum Kiosk des Krankenhauses. Langsam ging ich auf den Zeitungsständer zu, mein Herz drohte zu zerspringen. Doch mit jedem Meter, den ich mich dem Ständer näherte, wurde das Bild deutlicher. Ein Foto, das halb die erste Seite einnahm. Gelungen, das musste ich zugeben. War da nicht sogar ein bisschen was von Axels Zunge zu sehen? Geil.
"Schwul! Prinz Wallice besucht seinen verletzten deutschen Freund im Krankenhaus"
Dicke, schwarze Lettern. Selbst wer diese Zeitung nicht las, konnte sich der Überschrift nicht entziehen.
Gut, das war treffend. England würde in wenigen Stunden zum Hexenkessel werden.
In dem Moment klingelte mein Handy.
»Wallice, was ist los? Das Telefon hier steht nicht mehr still.«
»Papa, ich kann nicht sagen, dass es mir leid tut. Ich liebe Axel und ich werde bei ihm bleiben.«
Schweigen am anderen Ende.
»Papa, es geht nicht anders. Ich kann nicht unter Zwang leben, das ist nicht mein Ding. Ich hab dich sicher enttäuscht, aber es ist nun mal so.«
»Hab verstanden.«
Papas Stimme war leise und traurig. Ich konnte ihm nachfühlen, denn was jetzt auf ihn zukam, war sicher alles andere als ein Zuckerschlecken.
»Melde dich, hörst du?«, sagte er.
»Sicher, ich verspreche es.«
Erst da bemerkte ich die Schweißperlen auf meiner Stirn.
Ich ließ mich in den Sessel im Gang fallen und schloss die Augen. Alles drehte sich, nichts kam in geordnete Bahnen, vor allem meine Zukunft nicht.
Ich sah Steven vor mir. Was er jetzt wohl fühlen wird? Er hatte ja nie offen eingestanden, mich wirklich zu lieben. Ich würde mich bei ihm melden, irgendwann. Im Augenblick hatte ich den Nerv dazu einfach nicht.
Die Tür zu Axels Zimmer öffnete sich und mein Freund wankte in den Türrahmen. Wie er aussah in dem Pyjama...
»Was ist los?«, fragte er.
Ich sagte nichts, hob nur die Zeitung hoch, so dass er die Titelseite lesen konnte.
Er schnippte mit dem Finger.
»Wow.«
Er kam auf mich zu und nahm mir die Zeitung ab. Neugierig las er den Artikel, den ich noch gar nicht kannte.
»Hast du das gelesen?«, fragte er dann.
Ich schüttelte den Kopf.
Axel ließ die Zeitung auf den Boden fallen und zog mich vom Sessel hoch.
»Mein Prinz. Mein ein und alles.«, flüsterte er und umarmte mich.
Axel roch noch immer nach Schlaf, und schon wieder betäubte er mich.
»Ich lass dich nie mehr los.«, sagte ich.
»Ich dich auch nicht. Was auch immer kommt, wir gehen da durch.«
Ich küsste ihn, mitten im Gang.
»England hat einen Prinzen verloren.«
»Macht nichts, dafür hab ich jetzt einen. Und den geb ich nie mehr her.«
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