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Über den Wolken

Teil 2

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Vorwort

Danke an alle Leser vom ersten Teil, auch wenn die allermeisten davon leider anonym geschmökert und sich um einen Kommi herumgedrückt haben. Schade eigentlich, denn als Autor lebt man schließlich von der Aufmerksamkeit und ein paar aufmunternden, kritisierenden oder sonstwie gearteten Worten.

Trotzdem viel Vergnügen mit dem zweiten Teil, auch wenn Olivers innerer Leidensweg nun auch noch zu einem äußeren wird. Wer danach ungläubig mit dem Kopf schüttelt, sei auf die beiden folgenden Links verwiesen:

http://cache.rbb-online.de/_/kontraste/beitrag_jsp/key=rbb_beitrag_1177184.html

http://www.novo-magazin.de/45/novo4522.htm

 

„Hallo, Omi“, begrüßte Daniel die weißhaarige alte Frau, die ihm gerade die Tür geöffnet hatte, umarmte sie liebevoll und hob sie dabei leicht in die Luft.

„Ach, mein Junge“, reagierte sie ganz gerührt und streichelte Dan über die Wange. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich gefreut hab, dass du mal wieder ein paar Tage Urlaub bei mir machen willst. Aber komm erst mal rein.“ Daniel zog seinen Koffer durch die Tür in den kühlen Flur des alten Bauernhauses, in dem es seit eh und je nach vollreifen Äpfeln und irgendwie nach Oma roch. Die ganze Einrichtung hatte sich auch kein bisschen verändert, seit er von hier aus in die Welt gezogen war. Sogar sein Zimmer sah immer noch so aus, als wenn er es gerade erst verlassen hatte, und auch seine gelegentlichen Besuche hier hatten daran nichts geändert. Dieser Ort hier war eine feste Konstante in seinem sonst so turbulenten Leben, an den es ihn immer wieder zurückzog, wenn er ein wenig Abstand und Ruhe brauchte. Außerdem war seine Großmutter, die seit dem Tod seines Opas vor einigen Jahren hier ganz alleine lebte, eine ausgezeichnete Ratgeberin, wenn es mal wieder dicke kam und Dan einfach jemanden zum Reden brauchte. Wie oft schon hatte er hier seine Sorgen und auch seinen Liebeskummer abgeladen und im Gegensatz zu seiner Mutter, die bis heute mit seiner Homosexualität nicht zurecht kam, war es für seine Oma überhaupt kein Problem. Sie wollte, dass er glücklich war. Wo und mit wem war ihr völlig egal und schon allein dafür liebte Daniel sie abgöttisch.

„Du, sag mal, die Kaulfußens aus der Triftstraße sind wohl weggezogen? Ich bin da vorhin dran vorbei gefahren und das Haus sieht so zerfallen und verlassen aus.“ Daniel fragte ganz beiläufig während des Abendessens, auch wenn er nicht wirklich zufällig an dem Haus vorbei gefahren war.

„Du meinst Martina und Klaus?“, wollte seine Oma genauer wissen und Dan nickte nur.

„Ich hab keine Ahnung, wie die mit Vornamen hießen, aber so viele Familien mit so ’nem Nachnamen wird es in der Triftstraße sicher nicht geben.“

„Aber Junge, die sind doch schon seit Jahren tot. Sag bloß, du hast das nicht gewusst?“ Seine Oma sah ihn erstaunt an.

„Woher soll ich das denn wissen, Omalein? Was ist denen denn passiert?“ In Daniel rumorte es und irgendwie schien sich ein Puzzleteil zum anderen zu fügen.

„Na die sind doch mit dem Auto verunglückt alle beide. Das war so etwa ein halbes Jahr, nachdem du nach Frankfurt gegangen bist“, berichtete Oma Sommer unbeeindruckt weiter. „Du warst doch aber mal mit dem Sohn befreundet, wenn ich mich recht erinnere. Hat der dir denn nichts erzählt?“ Daniel zuckte zusammen. Seine Oma hatte es also nicht vergessen.

„Wir haben uns aus den Augen verloren“, murmelte er und blieb damit wenigstens so halb bei der Wahrheit. „Ich hab ihn erst vor ein paar Tagen wiedergetroffen, aber er hat nichts davon erzählt, dass seine Eltern tot sind.“ Daniel schluckte. Seine Kehle wurde immer trockener bei dem Gedanken, dass Olli niemanden mehr hatte, außer seiner eigenartigen Frau. Schweigend aß er zu Ende und verabschiedete sich auch bald mit einem Küsschen auf die Wange seiner Oma ins Bett. Er schlief unruhig, so dass er am Morgen völlig mit seiner Decke verknotet zu sein schien.

Müde sah er in den Spiegel, betrachtete seine eingefallenen Augen und fuhr sich mit beiden Händen verzweifelt durch die kurzen drahtigen Haare, die einen ausgewachsenen Afro ergeben würden, wenn er sie denn ließe. Die halbe Nacht hatte er sich über Olli den Kopf zerbrochen, hatte versucht zu verstehen, warum er so geworden war und sich mehr als hundert Mal gefragt, ob es auch nur die winzigste Chance gab, die Zeit ein Stück zurück zu drehen.

Nach dem Frühstück setzte er sich dann auf sein altes Rad, was immer noch im Schuppen für ihn bereit stand, und fuhr zum Waldsee. Er wollte einfach nur ein paar Runden schwimmen, entspannen und die Sonne genießen, aber wohin er auch sah, immer war es Olli, der ihm von seinem Gehirn vorgegaukelt wurde. Olli vor Freude quietschend im Wasser, Olli schlafend im warmen Sand, Olli mit angezogenen Knien und seiner Brille auf der Nase in ein Buch vertieft und Olli, der ihm mit den Fingerspitzen kleine Kreise auf die Brust zeichnete. Er konnte ihn sehen, hören, riechen, schmecken... er vermisste ihn. Den Olli von damals, der manchmal so schüchtern gewesen war, dass es fast weh getan hatte, aber andererseits so entwaffnend ehrlich und direkt, dass es Daniel mehr als einmal die Sprache verschlagen hatte. Diesen Oliver wollte er zurück und wenn es nur eine Freundschaft werden würde, dann wäre er auch damit zufrieden.

Als er gegen Mittag wieder auf dem Hof seiner Großeltern eintrudelte, stand seine Oma bereits in der Tür.

„Was hältst du davon, wenn du das alte Baumhaus wieder auf Vordermann bringst?“, fragte sie augenzwinkernd und drückte Dan einen Hammer und eine Kiste mit Nägeln in die Hand.

„Ich weiß nicht, ob das so eine tolle Idee ist“, sträubte sich Daniel, aber seine Oma ließ keine Widerrede zu.

„Manchmal hilft es, wenn man in die Vergangenheit eintaucht, um den richtigen Weg in der Gegenwart zu finden, Daniel. Ich merk doch, dass dich das Wiedersehen mit dem Sohn von Martina und Klaus irgendwie beschäftigt und da ihr damals viel Zeit auf diesem Baumhaus verbracht habt und es ohnehin schon mehr als baufällig ist, wirst du jetzt schön da hoch steigen und dir alles, was dich bedrückt, von der Seele klopfen. Holz findest du im Schuppen und wie man die Kreissäge bedient, weißt du ja sicher auch noch.“ Ermunternd pochte sie ihm auf die Schulter. „Ich ruf dich dann, wenn das Mittagessen soweit ist.“

Noch ein wenig unentschlossen blieb Daniel auf dem Hof stehen und sah in den fast wolkenlosen Himmel, an dem ein Kondensstreifen nur erahnen ließ, dass in großer Höhe gerade ein Flugzeug vorbei flog. „Womit hab ich diese Oma nur verdient?“, fluchte er leise, ergab sich dann aber seinem Schicksal und trabte los zu dem großen Süßkirschbaum, der inmitten der Streuobstwiese stand, die sich direkt an das Grundstück anschloss. Das Baumhaus bot wirklich einen bedauernswerten Anblick. Die Leiter nach oben schien noch halbwegs stabil zu sein, aber das Dach hatte bereits mehrere große Löcher und würde nicht einmal mehr vor einem schwachen Nieselregen schützen. Vorsichtig krabbelt Dan nach oben, um zunächst die Schäden zu begutachten, die der Zahn der Zeit an seinem früheren Tummelplatz hinterlassen hatte. Es würde ein paar Tage dauern, schätzte er abschließend ein, aber es war auf jeden Fall noch zu retten.

Den ganzen Nachmittag hindurch klopfte es im Süßkirschbaum, als wenn sich ein Specht gerade seine erste Behausung einzurichten versucht, flogen angefaulte und wurmdurchfressene Bretter in hohem Bogen in die Tiefe und nach anfänglichem Gefluche und Geschimpfe hörte man jetzt sogar hin und wieder, wie Daniel leise ein Liedchen vor sich hin pfiff. Das Dach musste er am Ende ganz entfernen, nahm sich einen Neuaufbau jedoch gleich für den nächsten Tag vor. Heute jedenfalls war er fix und alle und spürte jeden Knochen in seinem Körper. Verschwitzt, ausgepowert, aber auch unendlich zufrieden saß er auf der schmalen Terrasse der luftigen Hütte, lehnte mit dem Rücken an der Holzwand und ließ ein Bein über den Rand baumeln. Sein T-Shirt hatte er schon vor vielen Stunden ausgezogen, weil er den feuchten Stoff einfach nicht mehr hatte ertragen können. Wie Gold schimmerte seine milchkaffeebraune Haut im Schein der untergehenden Sonne und kleine Rinnsale aus Schweiß bahnten sich ihren Weg über seinen Bauch. Daniel ließ seinen Blick nach oben schweifen, wo sich schon wieder einige Stare um ein paar vollreife Kirschen balgten und noch bevor er ausweichen konnte, landete eine angepickte Frucht direkt in seinem Gesicht.

„Ey, ihr blöden Vögel“, schimpfte er und schüttelte sich die Reste vom Körper, um gleich darauf die nächste Matschkirsche auf der Brust zu haben.

„Wer von euch da oben heißt Oliver?“, kicherte er inzwischen fast schon amüsiert los, nachdem noch zwei weitere Früchte auf ihm gelandet waren und sich der Kirschsaft bereits auf ihm verteilte. „Mich mit Kirschen zu beschmeißen, war eigentlich sein Part“, fügte er deutlich leiser und nachdenklicher an, denn das war genau der Tag, den Olli im Flugzeug gemeint hatte, als er gesagt hatte, dass ihn die Kirschen auf seinem Tablett an einen ausgelassenen und schönen Tag vor langer Zeit erinnerten. Daniel schloss die Augen und träumte sich zurück.


Seit Tagen waren wir nun schon fast unzertrennlich, verbrachten jede freie Minute miteinander und der Gesprächsstoff schien uns einfach nie auszugehen. Es muss ein Mittwoch oder Donnerstag gewesen sein, keine Ahnung, aber es war immer noch heiß. Gluthitze versengte die Erde und die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Eigentlich konnte man an solchen Tagen nur eins absolut richtig machen... nämlich schwimmen gehen. Allerdings hatte ich genau an diesem Tag die Rechnung komplett ohne Oma gemacht. Schon am Frühstückstisch hatte sie mich mit ziemlich unfairen Mitteln dazu gebracht, mich ihrem Willen zu beugen. Und so stand ich eine halbe Stunde später, als Olli mit dem Rad um die Ecke geschossen kam, nicht mit Badesachen, sondern Leiter und Eimer bewaffnet auf dem Hof.

„Wo willst du denn hin?“, frotzelte er mich an und stieg vom Rad.

„Ich kann heut nicht mit zum See“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Oma hat mich zum Kirschen pflücken abkommandiert und sie hatte leider ein paar sehr schlagende Argumente, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte.“

Olli hob die Augenbrauen. „Und die wären?“

Verklärt rollte ich die Augen.„Mmmh, köstlicher Kirschmichel mit literweise Vanillesoße, Kirschkuchen begraben unter einem großen Berg kühler Schlagsahne und Kirschgrütze, bis mir schlecht wird.“ Oliver lachte aus vollem Halse.

„Wenn man dich so hört, könnte man meinen, Essen wäre deine Lieblingsbeschäftigung und du würdest mindestens schon drei Zentner wiegen. Wo isst du das nur alles hin?“ Ich hab’s ihm natürlich nicht verraten, wofür ich so ’ne Menge Energie brauchte, schulterte stattdessen die Leiter und machte mich auf den Weg zu meinem Arbeitsort, als Olli mich aufhielt.

„Hast du vielleicht noch ’nen zweiten Eimer? Zu zweit geht es schneller und macht auch mehr Spaß.“ Verdutzt sah ich ihn an und wedelte mit meiner Hand vor seinen Augen herum.

„Kannst du überhaupt ’ne Kirsche sehen ohne deine Brille? Wo haste das Ding überhaupt? Ein Wunder, dass du bis hier her gefunden hast.“ Olli schlug meine Hand weg und zog einen süßen Flunsch, für den allein ich ihn schon wieder hätte küssen können.

„So blind bin ich nun auch wieder nicht. Ich hab mich gestern Abend aus Versehen draufgesetzt und mir ist ein Bügel abgebrochen. Jetzt ist sie ein paar Tage beim Optiker, aber Kirschen pflücken krieg ich auch so hin.“ Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sah mich provokant grinsend an. „Sagen wir: Für ein Drittel vom Kirschmichel, und mal sehen, was mir als Belohnung noch so einfällt.“ Dieser Typ machte mich wahnsinnig. Waren wir alleine, war er locker, gesprächig, verspielt und das ganze Gegenteil von prüde und verklemmt, aber sobald eine dritte Person dazukam, hatte ich das kleine Aschenputtel wieder, schreckhaft und schüchtern und so unscheinbar wie eine Feder im Wind.

Ich ließ mich drauf ein und so hockten wir den ganzen lieben langen Tag mit freiem Oberkörper im Kirschbaum, quatschten uns wieder gegenseitig ein Ohr ab und freuten uns schon auf die versprochenen Köstlichkeiten von Oma.

Irgendwann jedoch, als wir schon fast alle Kirschen abgepflückt und uns entschlossen hatten, den verbleibenden Rest in den obersten Ästen für die Stare übrig zu lassen, fing Olli vor lauter Übermut an, mich mit den süßen roten Früchten zu beschmeißen.

„Hey, du kleine Mistkröte, lass das. Ich klebe sowieso schon am ganzen Körper“, versuchte ich, mich erst verbal zu wehren, aber Olli ließ einfach nicht locker. Hinter einem Ast halb verborgen, funkelte er mich an.

„Ooooch, wird der große Daniel jetzt ganz dreckig.“ Und klatsch hatte ich die nächste Kirsche auf dem Körper. „Dann komm doch her und mach was dagegen.“ Platsch... wieder landete eine vollreife Kirsche und diesmal genau im Gesicht.

„Olli“, reagierte ich schon leicht gereizt, „letzte Warnung jetzt oder ich komme und versohl dir den Hintern.“ Bing, bing, bing, bing, bing... ein ganzer Kirschenhagel ging auf mich nieder und dazu hörte ich einen höhnisch jauchzenden Oliver.

„Komm doch, komm doch, komm doch!“

Das war zu viel. Wie eine Furie kraxelte ich über die Äste in Richtung der Stimme, aber genauso schnell, wie ich dort war, wo Ollis Eimer noch immer hing, war er auch schon verschwunden.

„Du bist zu langsam, Daniel!“, kicherte es schon aus einer anderen Ecke, und ich wieder hinterher. Irgendwann war ich dann mindestens drei Mal um den ganzen Baum geklettert, aber Olli war verschwunden und es gab eigentlich nur eine Möglichkeit, wo er abgeblieben war. So leise, wie ich konnte, hangelte ich mich von Ast zu Ast und griff mir im Vorbeikraxeln noch eine Hand voll Kirschen aus meinem Eimer.

„Na warte, Olli“, dachte ich, „das wird ein Fest.“ Wie eine Katze schlich ich mich an mein Opfer heran, das ich in den Tiefen meines mit eigenen Händen gebauten Baumhauses vermutete und tatsächlich... Als ich um die Ecke lugte, saß Olli mit angezogenen Beinen und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt in der Ecke, so ganz nach dem Motto: Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht. Aber irgendwie muss er mich gespürt haben. Ich war jedenfalls noch gut einen Meter von ihm entfernt, als er plötzlich aufkreischte und sich auf die Seite schmiss. Wie ein Held hechtete ich auf ihn drauf und verteilte meine Kirschladung ausgiebig auf seiner weißen Haut.

„Hier, du Mehlwurm, damit du wenigstens ein bisschen Farbe abkriegst“, unterstrich ich meine Tat und kitzelte den lachenden und wild um sich schlagenden Olli. Wie die Kinder rollten wir uns auf dem harten Boden herum, bis ich einfach nicht mehr konnte und erschöpft auf dem Rücken liegen blieb. Olli lag halb auf mir drauf und sein hektischer Atem streichelte mein Gesicht. Ich konnte nur undeutlich seine Augen sehen, aber was ich sah, ließ mich erahnen, was gleich passieren würde. Diese sich schnell vergrößernden Pupillen hatte ich schon mal gesehen und zwar als... Ich kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, als ich wieder einmal zwei sündhaft weiche und nach Cherry schmeckende Lippen auf meinen spürte. Sie bewegten sich leicht, aber der Kuss blieb, wie die zwei Mal vorher, unschuldig und liebevoll zärtlich. Olli erhob sich dann auch gleich und rückte etwas von mir ab, als ich mich auf meine Unterarme stützte und ihn verwirrt ansah. Ich verstand einfach nicht, welche Pferde da immer wieder mit ihm durchgingen, aber ich hatte den festen Willen, es herauszufinden.

„Was hältst du davon, wenn wir mal gucken, ob ich bei Oma auf dem Speicher noch ein paar alte Matratzen finde und wir heut Nacht hier draußen bleiben?“, wagte ich deshalb einen Vorstoß. Mit klopfendem Herzen fixierte ich Olli, und ein Stein in der Größe eines eiszeitlichen Findlings fiel von mir ab, als er ohne Wenn und Aber einwilligte.

Und Oma hatte tatsächlich noch ein paar Restbestände an Matratzen auf ihrem Boden rumliegen. Die hatten zwar sicher auch schon bessere Tage gesehen, aber sie waren nicht muffig und als Schlafgelegenheit in einem Baumhaus durchaus noch zu gebrauchen. Es war ein bisschen mühselig, die sperrigen Dinger die schräge Leiter nach oben zu transportieren, aber das gemütliche, fast schon kuschelige Ergebnis ließ uns die Anstrengung schnell vergessen.


„Ob es hier jemals wieder so sein wird wie damals?“, überlegte Daniel und setzte die schon halbleere Wasserflasche an die Lippen. Die Sonne war jetzt endlich am Horizont verschwunden, aber es würde noch ein paar Stunden dauern, bis die Nacht hereinbrach. „Genau wie damals“, dachte er und spürte wieder die Aufregung, die in ihm hochgekrochen war. In dieser Nacht sollte Olli das erste Mal neben ihm einschlafen und am anderen Morgen neben ihm aufwachen, aber was sie sonst noch so für ihn bereithalten würde, hätte er sich in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt.


„Hier, ihr zwei, nehmt die Sturmleuchte mit, falls in der Nacht mal einer für kleine Jungs muss.“ Meine Oma hatte wirklich an alles gedacht. Nicht nur, dass sie uns einen Picknickkorb gefüllt hatte, der satt für eine ganze Woche Dschungelcamp gereicht hätte, sondern auch ein ganzer Stapel Decken und Kissen lag für uns bereit. So ausgestattet, hätten wir mehrere Tage auf dem Baum verbringen können, ohne dass es uns an etwas gefehlt hätte. Schwer bepackt wankten wir also unserer provisorischen Behausung zu.

„Weiß deine Oma eigentlich, dass du schwul bist?“, fragte mich Olli, als wir den ganzen Kram nach oben balancierten. Ich musste grinsen.

„Was meinst du denn? Ich erzähl das doch nicht ganz öffentlich in der Schule und riskiere, dass es meine Oma dann rein zufällig im Dorfladen erfährt.“

„Und was denkt sie, was wir beide heute Nacht hier machen?“ Aus Ollis Stimme drang Unsicherheit und ein bisschen Angst.

„Keine Ahnung“, versuchte ich ihn zu beruhigen, „aber meine Oma ist auch keine, die mit der Tatsache, dass du hier bei mir schläfst, gleich hausieren geht. Aber du musst auch nicht bleiben, wenn es dir unangenehm ist, Olli. Ich versteh das schon.“

„Nein, nein“, wehrte Olli ab. „Ich find nur den Gedanken ziemlich bizarr, dass deine Oma uns vielleicht ’ne wilde Liebesnacht zutraut.“

„Du erst noch. Meine Oma weiß, dass du nicht an Jungs interessiert bist und ich würde nichts tun, was du nicht willst. Das weißt du hoffentlich, Olli.“ Er nickte, zog sich dann seine Klamotten bis auf die Boxershorts aus und kuschelte sich kommentarlos unter die Decke neben mich. Inzwischen war es draußen stockdunkel und nur die Grillen hatten das Ende des Konzerts wohl verpasst und zirpten weiter, was das Zeug hielt. Die Hitze des Tages war einer immer noch warmen, aber sehr viel angenehmeren Nachtluft gewichen. Eigentlich war eine Decke völlig überflüssig und meine jedenfalls rutschte immer weiter gen Fußende, da ich keinen Erstickungstod riskieren wollte. Olli lag auf dem Rücken und fast regungslos neben mir und starrte an die Decke. Zumindest konnte ich im Flackerlicht der Sturmlaterne ein Blinzeln wahrnehmen.

„Du, Olli“, nahm ich irgendwann meinen ganzen Mut zusammen.

„Hmm.“

„Warum machst du das?“

„Warum mach ich was, Dan? Du sprichst in Rätseln.“

„Warum küsst du mich andauernd?“

„Gefällt es dir etwa nicht?“

„Doch Olli, aber das ist es nicht. Ich versteh’s einfach nicht.“

„Ich doch auch nicht. Ich find dich einfach schön, Dan, du faszinierst mich irgendwie und ich hab einfach Lust drauf, dich zu küssen.“

Komischerweise schien uns die Dunkelheit das Reden zu erleichtern und wir starrten auch weiter wie bescheuert an die Decke, statt uns ins Gesicht zu sehen.

„Aber du hast doch selber gesagt, dass du nicht schwul bist.“

„Ja schon, bin ich auch nicht. Ich steh nicht auf Jungs, aber bei dir ist das irgendwie was anderes. Wenn ich dich küsse, dann kribbelt es überall und mein Magen scheint sich auf Tischtennisballgröße zusammenzuziehen. Ich kann es nicht beschreiben, Dan. Es kommt einfach so über mich und dann hab ich mich kaum noch unter Kontrolle.“

„Hmm.“

„Es tut mir leid, wenn ich dir da irgendwie zu nahe getreten bin, aber du hast schließlich damit angefangen.“

„Ich hab nur deine Frage beantwortet, wie es sich anfühlt, wenn man einen Kerl küsst, Olli.“

„Und ich bin halt sehr vergesslich.“

Wir kicherten minutenlang um die Wette, bevor es wieder totenstill wurde.

„Olli“, murmelte ich wieder in die Dunkelheit.

„Mmmh, was denn noch?“

„Du weißt aber schon, dass ich schwul bin und ganz bestimmt auf Kerle stehe?“

„Du meinst, es ist gefährlich, wenn ich dich küsse?“

„Das vielleicht nicht gleich, aber es lässt mich auch nicht gerade kalt, wenn du weißt, was ich meine.“

„Mich auch nicht, Daniel, das kannst du mir glauben. Mich auch nicht.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“ Überrascht rappelte ich mich hoch, stützte mich auf meine Unterarme und versuchte Olli in die Augen zu sehen. Er hatte seine Hand aufs Gesicht gelegt, denn irgendwie schien ihm das Gespräch auch eine Spur peinlich zu sein.

„Soll ich es dir beweisen?“ Er zog die Hand vom Kopf und sah mich ohne die kleinste Regung an. In meinem Hirn ging es drunter und drüber, mein Herz schien den Weltrekord im Schnellschlagen brechen zu wollen und auf meiner Haut tobten Ameisenarmeen umher.

„Aber dann mit Zunge“, nuschelte ich und kaum war ein undeutliches „Auf deine Verantwortung“ aus Ollis Mund an mein Ohr gedrungen, spürte ich auch schon seine Hand in meinem Nacken, die mich unaufhaltsam nach unten zog. Als seine kleine weiche Zunge das erste Mal meine Lippenbarriere durchbrach, hätte die Welt um uns herum untergehen können und ich hätte es nicht bemerkt. Es war atemberaubend, phantastisch und wahnsinnig erregend. Wie von Sinnen streichelte ich ihm übers Gesicht, den Hals entlang und über seinen Bauch, der unter meinen Fingerspitzen zu vibrieren begann. Erst als die Luft knapp wurde, ließ er von mir ab und schlug demonstrativ seine Decke zurück.

„Siehst du jetzt, was so ein Kuss mit mir macht?“ Olli klang, angesichts der deutlichen Beule in seiner Hose, schon leicht panisch.

„Meinst du, bei mir sieht es anders aus?“, beruhigte ich ihn und schmiss mich auf den Rücken, so dass auch meine Erregung ganz offensichtlich war.

„Und jetzt?“, wollte er von mir wissen. Ich musste schmunzeln.

„Was machst du denn sonst immer?“

„An was Gruseliges denken und warten, bis es von alleine wieder weg geht. Und du?“

„Wie passend, dass ich Sommer heiße“, bemerkte ich und versuchte dabei möglichst wenig zu kichern. „Jetzt fehlt nur noch der Doktortitel und es ist perfekt. Dann fang ich bei der BRAVO an. Also Wegdenken geht bei mir schon mal gar nicht. Wenn ich kaltes Wasser zur Verfügung hab, dann kühl ich mich ein bisschen damit ab und ansonsten müssen halt mal wieder meine besten Freunde dran glauben... rechts und links... aber meistens rechts.“

„Du meinst, du machst es selbst? Also jetzt gleich... hier?“ Olli schien alles aus dem Gesicht zu fallen bei dem Gedanken. Ich wusste ja schon durch seine Fragerei, dass er eine absolute Jungfrau war und von mir den ersten Kuss in seinem Leben bekommen hatte, aber für so anspruchslos hatte ich ihn dann doch nicht gehalten.

„Also, ich klettere auch schnell runter, wenn es dich stört. Dann kannst du in Ruhe denken und ich erledige es halt auf meine Weise.“ Ich wollte schon aufstehen, als mich Olli am Arm zurückhielt.

„Kann... kann ich ihn mal anfassen?“, stammelte er. „Nur mal so drüberstreichen.“ Meine Augen wurden immer größer.

„Welche Drogen hast du genommen, sag mal? So kenn ich dich ja gar nicht“, hauchte ich vorsichtig in die Nacht, ohne mein Gegenüber aus den Augen zu lassen. „Aber klar... wenn du möchtest... ich weiß nur nicht... also ich... Mann, verdammt, wegen so was hat mich noch keiner um Erlaubnis gefragt.“ Ich atmete noch einmal tief durch. „Also, soll ich meine Shorts anlassen oder willst du so... also ohne Stoff irgendwie?“ Olli zitterte wie Espenlaub und sein Herz schlug so laut, dass ich ohne Probleme den Takt hätte mitzählen können.

„Ich... kann ich?“ Behutsam hatte er schon einen Zeigefinger in den Bund meiner Shorts eingehakt und zog sie mir mit unglaublicher Langsamkeit vom Körper, bis ich völlig nackt vor ihm lag. Er schluckte kurz, als sich meine vor Aufregung pulsierende Männlichkeit direkt vor seinen Augen auf und ab bewegte, und wie in Zeitlupe streckte er seine Finger aus. Wie ein Blitz durchzuckte es mich, als er mich dann tatsächlich berührte, über mich streichelte, als wäre ich aus Glas und unendlich kostbar. Ich hörte mein eigenes Blut in den Ohren rauschen und konnte ein Stöhnen einfach nicht mehr unterdrücken. Aber so schnell, wie die Finger gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Ich schlug die Augen auf und sah Olli noch immer an meiner Seite kauern.

„Hey“, hörte ich mich krächzen. „Alles in Ordnung?“ Olli nickte nur und wirkte wie in einer anderen Welt. „Komm her“, flüsterte ich und zog ihn zu mir. So gefühlvoll wie ich konnte, strich ich ihm über sein Gesicht, zeichnete seine Konturen mit dem Finger nach. „Leg dich auf mich“, raunte ich ihm ins Ohr und mein Verstand schien sich endgültig von mir zu verabschieden, denn ich war wirklich und wahrhaftig grad dabei, ’ne Hete zu verführen, und noch dazu „Mister Ist-Sex-was-zum-Essen-und-kann-man-vom-Küssen-schwanger-werden“ Oliver Kaulfuß persönlich. Morgen würde ich mich dafür hassen, aber heute fühlte ich nur diesen weichen, anschmiegsamen, zierlichen Körper, atmete den Duft, der mir regelmäßig eine Gänsehaut bescherte und sah in zwei Augen, die in der Dunkelheit wie Bergkristalle schimmerten.

„Aber ich kann nicht...“, protestierte Olli, ließ sich dann aber doch ohne großen Widerstand auf mich ziehen und kuschelte seinen Kopf glücklich, aber tierisch nervös in meine Halsbeuge.

„Sssssscht“, wisperte ich an seinem Haar. „Du brauchst keine Angst haben. Ich tu dir nichts, und wenn du willst, kannst du sogar deine Boxer anlassen.“ Für mich wäre es völlig egal gewesen, denn auch so spürte ich seine Erregung jetzt direkt an meiner und die winzige Lage Stoff störte mich kein bisschen.

„Aber es ist schöner ohne, stimmt’s?“, hörte ich Olli an meiner Schulter nuscheln und nickte nur leicht. Ich wollte ihn noch immer zu nichts drängen oder überreden, sondern ihm ganz allein die Entscheidung überlassen. Er schien eine Weile zu überlegen, aber dann spürte ich, wie er sich selbst aus dem engen Gefängnis befreite. Ich öffnete meine Beine ein wenig und ließ ihn dazwischen rutschen, so dass der Kontakt zwischen uns noch ein bisschen enger und intensiver wurde.

„Darf ich dich auch noch mal küssen?“, zitterte mir seine Stimme ins Ohr und ich war nahe dran, mit einem unqualifizierten Kichern alles zu Nichte zu machen.

„Du kannst mich so oft und so lange küssen, wie du willst, Olli“, schmunzelte ich dann doch nur und küsste diesen unbegreiflichen Typen ganz zart aufs Ohr.

Es dauerte dann noch ein paar heftige und unglaublich erotische Küsse lang, bis wir zusammen so halbwegs den richtigen Rhythmus fanden und wir nur durch die Bewegung und Reibung unserer Körper zum Orgasmus kamen.

Glücklicherweise hatte Oma sogar an ein paar Papiertaschentücher gedacht und kaum hatte ich mich und das Zauberwesen auf mir notdürftig gereinigt, hörte ich auch schon ein entspanntes Atmen. Oliver schlief tief und fest und in meinen Armen.


Daniel trank noch den Rest aus der Wasserflasche, räumte das Werkzeug ordentlich zusammen auf einen Haufen, schmiss sich sein T-Shirt achtlos über die Schulter und kletterte vom Baum.

„Gleich morgen früh werd ich erst mal zum Baumarkt fahren, Dachpappeschindeln und noch ein paar Bretter fürs Dach besorgen“, nahm er sich in Gedanken vor, als er zufrieden mit sich und seinem Tagwerk zurück zum Haus schlenderte. Zwar hatte sich ihm der Weg in der Gegenwart, den seine Oma vorausgesagt hatte, wenn er sich nur intensiv genug mit der Vergangenheit beschäftigte, noch immer nicht eröffnet, aber zumindest war ihm der Spruch von Kiky immer wieder in den Sinn gekommen, je mehr Kleinigkeiten von damals wieder in sein Bewusstsein gelangten. Olivers Zärtlichkeit im Umgang mit ihm, seine gefühlvolle Art und nicht zuletzt seine immer wiederkehrende körperliche Erregung, wenn sie sich näher gekommen waren, hätten ihm eigentlich schon damals zu denken geben müssen. Vielleicht war er einfach zu jung gewesen, um es zu merken. Er hatte Ollis Beteuerungen, er sei nicht schwul, immer geglaubt und seine Anhänglichkeit, sein Kuschelbedürfnis und seine Suche nach Nähe immer darauf geschoben, dass er so etwas wie Liebe noch nie von seinen Eltern und auch von sonst Keinem bekommen hatte. Dazu kam in seinen Augen einfach die pubertäre Neugier auf die eigene Sexualität. Nie im Leben wäre Daniel damals darauf gekommen, dass sich Olli vielleicht in ihn verliebt hatte. Heute allerdings, mit zehn Jahren Abstand und mehr Lebenserfahrung, zweifelte er an seinen Ansichten. Vielleicht hatte Olli nur darauf gewartet, dass er ihn einfach in den Arm nahm und ihm sagte, wie sehr er ihn mochte und wie sehr er ihn vermisste, auch wenn sie nur ein paar Stunden getrennt waren. Vielleicht wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn ihm die Erkenntnis, dass er Oliver wirklich liebte, schon ein paar Wochen eher gekommen wäre. Vielleicht wäre Olli heute nicht Pilot und er nicht Steward, aber sie wären glücklich miteinander. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Vielleicht...


Zur gleichen Zeit, als Daniel sich nachdenklich unter die Dusche stellte, schloss Oliver ein paar Kilometer entfernt im nächtlichen Hamburg die Tür zu seiner persönlichen Hölle auf. Vor ein paar Stunden war er sicher wieder in Frankfurt gelandet und die drei Tage, die ihm jetzt als Freizeit zur Verfügung stehen würden, ließen sich einfach nicht vermeiden. Trotz Nachfrage gab es keinen erkrankten Kollegen, für den er einspringen könnte und so biss er in den sauren Apfel und fuhr die vielen Kilometer nach Hause.

Seine Frau hatte die mehr als 200 Quadratmeter große Wohnung über den internen Carrierservice von Airbus besorgen lassen und auch die Einrichtung hatte sie anderen Menschen überlassen. Es war geschmackvoll, keine Frage, und hatte sicher auch eine Menge Geld gekostet, aber es hatte auch nichts Menschliches. Die Wärme und Geborgenheit, die man normalerweise verspüren sollte, wenn man nach einer langen Reise nach Hause kommt, gab es eben für kein Geld der Welt zu kaufen. Eins jedoch fiel Oliver sofort auf, als er sich die Schuhe von den müden Füßen streifte. Es roch... Und es roch nicht nach neuen Möbeln oder dem schweren Parfüm seiner Frau, sondern es roch mal wieder eindeutig männlich herb.

„Na guck mal einer an, wen haben wir denn da?“ Oliver brauchte sich nicht umzudrehen, um schon an der sarkastisch-hämischen Stimme seine Frau Juliette zu erkennen.

„Guten Abend“, würgte er trocken hervor. „Komm ich ungelegen oder soll ich noch ein paar Stunden verschwinden, bis dein Gast wieder weg ist?“ Oliver hatte die Worte noch nicht richtig ausgesprochen, als Juliette ausholte und ihm mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Erstarrt und mit brennender Wange wich er zurück.

„Halt dein erbärmliches Maul“, schrie sie. „Wenn du nicht so ein nichtsnutziger Versager wärst, dann hätte ich es gar nicht nötig, mir anderweitig Befriedigung zu verschaffen. Also beschwer dich nicht und sieh lieber zu, dass du dich unsichtbar machst, sonst krieg ich noch das Kotzen heute Nacht.“ Juliette keifte, ihre Tonlage wurde immer höher und ihr Gesicht verzog sich angeekelt. Wie ein getretener Hund wagte Oliver keinen Widerspruch und schlich stattdessen in das kleine Zimmer, das Juliette ihm zugewiesen hatte, denn ein gemeinsames Schlafzimmer, ein gemeinsames Bett, war schon seit Jahren nicht mehr drin.

Ganz leise schlug die Tür hinter ihm zu und wieder war Oliver allein. Sein kleines Reich war das einzige Zimmer in der ganzen Wohnung, um das sich kein Maler, kein Teppichleger, kein Elektriker und auch kein Innenarchitekt gekümmert hatte. Im Schweiße seines Angesichts hatte es Olli ganz allein an seinen wenigen freien Tagen tapeziert und eingerichtet. Wenigstens sein Gehalt bei der Air France und auch jetzt bei der Lufthansa hatte ihm Juliette gelassen, wenn sie ihm auch sonst alles genommen hatte. Sein Vertrauen in andere Menschen, seine Würde, seinen Willen und selbst die paar wenigen Fotos von seinen Eltern hatte sie bei einem ihrer Tobsuchtsanfälle rücksichtslos in winzige Schnipsel zerrissen. Er wollte nicht mehr über all das nachdenken, über all die Erniedrigungen, die er in den Jahren seiner Ehe ertragen musste, über all die Schläge, die er schon eingesteckt hatte, ohne sich dagegen zu wehren, und über die zwei gegensätzlichen Gesichter der Juliette Besson. Olli kuschelte sich tief unter seine Decke und dachte an Daniel, bis ihm die Augen vor Erschöpfung zufielen.

Aber wie so oft in den letzten Nächten drehten sich seine Gedanken nicht nur im Wachzustand immer wieder um den farbigen Freund von damals, sondern Daniel machte sich zunehmend auch in seinen Träumen breit und Olli erlebte tief im Unterbewusstsein jede Berührung und jeden Kuss noch einmal, als wäre es erst gestern gewesen.


„Guten Morgen, Schlafmütze“, haucht mir Daniel ins Ohr und streicht zärtlich ein paar Haare aus meinem Gesicht. „Na, gut geschlafen?“ Vorsichtig strecke ich mich, nur um mich gleich wieder ganz eng in seinen Arm zu kuscheln. Es fühlt sich einfach verdammt gut an, neben Daniel einzuschlafen und auch wieder aufzuwachen. Wie von selbst wandern meine Fingerspitzen über seine haselnussbraune Haut und lösen damit sofort eine Mega-Gänsepelle aus. Es sieht traumhaft aus, wenn sich die kleinen hellen Härchen wie in Wellen aufrichten und wieder hinlegen und das alles nur, weil ich sie dazu animiere.

„Joa“, gähne ich mir einen zurecht. „Ich glaub, ich hab nie besser geschlafen und du bist wirklich ein sehr gemütliches Kopfkissen, Dan.“ Der Brustkorb unter mir schwankt, als Daniel lacht und mir einen winzigen Kuss aufs Haar drückt. Es fühlt sich so gut an, zum Teufel, genau wie alles, was ich bis jetzt mit ihm erlebt hab, auch wenn ich es selbst immer weniger begreife. Es ist toll und ich liebe es, wenn er mir sanft über den Rücken streichelt, so wie er es im Moment tut.

„Krieg ich vielleicht sogar noch einen Kuss?“, höre ich mich selber fragen und bin schon ziemlich erschrocken darüber, wie viel Eigenleben meine Zunge so entwickelt. Ohne Rücksprache mit mir hat sie die Worte einfach so nach draußen purzeln lassen und Dan hört gar nicht mehr auf mit Kichern.

„Frag doch nicht immer, Hasenfuß, sondern tu’s einfach. Ich sag dir dann schon, wenn es mir zu viel wird.“ Und ich tue es wirklich einfach, rutsche noch ein paar Zentimeter weiter nach oben und schon haben sich unsere Lippen wieder gefunden wie zwei Magnete, die man nur etwas näher zusammenbringen muss, damit sie sich, wie von Geisterhand geführt, magisch anziehen. Ich bin sogar mutig genug, mit meiner Zunge immer wieder bei ihm anzustupsen, bis er mir den Zugang in seinen Mund gewährt und zärtlich mit mir spielt. Immer wieder lösen wir uns kurz voneinander, aber keiner von uns Beiden scheint den Willen zu haben, diese kleinen Unterbrechungen länger als ein paar Sekunden dauern zu lassen. Daniel hat eine begnadete Zunge. Wenn er meine umkreist, ist das schon der totale Wahnsinn, aber jetzt fährt er auch noch mit der Spitze direkt an der Innenseite meiner Oberlippe entlang und das bringt mich echt fast um den Verstand. Wie macht der das nur?

Möglichst unauffällig muss ich mich jetzt gleich erst mal zurecht ruckeln, denn wie immer bleiben auch diese Küsse nicht ohne Folgen und eine große Portion Blut sucht sich gerade ungebeten den Weg nach Süden. Daniel stöhnt auch immer wieder in diesen Kuss, kneift die Augen zusammen. Also muss es ihm wohl auch wieder ziemlich gut gefallen, was wir hier so tun. Ich trau mich auch gar nicht, auch nur einen Blick an seinem Körper entlang wandern zu lassen. Er ist immer noch komplett nackt, genau wie ich, und weil es auch die ganze Nacht über unerträglich warm war, sind unsere Decken irgendwie mit unbekanntem Ziel verschwunden. Es wär also schon ziemlich peinlich, wenn ich mich allein vom Angucken irgendwo an seiner Hüfte entladen würde, denn ich hab nicht mal Shorts an, die es zur Not aufhalten würden. Mist aber auch, und plötzlich dringt auch noch ein eigenartig schmatzendes Geräusch an mein Ohr. Der wird doch jetzt nicht wirklich...?

Vorsichtig löse ich mich von Daniels Lippen und küsse mich am Kieferknochen entlang, über den Hals bis zum Schlüsselbein vor. Ich muss das jetzt sehen! Wie zur Entschuldigung spielen meine Finger mit seinen Brustwarzen und zeichnen immer wieder kleine Kreise auf seinem Bauch. Und während er mich noch immer mit dem linken Arm fest umklammert hält, hat seine rechte Hand bereits das Ziel gefunden. Er keucht auch immer heftiger und sein Herz rast wie ein Turbo, während sein Glied immer wieder in seiner Faust verschwindet. Ich schlucke trocken, aber ich kann meine Augen einfach nicht losreißen. Es sieht einfach atemberaubend... wahnsinnig... gigantisch... phänomenal... geil aus, wie er da so hingegossen liegt und sich selbst immer weiter erregt.

Ein winziger Tropfen an der Spitze glitzert im Licht der aufgehenden Sonne und wie ferngesteuert wandert mein Zeigefinger genau darauf zu. Ich soll nicht immer fragen, hatte Daniel selber gesagt, sondern es einfach tun. Und mein Finger fragt auch nicht mehr, sondern berührt einfach den Tropfen und das winzige Loch, aus dem er gekommen war. Wie in Trance nehme ich wahr, wie ich ihn darüber kreisen lasse, die Flüssigkeit sanft verteile und damit den Körper unter mir total zum Zittern bringe. Meine eigene schmerzende Erregung habe ich längst völlig vergessen, denn alles, was im Augenblick zählt, ist Daniel.

Immer mehr Tropfen drängen nach draußen und inzwischen habe ich sogar noch zwei Finger dazugenommen, spiele mit seiner Eichel und entlocke ihm damit Töne, die ich noch nie von ihm gehört habe. Und ich genieße es total, dass ich es bin, der ihn so dermaßen erregt.

Mein Herz allerdings setzt fast einen Takt lang aus und schlägt mit doppelter Geschwindigkeit weiter, als er seine eigene Hand löst und stattdessen meine um sein Glied legt und seine nur oben drauf, um mir die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen oder sie am Flüchten zu hindern.

Und tatsächlich denke ich eine Nanosekunde lang tatsächlich darüber nach, sie einfach wieder weg zu ziehen, denn einen anderen Kerl mit der Hand zu befriedigen, war für mich bislang einfach unvorstellbar und sollte eigentlich auch irgendwie Ekel oder Ablehnung hervorrufen. Aber das tut es nicht. Ganz im Gegenteil. Es fühlt sich gut an. ER fühlt sich gut an. Heiß und samtig und er pulst in meiner Hand. Einfach irre.

Ich lass mich auch gern von Daniel führen, der meine Faust jetzt immer schneller auf und ab schiebt und mich am Ende sogar ganz alleine machen lässt. Er stöhnt meinen Namen, keucht und seine freie Hand sucht an der Holzwand neben sich Halt. Sein Körper zuckt, verspannt sich total und plötzlich schießt weißer Glibber auf mich zu. Immer und immer wieder, wie in kleinen Schüben, entlädt er sich in meiner Hand und auf seinem Bauch, bis er schließlich aufhört zu zucken und ich in meiner Handfläche spüren kann, wie das Blut entweicht, seine Männlichkeit immer kleiner wird. Es ist nicht zu fassen. Ich, Oliver Kaulfuß, hab gerade eben diesen Supertypen neben mir bis zum Orgasmus getrieben. Ehrlich, ich bin total sprachlos und Daniel nutzt diese Sprachlosigkeit auch schamlos aus, um mir einen weiteren Kuss auf die Lippen zu drücken.

„Das war einfach abartig gut, Olli, und das Schärfste, was ich je erlebt hab“, nuschelt er noch immer atemlos an meinen Lippen. „Du bist echt ein Naturtalent, aber was machen wir jetzt mit dir?“

„Öhm, vielleicht erst mal sauber“, erwidere ich erschrocken über den animalischen Blick, den Dan bei diesen Worten drauf hat, und zupfe mir ein Taschentuch aus der Packung. Langsam wische ich mir die Finger und Daniels Bauch ab.

„An was... hattest du denn so gedacht?“, versuche ich, dann doch neugierig geworden, den Faden wieder aufzunehmen. Daniel küsst mich erneut, aber nicht so heftig wie vorhin, sondern er spielt nur mit meinen Lippen, liebkost sie sanft und behutsam, und sofort schmelze ich wieder dahin, als wäre ich aus köstlichem Vanilleeis.

„Vertraust du mir?“, fragt er mich und langsam krieg ich es doch mit der Angst, weil ich nicht weiß, was er mit mir vorhat. Er scheint das zu bemerken, denn ohne eine Antwort von mir abzuwarten, schiebt er noch ein leises „Keine Angst, ich will nicht mit dir schlafen, aber ich will, dass du mindestens genauso erledigt und glücklich bist wie ich, wenn ich mit dir fertig bin“ hinterher. Und bei diesen Worten spür ich sie auch wieder. Meine eigene Erregung, die sich noch immer hammerhart an Daniels Seite drückt und einfach keine Ruhe geben will.

„Okay“, hauche ich ihm entgegen. „Aber Daniel... sei bitte vorsichtig mit mir, ja?“ Er küsst mich wieder und dreht mich dabei auf den Rücken.

„Mach einfach die Augen zu und versuch, dich zu entspannen“, schnurrt er in mein Ohr und löst damit ein unbekannt wohliges Gefühl in mir aus, so dass ich mich tatsächlich einfach fallen lassen kann. Ich spüre Daniels Zunge auf der empfindlichen Haut hinter meinem Ohrläppchen, wie sie dort kleine Berührungen setzt und dann eine feucht-heiße Spur an meinem Hals entlang hinterlässt. Ich muss mich irgendwo festhalten, schiebe meine Finger also instinktiv in die schwarzen, drahtigen Haare vor mir. Wenn man noch nie jemanden verführt hat und noch nie verführt wurde, ist es gar nicht so einfach, das Richtige zu tun, aber Daniel schnurrt immer noch und dieses Geräusch beruhigt mich irgendwie. Langsam werde ich auch lockerer und als er bei meinen Brustwarzen angekommen ist, zärtlich hineinbeißt und hinterher tröstend darüber leckt, kraule ich ihn schon im Nacken. Es ist komisch. Eigentlich würde ich gern genau solche Töne von mir geben, wie ich sie vorhin von Dan gehört habe, aber irgendwie komme ich mir auch total doof vor, so einfach alle Hemmungen sausen zu lassen. Mit geschlossenen Lippen brummele ich also immer nur vor mich hin, und es klingt eher wie ein schwer leidender Hund, als nach abartig erregtem Menschen.

Irgendwann fällt das auch Daniel auf. Er kniet schon über mir und statt immer weiter nach unten, wie bislang, küsst er sich auf dem kürzesten Weg wieder nach oben.

„Hey“, flüstert er und bedeckt zwischen den Worten mein ganzes Gesicht mit winzigen Küssen, „lass es einfach raus, wenn es dich anmacht, sonst erstickst du noch, und das wäre echt schade.“

„Aber es ist mir so peinlich, Dan“, hauche ich zurück. Daniel giggelt ganz leise.

„Das muss es aber nicht, denn eigentlich macht es die ganze Sache noch viel schöner und mir zeigst du damit, dass es dir gefällt, okay?“ Ich nicke und kriege dafür wieder einen samtweichen Kuss auf die Lippen, bevor Dans Kopf wieder aus meinem Sichtfeld verschwindet. Er hat meinen Bauchnabel entdeckt, den ich selber eigentlich gar nicht so schön finde, leckt mit seiner Zunge darin herum und ich stöhne schon mal probehalber und noch ziemlich unbeholfen. Hoffentlich denkt er jetzt nicht, er hat mir weh getan, weil das sich eben wohl so angehört haben muss. Aber Daniel lässt sich gar nicht weiter aus der Ruhe bringen und zusätzlich zu seiner Zunge und seinen Lippen, bringt er jetzt auch noch seine Hände mit ins Spiel. Ich weiß schon gar nicht mehr, an welcher Stelle ich zuerst fühlen soll, denn es kribbelt einfach überall und JA... auch wenn ich bestimmt nicht schwul bin und es auch niemals werden will, aber es hat schon was, mit Daniel so rumzumachen, zumindest...

„Aaaaaaaaaaaaahaha Daniel. Was... was... was machst du da?“, schreie ich atemlos keuchend auf. Ich sehe nicht, was er tut, obwohl ich mich schon auf die Unterarme gerappelt habe, aber ich kann fühlen, dass es seine Lippen und seine Zunge sind, die sich gerade sehr intensiv mit meiner Männlichkeit beschäftigen. Es ist wie Strom, der einem mit hunderttausend Volt durch den Körper jagt und der mir kurzzeitig die Luft zum Atmen nimmt. Es prickelt so hammermäßig, dass ich vor lauter Lust die Zehen einrolle und mein Kopf haltlos in den Nacken kippt.

„Aaaaaaaaaaaaaaaaah“, stöhne ich schon wieder langgezogen und nun überhaupt nicht mehr leise. Daniel turnt das nur noch mehr an. Irgendwie hat er eine Stelle gefunden, wo ich nur noch Sterne tanzen sehe, wenn er mit der Zungenspitze darauf herumkitzelt, und meine Zuckungen alles andere als koordiniert sind. Es ist, als würde ich jeden Moment explodieren. Daniels Hände halten mich an der Hüfte auf der Matratze fest, als ich zu zittern beginne, als hätte ich einen mörderischen Schüttelfrost, und ich flehe schon fast um Erlösung, denn das, was er mit mir macht, lässt mich einfach verbrennen. Immer wieder gleitet mein Penis in seinen Mund, spielen seine Lippen mit meiner Eichel und stupst seine Zunge in das kleine Loch an der Spitze.

„Ich kann nicht mehr... ich kann nicht mehr... ich kann nicht mehr“, japse ich und erst jetzt hat Daniel ein Einsehen mit mir, denke ich zumindest, denn sein Mund lässt von mir ab. Er hockt auf meinen Oberschenkeln und ich kann mein Glied sehen, wie es feuerrot und prall geschwollen auf und ab zuckt. Behutsam streicht Daniel mit den Fingern darüber, bevor er eine Faust bildet und sie genauso bewegt, wie ich es vorhin bei ihm getan habe. Er sieht mir dabei in die Augen und meine Atmung ist inzwischen so hektisch, dass zwischen zwei Atemzügen kein Platz mehr ist für irgendwelche Töne. Und dann spüre ich es. Es ist wie eine Welle, die man draußen am Horizont kommen sieht. Ganz klein noch und fast nicht zu sehen. Aber sie kommt schnell näher. Mit rasender Geschwindigkeit baut sie sich auf und stürzt mit Urgewalt über mir zusammen.

„Verdammt, Danieeeeeeeeeeeeeel“, schreie ich wie von Sinnen, fühle, wie sich die heiße Flüssigkeit aus mir ergießt, sich die Bauchdecke bei jedem Schub zusammenzieht und sich seine Fingernägel in mein Fleisch bohren...


Oliver schreckte aus dem Tiefschlaf hoch. Irgendetwas in seinem Traum stimmte nicht. „Seit wann hat Daniel so lange Nägel, die richtig weh tun können?“, überlegte er kurz. „Und warum fühl ich den Schmerz so real?“ Langsam öffnete er seine Augen, blinzelte in die Dunkelheit und nahm nur schemenhaft die Gestalt wahr, die auf seinen Beinen saß und ihre roten künstlichen Krallen tief in seiner weißen Haut vergrub.

„WER IST DANIEL?“ Juliettes beißende Stimme durchschnitt die Stille und sie betonte jedes Wort, als hätte sie es mit einem geistig gestörten Dreijährigen zu tun. Oliver war sofort hellwach.

„Erstens, Juliette: Geh runter von mir! Zweitens: Wer Daniel ist, geht dich gar nichts an, und drittens: Verschwinde aus meinem Zimmer“, erwiderte er gespielt gelassen, um seine cholerische Frau nicht noch zusätzlich zu reizen. Im Moment konnte er sich zwar keinen Reim darauf machen, was überhaupt vor sich ging und woher Juliette von Daniel wusste, aber er hatte auch keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung mitten in der Nacht. Juliette schien auch leicht angetrunken zu sein und die Erfahrung lehrte ihn, jetzt nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Zunächst ging seine Strategie auch wunderbar auf, denn die schwarzhaarige Lady erhob sich widerspruchslos, so dass sich Olli wieder zudecken und auf den Bauch drehen konnte. Ein verhängnisvoller Fehler, denn nur wenige Augenblicke später riss Juliette Besson, die nach außen hin immer die freundliche, aber kühl agierende Frau an der Spitze des Airbus-Konzerns gab, ihrem Mann die Decke vom Körper und drosch mit Olivers eigenem Ledergürtel in der Hand und unbändiger Wut im Bauch auf ihn ein.

„Du perverse Drecksau, du widerliche Schwuchtel. Du bist so krank. So eine elende Ratte“, schrie sie und Oliver krümmte sich unter ihren Schlägen, statt sich zur Wehr zu setzen.

„Daniel ist nur ein Freund“, wimmerte er, die Arme über den Kopf haltend, um wenigstens sein Gesicht vor Verletzungen zu schützen. Sich gegen die Attentate seiner Frau zu wehren, hatte er längst aufgegeben, denn gewöhnlich wurde es dadurch nur schlimmer. Er igelte sich ein und ertrug, was sie ihm antat.

„Ja klar“, keifte Juliette zurück und schlug wieder und wieder zu, bis die Haut auf Olivers Rücken nichts mehr entgegenzusetzen hatte und in langen Streifen blutig aufsprang. „Ein Freund ist er, aber einer, der dir den Schwanz lutscht und dich in den Arsch fickt.“ Sie wurde immer lauter und ihre Stimme schien sich schon fast zu überschlagen. „Kein Wunder, dass ich schon jahrelang vergeblich auf ein Kind von dir warte, du abartige Missgeburt, und jetzt hier rumflennen, weil ich dein kleines dreckiges Geheimnis entdeckt hab.“ Oliver gab keinen Ton mehr von sich, nicht einmal Tränen sickerten aus seinen Augen, und nur die Bewegung seines Brustkorbs zeigte an, dass er noch lebte. Achtlos schmiss Juliette den Gürtel auf seinen geschundenen Rücken, als sie die Kraft zum Weiterschlagen verließ.

„Morgen früh bist du verschwunden“, waren ihre letzten eiskalten Worte, als sie endlich Olivers Zimmer verließ und sich völlig emotionslos im Badezimmer das Blut von den Händen wusch, als wenn es das Normalste von der Welt wäre, seinen eigenen Mann halb tot zu schlagen.

Erst jetzt registrierte Oliver, was gerade geschehen war und spürte sein warmes Blut über den Rücken laufen. Es schmerzte und brannte, aber als ginge es um sein Leben, biss er die Zähne zusammen. Er musste hier weg. Schnell und weit weg und nie mehr wiederkommen. Vorsichtig erhob er sich, zog ein altes T-Shirt über die Wunden und ein Hemd oben drüber und begann zu packen. Viele persönliche Dinge hatte er ohnehin nicht mehr, so dass alle seine Habseligkeiten in seinem großen Rollkoffer und der Reisetasche Platz fanden. Schwankend und schon leicht benommen verließ er das Haus, vor dem die gerufene Taxe schon auf ihn wartete, denn in seinem Zustand noch mit dem eigenen Auto ins Krankenhaus zu fahren, hielt er für sträflich leichtsinnig.

Behutsam ließ er sich auf den Rücksitz gleiten und bemühte sich, mit dem Rücken nirgendwo anzustoßen. Ihm war übel, speiübel, aber bis in die Klinik würde er es mit Sicherheit noch schaffen.

„Wo soll’s denn hingehen, min Jung?“, hörte er den Taxifahrer fragen.

„Notaufnahme, Uniklinik Eppendorf, und fahren Sie bitte vorsichtig“, hauchte er, „und haben Sie vielleicht einen Zettel und einen Stift für mich?“ Der Fahrer drehte sich herum und gab ihm die gewünschten Dinge.

„Mein Gott sind Sie blass, junger Mann“, bemerkte er, verkniff sich aber die Frage nach der Ursache, da Oliver bereits sein Handy gegriffen hatte und nervös in seinem Telefonbuch blätterte.

„Ja, hier ist Captain Besson. Ich brauch ganz dringend die Handynummer von einem Maitré de Cabine, und zwar Sommer, Daniel Sommer.“ Seine Stimme war kaum noch zu hören und hatte jegliche Kraft verloren. „Ich weiß, dass Sie die persönlichen Daten der Crewmitglieder nicht herausgeben dürfen, verdammt, aber das hier ist ein absoluter Notfall und ich brauch diese Nummer... jetzt sofort... und ja, ich nehm es auf meine Kappe, wenn Sie Ärger bekommen sollten.“ Oliver hatte versucht, etwas lauter zu reden, um seinem Anliegen noch etwas mehr Gewicht zu verleihen und bekam auch prompt die Nummer, die er zittrig auf das Stück Papier schrieb, das ihm der Taxifahrer gegeben hatte. Diese Aktion jedoch hatte ihm die letzten Reserven geraubt und kaum hatte er aufgelegt, sah der Fahrer seinen Gast im Rückspiegel bewusstlos zusammensinken. Panisch fuhr er rechts ran und öffnete die Beifahrertür.

„Hey, Captain“, klopfte er Oliver auf die Wange, „nicht schlapp machen. Wir sind ja gleich da.“ Als der dunkelblonde Mann nicht reagierte griff er nach dem Funkgerät.

„Zentrale bitte kommen, Zentrale... ich hab einen Notfall.“

„Ja, Kurtchen, immer mit der Ruhe. Was gibt’s denn so Dringendes?“, schnarrte es aus dem Lautsprecher.

„Ich steh noch zwei Ecken von der Uniklinik entfernt und mir ist grad mein Fahrgast auf dem Rücksitz zusammengeklappt. Sein ganzes Hemd ist hinten voller Blut. Könnt ihr mal dort in der Notaufnahme Bescheid geben. Ich bin gleich da und brauch Hilfe beim Rausheben.“ Die Taxizentrale bestätigte kurz die Angaben und schon sprang der Motor wieder an, quietschten Reifen und keine fünf Minuten später fuhr der Wagen auf die Rampe der Notaufnahme.

„Bleiben Sie bitte noch so lange, bis wir wissen, wer das hier ist und warum er so stark blutet“, bat eine der Schwestern den Taxifahrer, der flattrig seine Schirmmütze zwischen den Fingern drehte. „Und Ihre Personalien brauch ich dann noch und wo Sie ihn aufgelesen haben.“

„Er hat auch vorhin noch mit jemandem telefoniert und sich eine Nummer geben lassen“, erklärte Taxi-Kurtchen, als alle Formalitäten erledigt waren, und gab der Schwester den Zettel, den er vom Rücksitz aufgelesen hatte. „Er hat gemeint, dass er ganz dringend die Nummer von einem Daniel Sommer brauch und das es ein Notfall ist.“ Er tippte auf den Zettel. „Das hat er dann aufgeschrieben, als er aufgelegt hatte.“ Die Schwester schnappte sich einen Stift und schrieb den genannten Namen unter die Nummer.

„Schön, das ist ja schon mal ein Anhaltspunkt“, bedankte sie sich, schenkte dem Taxifahrer einen Kaffee ein und verfrachtete ihn zunächst ins Wartezimmer, bevor sie selbst den Schockraum betrat.

„Na, wie sieht’s aus?“ Fragend sah sie den behandelnden Arzt an.

„Ich weiß nicht, wer ihm das angetan hat, aber er hat jede Menge Blut verloren und von Bewusstsein kann noch keine Rede sein. Er lebt. Das ist aber auch alles.“ Er zog das Tuch von Olivers Rücken und die Schwester erschrak.

„Oh Gott, das ist ja furchtbar.“ Vorsichtig berührte sie eine der wenigen heilen Stellen. „Sieht aus wie mit einem Gürtel oder einer Peitsche verprügelt. Ich ruf die Kripo an und mach ein paar Fotos für die Krankenakte, bevor ihr ihn versorgt, okay?“

„Hmm“, stimmte der junge Arzt zu. „Wo hat der Taxifahrer ihn denn aufgenommen?“

„Direkt vor seiner Wohnung, wenn ich es richtig gesehen hab. Ziemlich nobles Viertel. Theodorstraße, draußen in Bahrenfeld. Einen Überfall schließ ich da mal aus und er war ja auch komplett angezogen, hatte auch noch alles bei sich. Großes Gepäck, Führerschein, Kreditkarten, Geld jede Menge, Handy... À propos Handy. Der Taxifahrer hat ein Telefonat belauscht, das er geführt hat, bevor es ihn umgehauen hat, und da hat er sich die Nummer von einem Mann geben lassen. Er hat sie auch noch aufgeschrieben und der Fahrer wusste sogar den Namen noch.“

„Also ich bin kein Kriminalist“, flüsterte der Assistenzarzt, „aber wenn du mich fragst, dann sieht das hier ganz nach Gewalt in der Ehe aus oder er hatte ’ne unfeine Auseinandersetzung mit seinem Nebenbuhler. Die Wunden sind ganz frisch und wenn er unmittelbar vor seiner Wohnung ins Taxi gestiegen ist, kann er sich die Verletzungen ja nur dort geholt haben.“ Knapp eine Stunde später hatte sich diese Vermutung auch bestätigt. Zwei Kriminalbeamte hatten bei Juliette Besson geklingelt und wollten sie zunächst nur über den Verbleib ihres Mannes in Kenntnis setzen, erlebten jedoch eine elegante, aber völlig aufgebrachte, hysterisch keifende Frau, die ohne Zögern zugab, ihren Mann mit einem Gürtel verprügelt zu haben und ihn erneut im übelsten Gassenjargon beschimpfte.

„Wir sollten die Nummer anrufen, die er noch kurz vor seinem Zusammenbruch aufgeschrieben hat, denn offensichtlich hat er, außer dieser affektierten Ziege, keine Verwandten mehr, und dieser Mensch hier war ihm wohl in dieser Situation am Wichtigsten“, entschieden die Polizisten, als sie wieder im Krankenhaus eintrafen und Oliver das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt hatte. Sein Kollege schaute auf die Uhr.

„Fünf Uhr morgens. Zu früh für einen Schockanruf?“ Zweifelnd sah er in die Runde.

„Wenn Sie es nicht tun, tu ich es!“, warf die Krankenschwester ein, die den Zettel schon in der Hand hielt. Der Beamte nahm den Hörer in die Hand.

„Nein, nein, junge Frau, das mach ich schon.“ Langsam wählte er die Nummer und legte sich in Gedanken bereits die Worte zurecht, die er demjenigen, der da hoffentlich gleich ran gehen würde, sagen wollte.

„Ja, Daniel Sommer“, meldete sich da auch schon eine verschlafene Stimme am anderen Ende.

„Hauptkommissar Christiansen, Kripo Hamburg“, stellte sich der Beamte kurz vor. „Sie entschuldigen bitte die frühe Störung. Herr Sommer, kennen Sie einen...“, er sah kurz auf seine Unterlagen, „... ähm... Oliver Besson aus Hamburg?“ Daniel war verwirrt und rieb sich müde die Augen.

„Ja, sicher kenn ich Oliver, aber... Kripo? Was ist denn passiert um Gottes Willen?“ Langsam erwachten seine trägen Gehirnzellen.

„Darf ich fragen, in welchem Verhältnis Sie zu Herrn Besson stehen?“, ertönte es aus dem Hörer und Daniel fühlte sich schon langsam wie in einem schlechten Film. Er zögerte kurz.

„Na ja, also Oliver und ich, wir sind Kollegen und befreundet.“

„Wie sehr befreundet?“, bohrte die Stimme am anderen Ende nach. Daniel fühlte sich in die Enge getrieben. Irgendwas war Oliver zugestoßen, das konnte er regelrecht fühlen, und die Pfefferminzprinzen da in Hamburg würden, und das wusste er nur zu genau, erst mit Informationen rausrücken, wenn er quasi schon halb zur Verwandtschaft gehörte. Er war noch immer sauer auf Oliver. Irgendwie zumindest, aber er würde es sich auch nie verzeihen, wenn er ihn jetzt im Stich lassen würde.

„Er hat kristallblaue Augen und dunkelblonde kurze Haare, alabasterfarbene Haut, ein paar Leberflecken auf dem Bauch, gleich oberhalb vom Nabel, die aussehen wie der Große Wagen, und ein Muttermal auf dem Po. Etwa so groß wie ein 50-Cent-Stück. Seine Eltern sind vor vielen Jahren gestorben, er ist mit einer Frau verheiratet, die Ähnlichkeit mit einer Hexe hat und hat vor ungefähr zehn Jahren mit mir zusammen sein Abi gemacht. Mit 1,0 wohlgemerkt. Reicht das erst mal, um als sehr eng befreundet durchzugehen?“ Der Polizist am Hörer räusperte sich verlegen.

„Ich denke, das geht in Ordnung, Herr Sommer. Sie müssen entschuldigen, dass wir uns dahingehend rechtlich einfach absichern müssen. Aber warum wir eigentlich anrufen... Herr Besson ist vor ein paar Stunden bewusstlos und schwer misshandelt von einem Taxifahrer hier in der Uniklinik abgeliefert worden. Er hat offensichtlich keine Verwandtschaft mehr und er hielt einen Zettel mit Ihrer Telefonnummer in der Hand, als er hier ankam.“ Daniel hatte das Gefühl, in ein abgrundtiefes Loch zu fallen. Ihm wurde schwarz vor den Augen und er hielt sich notdürftig an dem Tisch fest, an dem er, nur mit Shorts bekleidet, stand.

„Was... was ist mit seiner Frau?“, würgte er mühsam hervor.

„Sie hat ihn so zugerichtet und deshalb wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie herkommen könnten. Er wird sicher noch ein paar Tage hier bleiben müssen, aber danach kann und will er vermutlich auch nicht nach Hause zurück, denn er hatte reichlich Gepäck dabei und es wäre gut, wenn Sie sich da schon etwas kümmern könnten.“

„Wo liegt er?“, fragte Daniel geistesgegenwärtig und grabbelte sich Stift und Papier.

„Moment, ich erkundige mich.“ Der Kripobeamte hielt die Sprechmuschel zu und sprach kurz mit einer der Schwestern, bevor er Auskunft gab. „Also, er ist wohl immer noch nicht wieder bei Bewusstsein und wird daher erst mal auf die Intensivstation verlegt, sobald die Ärzte mit der Versorgung der vielen Wunden fertig sind. Sie möchten sich bitte am Empfang melden, wenn Sie da sind, da wird man Ihnen weiterhelfen.“ Daniel hatte sich inzwischen völlig verstört auf sein Bett gesetzt.

„Danke, Herr Christiansen“, war alles, was er noch über die Lippen brachte. „Ich komme, so schnell es geht.“

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