„Passt mir gefälligst mit den Kisten auf!“, hörte ich es von draußen rufen und erkannte die Stimme sofort. Mein Zukünftiger und die Möbelpacker waren inzwischen angekommen um unser ganzes Hab und Gut in das neue Haus zu bringen, welches ich von meinem Großvater geerbt hatte. Es erinnerte mich daran als jemand vor sechs Jahren mit seiner Mutter neben uns eingezogen ist. Damals fragte sie mich ob ich den neuen Nachbarn nicht helfen könne, da meine Mutter und die andere Frau wohl gut befreundet waren. Das war der Tag an dem mein Verlobter und ich uns kennenlernten.

„Ah, hat doch etwas länger gedauert als gedacht?“, fragte ich ihn als dieser auch zur Tür hereinkam. Er gab mir einen Kuss und antwortete leicht genervt: „Der Verkehr war die Hölle. Wir mussten auf halber Strecke einen Umweg fahren, da sich auf unserer eigentlichen Strecke ein Unfall ereignet hatte und wir den Stau umfahren wollten.“ Ich konnte ihn verstehen. Es waren gerade Ferien und wenn sich dann noch ein Unfall ereignete dann konnte es sich nur um Stunden handeln. „Ich hatte dich ja gewarnt in den Ferien umzuziehen, nur du wolltest ja nicht auf mich hören, mein lieber Marc.“, grinste ich ihn an. Im Nachhinein gab er mir Recht und widmete sich wieder den Helfern des Umzugsunternehmens. Ich fing an die Männer nach und nach zu dirigieren, damit alles in den richtigen Räumen untergebracht werden konnte. Langsam aber sicher konnte man sich hier richtig wohnlich fühlen. Am frühen Abend verabschiedeten wir die Arbeiter und bestellten uns eine Pizza um den Tag ausklingen zu lassen.

Wir zogen in ein gemütliches sechs Zimmer Einfamilienhaus am Rande einer Großstadt. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, die durch eine große Schiebetür vom Esszimmer getrennt war, ein Tageslichtbad mit Duschwanne, ein geräumiges Wohnzimmer mit angrenzender Terrasse und einem Hauswirtschaftsraum. Im ersten Stockwerk gab es das Schlafzimmer, ein weiteres Gästezimmer, jeweils ein Büro für Marc und mich und ein weiteres Badezimmer. Hinter unserem Haus gab es einen großen Garten mit einem kleinen Teich und davor eine weitere Terrasse.

Im Großen und Ganzen war ich mit dem Haus mehr als zufrieden, auch wenn ich es unter traurigen Umständen bekam. Mein Großvater starb zwei Monate zuvor an einer schweren Lungenentzündung. Er besaß 3 Häuser und diverse Wohnungen in und um die Großstadt herum. Da Anna und ich die einzigen Nachkommen unseres Vaters waren, dieser aber unauffindbar blieb, erbten wir gleichermaßen. Meine Schwester und ich verkauften das dritte Haus und teilten den Gewinn. Die Wohnungen wurden gerecht aufgeteilt und Anna bezog mit Ehemann Carol und der einjährigen Tochter Emilia das zweite Haus, welches ein paar Straßen von unserem entfernt stand. Ich stellte einen Verwalter für meine Wohnungen ein, da ich mich mit solchen Dingen weniger auskannte, hatte aber immer noch das letzte Wort.

Von dem Gewinn, den mir das dritte Haus eingebracht hatte, eröffnete ich ein Jugendzentrum um Kindern und Jugendlichen helfen zu können. Da war es egal welcher Nationalität oder Sexualität man entsprach. In diesem Jugendzentrum sollte jeder gleich behandelt werden. Das war mir persönlich ein großes Anliegen. Meine Ausbildung zum Sozialpädagogen hatte ich kurz vor dem Tod von Opa erfolgreich abgeschlossen und war Staatlich anerkannt.

Marc und ich ließen uns auf der Couch nieder und genossen unsere Pizza. Wir waren froh, das Gröbste hinter uns zu haben und nur noch die Feinheiten vor uns lagen. So genossen wir den lauen Sommerabend in entspannter Atmosphäre und träumten vor uns hin. Leider musste mein Zukünftiger kurze Zeit später aufs stille Örtchen. Also beschloss ich derweil den Tisch wieder abzuräumen, bis mir ein ohrenbetäubender Schrei aus dem Badezimmer kam. Ich lief schnell dorthin um zu schauen was mein Verlobter da anstellte und musste feststellen dass ich, als ich dort ankam, nasse Füße bekam. „Den Haupthahn, dreh den beschissenen Haupthahn zu!“, schrie mich ein klitschnasser Marc an. Ich musste unweigerlich anfangen zu lachen, rannte aber im selben Moment in den Keller um besagten Hahn zu suchen und zu schließen. Oben wieder angekommen trocknete Marc sich nach seiner unfreiwilligen Dusche ab und fluchte was das Zeug hielt. „Die Leitung ist durch. Das Duschen oder Baden können wir vorerst vergessen. Ich werde morgen früh einen Klempner anrufen, der sich das mal anschaut“, meinte er, leicht säuerlich, als er sich gerade die Haare trocknete. Mir ging ein Licht auf: „Dir ist schon klar, dass wir einen in der Familie haben, oder? Carol arbeitet doch für so eine Firma und kann sich das doch mal angucken. Immerhin besser als wochenlang auf einen Termin zu warten und vor allem kostengünstiger, findest du nicht?“ Ich erntete ein nicken von meinem Liebsten. Gut, unvorhersehbare Probleme musste man in einem Eigenheim mit einkalkulieren, aber es war schon praktisch Handwerker in der Familie zu wissen, vor allem wenn es der Ehemann meiner Schwester war.

Mit diesen Gedanken gingen wir nun langsam aber sicher in unser Bett. Der Tag war anstrengender als wir dachten. Damit hatten wir unsere erste Nacht im Eigenheim. Als wir im Bett lagen erinnerte ich mich an etwas was meine Mutter früher zu mir sagte: „Wenn man dem Glauben schenken möchte, dann wird das wahr was du in der ersten Nacht in deinen eigenen vier Wänden träumst.“ Ich brauchte gar nicht daran zu glauben, da mein Traum schon neben mir am schlafen war.

Außerdem konnte ich mich so oder so nicht mehr daran erinnern was ich geträumt hatte, sondern nur daran, dass ich wach geküsst wurde. „Guten Morgen hübscher Mann“, lächelte Marc mich mit einem verträumten Blick an. „Mhhh... jetzt habe ich Blut geleckt“, kam es von mir und überdeckte meinen Träumer mit Küssen, bis ich in tiefere Regionen tauchte.

Während mein Traum gerade duschen war, holte ich Brötchen und Zeitung vom Bäcker welcher keine fünf Minuten von uns weg war. Ich kam gerade heraus als mir meine Schwester mit Familie entgegenkam. „Guten Morgen, Kaylen“, grüßte sie mich freudestrahlend und nahm mich in den Arm. Nachdem ich auch Carol begrüßte, nahm ich meine Nichte aus dem Kinderwagen raus und auf meinen Arm. „Jedes Mal wenn ich dich sehe bist du ein Stück gewachsen“, belächelte ich Emilia während sie dabei war das Bändchen von meinem Pullover in den Mund zu nehmen um darauf herum zu sabbern. „Wenn du wüsstest. Sie isst mehr als mir lieb ist und das hat sie definitiv vom Papa“, lachte Anna und gab dem stolzen Vater einen Kuss auf die Wange. Dieser grinste von einem Ohr zum anderen. Im gleichen Moment kam mir eine Idee und ich fragte beide ob sie denn nicht Lust hätten mit uns zusammen zu frühstücken. Außerdem bräuchten wir sowieso Carols Hilfe, da bei uns irgendwas mit unserer Leitung nicht in Ordnung sei. Beide freuten sich und stimmten auch gleich zu. Anna huschte noch eben schnell in die Bäckerei, damit wir auch genügend Brötchen hatten. Derweil schrieb ich Marc an, der gerade dabei war den Tisch zu decken und sich auf den spontanen Besuch freute.

Kurze Zeit später saßen wir gemeinsam am Frühstückstisch und genossen die familiäre Stimmung. Emilia saß zwischen Anna und mir auf dem Hochsitz, den Marc noch vorher rausgesucht hatte. „Sieht doch schon recht wohnlich aus, nicht wahr mein Schatz?“, meinte Anna und nahm sich noch eine Tasse Kaffee. Carol nickte stumm, während er auf seinem Lachsbrötchen kaute. „Ja, wohnlich schon, aber wie bereits vorhin erwähnt haben wir Probleme mit unserer Leitung. Wir dachten, vielleicht könnte sich Carol das mal anschauen. Zwar ist nur das obere Badezimmer betroffen, aber nicht dass am Ende doch eine komplett neue Leitung gelegt werden muss. Das würde zwar gerade noch in unser Budget hineinpassen, wären aber wieder unnötige Kosten, die wir anderweitig nutzen könnten“, sagte ich nachdenklich. Carol versprach uns, sich das später mal anzuschauen, um sich ein Urteil darüber bilden zu können. Ich nickte dankbar und wollte gerade noch etwas sagen, als mich Marc von der Seite anstupste: „Hier, schau mal. Da ist ein Artikel über euch in der Zeitung.“

Er gab mir die Zeitung und ich fing an laut vorzulesen: „Die Geschwister und Dr. Anna-Diana und Kaylen Leonard d'Artois, Enkelkinder des vor zwei Monaten verstorbenen Designers Jean-Pierre d'Artios laden am Samstag, den 26.09.2020 zur Eröffnung des Jugendzentrums „Querbeet“ ein. Unter dem Motto „Gemeinsam wachsen“ wollen die Geschwister Kindern und Jugendlichen ein atmosphärisches Umfeld ganz ohne Mobbing und Diskriminierung geben. Der Sozialpädagoge und die Kinder- und Jugendpsychologin sind der festen Ansicht, dass unsere Kinder unter keiner Art der Diskriminierung aufwachsen sollen, egal welche Nationalität und/oder Sexualität diese haben. „Wir möchten der Jugend zeigen, dass es okay ist und zum Leben dazugehört.“, meinte Dr. Anna-Diana. Auf unsere Frage, wie sie gegen Mobbing vorgehen wollen, antwortete Kaylen: „Wir werden eng mit den Schulen zusammenarbeiten und ein Antimobbing Workshop an diesen anbieten. Unterstützung erhalten wir außerdem von der hiesigen Polizei.“ Wir können gespannt sein wie sich das alles noch entwickelt und werden natürlich unsere Leser auf dem Laufenden halten.

Ich gab die Zeitung an Anna weiter und sagte: „Mal schauen ob wir wirklich etwas erreichen können. Ich, für meinen Fall, würde es mir wirklich wünschen.“ Anna legte die Zeitung zusammengefaltet zur Seite und stimmte mir zu. Wie aus dem Nichts fing es neben mir an lautstark zu fiepen. Marc schaute auf sein Handy und sprang genervt auf. „Verdammt, ich hatte völlig vergessen, dass ich Bereitschaftsdienst habe. Sorry Leute, aber ich muss los“, sprachs, gab mir noch einen schnellen Kuss und war danach auch schon verschwunden. Ich hörte noch den Motor von seinem Auto starten, und ihn wegfahren. Wir ließen uns davon nicht beirren und frühstückten in Ruhe zu Ende.

„Ich denke mit dem Haus mache ich später weiter, schließlich rennt es uns ja nicht weg. Außerdem weiß ich nicht wie lange Marc weg sein wird“, sagte ich leicht nachdenklich, während wir nebenbei den Tisch abdeckten. Immer wenn er im Einsatz war, machte ich mir Sorgen, denn bei der Feuerwehr hatte man es immer mit einer gewissen Gefahr zu tun. Anna und Carol halfen mir, während Emilia auf ihrer bunten Decke am spielen war.

„Wann möchtest Du dich eigentlich bei Mama melden?“, fragte mich Anna und stellte die Teller in die Spüle. Carol bekam ganz große Augen, murmelte etwas vom Badezimmer und ließ Anna und mich alleine zurück. Sie wusste ganz genau, dass ich dieses Thema gar nicht mochte und wurde leicht sauer auf sie.

Mein Outing lief damals alles andere als gut. Nach dem ersten Kuss mit Marc, in seinem Zimmer, hatten wir beide ein paar Wochen gebraucht um uns darüber im Klaren zu werden, was da eigentlich zwischen uns war. Vor allem ich hatte am Anfang große Schwierigkeiten damit, da mir alles noch komplett neu war.

Als wir uns dann doch für uns entschieden hatten, wollte ich es meiner Mutter erzählen. Anna wusste zu dem Zeitpunkt schon längst Bescheid, da ich wen zum Reden brauchte, als es noch nicht so ganz klar war. Ich erzählte es meiner Mutter und sie drehte komplett durch, meinte es wäre abnormal so leben zu wollen und würde gegen alles stehen was sie für richtig hält.

Wir hatten uns Tage danach immer noch gestritten und es war auch kein Ende in Sicht. Opa hatte es damals, als er zu Besuch war, mitbekommen. Er versuchter meiner Mutter Vernunft einzureden, aber auch Opa stieß damit auf Granit. Kurzerhand beschloss er mich dann mit zu sich und Oma zu nehmen. Ich hatte lange Zeit gebraucht um darüber hinweg zu kommen und mich, so wie ich nun mal bin, glücklich zu fühlen. Meine Großeltern und auch Marc mit seiner Familie, waren mir dabei eine sehr große Hilfe gewesen, um durch die schwere Zeit zu kommen.

Zwei Jahre nachdem ich zu meinen Großeltern gezogen war, starb meine Großmutter an Herzversagen. Bei ihrer Beerdigung sah ich meine Mutter zwar, ignorierte sie aber komplett. Kurz darauf zogen wir in eine größere Stadt, was für Marc und mich zur Prüfung unserer Beziehung wurde. Da die Entfernung nicht gerade gering war, konnten wir uns nicht mehr so oft sehen, überstanden dies aber dank dem Internet und Videochat. Ein Hoch auf den Erfinder davon.

Seit der Beerdigung hatte ich von Mama weder etwas gesehen noch gehört. Anna erzählte mir ab und an etwas, aber das war auch schon alles.

„Nein und das werde ich auch nicht. Sie soll sich erst einmal bei mir entschuldigen und solange das nicht passiert, werde ich einen Teufel tun und mich bei ihr melden“, entgegnete ich leicht angepisst. Anna wusste genau, dass ich auf dieses Thema sensibel reagierte. Warum sie mich das aus heiterem Himmel fragte, konnte ich nicht verstehen, bis sie es mir schließlich erzählte: „Naja, ich meine in einem halben Jahr wollen Marc und du heiraten und ich dachte vielleicht möchtest du Mama auch dabei haben. So wären nicht nur Carol und ich aus unserer Familie dabei. Oma und Opa erleben den Tag ja leider nicht mehr und mit dem Rest der Familie haben wir ja auch keinen Kontakt, da die meisten einfach schlicht und ergreifend zu weit weg wohnen.“ Da musste ich ihr leider Recht geben. Unsere Verwandten wohnten alle im Ausland, da unser Vater auch kein Deutscher, sondern ein Franzose war. Und soweit wir das wussten hatte unsere Mutter keine Geschwister. „Im Großen und Ganzen sind es bis jetzt nur wir drei, Marcs Familie und Freunde von euch. Und so langsam müsstet ihr euch um die Einladungen kümmern, damit auch alle an dem Tag Zeit haben können“, fuhr sie weiter fort. Und wieder gab ich meiner Schwester Recht, denn ein halbes Jahr würde schnell vorbeigehen.

Anna und ich redeten noch ein wenig über die Hochzeit, als auch Carol wieder aus dem Badezimmer kam um uns von dem zu berichten was er sich angeschaut hatte. „Nun“, fing Carol an, „leider habe ich schlechte Nachrichten. Eure Leitungen sind in Ordnung. Das einzige was ersetzt werden muss ist der Dichtungsring, aber das sollte ich schnell erledigt haben. Ich werde später mal zum Baumarkt fahren und einen besorgen, den ich euch dann heute noch einbauen werde. Danach sollte alles wieder reibungslos funktionieren.“ Ich war erleichtert. Schlimm wäre es nicht gewesen aber es wäre wieder so ein großer Aufwand geworden und dafür hatte ich zu dem Zeitpunkt einfach keinen Nerv.

„Also, dann fährt Carol zum Baumarkt, ich werde Emilia in die Kita bringen und fahre danach zum Jugendzentrum, da dort noch einiges gemacht werden muss. Wenn du magst kannst du ja nachkommen, sobald Marc wieder zuhause ist“, war der Plan von Anna während sie dabei war Emilia wieder anzuziehen. Ich war damit einverstanden, denn immerhin war es auch nicht mehr allzu lange bis zur Eröffnung.

Marc kam erst zum Mittag zurück. Ich war gerade dabei Kleinigkeiten, wie Dekorationen und Bücher, an die richtigen Plätze zu bringen, als ich die Haustür hörte. „Bin wieder zurück... Nanu? Unsere Besucher sind schon wieder weg?“

„Was dachtest du denn? Carol ist zum Baumarkt gefahren und kommt später mit einem neuen Dichtungsring zurück und Emilia ist zum Jugendzentrum gefahren, wo ich auch gleich sein werde.“

„Dann also doch keine neue Leitung, Gott sei dank. Aber was wollt ihr denn beim Jugendzentrum? Ich dachte da wäre schon alles fertig.“

„Im Grunde schon. Wir wollen nochmal alles durchgehen und werden uns um den Feinschliff kümmern. Bis Samstag soll auch alles fertig sein, ohne dass böse Überraschungen auftauchen“, antwortete ich, nahm mir meine Jacke von der Garderobe und hauchte Marc einen schnellen Kuss auf die Lippen. „Und das Auto nehme ich, denn du musst sowieso hier sein wenn Carol auftaucht. Und falls du einen Einsatz rein bekommst fährt Carol dich. Emilia hat es ihm nochmal gesagt.“ Mit diesen Worten verschwand ich aus dem Haus und lief zum Auto.

Beim Jugendzentrum angekommen, wartete Anna schon sehnsüchtig auf mich. Ich stieg gerade aus den Wagen, als sie mir rufend entgegenkam: „Kaylen, mein Gott, warum hat das so lange gedauert? Und verdammt nochmal, geh an dein scheiß Handy!“ Ich schaute kurz drauf und sah die verpassten Anrufe meiner Schwester. Hatte ich Idiot doch tatsächlich versäumt mein Handy auf laut zu stellen. Kein Wunder dass Anna sauer war. „Sorry, musste wohl vergessen haben die Lautstärke wieder zu erhöhen. Was ist denn eigentlich los?“

„Der Lieferservice hatte angerufen. Der Lieferwagen mit den Möbeln für das Jugendzentrum hatte heute Vormittag einen Unfall. Unsere Möbel bekommen wir neu, aber auch erst spätestens Freitag.“

Okay, mit dieser Nachricht konnte keiner rechnen, wie denn auch? Im selben Moment fiel mir ein, dass Marc zur gleichen Zeit einen Einsatz hatte. Ich wollte ihn später fragen wie es lief, wenn es nicht sogar dieser Unfall war.

„Okay... was machen wir jetzt? Ich meine eigentlich wollten wir diese ja heute aufstellen, was wir ja jetzt nicht mehr können. Alles andere ist schon fertig und morgen kommt der Getränkelieferant mit unseren Bestellungen.“

Nachdenklich liefen Anna und ich ins Zentrum und schauten uns um. Wir waren unserem Zeitplan tatsächlich voraus, was im Bau echt selten war. Prüfend gingen wir nochmal alle Räume durch, in der Hoffnung doch noch etwas Arbeit zu finden, aber da war einfach nichts zu finden. Enttäuscht setzten wir uns auf den Boden und gingen alles durch.

„Die Möbel kommen am Freitag, das Essen am Samstagmorgen, der Getränkelieferant morgen, Strom ist angemeldet, läuft und Gas auch“, ging Anna die Liste laut durch.

„Und ich finde keinen Fehler in den Räumen, welche man noch beheben müsste. Im Grunde genommen sind wir soweit durch, bis auf die fehlenden Sachen, welche noch kommen.“

Nickend stimmte Anna mir zu.

„Bist du eigentlich aufgeregt?“, fragte ich meine Schwester ganz nebenbei.

„Klar bin ich das. Die Presse wird sich auf uns stürzen und nicht nur weil der Bürgermeister ebenfalls kommt. Immerhin sind wir die Enkel des erfolgreichen Designers Jean-Pierre. Es wird entweder ein Spektakel oder ein völliges Desaster. So oder so, wir stehen am Sonntag auf der Titelseite sämtlicher Zeitschriften. Und wenn alles schief geht, werden sie auch von eurer Hochzeit erfahren. Was meinst du was das der Presse wert ist? „Der Enkel von Jean-Pierre d'Artois heiratet einen anderen Mann. Wäre doch eine gelungene Schlagzeile.“

Bei dem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Daran hatte ich gar nicht gedacht oder es völlig verdrängt. Uns war klar, dass wir irgendwann einmal in der Öffentlichkeit stehen würden. Unser Großvater war ein weltweit renommierter Mode- und Schmuckdesigner und seit seinem Tod sind wir in die Öffentlichkeit hineingerutscht. Auch wenn ich unsere Mutter nicht mehr mochte, musste man ihr eines lassen. Privatsphäre ging ihr über alles und somit war von uns nichts großes Bekannt. Das einzige was damals für ein Aufruhr der Presse sorgte, war das plötzliche Verschwinden von Sylvain d’Artios, unserem Vater. Das war vielleicht ein Skandal, nur waren Anna und ich noch zu klein um zu verstehen, was um uns herum geschah. Plötzliches Blitzlichtgewitter, als unsere Ma mit uns und zwei Beamten der Kripo aus dem Haus lief. Das war ein gefundenes Fressen für die Medien und ein regelrechtes Desaster für uns. Über seine Anwälte ließ unser Großvater eine Verfügung erwirken, damit man uns in Ruhe ließ. Trotzdem wurde noch wochenlang darüber berichtet und das Gerücht in die Welt gesetzt, er wäre tot, was aber keiner für wahr haben wollte. Unser Vater blieb spurlos verschwunden und keiner hatte auch nur einen Ansatz wo er sein könnte, oder was passiert war.

Auch die Beerdigung von Opa war ein reines Medienspektakel, wo Anna und ich erstmals seit Jahren wieder in der Öffentlichkeit standen.

Wir redeten viel und noch sehr lange miteinander, während wir im unvollendetem Jugendzentrum saßen. Dabei bemerkten wir gar nicht, dass die Abenddämmerung schon eingesetzt hatte.

Wir sprachen über die Pläne der Hochzeit von Marc und mir, darüber wie alles ablaufen soll und wo denn später gefeiert wird. Auch wenn es noch ein halbes Jahr hin war, war ich mehr als aufgeregt, den Mann zu heiraten den ich über alles liebe.

Am späten Abend verabschiedeten wir uns voneinander und fuhren nach Hause. Im Auto dachte ich noch über vieles nach und fuhr durch die nächtliche Stadt. Nach Hause wollte ich noch gar nicht, stattdessen fuhr ich einfach herum und blieb irgendwann beim Friedhof stehen. Ich hatte das Bedürfnis meine Großeltern am Grab zu besuchen und mich dort einfach hinzusetzten, um die Stille zu genießen.

Sie waren die einzige Familie, welche ich noch hatte, nachdem meine Mutter mich verstoßen hatte. Großherzig, wie sie waren, nahmen sie mich ohne zu zögern auf. Meinen Opa sah ich zwar selten, da dieser ständig unterwegs war, umso mehr freute ich mich jedes Mal auf das Wiedersehen. Mich hatte man dort so behandelt wie ich es gerne von Mama wollte: Normal. Sie akzeptierten Marc nicht nur, sie liebten ihn und behandelten ihn wie einen Teil unserer kleinen Familie. Er war stets Willkommen. Das bestärkte uns nicht nur, es tat uns gut es ausleben zu dürfen ohne die Angst zu verspüren etwas falsches zu machen oder zu sagen.

Natürlich gab es hin und wieder kleinere Ungereimtheiten, wie in jeder anderen Familie auch. Aber dann wurde miteinander gesprochen und das Problem gemeinsam aus dem Weg geschafft.

Schwierig wurde es nur als meine Großeltern und ich in die Großstadt zogen. In der ersten Nacht fühlte ich mich einsam und im Stich gelassen. Ich wollte meinen Marc in meinen Armen halten, aber er war einfach zu weit weg. Und dann kam irgendwann der Tag an dem ich bei meiner Ausbildung einen anderen Jungen kennenlernte. Wir verstanden uns auf Anhieb und wurden gute Freunde.

Leider wurde meine Einsamkeit irgendwann so groß, dass ich mich auf den Jungen einließ und mit ihm schlief. Danach hatte ich große Gewissensbisse und fühlte mich mehr als schuldig. Ich erzählte Marc von meinem Seitensprung und natürlich war er sauer, was ich gut verstehen konnte. Immerhin hatte ich ihn betrogen und sein Vertrauen missbraucht.

Es dauerte einige Monate bis Marc mir das verzeihen konnte und mich besuchen kam. Er wollte uns nicht wegen so einer Kleinigkeit aufgeben. Wie so was fühlte es sich bei mir aber nicht an. Ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen deswegen. Wir vereinbarten uns jedes zweite Wochenende zu sehen und es funktionierte auch sehr gut.

Eines Abends, als ich zu ihm gefahren war, überraschte er mich mit einem Essen im Kerzenschein. Es war ein fantastischer Abend und unvergesslich, denn nach dem Dessert kniete er vor mir und fragte mich ob ich ihn heiraten wolle. Ich zitterte am ganzen Körper, da ich damit nicht gerechnet hatte. Mit Tränen in meinen Augen nahm ich ihn hoch und Küsste ihn einfach nur. Das reichte ihm als Antwort und er steckte mir den Verlobungsring, welcher aus Weißgold war, an meinen Finger. Wir waren in dem Moment das glücklichste Paar der Welt und alles um uns herum schien gar nicht Real zu sein.

„Hier bist du“, riss mich eine vertraute Stimme aus meinen Erinnerungen. Ich schaute ins dunkel und erkannte die Silhouette von jemandem der auf mich zu kam. Im Lichtschein der Laterne konnte ich erkennen dass es Marc war, welcher genau unter dieser stehen blieb und mir zulächelte. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Komm, gehen wir nach Hause.“ Er hielt mir seine Hand und wartete darauf das ich diese nahm. Langsam erhob ich mich von der Bank und lief auf ihn zu, nahm seine Hand, lächelte ihn glücklich an und ging mit ihm Richtung Ausgang.