Stories
Stories, Gedichte und mehr
Der eiserne Heinrich
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Der eiserne Heinrich
- Autor: Elemmire
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Märchen, Kurzgeschichte
Inhaltsverzeichnis
- Märchen
- Der eiserne Heinrich
- Kindheit
- Jugend
- Freundschaft
- Stellung bei Hofe
- Entwicklung
- Trennung
- Eherne Bande
- Froschkönig
- Vertrag
- Herrn Musjes Schatten
- Nachwort:
Märchen
Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um die Adaption einer Märchenthematik, die bereits von den Gebrüdern Grimm in deren gleichnamigen Werk behandelt wurde.
Der eiserne Heinrich
Es in der Reihenfolge zu erzählen, in der sich die Dinge ereigneten, wird mir schwer fallen, denn am liebsten würde ich nur die schönen Erinnerungen behalten und die dunklen Jahre auslassen, aber dann wäre die Geschichte unvollständig.
Wie es dazu kam, dass mich heute jeder unter dem Namen »der eiserne Heinrich« kennt und warum ich heute 16 Jahre älter bin als mein ehemals gleichaltriger Jugendfreund Wilhelm, ist nur schwer zu verstehen, wenn man nicht den ganzen Lauf der Ereignisse verfolgt. Es ist eine lange Geschichte, aber dennoch kurz erzählt, weil viele Fragmente der Vergangenheit bereits von der Zeit überdauert und weggewaschen wurden.
Kindheit
Es war mein Vater, der mich auf den Namen Heinrich taufte und mir seinen Familiennamen vererbte: Heinrich Luv heiße ich von Geburt. Später sollte mich die Person, die mir immer die wichtigste und liebste auf der Welt war, »mein lieber Heinrich« nennen, aber das ist schon wieder vorgegriffen und ich will mich dazu anhalten, beim Erzählen der Geschichte dem Lauf der Geschehnisse zu folgen.
Mein Vater war Angestellter bei Hofe und hatte es als studierter Gelehrter bis zum Reichsalchemisten gebracht. Für seine Errungenschaften in den Wissenschaften der Biologie und Chemie war er hoch geachtet und angesehen, und die von ihm verfassten Schriften dienten allerorts als Lehrmittel für Veranstaltungen an den Universitäten. Ich verbrachte den frühen Teil meiner Kindheit mehr im Labor meines Vaters als in unserer häuslichen Residenz. Da meine Mutter zu früh gestorben war, um mir bleibende Erinnerungen zu hinterlassen, fühlte ich mich in meines Vaters Werkstatt mehr zu Hause als umgeben von den Bediensteten, die unsere Hauswirtschaft führten.
Mein Vater hielt mich lange Zeit für sehr gelehrig und außerordentlich gescheit, weil ich es so gut verstand, sowohl die allereinfachsten als auch die kompliziertesten Bannkreise aus dem Gedächtnis zu zeichnen und weil ich mir die Namen der vielen Ingredienzen für die alchemistische Komposition so leicht merken konnte. Doch verkannte mein Vater damals meinen wahren Sinn. Bannkreise, waren für mich keine bloßen geometrischen Formen oder rein funktionale Zirkelgebilde, sondern Zeichnungen von ästhetischer Vollkommenheit und reizender Anmut, bei denen jeder Punkt und jede Linie genau den Platz einnahm, der ihnen im Universum zugedacht war. Ich konnte mich spontan in die Seele eines Bannkreises verlieben und diese Liebe pflegen und ausdrücken, indem ich ihn in Sand, auf Pergament oder mit Asche zeichnete. Bei den Zutaten für die chemischen Prozesse war es ähnlich. Sie faszinierten mich durch ihre Farbe, ihre Form oder ihren Duft: die kryptischen Zeichen und seltsamen Namen klangen für mich genauso heimlich wie der Name eines guten Freundes. Lithium, Sulfur und Brom waren meine Freunde und ich verbrachte oft Stunden damit, die Ingredienzen zu ordnen, sie im Licht der Sonne zu bestaunen oder sie einfach beim Namen zu nennen, während sich mit dem Namen auch ihr Wesen in mein Gedächtnis einprägte.
Bald kam mein Vater dahinter, dass mit mir als Wissenschaftler nicht viel anzufangen war. Zwar kannte ich die Bannkreise und Formeln, doch fehlte mir der Trieb zu forschen, die Wirklichkeit zu berechnen und alles Schöne in der Welt dem Gesetz der Mathematik zu unterwerfen. Mein Vater sah mir diesen Mangel an wissenschaftlichem Verständnis nach, obwohl er zugleich sehr bedauerte, dass ich nicht nach seiner Art geraten war. Er sammelte Schüler und Praktikanten um sich und förderte Talent, wo er es erkannte. Dass ich kein Talent hatte und zu nichts nutze war, außer zum Vorbereiten der Bannkreiszeichnungen und zum Sortieren der Ingredienzen, hinderte meinen Vater dennoch nicht daran, mich über alles zu lieben. So lebte ich mit meinem Vater entweder in den Laboratorien, Studierzimmern und Skriptarchiven seiner alchemistischen Werkstatt oder war mit ihm unterwegs zu Universitäten und Instituten, wo er als Gastdozent lehrte oder Projekte unterstützte.
Jugend
Als ich heranwuchs, entdeckte ich mehr und mehr meine wahre Natur. Ich liebte die Literatur. Nicht die verregelten, sachlichen Darstellungen aus den Bibliotheken meines Vaters, sondern die Dichtung und die Poesie. Witzig mussten die Bücher sein, die mich begeistern konnten, dramatisch, romantisch und geistreich. Für meinen Vater bedeutete die Lektüre solcher Bücher verlorene Zeit, für mich das wahre Leben. Aber er ließ mir meine Grillen.
Wann immer ich frei hatte – mein Vater entließ mich nicht in ein Leben eitlen Müßiggangs – ging ich in die Palastbibliothek, um dort in die Welten einzutauchen, die in den Büchern auf den Regalen schlummerten. Ich wollte sie alle lesen. Eins nach dem anderen, einige vielleicht auch mehrmals. Wenn die Bücherei geschlossen war oder mir der Sinn nach Abwechslung stand, lief ich in den Wald oder zum Fluss, meinen Lieblingsplätzen neben der Terrasse und den Gärten der Bibliothek. Ich streifte durch die Natur und träumte mich in die Welten aus meinen Buchreisen hinein, erfand neue Szenarien und summte mir dabei ein Lied oder genoss still das friedliche Spektakel der Natur um mich herum.
Ich war nicht nur der Literatur zugetan, sondern entwickelte auch bald einen Sinn für die Musik. In den Gärten der Bibliothek gab es einen Baum, den ich häufig aufsuchte, um in dessen Schatten zu lesen und zu träumen. Manchmal konnte ich von dieser Stelle des Gartens aus die Musik aus dem Chorraum des Palastes hören. Es waren verschiedene Instrumente zu hören, mal mehr, mal weniger gut gespielt. Es bereitete mir immer Freude, den Tönen zu lauschen, selbst wenn es nur simple Tonreihen waren, die auf und ab und immer schneller zu Übungszwecken gespielt wurden.
Natürlich wusste ich, dass sich hinter den musikalischen Wohlklängen das Werk virtuoser Menschen verbarg, die ihr Instrument zu spielen verstanden. Dennoch assoziierte ich die Musik immer mit dem Baum, unter dem ich zu sitzen pflegte, während ich lauschte, und ich nannte diesen Baum freundschaftlich Herrn Musje. Die Stimmungslandschaften der Lieder und Melodien, die ich in Herrn Musjes Gegenwart genießen durfte, schlugen mir immer aufs Gemüt und bescherten mir sowohl Heiterkeit als auch süße, traurige Schwere. Am liebsten war mir die Flöte und meine Freude steigerte sich über die Maßen, wenn ich den süßen Klängen dieses hölzernen Blasinstrumentes lauschen durfte. Oft, wenn ich mich auf dem Weg zur Bücherei befand, hatte ich im Herzen nur einen Wunsch und nur eine Sehnsucht: Herr Musje möge doch an diesem Tag wieder die Flöte erklingen lassen.
Eines Tages zeigte mir Herr Musje überraschender Weise sein wahres Gesicht. Diese Enthüllung war entzaubernd und bezaubernd zugleich. Es war ein wundervoller Tag, Herr Musje spielte Flöte. Er wiederholte ein und dieselbe Passage immer wieder. Er verspielte sich, fing erneut an und brach wieder ab. Es schien als wolle es Herrn Musje heute einfach nicht gelingen. Doch selbst im Fehlen entfalteten mir die Töne ihre Schönheit. Nach einer langen Kette weiterer Fehlversuche brach das Spiel plötzlich ab und es folgte eine Welle von verzweifelten Flüchen, die mich verlegen machten, denn so hatte ich Herrn Musje noch nie erlebt. Ich wartete angespannt, ob sich das Gewitter wieder auflösen und Herr Musje das Spiel wieder aufnehmen würde, aber es geschah etwas anderes. Die Balkontür des Chorraums wurde geöffnet und der Musikant trat heraus. In der Rechten hielt er sein Instrument, eine silberne Flöte, die Linke ballte er zur Faust und presste sie auf die Brüstung des Balkons. Ich war so fasziniert, dass ich nur starren konnte. Herr Musje hatte mir eine seiner Identitäten offenbart. Ich kannte den jungen Herrn flüchtig. Ich war ihm bereits einige Male in der Bücherei begegnet. Am liebsten wollte ich ihm zurufen, wie sehr mir sein Spiel gefalle, selbst wenn es in der technischen Ausführung nicht vollkommen war. Aber mehr als stilles Staunen brachte ich nicht zu Stande, bis der Blick des Musikanten auf mich fiel und sich seine Miene aufklärte. Ein Lächeln nahm Besitz von seinem Antlitz und die Hand, die gerade noch verbissen auf der Brüstung gesessen hatte, winkte mir nun zu. Er hatte mein Starren bemerkt, verübelte es mir aber nicht, sondern grüßte mich freundlich. Schnell erhob auch ich die Hand zum Gruße und wollte mich höflich erheben. Dabei fiel mir ungeschickt das Buch, das ich gerade gelesen hatte, vom Schoß. Ungelenk hob ich es auf und beeilte mich, Haltung anzunehmen, um seinen freundlichen Gruß zu erwidern. Er lächelte immer noch, machte kehrt und entschwand in den Chorraum. Das Flötenspiel wurde wieder aufgenommen. Mit allen Höhen und Tiefen wie zuvor, nur diesmal war es nicht Herr Musje, der für mich spielte, sondern der junge Herr.
Mein Vater war überhaupt nicht begeistert von meiner Idee, auch ein Instrument zu erlernen. Ich verplempere ohnehin zu viel Zeit mit meiner Tagträumerei und ich solle mich lieber auf meine Hilfsarbeiten im Labor konzentrieren und in Erwägung ziehen, ein sinnvolles Studium aufzunehmen. Von meinen Flausen hatte er inzwischen genug. Ich bohrte nicht weiter, denn es sollte mir genügen, ihn spielen zu hören.
Freundschaft
Von nun an fühlte ich mich Herrn Musje mehr zugetan denn je und hoffte jedes Mal, dass der Flötenjunge wieder am Fenster oder auf dem Balkon erscheinen möge. Was auch bald darauf wieder geschah und sich von da an immer wiederholte. Zwischen den Präludien, Tänzen und Liedern, legte der junge Herr eine Pause ein, um auf dem Balkon frischen Atem zu schöpfen. Dabei grüßte er mich und lächelte mir zu. Zu dieser Zeit ließ ich keinen Tag verstreichen, der mich nicht in die Bücherei geführt hätte. Es vergingen aber auch graue Tage, an denen ich vergeblich zu Herrn Musjes Füßen das Aufspielen der Flöte und den freundschaftlichen Gruß erwartete.
Es war einer dieser grauen Tage, der mir unvergesslich bleibt, weil er am Ende doch alles andere als grau war. Während ich lesend und träumend in Herrn Musjes Gegenwart müßig ging, kam aus dem Hauptgebäude der Bibliothek der Flötenspieler auf mich zu. Das war noch schöner als ihn vom Balkon herabblicken zu sehen. Aufgeregt sprang ich auf und lief ihm entgegen. Ich fragte mich, ob er wohl nur meinetwegen gekommen sei, ob ich ihm als Zuhörer genauso wichtig war, wie er mir als Musikant. Ob wir uns wohl anfreunden könnten. Ich begrüßte ihn vielleicht ein wenig zu bewegt. Ich stellte mich vor, ergriff seine Hände und lobte ihn für sein Spiel: »Ich bin Heinrich, Heinrich Luv, der Sohn des Hofalchemisten Luv. Ich arbeite als Helfer im Labor meines Vaters. Dein Spiel gefällt mir sehr. Ich bin sehr erfreut Dich kennenzulernen.« - »Ich bin Wilhelm, der Sohn des Königs. Es freut mich, dass Dir mein lausiges Spiel gefällt. Schön Dich hier zu treffen, wenn auch nicht gerade überraschend. Ich habe Dich gesucht.«
So war das also. Er war nicht der Sohn des Kantors oder einer der Musiker des Kammerorchesters, wie ich erwartet hatte. Er war der Prinz. Sofort hielt ich Freundschaft für ausgeschlossen, fühlte mich verlegen und beschämt und wollte mich mit einer höflichen Allgemeinrede aus dem Staub machen, aber Wilhelm hatte bereits etwas anderes im Sinn. »Ich kenne Dich als Büchernarr. Welche Bücher hast Du bereits gelesen? Nein, zähle mir jene auf, die Du noch nicht gelesen hast. Ich schätze, derer sind nur wenige.« - »Nun ja, ...«, sagte ich verlegen, da ich nicht sicher wusste, ob dies nun als Kompliment für meine Belesenheit gemeint war oder als Tadel für meine Flausen. Aus meines Vaters Munde wäre die Rüge sofort offensichtlich, aber bei Wilhelm war ich mir nicht sicher. »Hör zu,« sprach er weiter, »ich muss morgen einen Diskurs über ein literarisches Werk aus der Epoche der Strengen Stille führen, aber ich habe noch nicht einmal mit dem Lesen auch nur eines der Bücher aus dieser Epoche begonnen. Du musst mir helfen. Kannst Du mir ein Buch empfehlen, über das sich gut spekulieren lässt?« - »Unzählige könnte ich Dir vorschlagen, ...« Und so begann ich ihm mehrere meiner Bücher in Kurzusammenfassungen zu erzählen. Gespannt hörte er mir zu und trieb mich an, ihm mehr zu erzählen. Ich geriet immer mehr ins Schwärmen und fing an, einige Stellen meiner Lieblingsbücher auswendig zu zitieren und heimlich eigene Interpretationen einzuflechten. Wilhelm hing nun an meinem Munde wie ich gewöhnlich an den Lauten seiner Flöte.
Die Zeit verging rücksichtslos schnell und bald mussten unsere literarischen Erörterungen ein Ende nehmen. Ich begleitete Wilhelm noch zum Bibliothekar, bei dem er sich einen der Romane, die ich ihm beschrieben hatte, auslieh. Wilhelm war nun bereit, seinen Aufsatz in Angriff zu nehmen, selbst wenn er die ganze Nacht darüber zu brüten hätte, und ich wünschte ihm viel Erfolg. »Heinrich, ich glaube, ich habe nun verstanden, wie man Bücher liest und warum man sie lesen muss. Du hast mir die Augen geöffnet. Oder vielmehr das Herz. Wir müssen uns wiedersehen. Es gibt ja noch so viele Bücher.« Ich war selig und vermochte nicht mehr, als seine Rede mit einem Nicken zu bestätigen. Wir mussten uns wiedersehen.
Und so geschah es. Verbunden durch unsere Liebe zur Musik und zur Literatur, hingen wir aneinander wie unzertrennliche Seelenfreunde. Auf mein Bitten hin brachte er sogar manchmal seine Flöte zu unseren Treffen mit und musizierte für mich im Garten der Bücherei. Wilhelms Flöte war ein bezauberndes Instrument. Selbst wenn es schweigsam in seinen Händen ruhte, erkannte man ihren zarten, lebendigen Charakter. Die Klappen, die dazu dienten, die Tonlöcher zu öffnen oder zu schließen, waren von Ehrfurcht einflößender Feinheit. Mit einem weichen Korkbett setzten sie beim Schließen auf dem Flötenkörper auf und erzeugten ein dumpfes, trommelndes Geräusch auf dem Tubus des Luftkanals. Das Klappensystem schien derart kompliziert, dass ich Wilhelm für seine Fertigkeit immer mehr bewunderte. Bisweilen riss Wilhelm auch launische Possen auf dem Instrument und ahmte Vögel oder fremdländische, skurrile Spielweisen nach, die mich immer zum Lachen brachten. Dafür las ich Wilhelm immer Geschichten vor. Er fand, eine Geschichte ergebe für ihn erst Sinn, nachdem er sie mit meiner Betonung gehört und mit meinen Erörterungen erlebt habe. Das ehrte mich und ich war ein eifriger Vorleser und gab mir große Mühe beim Dramatisieren der Geschichten. Bald setzten wir uns gemeinsam neue Flausen in den Kopf und begannen mit dem Selbststudium der bildnerischen Kunst. Auf ausschweifenden Spaziergängen ersannen wir eigene Geschichten oder wir beobachteten Tiere in der Natur.
Es hätte alles immer so weitergehen können. Wenn mein Vater sich nicht plötzlich entschlossen hätte, einem Ruf an die Universität zu folgen und dies auch für den besten Zeitpunkt gehalten hätte, mich endlich in eines der ordentlichen Studienfächer einzuschreiben. Ich hatte die Wahl zwischen Medizin, Recht, Theologie oder Physik. Aber ich hatte bereits einen anderen Weg im Sinn. Ich wollte Laborhelfer bleiben und meine Freizeit mit den schönen Künsten verbringen. Meine Stellung und mein Verdienst waren mir nebensächlich, wenn ich nur meine geistige Freiheit und mein Recht zu träumen behalten dürfte. Für meinen Vater waren meine Wünsche nur dummes Gewäsch: der nachfolgende Hofalchemist hätte gewiss keine Verwendung für einen Tagträumer wie mich und ich sollte mich auf mein eigenes Auskommen vorbereiten, da ich nicht für immer der Sohn meines Vaters bleiben könne.
Die Beschneidung meines Freigeistes und meine Trennung von Wilhelm schienen unausweichlich. Niedergeschmettert erzählte ich meinem Busenfreund von den Plänen meines Vaters, die mir keinen Ausweg ließen, als seinen Anordnungen Folge zu leisten. Ausweglos erschien die Lage allerdings nur mir, denn Wilhelm ersann auf der Stelle einen witzigen Plan, der mich vor der Universität und unsere Freundschaft von einer Trennung bewahren könnte. Er würde mir eine Stellung bei Hofe verschaffen. Eine Stellung, die es mir ermöglichen würde, für mein eigenes Auskommen zu sorgen und meinem Vater zu versichern, dass er sich nicht weiter wegen meiner Zukunft grämen müsse. Ich war zu allen Helfertätigkeiten bereit: Schreibstube, Küche oder Stall. Aber überraschenderweise hatte Wilhelm etwas ganz anderes im Sinn. Ich erhielt eine Stellung bei Hofe als Kammerdiener des Prinzen und gehörte fortan zum Hausgesinde.
Stellung bei Hofe
Keine Arbeit hätte mir mehr Freude bereiten können. Es war nun meine Aufgabe, Wilhelms häuslichen Pflichten nachzusehen. Von nun an waren wir fast immer zusammen. Ich nahm an allen seinen Studien teil und erledigte mit ihm seine Hausaufgaben. Ich las ihm Geschichten vor oder erzählte ihm welche, die ich selbst kürzlich gelesen oder frei erfunden hatte, während Wilhelm badete oder von den Kammerherren in seine Garderobe gewandet und frisiert wurde. Wir verbrachten jeden Abend gemeinsam und ich verließ seine Stube nicht eher, als bis ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen. Am Jagen fand ich keinen Spaß und zu geheimen Sitzungen mit seinem Vater oder den Ministern wurde ich nicht eingeladen. Aber durch diese kurzen Trennungen ließen wir uns nicht verdrießen. Wilhelm brachte mir von der Jagd allerlei schöne Dinge mit: seltene Blumen und Blätter und urige Rinden und Steine, die er unterwegs gefunden hatte. Während er mir lustige Jagdgeschichten erzählte, las ich die Kletten und Pollen aus seinem zerzausten Haar und untersuchte ihn auf lästige Insekten, die sich an seinem Körper festgesetzt haben könnten. Wenn er seinen Verpflichtungen als Prinz nachkam, die mich ausschlossen, widmete ich mich meiner neuen Leidenschaft, dem Weben. Die Zofen hatten mich in diese Kunst ihrer täglichen Arbeit eingeweiht, und ich übte mich in diesem Handwerk, wann immer meine Obliegenheiten mir genügend Freiraum dazu ließen. Ich hatte mich der großen Aufgabe gestellt, die Motive meiner Lieblingsbücher in Webarbeiten zum Ausdruck zu bringen. Wilhelm liebte meine Weberei und das spornte meinen Eifer umso mehr an. So verbrachte ich die lauen Zeiten meines häuslichen Tagesgeschäfts mit Weben und meine Freizeit mit Wilhelm. Die Tage hätten erfüllter nicht sein können.
Entwicklung
Wilhelm war genauso gern mit mir zusammen wie ich mit ihm, und eine langfristige Trennung wäre zu keiner Zeit und für keinen für uns erträglich gewesen. Wir waren nicht mehr nur Seelenfreunde, wenn es um die schönen Künste ging, sondern wir teilten alles miteinander, jede Freude und jedes Leid. Dann kam der Tag, als die Veränderung mit uns geschah. Wir lagen bäuchlings auf dem Teppich vor dem Kamin und stritten scherzhaft über die Werke eines modernen Künstlers, als Wilhelm aus einer witzigen Laune heraus mich »mein lieber Heinrich« nannte und plötzlich damit begann, mein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Er küsste mich zunächst auf die Schläfen, dann auf die Wange und während sich alles um mich zu drehen begann, küsste er mich schließlich auf den Mund. Von da an nahm alles Weitere wie von Geisterhand geführt seinen Lauf.
Diese Veränderung brachte zunächst einige Verwirrung mit sich. Liebe war uns aus Romanen und musikalischen Inszenierungen zwar andeutungsweise bekannt, aber wir hatten keine Ahnung, was es genau bedeutete, da es in die Welt der Erwachsenen gehörte. Vermutlich waren wir einfach erwachsen geworden, ohne es zu bemerken. Unsere Liebe zueinander wuchs, bald waren alle Hemmungen und Bedenken vergessen und wir lagen immer wieder beieinander.
Aus einer Albernheit heraus begannen wir die Male zu zählen. Deswegen weiß ich auch heute noch genau, dass es das zweiunddreißigste Mal war, als das Unglück über uns hereinbrach. Wir wurden entdeckt und verraten. Als der Kammerherr uns fand und mit steinerner Miene davon eilte, mussten wir beide lachen. Wir dachten, wir hätten den alten Herren wohl erschreckt, weil er glaubte, wir seien immer noch Kinder und dass er nun damit fertig werden müsse, dass sein kleiner Prinz erwachsen geworden sei. Aber es war anders und ging viel zu schnell, als dass ich hätte begreifen können, was sich da eigentlich ereignete.
Trennung
Ich wurde spät abends in meiner Kammer aufgegriffen und inhaftiert. Ich wusste nicht, wie es Wilhelm erging, meine flehentlichen Bitten, mir doch zu sagen, ob er denn wohlbehalten sei, wurden ignoriert. Die Zelle war kalt und schmutzig. Bald juckte mein ganzer Körper vom Ungeziefer, das sich darauf austobte, und die Knochen taten mir weh, weil ich Tag und Nacht auf kaltem Steinboden zubrachte. Ich war eingeschlossen und ohne jede Information darüber, was außerhalb der Grenzen meiner Zelle vor sich ging. Die Zeit verging, ohne dass ich sie messen konnte, kein Sonnenstrahl erreichte mich. Ich vermisste Wilhelm so sehr und sorgte mich um ihn. Auch hatte ich zum ersten Mal seit langem ein schlechtes Gewissen meinem Vater gegenüber, da ich es am Ende doch nicht geschafft hatte, für mich selbst zu sorgen, obwohl mir nicht ganz klar war, was ich denn eigentlich genau falsch gemacht hatte. Waren wir zu früh erwachsen geworden, war ich als Kammerdiener des Prinzen nicht würdig oder hätten wir um Erlaubnis fragen müssen? Ich verstand nicht, warum man uns getrennt hatte, warum man mich bestrafte. Dennoch hoffte ich, dass man Wilhelm verschont hatte und dass man alle Schuld bei mir suchen und finden würde, so dass ich allein die Sühne für uns beide austragen könne. Was ich während meiner Inhaftierung nicht ahnte, war dass auch Wilhelm bestraft werden sollte. Er schwebte sogar in noch größerer Gefahr als ich. Während man mich achtlos in eines der dunkelsten Verließe gebracht hatte, sollte für Wilhelm eine alchemistische Therapie angewandt werden, für die der beste Alchemist im ganzen Reich engagiert wurde, Maximilian Luv, mein Vater. Diese Therapie, erfuhr ich später, sollte ihn von mir heilen und ihn bekehren. Leider verlief die Beschwörung genauso wie man es von alchemistischen Zaubern erwartet, die auf lebendige Wesen angewendet werden. Sie schlug fehl und kostete Wilhelm beinahe das Leben. Oder vielleicht doch mehr als nur beinahe.
Dies war meines Vaters Werk: Wilhelms sterbliche Hülle fiel in einen traumlosen, ewigen Schlaf, während sein Geist in den Körper einer Kröte Einzug hielt. Doch der Körper der Kröte ließ Wilhelms Geist zu wenig Raum, so dass er zu einem dümmlich quakenden Geschöpf verkümmerte. Sollte es Wilhelm gelingen, in diesem Zustand das Herz einer Frau zu erobern, die ihn trotz seiner kümmerlichen Erscheinung küssen und nehmen würde, sollte er, laut meines Vaters Theorie, geheilt sein und wieder in seinen Körper zurückkehren können. So war das zwar nicht von Anfang an geplant gewesen, jedoch verstand der ehemalige Hofalchemist Maximilian, aus der Not eine Tugend zu machen. Der König zog es vor, seinen jüngsten Sohn in eine Kröte verwandelt zu wissen, als ihn in einer Liebschaft mit einem niederen Diener sehen zu müssen.
Eherne Bande
Während meiner Inhaftierung blieb mir diese Entwicklung gänzlich unbekannt und ich trauerte und hoffte ins Ungewisse hinein. Es war mein Vater, der dafür sorgte, dass ich aus dem Kerker befreit und mit der Pflege der Kröte, die Wilhelm nun war, betraut wurde. Als ich jedoch erfuhr, was mit Wilhelm geschehen war, was sie ihm angetan hatten, droht mir alles Denken, Fühlen und Leben auszusetzen. Mein Herz brach und ich wusste vor Pein und Kummer nicht mehr ein noch aus. Doch auch dafür kannte mein Vater die geeignete Behandlung. Er ließ mir drei eiserne Bänder um mein Herz schmieden und versiegelte damit meinen Kummer. So wurde ich zum eisernen Heinrich, dessen Herz unter eherner Bande lautlos weinend pochte.
Die Jahre zogen ins Land und hinterließen ihre Spuren auf meinem Geist, auf meiner Seele und auf meinem Körper. Ich alterte, während Wilhelm ewig der junge Mann blieb, der er war, als man ihn in den ewigen Schlaf verbannt hatte. Ich durfte seinen Körper nicht besuchen, doch ich wusste, wie es um ihn stand, weil ich regelmäßig von Dienern, Ärzten und Verwandten, die ihn umsorgten, Informationen über seinen Zustand einholte. Alle trauerten am Bett des schönen Jünglings, von der Kröte wollte niemand etwas wissen. Für die Welt war Wilhelm gestorben.
Ich versuchte, der Kröte sprechen beizubringen, und nach vielen Monaten harten Trainings schaffte es Wilhelms Geist, dem Krötenmund ein paar menschlich anmutende Laute zu entlocken. Seine ersten Worte, die er in seiner Krötengestalt zu mir sprach waren »mein lieber Heinrich«. Es klang immer noch sehr dümmlich und unbeholfen, aber ich gab nicht auf. Ich las Wilhelm Geschichten vor, weil ich wusste, wie sehr er das liebte, und weil ich hoffte, dass es den Menschen in ihm bewahren möge. Ich besuchte mit ihm zusammen Herrn Musje, den ich schon seit langer Zeit nicht mehr aufgesucht hatte, aber die Klänge aus dem Chorzimmer vermochten es nicht mehr, mir Trost zu spenden. Bei jeder Gelegenheit versicherte ich Wilhelm meiner ewigen Liebe und Treue. Dies war mein Versprechen, mein Gelöbnis.
Während sich Wilhelms Vater so wie der übrig Teil seiner Familie damit abgefunden hatte, dass es keinen Wilhelm mehr gab, versuchte ich, Wege zu finden, die ihn mir wieder zurückbringen könnten. Ich scheute auch nicht davor zurück, zu tun, was mein Vater als Heilung verlangt hatte. Ich küsste die Kröte und vollzog heimlich mit ihr die Hochzeit. Doch dieses Ritual zeigte keine Wirkung. Ich dachte damals, es läge möglicherweise daran, dass der Priester, der uns traute, ein Halunke gewesen sei. Ich hatte ihn als Bettelmönch an einem Opferschrein kennengelernt. Meine und Wilhelms Geschichte ließ ihn derart mitfühlen, dass er sich spontan dazu bereit erklärte, die Trauung für uns durchzuführen. Später erfuhr ich, dass es nicht an des Priesters Fähigkeiten lag, sondern allein daran, dass mein Vater gelogen hatte. Kein Kuss und keine Hochzeit konnten Wilhelm zurückbringen.
Froschkönig
Wilhelm und ich saßen unsere Tage in einem kleinen Haus in den äußeren Bezirken der Palastgründe ab. Da Wünschen nicht half, konsultierte ich immer wieder Hexen, Magier und Ärzte, probierte verschiedene Kuren und ersann eigene Therapien. Aber nichts zeigte Wirkung. Wilhelm verblieb in der Form einer Kröte, sein Geist getrennt von seinem Körper. Das Sprechen gelang ihm zwar allmählich besser, aber jedes menschliche Wort, das er sprach, war ein Kampf mit einer für solche Laute nicht geschaffenen Physiognomie. Es vergingen 16 Jahre, bis sich uns eine Gelegenheit bot, die Wilhelm am Ende tatsächlich ins Leben zurückholen sollte. Wie wir listenreich und fast skrupellos das arme Mädchen täuschten, mag wie übles Sinnen erscheinen, doch es war Verzweiflung allein, die uns so weit trieb.
Ich hatte Lydien seit längerer Zeit ins Auge gefasst. Dass sie von königlicher Abstammung war, die Nase allzu hoch trug und durch ihre Schönheit weithin als begehrenswert galt, schürte in mir die Meinung, dass sie das richtige Etwas für mein Experiment besäße. Mein Plan war denkbar einfach in der Zielsetzung. Ich sann darauf, die Worte meines Vaters erneut zu prüfen, gemäß denen Wilhelm Heilung finden würde, wenn er es schaffe, das Herz einer Frau zu gewinnen und mit ihr die Hochzeit zu vollziehen. Allein es fehlte die Braut. Also machte ich mich auf die Suche nach einem Mädchen, das in den Handel einwilligen würde. Meine Charakterstudie Lydiens ergab, dass sie sich möglicherweise von weltlichen Versprechungen, überheblichem Stolz und elterlicher Abhängigkeit dazu treiben lassen würde, Wilhelm das Ja-Wort zu geben. Wie immer schmerzlich es mir auch war, begann ich sorgfältig eine Liaison einzufädeln, wobei ich Lydiens leidenschaftsloses Gemüt unterschätzte. Ich untersuchte Lydiens Weisen, trug Informationen über sie zusammen und verfolgte sie alle Tage, um herauszufinden, welches Geschick Wilhelm in ihr Leben bringen könne. Es war ihre eigene Ungelenkheit, die Lydien letzten Endes in unsere Fänge trieb. Nur wenig mussten wir dazu tun.
Lydien ging oft zu einem verlassenen alten Brunnen im Wald, wo sie einsam und allein allerlei Flausen trieb. Eines Tages verlor sie durch leichtfertigen und tollen Übermut ein für sie sehr kostbares Juwel, welches ihrer Hand entglitt und in den Tiefen des Brunnens versank. Dieser Verlust bestürzte sie so sehr, dass sie fortan nicht mehr froh zu werden schien. Sie kam zwar weiterhin zu dem schattigen Plätzchen am Brunnen, ging aber nicht mehr ihren Grillen nach, sondern beweinte ihren verlorenen Schatz. Fast zu spät aber doch noch zur rechten Zeit erkannte ich Wilhelms und meine Chance, eine Verbindung zu Lydien zu knüpfen. Wir mussten das verlorene Schmuckstück bergen. Durch den Besitz dieses für die Königstochter so wertvollen Schatzes sollte es uns ein Leichtes sein, sie zu einem Kontrakt zu überreden, der sie mit Wilhelm zusammen bringen würde.
Lydien kam nun jeden Tag ins Schattenwäldchen, um ihren Verlust zu beweinen und trübselig in den Brunnen zu starren. So blieben Wilhelm und mir nur die frühen Morgenstunden und der späte Abend für die Suche nach dem Juwel. Dies stellte durchaus kein leichtes Unterfangen dar. Da der Brunnen im Schatten lag und wir immer zu Dämmerungszeiten zur Suche ansetzten, fehlte es an ausreichender Beleuchtung. Zudem erforderte der niedrige Wasserstand des Brunnens, dass wir eine Vorrichtung ersannen, mit Hilfe derer ich Wilhelm in den Brunnenschacht hinablassen und wieder heraufholen konnte. Unsere Jagd nach dem Juwel machte mich bisweilen bange, weil ich fürchtete, dass Wilhelm im Brunnenschacht in Gefahr geraten könne oder das abgestandene Wasser ihn um seine Gesundheit bringen würde. Aber unsere Suche war am Ende von Erfolg gekrönt und nun hatten wir den Trumpf, den wir brauchten, um Lydien unsere Forderung stellen zu können.
Vertrag
Wilhelm führte die Rede, während ich in einem Versteck nahebei bangte und frohlockte. Unser Plan schien zu gelingen. Lydien willigte ein. Im Tausch gegen ihr Juwel versprach sie, Wilhelms Gefährtin zu werden. Beinahe wäre ich in meinem Versteck aus Freude über unseren Erfolg aufgesprungen, doch da zeigte Lydien uns zum ersten Mal, ihre böse Ader. Sie brach den Vertrag noch im selben Atemzug, da sie ihn besiegelte. Sie nahm ihr Juwel an sich und lief davon. Wilhelm und ich blieben als Tölpel zurück.
Wir hatten nun zwar den Vertrag, doch wussten wir nicht recht, wie wir nun seine Einhaltung einfordern könnten. Wir ließen Lydien zunächst ziehen, beschlossen aber, ihr in gebührendem Abstand zu folgen. Ich musste verborgen bleiben, damit unser eingefädeltes Spiel unerkannt blieb, Wilhelm konnte aber wegen der lauernden Gefahren nicht allein durch den Wald oder die Stadt wandern. So brachte ich ihn am darauffolgenden Tag zum Palast der Königstochter und arrangierte den Zeitpunkt seines Erscheinens so, dass er die königliche Familie beim Mittagsmahl antreffen würde. Nachdem ich Wilhelm in der Nähe des Palastgartens abgesetzt hatte, war er auf sich allein gestellt, und ich verbrachte den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht zusammengekauert an der Mauer, an der ich ihn abgesetzt hatte. Ich befürchtete Schlimmes, weil ich so lange keine Nachricht erhielt. Wieder einmal war ich unwissend und ohne Ahnung über Wilhelms Befinden und den Ausgang der Verhandlung. Doch schützte mich diese Unwissenheit vor dem Gram, den mir die Wahrheit bereitet hätte, die sich jenseits der Palastmauern abspielte.
Wir hatten es Lydiens Vater zu verdanken, dass es Wilhelm gelang, die Vertragsbrüchige zur Einhaltung ihres Versprechens zu bewegen. Nachdem Wilhelm dem König den Hergang der Dinge zwischen Lydien und ihm berichtet hatte, befand dieser, dass der Vertrag wohl rechtens sei und Lydien ihren Teil der Schuld einzulösen habe. Widerwillig leistete sie den Anordnungen ihres Vaters Gehorsam und nahm Wilhelm mit auf ihre Kammer, wo sie uns zum zweiten Mal betrog. Anstatt mit Wilhelm das Bett zu teilen, sann sie auf Mord. Hätte ich geahnt, zu welcher Tat des Mädchens Abneigung gegen Wilhelms Gestalt führen sollte, hätte ich die Unternehmung verworfen. Doch weder ahnte ich, dass unser Plan der Kröte Tod bringen würde, noch kam mir in den Sinn, dass allein im Sterben der Schlüssel zu Wilhelms Auferstehung lag.
Vor Widerwillen, Kränkung und Selbsthass sah Lydien keinen anderen Ausweg, als den Vertrag zu vernichten, indem sie sich Wilhelms endgültig entledigte. Trotz seiner Bitten, ihn zu erlösen, und trotz seiner Enthüllung, eine verwandelte Menschengestalt aus königlichem Hause zu sein, beendete sie gleich einem Kinde, das ein leidiges Insekt aus Furcht und Ekel erschlägt, das Leben der Kröte, indem sie diese ohne Bedauern und ohne Reue aus allen Kräften wider die Wand warf.
Von dem Jammer, der mich befiel, als ich von dem Hergang erfuhr, lasst mich nicht sprechen. Verzweifelt begab ich mich zurück zu meines Königs Hofe, um in Erfahrung zu bringen, wie es um Wilhelms Körper stand, der bis zu letzt unberührt von Alter und Krankheit, schlafend in seiner Kammer aufbewahrt wurde. Auf meinem langen Fußmarsch nach Hause, bereitete ich mich auf einen endgültigen Abschied vor. Mein Versuch Wilhelm zu retten, hatte ihn getötet, hatte unsere Liebe nun gänzlich und für alle Zeiten unmöglich gemacht.
Herrn Musjes Schatten
Als ich nach zwei durchwanderten Tagen im Palast eintraf, herrschte dort zu meiner Verwirrung ein großer Aufruhr. Es hieß, der Königssohn sei erwacht. Alchemisten, Priester und Ärzte standen dem Erwachten zur Seite. Familie, Gesinde und entfernte Verwandte drängten sich zusammen, um das Wunder zu schauen. Selbst Lydien war mit einer kleinen Gesandtschaft eilend angereist, weil sie fürchtete der Kröte Worte könnten am Ende doch wahr gewesen sein. In diesem Tumult schaffte ich es, mich bis zur Kammer des Prinzen vorzustehlen. Niemand hielt mich auf. Alle schienen viel zu erregt und beschäftigt, um sich eines unscheinbaren Dieners anzunehmen.
Ich schob mich durch die Menschenmenge, die Wilhelms Zimmer belagerte. Ärzte schwirrten um ihn herum, um seine Lebenswerte zu messen, während die Priester ihn segneten und für ihn beteten. Wilhelms Vater saß hängenden Kopfes und mit tränenroten Augen am Fenster. Die Praktikanten des Hofalchemisten dokumentierten die Szene in ihre Hefte, während ihr Meister im Raum energisch auf und ab schritt. Viel zu lange schien es her, dass Wilhelm und ich unbeschwert unsere Liebe teilen konnten und zu viel Leid hatten wir in der Vergangenheit ertragen müssen. Doch umso schöner klang es in meinen Ohren, als ich endlich aus der Menschenmenge hervor trat und er mich mit einem Lächeln begrüßte. »Mein lieber Heinrich«, waren seine Worte. Trotz meines unglücklichen und fehlgeschlagenen Planes zu seiner Rettung, trotz meiner seit Tagen ungepflegten äußerlichen Erscheinung und trotz meiner über die Jahre gewachsenen Reife war ich immer noch sein lieber Heinrich. Ich hätte glücklicher nicht sein können.
An dem Tag, als Wilhelm in Herrn Musjes Schatten zum ersten Mal nach langer Zeit seine Flöte für mich an die Lippen setzte, um eine fröhliche Weise aufzuspielen, da sprangen mit drei donnergrollenden Schlägen die Eisenbänder von meiner Brust und entließen mich in eine Welt stillen Friedens. Von jenem Tag an war ich »der eiserne Heinrich« nicht mehr, obwohl mir der Name für immer anhaftete wie ein Mal.
Warum mein Vater fortan menschliche Verwandlungszauber schalt, wie sich Wilhelms Eltern mit uns aussöhnten und auf welche Weise, wir Lydien davon überzeugten, dass der Vertrag abgegolten sei, ist eine andere Geschichte und braucht an dieser Stelle nicht erzählt zu werden. Selbst Herr Musje wollte von diesen Turbulenzen nichts hören, und so wandten wir uns von der Vergangenheit ab, um in der Gegenwart zu leben.
Nachwort:
Vielen Dank fürs Lesen. Über Meinungen, Feedback und Kritik würde ich mich sehr freuen.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.