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King of the Road

Die erste Tour

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Nach längerer Pause habe ich es mal wieder geschafft, eine Geschichte so weit zu bringen, dass man sie veröffentlichen kann. Wie immer ist die Handlung frei erfunden und Ähnlichkeiten zu realen Ereignissen rein zufällig. Die Geschichte spielt im Nordwesten der USA, einem Ort, an dem ich nie gewesen bin (aber gerne mal wäre). Alles örtliche Wissen stammt aus Google Maps und Wikipedia.

Ach ja, den Inhalt des Urheberrechts dürften inzwischen die meisten von Euch auswendig kennen, oder?

19.12.2007, Benjamin

Benny fuhr mit den Händen durch seine blonden Haare, dann griff er zum Brieföffner und nahm sich den Stapel vor, den der Postbote soeben abgeliefert hatte. Ganz oben lag ein Brief vom Department of Licensing und an ihn adressiert. Er wusste, was drin war, seine Commercial Drivers License, mit der er einen schweren LKW innerhalb des Bundesstaates fahren durfte. Es war ihm so gut wie klar, dass seine Eltern ihm zu Weihnachten die Anzahlung für seinen eigenen Truck schenken würden, schließlich hatte er zum 18. Geburtstag vor ein paar Wochen nur ein paar Kleinigkeiten bekommen.

Benny wollte einen Kenworth W900, mit der klassisch-kantigen Haube. Den modernen Fahrzeugen, wie dem Peterbilt 387 seiner Eltern mit der runden Haube und den bündig eingepassten Scheinwerfern konnte er nichts abgewinnen.

Zwar stand hinterm Haus schon "sein" Truck, aber der war für Besseres vorgesehen, als im Frachtverkehr verheizt zu werden. Ein Diamond Reo Raider, der 1974 als einer der ersten dieser Baureihe auf die Straße kam, um leider vergeblich zu versuchen, die angeschlagene Tochter der White Motor Company zu retten. Ihn wollte er nur ab und zu für kurze Fahrten oder die Zugmaschine Solo als Wohnmobil-Ersatz benutzen. Zwar hatte der Truck ein für damalige Verhältnisse geräumiges Kingcab, aber heutzutage wurden diese Teile als Anderthalb-Liege verspottet, weil sie für eine Person zu groß und für zwei zu klein waren. Von den übrigen auf Führerhauseinbau-Größe zusammengeschrumpften Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wie Kühlschrank, Mikrowellenherd, einer guten Musikanlage und Fernseher gar nicht erst zu reden. Und der LKW konnte sein Alter von über 30 Jahren auch sonst nicht verbergen. Er war laut, trotz eines Austauschmotors, der aber auch nicht viel jünger war, vergleichsweise schwach motorisiert und das Stahlfeder-Fahrwerk konnte es schon seinerzeit nicht mit den luxuriösen, luftgefederten Kenworth und Peterbilt aufnehmen. Mit viel Liebe hatte er, seit er 14 war, diesen Truck einschließlich des aufwändigen Airbrush mit einem heulenden Wolf unterm Vollmond auf den Kabinenflanken und über die komplette Karosserie weiterlaufendem Himmel und Landschaft, restauriert. Gekauft hatte er das gute Stück damals vom Hinterhof einer Spedition in Montana für den sprichwörtlichen Gegenwert eines Apfels und eines Eies. Der Diesel für den LKW seines Vaters, der mit nicht wiedergabefähigen Ausdrücken auf den Lippen und einem geliehenen Tieflader hinter der Zugmaschine zwei Wochen später los musste, das Wrack abzuholen, war teurer. Die danach verbratenen Quadratmeter Reparaturblech hatte Benny aufgehört zu zählen. Aber schweißen konnte er jetzt.

Bennys Blick fiel auf den Dispositionskalender. Seine Eltern waren gerade auf einer Tour in Texas und würden übermorgen hier ankommen. Sein Vater sollte dann alleine noch eine Zweitagestour durch den State of Washington machen, während seine Mutter mit ihm Weihnachten vorbereiten würde. Heilig Abend sollte dann die kleine Familie zusammen sein. Eigentlich schon am Sonntagmorgen, aber die Fracht von Spokane nach Portland war noch kurzfristig dazwischen gekommen und würde wohl dafür sorgen, dass er erst am späten Nachmittag eintreffen würde.

Das Telefon unterbrach seinen Traum von Weihnachten: "Trethers Transports?" – "Sheriff Myers, Summit County, Colorado. Sind sie Benjamin Trethers?" – "Ja, am Apparat." – "Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Eltern einen Unfall hatten und im Krankenhaus sind. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Der Lastwagen ist ein Totalschaden. Sie können heute Nachmittag ihre Eltern anrufen." Benny schrieb noch die Nummer auf, dann ließ er sich auf das Sofa fallen. "Den Umständen entsprechend gut." Was hieß das? Wenn man einen schweren Unfall mit Totalschaden hatte, bei dem zwei mal 30 Tonnen aufeinander prallten, dann war das pure Überleben bei Bewusstsein schon "den Umständen entsprechend gut", wenn man dagegen nur beim Ausweichen über einen Stein rauschte und dabei den Rahmen verzog, dann waren es nur ein paar Prellungen, aber der Totalschaden war dennoch da.

Nachmittags rief er die Nummer an und sein Vater meldete sich. "Hallo Dad, wie geht es euch? 'Den Umständen entsprechend gut' ist so eine Floskel, die nur ein Sheriff bringen kann." – "Aber er hat Recht. Uns kamen zwei sich überholende Trucks entgegen, da ist uns die Straße ausgegangen. Mum hat versucht auszuweichen und ist ins Schleudern geraten. Darauf haben wir den Trailer des überholenden Wagens erwischt, haben das Klappmesser gemacht und sind umgestürzt. Sie hat einige gebrochene Rippen, ein gebrochenes Bein und eine Gehirnerschütterung. Ich habe Schnittverletzungen, einen gebrochenen Arm und ein Schleudertrauma. Unser Laster ist Schrott." Das englische "to jackknife a truck" bedeutet, dass die Zugmaschine so weit herumgedrückt wird, bis sie gegen den Trailer drückt, der Ausdruck kommt daher, dass die Bewegung wie das zusammenklappen eines Taschenmessers aussieht und bei Frontlenker-LKW mit kippbarer Kabine dabei selbige auch meist abgeschert wird. "Klingt so, als hättet ihr wirklich Glück gehabt. Das hätte ja noch schlimmer ausgehen können. Und wie geht es jetzt weiter?" – "Weihnachten werden wir leider noch hier liegen müssen. Wir kommen wohl erst nach Neujahr zurück und dann sehen wir weiter. Die Tour nach Spokane und Portland wirst du leider verkaufen müssen, aber sie ist ja auch einiges wert." – "Nein, meine CDL ist heute gekommen, dann fahre ich die." – "Womit denn?" – "Na mit meinem Reo natürlich. Der ist zwar gegenüber Eurem 387 etwas schwach auf der Brust, aber technisch top. Muss mir nur noch was einfallen lassen, wie ich über die Staatsgrenze nach Portland rein komme. Vielleicht kann der Kunde den Trailer mit einer Regionalzugmaschine an der Staatsgrenze übernehmen." – "Ach, du schaffst das schon. Bis die Tage mal wieder. Telefonieren ist sehr anstrengend für mich." – "Ja. Euch gute Besserung und grüß Mom von mir."

In den folgenden zwei Tagen machte Benny alles klar. Über die Staatsgrenze nach Portland würde ein Fahrer des Kunden den Truck steuern, was Benny aber nur mäßig gefiel. Ein Fremder am Steuer seines Lieblings. Selbst durfte er leider noch nicht außerhalb von Washington fahren, bevor er 21 war. Der Rest war kein allzu großes Problem. Und wenn er wieder heim kam, stand schon der Weihnachtsbaum, den er in den letzten Tagen gekauft, aufgestellt und geschmückt hatte. Die Feiertage würde er also alleine damit verbringen, danach würde er aber mit seinen Eltern Weihnachten nachholen.

21.12.2007, Jordan

Jordan starrte ins Dunkel seines Schlafzimmers. Er konnte natürlich nichts sehen, eben weil es Dunkel war. Aber auch bei eingeschaltetem Licht hätte er nichts gesehen, weil ihm die Tränen in den Augen standen. Er konnte deshalb auch nicht schlafen. Warum müssen Kinder nur immer in der falschen Familie geboren werden? Er war lebenslustig, er war tolerant, er war weltoffen, er war Punk und er war schwul. Seine Eltern waren ernst, sie waren religiös, sie waren konservativ, sie regten sich über sein Aussehen auf und sie wussten nicht, dass er schwul war. Sein Bruder war gewalttätig, er war ein National Socialist Vanguard, er hasste Punks, er hasste Schwule und von Jordan wusste er auch nur, dass er Punk war, was schon viel zu viel war, sich aber nicht verbergen ließ. Die Eltern wussten nichts von der Gewalt, aber sie wussten von den Nazis. Und sie akzeptierten es. Es fiel nicht "unanständig" auf und raspelkurze Haare mit einem arischen "Idealbild" zum Ziel kam den konservativen Vorstellungen ihrer Kirche näher als Stachelhalsbänder, zerfetzte Hosen, Piercings und ein Irokesenschnitt.

Erst heute, angestachelt durch das Bekenntnis eines regional ziemlich bekannten Profigolfspielers zur Homosexualität, hatte es mal wieder einen interessanten Abend gegeben. Eltern und Bruder zerrissen sich das Maul, Jordan versuchte so viel wie möglich zu überhören, während er sein Abendessen herunterwürgte. Wenn die wüssten… ja, dann würde ihn sein eigener Bruder umbringen und seine Eltern würden es gut finden. Sogar dieses Szenario hatte er schon aus irgendwelchen Unterhaltungen herausgehört. In dem Moment, in dem seine Eltern von seiner Neigung erfuhren, blieb ihm nur noch, schneller die Stadt zu verlassen, als sein Bruder mit seinen Schlägertrupps ihn finden würde. Endlich weinte er sich doch in den Schlaf.

22.12.2007, Benjamin

Am Morgen klingelte dann der Wecker sehr zeitig, draußen war es noch dunkel, als Benny seinen Teller abspülte und aus dem Haus auf den Hinterhof ging. Im Mondlicht hob sich der Umriss seines Trucks deutlich ab, es war klirrend kalt und überall glitzerten Eiskristalle. Er steckte den gegenüber dem bulligen Fahrzeug zerbrechlich wirkenden Schlüssel in das Türschloss und das Gestänge knackte beim Aufschließen protestierend, als hätte er den Wagen gerade zu früh geweckt.

Der frischgebackene Trucker kletterte in das Führerhaus, steckte den Zündschlüssel in das Schloss und drückte den Batterieknopf. Die Lampen im Armaturenbrett erwachten zum Leben, nach einigen Sekunden gingen sie bis auf die orange für die Glühkerzen wieder aus. Diese brannte noch fast 20 Sekunden weiter, bis auch sie erlosch. Benny drückte den Startknopf und der V8 Dieselmotor sprang an. Durch die lange Standzeit war das Bremssystem natürlich leer und so dauerte es etliche Minuten, bis die Bremsen mit einem Zischen lösten. Bis da hin waren wenigstens die Scheiben auch so weit enteist. Benny griff zum langen Schaltknüppel und legte den zweiten Gang ein. Der LKW rollte kurz darauf mit dem Reserve-Trailer los zur ersten Etappe nach Mount Vernon. Nachdem er die letzten zwei Jahre nur seinen Automatik-Pickup gefahren war und er die Fahrprüfung auf dem Halbautomatik-Peterbilt seiner Eltern gemacht hatte, brauchte er ein paar Meilen, sich an das Fuller 13-Gang zu gewöhnen. Die Gänge waren in zwei Ebenen angeordnet, für die es einen Zugschalter unter dem Knauf des Schaltknüppels gab, den man nur einmal zwischen 5. und 6. Gang brauchte. Die obere Ebene war dann mit einem Splittergetriebe geteilt, das mit einem Schiebeschalter seitlich am Knauf ein ziemliches Fingerballett verlangte. Vom 6. in den 7. Gang musste er nur den Splitter nach vorne drücken, in den 8. dann den Splitter wieder zurück ziehen und dabei den Schaltknüppel auch nach hinten ziehen und so weiter. Leer ging es flott voran und schon bald tauchte vor ihm die Fähre von Port Townsend nach Keystone im letzten Mondlicht auf.

Gestern war der kürzeste Tag des Jahres, dementsprechend spät kam die Sonne über die Rocky Mountains. Er hatte den Truck in Mount Vernon an einem großen Frachtterminal durch Arbeiter beladen bekommen und steuerte nun quälend langsam mit den murrenden 290 PS über den Stevens Pass das erste Zwischenziel, Wenatchee, an. Hierbei kam er in den Schatten der Berge und es wurde wieder dämmerig. Sowohl der Routenplan seines Vaters, den er aus dem Computer gezogen und ausgedruckt hatte, als auch sein mobiles Navigationsgerät auf dem Armaturenbrett waren der Meinung, dass ein moderner Truck deutlich schneller unterwegs sei. Inzwischen hing er seinem Navi schon 20 Minuten hinterher und der Routenplaner-Software für Speditionen sogar schon 35.

Endlich dachte er dann weiter oben: "Man muss kein Astronaut sein, um mehr als einen Sonnenaufgang pro Tag zu erleben", denn kurz nach der Passhöhe öffnete sich die Landschaft nach Osten und er rollte, sich die Brille mit den dunkelblauen Gläsern aufsetzend, der Sonne entgegen, die er an der Küste schon einmal hatte aufgehen sehen. Dabei sinnierte er über sein Leben. Seine Schulkameraden waren fast alle nach Seattle oder sogar in andere Bundesstaaten gezogen um zu studieren. Nur wenige waren in der Gegend geblieben, und lernten einen Beruf in der Stadt. Sein Banknachbar aus der Highschool, Tim, war mit gerade 18 schon verheiratet und seine Frau erwartete im April ein Kind, wobei sich hier die Frage nach "No Sex until Marriage" oder "Marriage before Child" nicht sehr ernsthaft aufdrängte. Benny konnte schließlich rechnen, das Kind sollte im April geboren werden, er war Tims Trauzeuge auf der Hochzeit im Oktober gewesen, da muss die liebe Mandy also schon im dritten Monat gewesen sein. Auch unehelich wäre das in ihrer liberalen Baptistengemeinde kein Problem gewesen, aber die beiden und auch die zukünftigen Großeltern wollten bei der Geburt vor allem juristisch geordnete Familienverhältnisse haben.

Und er? In seinem Ersatz-Liebesobjekt saß er gerade drin und lauschte dem monotonen Brummen des Diesels, gelegentlich vom maschinengewehrartigen Stakkato der Dekompressionsbremse zerrissen. Vor zwei Jahren hatte er sich zusammen mit seinem damaligen Freund Chris geoutet, seine Eltern und, nachdem sie ihre Liebe nicht mehr versteckten, auch ihr Umfeld in der nicht einmal 20000 Einwohner großen Stadt Port Angeles hatte es gut aufgenommen. Chris war Bi und inzwischen mit einem sehr verständnisvollen Mädchen zusammen, während alle Welt wusste, dass er ab und zu seine Abwechslung bei wechselnden Jungs suchte. Auch Benny war darunter gewesen. Einerseits hing Benny noch immer sehr an Chris, andererseits war ihm klar, dass eine Beziehung zu ihm nichts auf Dauer gewesen wäre. Benny wollte jemanden für sich alleine. Da war einer, der das Verlangen nach beiden Geschlechtern hatte, und daher zwangsweise wegen seinem Verlangen danach, was ihm Benny nicht geben konnte, bei einem Mädchen "fremdgehen" musste, nicht der richtige. Er hatte es versucht, aber irgendwie litt ihre Beziehung darunter am Ende. So hatte Benny dann unter Tränen mit Chris Schluss gemacht, sie waren dennoch lose Freunde geblieben und ohne den Hintergrund einer Beziehung ja doch noch zwei Mal in der Kiste gelandet. Das Ende der Beziehung war nun über ein Jahr her und so langsam sehnte sich Benny wieder nach einer festen Beziehung. Nicht mal einen Freund im Sinne von Kumpel hatte er noch so richtig. Tim hatte kaum noch Zeit für ihn. Die Verantwortung für seine zukünftige Familie lastete schwer auf ihm. Es gab mal Grillpartys oder ein Abendessen. Aber das war auch nur alle 1 bis 2 Monate. Und ein Gespräch unter Männern war schon gar nicht mehr drin, in dem er mal seine Sorgen und Nöte hätte erzählen können.

Das wurde ihm umso mehr klar, da nun seine Eltern, die ohnehin oft genug weg waren und ihn alleine ließen, seit er 14 war, irgendwo in Colorado im Krankenhaus lagen. Er war alleine, er machte sich Sorgen und er hatte keine Stütze, an die er sich anlehnen konnte, kein offenes Ohr, das ihm zuhören konnte, keine Hände, die ihn beruhigend streicheln konnten.

In Wenatchee fand er dank des Navigationsgerätes schnell die Fabrik, bei der er abliefern musste und die Leute staunten nicht schlecht über den Jungen, dessen Truck doppelt so alt war wie er selbst. Der Geschäftsführer fuhr einen Dodge Charger Baujahr 1969 und so musste Bennys Truck mit dem Sportcoupe noch für ein paar Bilder im Stil der 70er posieren. Mit immer mehr Verspätung machte er sich auf den Weg zu seiner nächsten Ladestation, einer Holzfabrik in Omak. Und das war das eigentliche Problem. Dort gab es nur drei Kisten, aber die mussten bis 19:00 in Spokane am Flughafen sein. Der Plan seines Vaters sah vor, dass er gegen 15:30 da sein sollte, aber Benny hing nun schon 3 Stunden im Zeitplan, dem dämlichen Dodge Charger sei Dank. Aber der Kunde hat nun mal immer Recht, und sei es das Recht auf sein Vergnügen. Vor allem weil diese Firma eben einer der wichtigsten Kunden der elterlichen Spedition war. Also trat Benny nun auf dem Highway US-97 das Gaspedal so tief, wie er nur konnte, ohne aus den Kurven zu fliegen. Mehr als einmal spürte er am plötzlich leichtgängigen Lenkrad, dass er im Grenzbereich war und die Reifen haltlos über den Asphalt zu rutschen drohten. Immerhin war es in der Sonne deutlich über Null Grad und somit bestand keine Glättegefahr.

Die Verspätung war nicht größer geworden, als er in der Schnitzerei ankam. Hier sollte er wegen eines Hochwasserschadens Ende November zu ersetzende Kirchenfiguren aufladen, damit diese noch über Nacht nach Kansas geflogen werden konnten und am Heilig Abend in der Kirche stehen würden. Der Versandleiter schaute Benny erstaunt an und meinte mit ebenso erstauntem Blick auf den alten Truck: "Das Schätzchen schlägt sich ja wacker. Wird es noch klappen mit der Lieferzeit?" – "Beim Gewicht laut Papieren ja. Leer in der Ebene kann ich mit den 290 PS die Fahrzeiten des Routenplaners halten, nur voll und bergauf nicht." Der Arbeiter, ungefähr so motiviert wie die Exemplare heute morgen am Hafen, hatte die drei einsamen Holzkisten mit eiliger Weihnachts-Terminfracht in den Trailer gestellt und wollte gerade mit dem Gabelstapler wieder verduften. "Hey! Zurr die Dinger gut mit Spanngurten fest. Unten und oben. Und wenn ich sage gut, dann meine ich gut!" rief Benny. Also kletterte der Kerl in den Trailer und fing mit dem ihm eigenen Arbeitstempo an, Spanngurte um die Füße der Kisten zu legen. Benny kletterte hinterher und begann die oberen Ösen zu sichern. Der Versandleiter drückte ihm, nachdem er wieder Asphalt unter den Füßen hatte, noch die Hand, wünschte eine gute Fahrt, frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Benny stieg ins Führerhaus, startete den Motor und fuhr mit um Gnade jammernden Reifen vom Hof.

Während der Fahrt fingerte er sein Handy aus der Ablage, vertröstete das Stahlwerk in Oregon auf Morgen um die Mittagszeit und wählte dann die Nummer des Büros in der Spedition. Per Fernabfrage hörte er den Anrufbeantworter ab. Zwei Nachrichten, die eine hatte sich erledigt, es war die Firma, wo er eben beladen hatte, die kurz bevor er angekommen war, versucht hatte, herauszufinden, wann die Abholung stattfindet. Die andere stammte von der nächsten Beladerfirma kurz hinter Spokane, eine ziemlich gereizt klingende Bitte um Rückruf. Also tippte er bei 60 Meilen auf dem Tacho auf einem Minor Highway, was einer mäßig ausgebauten Landstraße entsprach, die Nummer ins Handy und fuhr dann einhändig weiter. Es meldete sich der Lagerverwalter des Kunden. Wann er denn käme, die Firma hätte schon Feierabend, man warte nur noch auf ihn. Benny erklärte, dass er mit einem alten Truck unterwegs wäre, der mit 290 PS nicht die von seinem Vater geplante und angekündigte Zeit halten könne. Es würde wohl gegen 20 Uhr werden. Sein Gesprächspartner wurde sauer und fing an ihn anzuschnauzen, wenn er zu jung wäre, Truck zu fahren, dann solle er das doch seinem Vater überlassen. Benny schrie, teils aus Zorn, teils gegen den Motor, der ihm dank ständigem Lastbetrieb wirklich geräuschmäßig stark an den Nerven zerrte, an: "Meine Eltern sind vor einigen Tagen schwer verunglückt und können derzeit gar nicht fahren. Ich sitze hier in einem Diamond Reo Raider, was wahrlich kein Vergnügen ist, wenn man moderne Trucks kennt und ich hasse mich dafür, dieses Sammlerstück seit heute Mittag nur noch mit Vollgas zu foltern, damit ich Kunden wie Sie noch bedienen kann. Wenn Ihnen das nicht passt, schauen Sie doch mal, ob Sie an einem Sonntag, einen Tag vor Heilig Abend, noch eine Spedition finden, die Ihnen Ihre Fracht nach Portland schafft. Wenn ja, dann sagen Sie mir Bescheid, damit ich vom Gas gehen kann, anstatt meine frisch überholte Maschine an zwei Tagen gleich wieder zu Klump zu fahren." – "Denken Sie dran, ich bin der Kunde. Und eine schlechtere Ausrede als in einem Truck, von dem Sie vermutlich nicht einmal wissen, wie er aussieht, zu sitzen, ist Ihnen gerade nicht eingefallen? Ich kenne Sie noch als kleinen Jungen, Sie müssten jetzt kurz vor 20 sein und waren früher mit Ihrem Vater öfters da. Da waren Sie wenigstens noch begeistert und nicht frech." Benny reichte es, da vorne kam eine Kurve. Er zog den Hebel für die Motorbremse alle 4 Rasten nach hinten. Die Auslassventile wurden dabei einen Spalt geöffnet und der Motor heulte laut auf, passend zum Wolf auf der Kabine. Das Geräusch unterschied sich deutlich von den moderneren Dekompressionsbremsen mit einem Zusatzventil und Schalldämpfer, besonders dadurch, dass es überhaupt deutlich genug für ein Telefon hörbar war. Der Lagerverwalter fragte schockiert: "Was war das?" – "Nur meine Jake Brake!" Nach einem kleinlauten "Bis nachher" legte der Kerl auf.

18:35 Uhr, also 25 Minuten vor der letztmöglichen Zeit rollte Benny an die Laderampe des Frachtzentrums am Flughafen. Der Stapler hatte die Paletten kaum aus dem Trailer gefahren, als Benny schon vorzog, die Türen am Trailer verriegelte und sich auf den Weg nach Colbert machte. Hier erwartete ihn dann sein Gesprächspartner von vorhin, beim Anblick der Reihe Rauten in der Mitte des quadratischen Kühlergrills wurde er doch etwas bleich. Seinen letzten Raider im Fernverkehr hatte er bestimmt um 1985 an der Laderampe. Der letzte Staplerfahrer war schon längst zu Hause und so fuhr der Lagermeister selbst die Paletten in den Trailer, während Benny sich vergewisserte, dass alles sicher verstaut war. Laut Frachtpapieren war eine zerlegte Maschine für das Stahlwerk unter den Folien. Der Kunde verabschiedete sich und fügte noch kleinlaut hinzu: "Entschuldigung, ich war vorhin etwas ungehalten. Aber da wird am Samstag in einigen Sonderschichten vor Weihnachten eine Maschine fertig gestellt, die ohnehin ein Garantie-Ersatz ist, und dann droht die Abholung zu platzen. Statt des bekannten Fahrers ruft plötzlich dessen Sohn an, der gerade den Führerschein haben kann und kündigt seine Ankunft mit gut zwei Stunden Verspätung an. Aber wie ich erfahren musste, stimmt die Geschichte ja. Wünschen Sie den Eltern gute Besserung, und frohe Weihnachten. Ihnen natürlich auch, dazu eine gute Fahrt und foltern Sie das gute Stück nicht gar zu sehr."

Wieder im Fahrerhaus fragte Benny sich, ob er sich über den Mann aufregen sollte oder ihn bemitleiden sollte. Seine Familie war vermutlich zu Hause, die Weihnachtsvorbereitungen liefen auf Hochtouren und der Vater ist nicht da. Stattdessen darf er Überstunden schieben, weil die Spedition mangels genügend Hufen unter der Haube nicht aus denselben kommt. Aber das alles sollte kein Grund sein, sich am Telefon so gehen zu lassen und ausfallend zu werden.

Während er so grübelte, war er schon wieder auf dem Interstate 90 angekommen und fuhr ins Dunkel der Nacht hinein. Langsam merkte er, dass er schon viel zu lange auf den Beinen war, aber er wollte so viel wie möglich noch vor der Nachtruhe schaffen. Ein paar Mal hatte er das Gefühl, dass ihm ein paar Meter Strecke "fehlten", in 10 Meilen kam der nächste Truckstop, wo er übernachten wollte. Das Schild für die Abfahrt Keystone tauchte in der Ferne im Scheinwerferlicht auf.

Das Summen der Reifen auf der geriffelten Linie schreckte Benny auf. Da vorne kam das Schild. Eine Meile zur Abfahrt Tokio (ein kleines Kaff im Niemandsland Washingtons mit dem Namen einer Metropole)?!?! War er allen Ernstes drei Meilen schlafend gefahren? Gut, dass es hier bolzenstrack geradeaus ging. Immerhin kam durch diese Erkenntnis ein Adrenalinschub und die Aufmerksamkeit zumindest für ein paar Minuten zurück, die ihm reichten, "Jake's Truck Stop" in Ritzville zu erreichen, den Motor abzustellen und die Tür zu verriegeln, sich die Jeans von den Beinen zu streifen, den Pullover auszuziehen und auf die Liege in der Schlafkabine zu klettern. Mit letzter Energie stellte er den Wecker in seinem Handy auf 6:30 Uhr und schon war er weg.

Nachwort

Das war der erste Teil, viel passiert ist ja nicht. Aber so ist das im Leben manchmal, vielleicht auch oft? Man ist alleine mit seinen Gedanken an frühere, bessere Zeiten und auf der Suche nach ebenso guten Zeiten, die da kommen mögen, aber es nicht tun.

Für Kritik und Anregungen bin ich natürlich dankbar, auch wenn die Geschichte schnell voranschreitet und daher vielleicht schon die Fortsetzung eingereicht ist, bevor der erste Teil veröffentlicht ist.

Eurer "Erik"

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