zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Vicenza

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

„The more it shakes

the more I have to let go

Now the signals

still getting all mixed up

We’re always doing damage control

But in the middle of the night I worry

It’s blurry even without light

[…]

I miss you more than I knew…”

(Blizzard of ’77 – Nada Surf*)

Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos. Es ist, als hätten sich die Natur und das Schicksal verbündet und würden nun hämisch über mich lachen, denn das Wetter ist eigentlich viel zu gut, um Trübsal zu blasen. Doch so sehr ich mich auch bemühe zu lachen, im Moment kann ich innerlich nur weinen. Wenigstens das gleichmäßige Rattern der Schienen beruhigt mich ein wenig. Draußen vor dem Fenster zieht Norditalien vorbei – alte Bauernhöfe, lichte Wälder, geschwungene Landstraßen, beschauliche Dörfer und grüne Wiesen wechseln sich ab. In der Ferne sind schemenhaft Berge zu erkennen. Im Gegensatz zum Rest der Welt da draußen bewegen sie sich nicht, bleiben standhaft, geben mir und meinen Augen einen sicheren Halt, etwas, worauf ich mich stützen kann. Seufzend lehne ich mich zurück in meinen Sitz und schließe kurz die Augen.

Ich sitze im Eurocity nach Venezia Santa Lucia. Nachdem mein Leben in den letzten Wochen zusammengebrochen war wie ein Kartenhaus, fühlte sich diese Reise an wie eine letzte Hoffnung. Wobei der Ausdruck Reise in diesem Fall eher unpassend war, denn es handelte sich offensichtlich viel eher um eine Flucht. Eine Flucht vor der Realität. Eine Flucht vor dem Schmerz. Italien hatte mich noch nie hängen lassen – wenn ich hierherkam, dann war ich glücklich. Immer. Ich konnte normalerweise gar nicht anders. Doch diesmal war nicht normalerweise. Diesmal funktionierte es nicht.

Ich hatte versucht zu vergessen, was passiert ist. Kurzzeitig hatte es funktioniert, doch jedes Mal, wenn ich dachte, ich wäre darüber hinweg, kamen all die negativen Gedanken, die Selbstzweifel, der Schmerz und das Gefühl, verraten worden zu sein, mit doppelter Härte wieder zurück. Ich wollte all das nicht, ich wollte doch einfach nur wieder fröhlich werden. Allein. Ein Widerspruch in sich. Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass ich mein Leben und mein Glück so sehr von einer einzigen Person abhängig gemacht hatte.

Da, es geht schon wieder los. Ich bin eigentlich hier, um alles zu vergessen und mich selbst wiederzufinden, stattdessen denke ich nur über diese eine Sache nach. Ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, das bisher unangetastet vor mir auf dem Tisch gelegen hatte. Es ist mühsam, doch ich zwinge mich dazu, ein paar Seiten zu lesen.

„Signore e signori, tra pochi minuti raggiungeremo Vicenza“, ertönt es aus den Lautsprechern. Vicenza. Die Stadt Palladios. Schon erscheinen die ersten Vororte neben den Gleisen, der Zug bremst gemächlich ab. Ich entspanne mich wieder etwas, plötzlich gewinnt meine Neugier und Reiselust doch Überhand. Während der Zug langsam um eine Kurve fährt, erscheint die Silhouette der Altstadt vor dem Fenster. Ich erblicke die Basilica Palladiana, deren Turm über dem Rest der Stadt zu thronen scheint. Ein vorsichtiges Lächeln legt sich auf meine Lippen. Zum ersten Mal seit ich heute Morgen in diesen Zug gestiegen war, fühlt es sich nach einer guten Entscheidung an, hierherzukommen. Ich hatte es doch gewusst, nichts tut der verwundeten Seele besser als Italien.

Mit einem leisen Quietschen kommen wir schließlich im Bahnhof zum Stehen. Von meinem Sitzplatz aus beobachte ich das Gewusel draußen auf dem Bahnsteig. Passagiere steigen aus, Passagiere steigen ein, fast alle ziehen einen großen Koffer hinter sich her. Ein italienischer Schaffner schlendert vor meinem Fenster auf und ab und blickt gelegentlich auf seine Armbanduhr.

Ich frage mich, was wohl in den Köpfen all dieser Menschen da draußen vorgeht. Frage mich, ob sie glücklich und zufrieden mit ihrem Leben sind. Vielen von ihnen geht es möglicherweise genau wie mir, andere haben vermutlich sogar noch viel größere Probleme und trotzdem lassen sie sich nichts davon anmerken, lassen sich nicht unterkriegen vom Leben. Plötzlich komme ich mir ziemlich jämmerlich vor – wie viele der Leute da draußen würden meine Probleme, die mich seit Tagen und Wochen so sehr quälen, wohl mit Kusshand nehmen im Tausch gegen die wirklich schwerwiegenden Sorgen, die sie sich vielleicht jeden Tag machen müssen?

Ich lasse meinen Blick noch ein wenig über den Bahnsteig schweifen, der sich langsam etwas leert, bis etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nicht etwas, jemand. Dieser Pulli und dazu diese Hose, das kommt mir irgendwie bekannt vor, aber kann das wirklich…? Nein… das muss eine optische Täuschung sein. Nervös reibe ich mir die Augen, als würde ich erwarten, dass der Streich, den sie mir gerade bestimmt spielten, dann aufhören müsste. Aber dem ist nicht so. Ich schaue wieder nach draußen und fokussiere zum ersten Mal das Gesicht der Person, die meine Aufmerksamkeit erregt hat. Und plötzlich sehe ich wieder klar und dort stehst du, mitten auf diesem Bahnsteig in Vicenza, gute 500 Kilometer entfernt von Zuhause.

Als würdest du den Blick auf dir spüren, drehst du dich schließlich in meine Richtung und unsere Blicke begegnen sich. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung sehe ich Erkenntnis in deinen Augen, dann wirkt deine Miene nachdenklich und distanziert. Ich spüre, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen und Panik steigt in mir auf. Das kann einfach nicht sein. Das darf auch nicht sein. Mir wird schlagartig heiß und ich beginne zu zittern.

Am Rande nehme ich wahr, wie sich der Zug ganz langsam wieder in Bewegung setzt. Du wirfst mir noch einen letzten Blick zu, dann drehst du dich weg. Das Menschenmeer draußen auf dem Bahnsteig gleitet erst langsam, dann immer schneller an meinem Fenster vorbei, dann endet plötzlich der Bahnsteig, der Zug nimmt weiter an Fahrt auf, überquert zwei Brücken, die Basilica Palladiana verschwindet aus meinem Blickfeld, einige weitere Vororte ziehen vorbei und plötzlich haben wir die Stadt hinter uns gelassen. All das bekomme ich nur am Rande mit, denn ich bin immer noch damit beschäftigt, mein Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Der Mitreisende auf dem Sitzplatz gegenüber wirft mir einen skeptischen Blick zu, offensichtlich hatte ich auch deutlich lauter als normal geatmet. Ich greife nach meiner Wasserflasche und trinke einen Schluck, um mich zu beruhigen. Dann atme ich einmal tief durch und merke, dass es hilft.

Es ist vorbei, der Zug ist abgefahren. Was auch immer das gerade war, es wird mich nicht unterkriegen, versuche ich mir einzureden, auch wenn ich bereits im gleichen Moment weiß, dass dies nicht auf Dauer funktionieren wird. Und trotzdem fühle ich mich plötzlich stärker als zuvor, als hätte ich die erste kleine Probe des Schicksals bestanden.

„Eines Tages wirst du nicht mehr dort stehen…“, murmle ich leise vor mich hin, dann gleitet mein Blick wieder aus dem Fenster. Diesmal schaue ich nach vorne, in die Richtung, in der in weniger als einer Stunde Venedig zu sehen sein wird. Vicenza habe ich hinter mir gelassen.

„And as we pass by each other

our heads all full of bother

We can’t look, we can’t stop

We can’t think, we can’t stop

‘Cause we’re stuck in our own paths

and it’s the way it always lasts

And I need something more from you

All I am is a body floating downwind”

(Paper Boats – Nada Surf*)

Nachwort

Wirklich viel zu sagen gibt es zu dieser kurz-kurz-Kurzgeschichte eigentlich nicht mehr, daher möchte ich diese Gelegenheit nur kurz nutzen, um etwas Werbung für das grandiose Album „Let go“ der Band Nada Surf zu machen, von dem die beiden hier zitierten Songs stammen.

Ich selbst habe es kurz vor meinem letzten Italientrip durch Venetiens Städte entdeckt und dann während dieser Reise immer und immer wieder abgespielt. Ich verbinde mit diesen Liedern daher fast automatisch eine unglaublich gute Zeit an unglaublich schönen Orten. Dass ich ausgerechnet Songs von diesem Album hier zitiert habe, liegt also zu einem großen Teil auch daran, dass ich es unter anderem während der Anreise auf genau der hier beschriebenen Zugstrecke gehört habe.

Natürlich haben die beiden Lieder in dieser Story aber trotzdem einiges mit den negativen Gefühlen zu tun, die man beispielsweise nach einer Trennung eben so hat. Ganz unbegründet haben sie ihren Weg in diesen Text also nicht gefunden.

Besonders aufmerksamen Lesern mag außerdem möglicherweise aufgefallen sein, dass dies jetzt schon die zweite sehr knapp gehaltene traurige Kurzgeschichte in Folge war. Tatsächlich ist es nicht so, dass ich nur Geschichten dieser Art schreibe – eher im Gegenteil – nur ist es eben deutlich einfacher, eine sehr kurze Story fertigzustellen als eine längere. Irgendwann werde ich hier aber bestimmt auch mal wieder eine ausführlichere und (vielleicht?) fröhlichere Geschichte veröffentlichen.

*

Nada Surf – Blizzard of ‘77

Komponist: Matthew Caws, Ira Elliot, Daniel Lorca

Textdichter: Matthew Caws, Ira Elliot, Daniel Lorca

Verleger: Barsuk Records

Nada Surf – Paper Boats

Komponist: Matthew Caws, Ira Elliot, Daniel Lorca

Textdichter: Matthew Caws, Ira Elliot, Daniel Lorca

Verleger: Barsuk Records

Lesemodus deaktivieren (?)