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Lucas

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Vorwort:

Trara!!! Großer Tusch, Vorhang auf und Beifall bitte! Da ist sie, meine erste Geschichte. Oder genauer gesagt, meine erste fix und fertig gestellte Geschichte. Viele könnten noch folgen, denn viele Geschichten geistern noch so in meinem Kopf herum oder existieren bereits angefangen oder halb fertig auf dem Papier. Lange schon wollte ich endlich mal eines dieser „Werke“ fertig stellen, doch erst, als ich vor knapp einem dreiviertel Jahr Nickstories entdeckte, war mir klar, wenn überhaupt, dann ist dies die Seite auf der meine erste fertige Story erscheinen soll.

So liebe Leser von nickstories.de und nun habt ihr den Salat. Hier ist sie also, meine Geschichte von Jan-Phillip und Lucas. Eine klassische Lovestory und Coming Out Geschichte. Ein wenig schmalzig, hoffentlich auch ein wenig lustig und genauso unterhaltsam, sicherlich aber mit viel Freude geschrieben und, wenngleich natürlich vollkommen frei erfunden, doch mit ein ganz klein wenig eigener Erfahrung gewürzt.

Geschichten, so hört man oft von den unterschiedlichsten Autoren, sind wie die eigenen Kinder. Man setzt sie in die Welt, erst ein wenig unfertig und unbeholfen, doch schon bald entwickeln sie eine eigene Dynamik und tapsen erst sehr vorsichtig und dann doch immer zielsicherer über das weiße Blatt Papier. Je länger man an ihnen schreibt, umso mehr entwickeln die einzelnen Figuren der Geschichte ihren eigenen Charakter und wachsen einem so richtig ans Herz. So geschieht es, dass obwohl man am Anfang eine klare Vorstellung hatte von dem was man da so zu Papier bringen wollte, mit der Zeit sich doch der eine oder andere Schlenker einschleicht und man zum Schluss erstaunt feststellt, wie sehr doch diese kleinen Charaktere ihr eigenes Leben führen.

Mir hat es sehr viel Freude bereitet diese Geschichte zu schreiben und ich hoffe, alle, die diese Geschichte lesen, werden mindestens genauso viel Freude dabei haben.

Nun noch einige Dinge vorweg. Diese Geschichte ist von mir für nickstories.de geschrieben und soll natürlich gelesen werden, gerne auch mehrmals. Sie darf für private Zwecke herunter geladen, gedruckt oder abgespeichert werden. Alles andere bedarf jedoch meiner ausdrücklichen Erlaubnis!

Die Geschichte ist frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten zu irgendwelchen Personen sind daher vollkommen zufällig.

Rechtschreibung soll es geben. Ich habe versucht sämtliche Regeln so gut es geht zu ignorieren und hoffe, dass mir das die geschätzte Leserschaft irgendwie nachsehen wird.

Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann schreibt mir bitte, wenn nicht, na ja dann schreibt mir bitte auch. Schließlich laufen alle Gefahr, noch weitere Geschichten von mir vorgesetzt zu bekommen. Und wenn sich das schon nicht verhindern lässt, kann eure hoffentlich konstruktive Kritik zumindest das Ergebnis deutlich verbessern.

So, nun aber genug geredet und man frisch drauflos gelesen. Ich jedenfalls wünsche euch nun viel Spaß bei dem, was jetzt folgt.

Euer Fritz

 

Nur noch recht zaghaft fiel der Schnee auf die bereits vollkommen eingeschneite Stadt. Auf meine Stadt! Ich trat vor die Tür, mein Blick fiel auf meinen neuen, gebrauchten Flitzer, der am Rand der Straße geparkt war. Eine dicke Schneeschicht hatte sich bereits über ihn gelegt, nur hier und dort schaute etwas von dem weinroten, metallisch glänzenden Lack hervor. Ich reckte mich und sog die frische Luft ein. Okay, soweit man mitten in einer Großstadt mit rund einer halben Million Einwohnern und einem Verkehr für mindestens eine Million von frischer Luft reden konnte. Selbst jetzt nach diesem plötzlichen Wintereinbruch quälte sich der Verkehr, wie sich das für eine anständige Rushhour gehörte, über die vier Spuren jener Straße, welche nun seit gut einem Monat meine neue Postanschrift war.

Und dennoch, der Neuschnee schien die Luft richtig durchgewaschen zu haben. Nur der leichte Dieselgeruch unzähliger LKWs, die sich zur A2 durchschlugen, waberte in der Luft und schien den völlig zu Unrecht geprägten Ruf dieser Stadt bestätigen zu wollen, der besagte, dass diese eigentlich gar keine Stadt, sondern in Wirklichkeit nur die größte Autobahnraststätte der Welt sei.

Diese Stadt hatte ständig mit allen möglichen Vorurteilen zu kämpfen. Provinziell, verschlafen und “nichts los“ waren so die gängigsten Klischees. Ich glaube, es gibt keine Stadt auf der Welt, die so unterschätzt wird wie meine neue Heimatstadt. Noch einmal streckte ich meine Arme in die Höhe und genoss diese ganz eigenartige Atmosphäre, die sich mit dem beginnenden Schneefall eingestellt hatte. Ganz langsam setzte bereits die Dämmerung ein. Es war schließlich kurz vor halb fünf und eine Woche vor Weihnachten. Nicht mehr lange und es wäre wieder zappenduster. Obwohl zappenduster, das war es in dem Kaff in dem ich bis jetzt den größten Teil meines Lebens verbracht hatte. Hier jedoch kam aufgrund der vielen Geschäfte, der Straßen- und der Weihnachtsbeleuchtung nicht so schnell echte Dunkelheit auf.

Ich schaute quer hinüber zur Stadtbahnhaltestelle, die sich inmitten der Hauptstraße befand und gerade vor einer Woche als neuer Hochbahnsteig eingeweiht worden war. Ein riesiges, digitales Display am Bahnsteig zeigte an, dass die nächste Bahn Richtung Innenstadt in vier Minuten erwartet wurde. Ich musste mich also nicht großartig beeilen. Gerade fuhr mit einem lang gezogenen Quietschen die Bahn in entgegen gesetzter Richtung ein.

Wie machen die das nur, fragte ich mich, selbst bei regen- oder wie heute schneenassen Schienen so laut zu quietschen? Muss ‘ne Art Technik sein, von der ich nichts verstehe. Obwohl so ein bisschen was von Technik verstand ich schon, schließlich war ich seit gut einem halben Jahr frisch gebackener Masch’bauing. Einen Job hatte ich auch, die Probezeit gerade überstanden und war nun stolzer Besitzer eines unbefristeten Arbeitsvertrages. Eine Seltenheit in der heutigen Zeit und der Beweis dafür, dass mein Arbeitgeber echt auf unkalkulierbares Risiko stand oder aber wirklich mit meiner Arbeit zufrieden war, oder vielleicht auch beides.

Das laute Klingeln der wieder anfahrenden Bahn riss mich aus meinen Gedanken. Als ob der Lärm beim Anfahren nicht ausreichen würde, die Passanten zu warnen. Mann, dachte ich, die Dinger sind nigel-nagelneu und machen einen Lärm wie ’ne alte Dampflok. Besonders nachts waren die Dinger ständig zu hören. Doch das störte mich nicht im Geringsten. Genauso wenig wie die flackernde Leuchtreklame des Hotels gegenüber. Die leuchtete genau in mein Schlafzimmer. War echt ’ne super Idee von mir gewesen, gerade meine Schlafzimmerfenster mit diesen Längslammelen-Vorhängen zu verschönern. Der Verdunklungsfaktor strebte so gegen Null und die erste Nacht in meinem neuen Domizil brachte mir die Erkenntnis, dass ein paar Blätter weißes Papier den gleichen Erfolg erzielt hätten, nämlich keinen. Hinzu kam, dass eigentlich ständig eine der Neonlampen defekt war und so immer ein Teil dieser riesigen Hotelwerbung schön unrhythmisch flimmerte. Das hatte so richtig was von einem kitschigen Amifilm, wenn das Umfeld einer billigen Absteige darstellt werden sollte.

Na ja, billige Absteige muss ich jetzt mal heftig dementieren. Für meine neue Wohnung hatte ich mich schließlich mächtig ins Zeug gelegt! Und dass ich mitten im Quark wohnte, also so richtig mitten in der Stadt an einer der meist befahrenen Hauptverkehrachsen, das hatte ich mir ja vollkommen gezielt ausgesucht. Also Gequietsche der Bahn und flimmernde Neonattacken kamen mir da sogar richtig gelegen, waren die doch Zeichen dafür, dass ich aus Deutsch-Westsibirien sprich aus meinem ach so ruhigen Heimatkaff kommend nun endlich in der westlichen Zivilisation angekommen war.

Mit diesem Gedanken stapfte ich los und zwar Richtung Haltestelle. Vorbei an den Geschäften in meinem Block, dem Kiosk am Ende der Häuserzeile und weiter in Richtung Hallenbad und Freizeitheim des Stadtviertels, welche der Haltestelle direkt gegenüber lagen. Mann, ich konnte gar nicht genug kriegen von der Großstadtatmosphäre und freute mich bereits auf das Gewusel in der City mit den Weihnachtsgeschenkegroßeinkaufaktionen, den drei Weihnachtsmärkten und dem Esistfreitagundnurnocheinewochevorweihnachtenchaos!

Ich hätte die ganz Welt umarmen können, so glücklich war ich! Alle meine Wünsche waren doch tatsächlich wahr geworden. Okay, ich hatte die letzten Jahre auch ziemlich dafür geschuftet und dann kam da noch ein bisschen Glück dazu. Also ehrlich gesagt könnte somit diese Geschichte hier ja eigentlich schon zu Ende sein. Ich müsste mich nicht weiter mit meinem patentierten Dreibisvierfingeradlersuchsystem an meinem neuen Laptop vergreifen, um nun diese Story hier einzuklickern. Und ihr, liebe hoch verehrte Leser, könntet Sinnvolleres tun als euch meine Lebensgeschichte rein zu ziehen. Und sowohl der kleine als auch der große Jan-Phillip könnten glücklich und zufrieden leben bis an ihr seliges Ende.

Na ja könnten! Doch gerade der kleine Jan-Phillip war da völlig anderer Meinung. Wie also das? Tja, dann will ich mal doch so ein bisschen ausholen. Mit meiner Geschichte meine ich natürlich. Doch vorab, so denke ich, sollte ich mich wohl erst einmal dem hochgeschätzten Publikum vorstellen.

Mein Name ist Jan-Phillip Böhm, ich bin Einzelkind, ja so ein richtig verwöhntes, 25 Lenze jung und gerade auf dem Weg in meine Unabhängigkeit. Meine Zeitgenossen halten mich nach deren Bekunden eigentlich für recht umgänglich, einige attestieren mir sogar einen gewissen Charme. Die Mädels aus meiner alten Clique meinten sogar, dass ich mit meiner hoch gewachsenen und schlanken Erscheinung, meinen honigblonden Haaren, meiner Stupsnase und meinen himmelblauen Augen inklusive Dackelblick ganz süß aussehe. Als ob mich das nun interessieren würde, was die Mädels sagen, meine ich. Allein schon, dass sie meinen Riesenzinken als Stupsnase bezeichnen, disqualifiziert sie meiner Meinung nach als wahrhaft ernstzunehmende Jury für Aussehensfragen.

Na ja, soviel zum großen Jan-Phillip. Den kleinen Jan-Phillip, den kriegen wir dann noch später. Nur soviel, der war ein, wenn nicht sogar der wichtigste Grund dafür, warum es mich aus meinem kleinen beschaulichen Heimatort in die große. weite Welt oder besser gesagt in die etwa eineinhalb Autostunden entfernte Landeshauptstadt gezogen hatte. Denn so richtig zum Zuge war Klein-Jan-Phillip in unserer fünfundzwanzigjährigen Zwangsgemeinschaft noch nicht gekommen, regelmäßige Streicheleinheiten mit entsprechenden mehr oder weniger befriedigenden Ergebnissen mal ausgenommen.

Mmh, so einfach war das denn auch nicht mit ihm, schließlich hatte da Klein-Jan-Phillip so seine Vorlieben und die nun passten den Leuten in dem Kaff, dem ich entstammte, so gar nicht in das vorgefertigte Weltbild. Hier in der Expo- und Messestadt erhoffte ich mir da einfach etwas liberalere Ansichten. Welche Vorlieben ich meine? – Na, wie sich die meisten sicherlich schon denken können, ich bin nicht nur Maschinenbauingenieur, was an sich ja schon schlimm genug ist, ich bin auch noch schwul. So richtig stockschwul und was noch schlimmer ist, ich bin auch noch Jungfrau! Also ersteres, das Schwulsein hatte ich mir weder ausgesucht noch konnte ich es ändern, ehrlich gesagt wollte ich es auch nicht, das zweite, die Sache mit der Jungfrau hatte ich mir zwar auch nicht ausgesucht, doch das wollte ich unbedingt ändern!

Nicht, dass ich jetzt hier rumvögeln wollte bis der Arzt kommt. Neee, das war jetzt überhaupt nicht mein Ding, vielmehr bin ich so richtig schön romantisch und träume schon seit Jahren von meinem Traumprinzen fürs Leben oder zumindest aber von einem richtig netten Jungen und einer festen Beziehung für so ‘ne schöne lange Zeit. In dem kleinen Kaff hingegen, wo ich „wech“ war, war daran überhaupt nicht zu denken. Den Skandal, zwei Schwuchteln in unserem schönen Ort zu haben, mal ganz außen vor gelassen. Das war halt einfach eine Frage der Statistik. Nimmt man einmal an, dass nur jeder zehnte junge Kerl mit Knackarsch die gleiche Orientierung hat wie ich, und zieht man dann noch die ganzen Deppen in unserer Umgebung ab, tja, dann war ich bei einer beziehungskritischen Masse von 0,0000 angelangt.

Okay, seit etwa zehn Jahren wusste ich, dass ich schwul bin, dem Internet und seinen, zugegeben, mitunter recht schmuddeligen Seiten sei Dank. Und seit etwa genau dieser Zeit harrte ich also in dieser homoerotischen Diaspora aus. Der Wehrdienst war auch kein so richtiger Bringer, ich hatte recht schnell gemerkt, dass ich mich bei diesen Freizeitrambos lieber nicht outen sollte. Gut, wegen der Verkürzung der Dienstzeit, um gleich im Anschluss mit dem Studium anfangen zu können, hatte ich eh genug um die Ohren, so dass erst gar keine Langeweile aufkam.

Dann mal schnell studiert. Da ich mir eine recht gute Fachhochschule im Nachbarbundesland gleich um die Ecke ausgesucht hatte und ich so weiter zu Hause wohnen konnte, sparte dies ’ne Menge Zeit und Geld. Die recht gute Halbwaisenrente, die ich bezog, mein Vater war leider gestorben als ich zwölf war, und die gute Verpflegung im Hotel Mama machten einen Nebenjob unnötig und so konnte ich richtig durchstarten. Mein Sexualleben jedoch vertagte ich, mit Ausnahme der bereits erwähnten Streicheleinheiten in Kombination mit dem ebenfalls bereits erwähnten World-Wide-Wahnsinn, wieder mal auf später.

So, das war aber definitiv Vergangenheit und ich brannte nun echt darauf mich hier in meiner neuen Stadt in die schwule Szene zu werfen. Wie genau, davon hatte ich noch keine Ahnung. Aber allein dass es hier so etwas wie eine Szene gab, machte mich schon ziemlich euphorisch und, ich gebe es ja zu, auch etwas geil. Menno! Nach zehn Jahren Leben wie ein Mönch durfte man das doch wohl auch mal sein, oder?

Also hatte ich zunächst einmal so ein bisschen gegoogelt und mit freudigem Erstaunen festgestellt, dass es hier doch so einige Locations für meiner einer gab. Schnell war eine Route für heute Nacht geplant. Erstmal nur sondieren natürlich. Gleich am ersten Abend meinen Traumtypen finden, das war nur was für diese schwulen Love-Stories, die man so im Internet fand. Wie bei „nickstories.de“ zum Beispiel. Ich liebe diese Stories und ich liebe diese Seite. Mann! Die hatte mir wirklich oft durch meine schwere Zeit als unfreiwilliger Mönch geholfen. Doch das waren halt „nur“ tolle Geschichten. Ich wollte da schon mal lieber auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Erst einmal nur ein bisschen gucken, vielleicht auch ein bisschen träumen. Aber sonst, erstmal schön langsam mit den gei… ähm jungen Pferdchen!

Okay, etwas nagte da schon noch so im Hinterstübchen. Was würde sein, wenn ich zufällig jemanden aus unserem Ort treffen würde? So weit „wech“ von meinem früheren Zuhause war meine neue Stadt ja nun auch nicht. Also ich war und bin zwar kein Feigling, aber ich hatte für mich, vor allem aber mit Rücksicht auf mein herzkrankes Mütterchen, beschlossen erstmal einen auf Mister Doppelleben zu machen. Schließlich hatte ich ja immer noch engen Kontakt zu meiner Clique. Es war auch nicht so, dass ich mich nicht wohl gefühlt hätte bei uns im Ort. Ich hatte dort eine supertolle Kindheit verlebt. Als dann mein Vater plötzlich starb, gab mir meine Clique wirklich einen spitzen Rückhalt. Kannten wir uns doch fast alle schon aus der Sandkiste und gerade für mich als Einzelkind waren mir meine engsten Freunde schon mehr wie eine Familie als wie nur ein paar Kumpels zum gemeinsamen Abhängen. Ja, so ist das auf dem Dorf. Bei meinem besten Kumpel Stefan hatte ich damals auch so etwas wie Familienanschluss. Am Wochenende und in den Ferien übernachtete ich sehr oft bei ihm. Da war ich schon so etwas wie ein drittes Kind und nahm so richtig am Familienleben teil, wie zum Beispiel dem großen gemeinsamen Familienfrühstück an den Sonntagen. Ich genoss dies sehr. Ich glaube, mein Kumpel Stefan war damals auch sehr froh einen Verbündeten gegen seine große Schwester zu haben. Sehr zum Ärger genau dieser Person. Stefanie hieß sie (Eltern können ja so witzig sein!!), war zwei Jahre älter als wir und mutierte gerade zu dieser Art reizende, pubertierende Göre, die leider keiner versteht, ein Zustand aus dem die meisten Mädels meiner Meinung nach ihr ganzes Leben nicht mehr heraus kommen.

Wie dem auch sei, ich genoss diese Zeit sehr! Stefan und ich waren unzertrennlich. Und als auch bei uns so langsam die Hormone anfingen unser schönes, geordnetes Lausbubenleben kräftig durcheinander zu wirbeln, wurde er meine erste große, aber leider auch unerfüllte Liebe.

Mann! War das eine Qual. Ich war vollkommen verschossen, ich gierte nach seiner Nähe, machte mir so manchen mächtig unschicklichen Gedanken, wusste aber leider nur zu gut, dass er so ziemlich das heterogenste Persönchen in unserem Rudel war.

Kaum hatte er nämlich festgestellt, dass das Ding da zwischen seinen Beinen zu mehr gut war als nur dem Stehendpinkeln, war es schon um die Mädels der Umgebung geschehen. Während ich eigentlich immer noch gerne mit Lego spielen wollte, hatte er sich schon unter der Hand entsprechende Literatur (ja, genau die mit den vielen Anleitungstafeln im Hochglanzformat und zum Ausklappen natürlich) besorgt. Gemeinsam hatten wir dann einmal die sturmfreie Bude bei ihm genutzt, um unsere Geräte mal so richtig auszuprobieren. Komisch nur, dass ich die ganze Zeit auf sein Gerät schielen musste. Die tollen Hochglanzfotos nämlich konnten Klein-Jan-Phillip gar nicht so richtig locken. Klein-Stefan hingegen, der im Übrigen damals gar nicht mehr so klein war, machte da einen deutlich mehr anregenden Eindruck auf meinen kleinen, verwöhnten Racker.

Okay, dieses Erlebnis machte mir denn wirklich so richtige Sorgen und ich musste tagelang darüber nachdenken. Fast wäre damals auch unsere Freundschaft daran zerbrochen. Ständig erwischte ich mich dabei, meinen Kumpel Stefan bei jeder Gelegenheit nackt sehen zu wollen. Da er ziemlich eingebildet auf seinen Body war und sich selten genierte und ich zudem ja häufig bei ihm übernachtete, hatte ich auch eine Menge Gelegenheit dazu. Gemeinsames Bildergucken und anschließenden Gerätecheck hingegen hatten wir zu meinem großen Bedauern jedoch nicht mehr unternommen. Trotzdem versuchte ich ständig irgendwie Körperkontakt zu ihm zu haben. Waren wir allein, fing ich irgendwelche Balgereien an, kitzelte ihn und tat all das, was trotzdem noch einigermaßen unverfänglich erschien. Das Blöde war nur, dass Klein-Jan-Phillip dies gar nicht so unverfänglich fand und regelmäßig kerzengerade reagierte. Meine Vorliebe für weite Boxershorts wich in dieser Zeit der Vernunft und ich zwänge mich seitdem in eng anliegende Retros. Aber irgendwann war auch diesem Vorzeigehetero mein ganzes Verhalten ziemlich suspekt. Als wir wieder einmal ausgelassen herumtollten und ich meine Griffel wieder mal nicht im Zaum halten konnte, stieß er mich etwas unsanft zur Seite, starrte mich an und fragte: „Hey Flip, sag mal, bist du schwul oder was?“

Peng, erwischt! Genau diese Frage stellte ich mir ja auch seit einiger Zeit.

Mir wurde ziemlich heiß. Eine Verkehrsampel wäre jetzt wahrscheinlich vor Neid auf meine gesunde Gesichtfarbe sofort in den Stand-By-Modus gegangen und auch Stefan schien meine gute Durchblutung aufgefallen zu sein (ja die im Gesicht meine ich, aber wirklich was denn wohl sonst). Er sah mich schon recht merkwürdig an.

„Sag mal tickst du nicht mehr ganz richtig“, versuchte ich meinen belämmerten Gesichtausdruck Lügen zu strafen. „Meinst du das jetzt ernst, dass ich so ’ne schwuchtelige Tucke wäre? Das hättest du wohl gerne? Kommst wohl nicht mehr so an bei den Mädels, du oller Kaktus?“

Autsch, das hatte gesessen! Stefan hatte seit einiger Zeit nämlich richtig Probleme mit seinen Hormonen. Nein, nicht die, welche man mit einer ausgiebigen, einhändigen Sonderbehandlung unter der Dusche beheben konnte, sondern die für welche die findige Kosmetikindustrie entsprechende Teenie-Produkte auf den Markt gebracht hatte. Salben und Cremes nämlich, die aber zumeist nur dem Geldbeutel der Kosmetikkonzerne zu helfen schienen. Kurz gesagt Stefans hübsches Gesicht litt mächtig unter den Folgen von pubertätsbedingter Akne. Was schon ziemlich heftig für unseren Schönling war, und es war schon ziemlich heftig von mir, dies nun als schweres Geschütz aufzufahren.

Aber was soll’s, gesagt war gesagt und Wirkung hatte es auch.

„Blödes Arschloch“, war seine Antwort darauf und er zog sich schmollend auf sein Bett in der hintersten Ecke seines Zimmers zurück. Ich platzierte mich daraufhin in die mindestens eine Million Kilometer entfernt liegende, andere Zimmerecke. Die Stimmung war im Arsch. Gemeinsam zappten wir dann noch so ca. eine Stunde durch MTV und VIVA, dann brach ich auf. Viel geredet hatten wir den ganzen Abend nicht mehr. Seit diesem Tag änderte sich unser Verhältnis grundlegend. Stefan beobachtete mich seitdem sehr kritisch, wenn nicht sogar misstrauisch. Mir kam es auch so vor, als wenn er seitdem immer versuchte nirgends mit mir alleine zu sein. Ich hingegen versuchte möglichst jeden Körperkontakt zu meiden, auch meine lüsternen Blicke gewöhnte ich mir letztlich schweren Herzens ab. Übernachtet habe ich seitdem auch nicht mehr bei ihm.

Irgendwie schien also unser Verhältnis einen mächtigen Knacks abbekommen zu haben. Mehr und mehr drifteten wir auseinander. Stefan investierte jetzt sehr viel Zeit in seine ständig wechselnden Affären. War er schon vorher ein richtiger Frauenschwarm, so mutierte er jetzt förmlich zu unserem Kleinstadt-Casanova, ganz so als ob er beweisen wollte, dass er eine 100%ige Hete ist. Selbst Stefans Eltern und auch meine Mutter bemerkten diesen Bruch, schoben dies aber auf die natürliche Entwicklung zweier pubertierender Jungs. So gingen wir mehr und mehr getrennte Wege. Einzig unsere Dorfclique war noch ein verbindendes Element.

Erst viel später, als wir beide längst aktives Mitglied der freiwilligen Feuerwehr unseres Ortes waren (bei der Jugendfeuerwehr waren wir uns jedenfalls mächtig aus dem Weg gegangen), wurde das Verhältnis aufgrund gemeinsamer Lehrgänge wieder besser. Heute kann man es eigentlich wieder als ziemlich normal betrachten. Stefan ist übrigens seit gut vier Jahren in festen Händen. Susanne heißt seine Freundin, ist ein Jahr jünger und ein richtig liebes Mädel. Irgendwie scheinen die beiden wie füreinander geschaffen.

Über den besagten Abend haben wir trotzdem nie mehr gesprochen. Eigentlich schade. Stefan wäre wirklich der Erste in unserem Ort gewesen, gegenüber dem ich mich hätte outen können. Heute bin ich mir sicher, dass er es letztlich verstanden hätte und mir vielleicht sogar eine echte Hilfe gewesen wäre. Wie gern hätte ich damals jemanden gehabt mit dem ich über alles hätte reden können. Na ja, sollte halt nicht sein.

Mein Mütterchen wusste übrigens ebenfalls nicht über mich Bescheid. Sie glaubte immer noch daran, dass ich eines Tages mit einer Schwiegertochter nach Hause kommen und unsere Hütte dann ratzfatz mit einer Horde kleiner, süßer Hosenscheißer überquellen würde. Meine Mutter liebt Kinder, was mich immer fragen ließ, warum ich ein Einzelkind bin, so schlimm war ich doch nun auch nicht als kleiner Bengel.

Meine Begeisterung über diese kleinen, immer aus irgendwelchen Körperöffnungen leckenden Lauser hält sich dagegen so ziemlich in Grenzen. Dass ich selber, aufgrund meiner sexuellen Orientierung mal keine haben werde, ist daher für mich das allerkleinste Problem, welches mein Schwulsein mit sich bringt. Für mein Mütterchen hingegen, so glaubte ich, wäre dies bestimmt der größte Schock. Ich war mir zwar sicher, dass sie mich auch nach einem eventuellen Outing immer noch als ihren Sohn ausgeben würde, na ja, zumindest wenn man sie klar und deutlich danach fragen würde.

Enterben konnte sie mich praktischer Weise nicht. Mein Vater hatte seltsamerweise gleich alles mir vermacht und so wohnte sie faktisch in meinem Haus, aber das war auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass sie mich trotzdem weiter lieb haben würde, und da war ich mir absolut sicher. Sie hat zwar eine ziemlich raue Schale, was dazu führte, dass ich als Kind und Jugendlicher nicht so wirklich mit all meinen Problemen zu ihr kam. Andererseits hatte sie es als junge Witwe auch nicht so leicht und zudem besitzt sie in Wahrheit einen ziemlich weichen Kern. Also Probleme erwartete ich von der Seite nicht. Aber wieso schon jetzt die Pferde wild machen. Es würde durchaus reichen es ihr erst dann zu sagen, wenn ich erst einmal so einen richtigen Schnuckel aufgegabelt hätte und ihr den dann auch vorstellen könnte…. seufz … ja wenn!!

Was würden die in unserem Kaff erst sagen, wenn ich mit so einem Schnuckel Hand in Hand auftauchen würde? Ich muss grinsen bei diesem Gedanken. Der Skandal wäre vorprogrammiert und in unserer Lokalredaktion natürlich auch der Gesprächstoff für mindestens ein halbes Jahr gesichert. Lokalredaktion? Damit meine ich unsere Bäckerei im Ort. Da kann man beim Brötchen holen oder aber bei einer „Tass Kaff“ im Stehen die neuesten Sachen über sich erfahren, und das schon lange bevor man es selber weiß. Immer sind die dort tagesaktuell, besonders Bettgeschichten wurden und werden immer so plastisch vorgetragen als ob der- oder diejenige, die das gerade erzählt, selbst dabei gewesen wäre. Na ja, zumindest bei der schönen Frau Bäckerin war der Gedanke auch gar nicht so abwegig.

Ich war schon ziemlich gespannt, was denen so alles an kranken Phantasien bezüglich schwulem Sex einfallen würde. Vielleicht konnte man da ja noch was lernen, dachte ich, schließlich waren meine Erfahrungen bis zu dem Zeitpunkt ja ziemlich übersichtlich. Mir sollte das Gerede jedenfalls echt egal sein, schließlich hatte ich bis auf gelegentliche Besuche nicht vor wieder zurück zu kommen. Nur für mein Mütterchen tat es mir schon ein bisschen Leid. Würde wohl ein ziemliches Spießrutenlaufen werden, am Anfang zumindest. Ich konnte mir das spitzzüngige Gelabere schon richtig vorstellen.

„Ach die arme Frau, was ist das bloß für eine Schande. Dabei sah es so aus als ob aus dem Jungen mal was Ordentliches wird. Na ja, so ein bisschen komisch war er ja schon immer. Und was will man denn auch erwarten, wenn so ein junges Bürschchen so ganz ohne Vater groß wird….“, und so weiter und so fort.

Nicht, dass meine Mutter wirklich viel auszustehen hätte. Erst einmal war sie eigentlich ganz gut gelitten im Ort und außerdem würde ihre herzerfrischende Art schon dafür sorgen, dass das Gerede recht schnell verstummen würde. Oje, mir tat schon der- oder diejenige Leid, die es wagen würde, ihr gegenüber irgendeinen dummen Spruch zu bringen. Mütterchen würde die arme Person einfach zum Frühstück verspeisen und das ohne Senf und Pfeffer!

Gut, aus der Feuerwehr würde ich wahrscheinlich mit Schimpf und Schande rausfliegen. Wer könnte sich auch eine Schwuchtel als Feuerwehrmann vorstellen? Ich hatte mal beim Googeln was über einen Verein schwuler Feuerwehrmänner gelesen. Bin dann gleich auf deren Seite, musste aber feststellen, dass die seit Millionen von Jahren nicht mehr gepflegt worden ist. Wahrscheinlich gibt es den Verein gar nicht mehr. Viel wahrscheinlicher ist wohl, dass es auch die schwulen Feuerwehrmänner gar nicht mehr gibt. Die wurden bestimmt bei der letzten Oderflut zur Verstärkung der Deiche versenkt.

Na ja, tät mir eigentlich schon Leid, wenn ich aus der Feuerwehr rausfliegen würde. Irgendwie hatte ich mir nämlich vorgenommen, den Spagat zwischen hier wohnen und dort in der Feuerwehr zu bleiben hinzubekommen. Fast meine ganze ehemalige Clique war dort aktiv tätig. Einige sogar im Kommando, Stefan sogar als Zugführer und stellv. Brandmeister. Hatte richtig Karriere gemacht, der Kleine. Und auch ich war seit ein paar Jahren Kommandomitglied und für die Sicherheit zuständig. Diese Arbeit wollte ich auch weiterhin gerne machen, auch wenn ich sonst nicht mehr regelmäßig am Dienst teilnehmen konnte. Tja, würden wir dann ja sehen. Eigentlich waren die nämlich alle gar nicht so verkehrt. Wenn die nur nicht so fürchterliche Machos wären. Und dann immer diese Vorurteile. Ich konnte mir schon meine nächste Sicherheitsunterweisung vor diesem Haufen vorstellen, wenn dann erstmal bekannt war, dass ich schwul bin. Alle naselang kämen dann bestimmt so blöde Sprüche wegen Safer Sex und zur Vorsicht immer mit dem Arsch an der Wand lang und so. Bestimmt würde es auch nicht lange dauern, bis ich in meinem Spind ein paar Kondome und Gleitcreme finden würde, haha sehr witzig! Und das natürlich auch nur wegen der Sicherheit, versteht sich.

Aber andererseits sind sie doch alle ein ganz netter Haufen und ich bin auch kein Mauerblümchen, wenn es darum geht andere mit ein paar kernigen Sprüchen zu verarschen. Also ich würde es wohl überleben, denn wer austeilt, muss auch einstecken können. Ähm, den Spruch sollte ich in dem Zusammenhang wohl lieber nicht vor versammelter Mannschaft bringen. Irgendein Spaßvogel könnte den dann ganz schnell missverstehen.

Ich war dermaßen tief in diese Gedanken versunken, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie ich völlig unterbewusst in die Bahn gestiegen bin. Gottlob in die richtige Richtung, also in die Linie 1 Richtung City. Na, da war ich ja wohl schon ein richtiger Städter geworden, konnte doch tatsächlich U-Bahn fahren, und das sogar ohne groß nachzudenken. Na gut, zugegeben bei zwei möglichen Richtungen nun auch nicht sonderlich schwierig. Monatskarten im Jahresabo ersparten mir zudem den täglichen Krampf mit den zickigen Ticketsäulen.

So, ich freute mich schon richtig auf den bevorstehenden Abend. Erst einmal so ’n bisschen Windowshopping (haha, das wollte ich dann ja im übertragenen Sinn die ganze Nacht machen), Weihnachtsgeschenke einkaufen wollte ich erst später. Mein Weihnachtsgrundsatz ist schließlich seit je her, solange die Tankstellen noch aufhaben, braucht man frühestens am 23. anfangen, sich über Weihnachten Gedanken zu machen. Mein Mütterchen treibt das immer zum Wahnsinn. Aber was soll’s, ich habe dann nur einen Tag richtig Stress und kann während der anderen Tage auf den Weihnachtsmärkten den Glühwein genießen. Außerdem, wenn alles nicht hilft, Tankgutscheine sind bei den Spritpreisen ja wohl mehr wert als der teuerste Geruchscocktail aus einem dieser Möchtegern Nobel-Shops dieser Stinkewasser-Retailer. Ich musste schließlich wissen wovon ich rede, nannte ich doch seit zwei Monaten so ein richtiges Spritmonster mein Eigen. Frei nach dem Motto, was kümmert mich der Treibhauseffekt, mir ist’s hier sowieso viel zu kalt. Nee, eigentlich bin ich nicht wirklich so ein Blödmann. Aber mein neuer Gebrauchter musste einfach sein. Jahrelang zuerst als Schüler, dann als Bundi und schließlich als Student hatte die Vernunft gesiegt und ich hatte mich mit so ’nem kleinen Reiskocher begnügt. So groß wie eine Hutschachtel, drei nebeneinander geparkte Coladosen bildeten als Zylinder verkleidet einen Motor und zwar mit einer Performance der Marke Jähzorn. Das gute Stück war jedoch so ziemlich in die Jahre gekommen und mir gelüstete es endlich nach einem fahrbaren Untersatz, welcher wirklich das Prädikat Automobil verdiente. Ganz gelegen kam mir, dass kurz nachdem ich mein Studium beendet hatte zwei Dinge passierten. Das Erste war, ich fand auf Anhieb einen Job. Vier Bewebungen, vier Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch und schon hatte ich zwei Angebote zu Auswahl. Nicht, dass ich so gut war, na ja mein Diplomzeugnis war schon nicht schlecht und das bei einem Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit, aber ich denke ich war auch einfach zur richtigen Zeit fertig geworden. Es lebe doch die Konjunktur!

Und das Zweite war die fünfte Fruchtfolge, die uns, sprich Mütterchen und vor allem mich ereilte. Fünfte Fruchtfolge? - Okay, das will ich denn mal kurz erklären. Wie gesagt komme ich vom platten Land (also ganz so platt zwar nicht, ist schließlich doch schon Mittelgebirge) und neben unserem kleinen Häuschen hatte ich auch ein bisschen Land und sogar ein kleines Wäldchen geerbt. Das Land war verpachtet. Dem kleinen Wäldchen rückte ich ab und an mal selber mit meiner Motorsäge zu Leibe. Mann! So’n Kettensägenmassaker kann schon recht entspannend wirken.

Tja, und ein Teil des Landes wurde plötzlich zum Baugebiet erkoren. Sollte jungen Familien für ihr Eigenheim dienen. Na, und da ich ja selbst nicht sonderlich viel zur Erhaltung unserer Art beitragen werde, habe ich dem natürlich, selbstlos wie ich nun einmal bin, sofort zugestimmt. Wer sich so ein bisschen in der Landwirtschaft auskennt, hat bestimmt schon mal was von der Vier-Felder-Wirtschaft mit den aufeinander abgestimmten Fruchtfolgen gehört. Tja, die ergiebigste Fruchtfolge ist aber unbestritten die Fünfte, nämlich Bauland! Okay, mein selbstloser Beitrag zum Eigenheimbau hoffnungsvoller Familien war also in Wirklichkeit gar nicht so selbstlos.

Die Bauträgergesellschaft merkte zudem auch ziemlich schnell, dass ich zwar gelegentlich extrem dumm aussehe, es aber dann doch gar nicht bin und plötzlich lag mir ein einigermaßen akzeptables Angebot vor. Das war schon so ein bisschen wie ein Sechser im Lotto. Nachdem also das Finanzamt seinen mehr weniger als weniger mehr rechtens zustehenden Teil, danach auch mein Mütterchen ihren mehr als verdienten Anteil bekommen hatte, ein weiterer Teil zur Sicherheit gut angelegt war, blieb doch noch ein schönes Sümmchen, um mir meinen Start in der Stadt meiner Wahl zu versüßen. Das hieß bei der Wohnung brauchte ich nicht sparen. Miete sollte bei meinem Gehalt eh nicht das Problem sein und Kaution und Einrichtung ließen sich jetzt ohnehin locker finanzieren.

So, und dann war da halt noch das Auto. Gut, ich war ja also ein vernünftiges Kerlchen und Neuwagen waren mir bei dem Wertverlust ein Graus. Also ein solider Gebrauchter sollte es sein.

Okay, ich hatte dann schließlich doch ein wenig übertrieben. Heraus kam ein vier Jahre alter A6 Kombi. Weinrotmetallic, helles Leder, Holzverkleidung, schnuckeliger V6-Motor mit knapp 180 PS und 2,8 Liter Hubraum, Klimaautomatik, Schaltautomatik, elektrisches Glasschiebedach und etliche andere Spielereien. Wow! Nach sechs Jahren Reiskocher endlich der automobile Himmel auf Erden. Ich liebte diese Karre, wenngleich die Tempoorgien auf der A2 doch ziemlich ins Geld gingen. Benzintechnisch gesehen war das kein Motor, sondern ein Durchlauferhitzer. Aber was soll’s, man lebt ja nur einmal, „und auch nicht mehr lange wenn du so weiter fährst„, wie mein Mütterchen bissig bemerkte, als sie mal die Gelegenheit hatte, mit mir zusammen auf der A2 abzuheben und dann in Richtung meiner neuen Wohnung zu fliegen.

So, nun hatte ich aber gerade meinen tollen Flitzer gegen den silbernen Bandwurm eingetauscht, der sich geräuschvoll anschickte, sich durch die unterirdischen Gedärme meiner Stadt zu quälen, um danach seinen Inhalt, sprich uns, die begeisterten Nutzer des ÖPNV, am Hauptbahnhof wieder frei zu geben. Der Weihnachtsmarkt am Bahnhofsvorplatz sollte dann auch die erste Etappe meines heutigen Zuges durch die Stadt sein. Vor mir lag jetzt nicht nur eine hoffentlich ereignisreiche Nacht, nein, ich hatte auch zwei ganze Wochen Urlaub. Mein erster als nunmehr anerkannter Teil der Steuerzahlenden Bevölkerung. Die erste Woche wollte ich auf jeden Fall in meiner Stadt verbringen. Die Weihnachtsfeiertage und die Zeit bis Silvester dann beim Mütterchen und natürlich auch zusammen mit meinen Freunden aus der alten Clique. An Silvester selbst wollte ich früh morgens mit dem ICE nach Berlin, um beim Pfannkuchenlauf mitzumachen und um später natürlich am Brandenburger Tor abzufeiern. Tja, ich gebe auch dies zu, ich bin nicht nur Masch’bauer und schwul, ich bin auch noch begeisterter Ausdauerläufer. Einen Marathon habe ich zwar noch nicht versucht, dafür aber bereits mehrere Halbmarathon und das wirklich mit wachsender Begeisterung. Bräuchte jetzt eigentlich nur noch ’ne schwule Laufgruppe finden. Von wegen der Motivation. Nichts ist besser als ab Kilometer zehn so’n richtig geilen Knackarsch vor sich zu haben. Wichtig ist nur, dass dieser so in etwa die gleiche Kondition hat, sonst kommt man entweder aus dem Tritt oder man hechtet sich einen Ast ab. Na ja, soviel zu meinem Trainingskonzept.

Unter dem , die hoch zur nächsten Ebene führten. Als ich schließlich die obere Etage erreichte, konnte ich jedoch nur noch rufen: „Na spitze! Halb Deutschland hat mal wieder die gleiche Idee wie ich!“ Tja, Freitagnachmittag im Hauptbahnhof war einfach nur gigantisch. Würde hier jetzt noch jemand schreien: „Es gibt Freibier für alle, aber nur noch für ’ne halbe Stunde“, dann könnte man locker einen Lehrfilm über die Entstehung und die Auswirkungen einer Massenpanik drehen. Okay, ich verkniff mir jeglichen Versuch, spitzte mir gedanklich meine Ellenbogen, brachte sie sodann in Position und schlug mich bis zum Ausgang durch. Bei ähnlicher Gelegenheit hatte ich mal einfach aus Neugier versucht einen Becher Kaffee vom Kiosk nahe der U-Bahn bis zum Hauptausgang zu jonglieren. Also war schon echt beeindruckend. Ohne auch nur einen Schluck zu trinken, war der Becher am Schluss vollkommen leer. Dafür aber so mancher Mantel und so manches Hosenbein um ein paar Kaffeeflecken reicher. Um den Kaffee selbst war es eigentlich nicht sonderlich schade. Das Zeug, das die hier als Kaffee verkaufen, fällt ohnehin unter das internationale Abkommen über chemische Kampfstoffe.

Am Bahnhofsvorplatz angekommen schaute ich erst einmal überwältigt in die Runde. Wow!!! Ein Bilderbuchvorweihnachtsweilgeradeimneuschneeundmittenaufdemweihnachtsmarktstehenundvollkommenmitsichundderganzenweltimreinenseingefühl machte sich gerade in mir breit. Der Markt war nicht gerade groß, war ja auch nur der Kleinste von den dreien in der Stadt. Aber das gerade frisch renovierte Bahnhofsgebäude war wirklich sehr ansprechend beleuchtet und dekoriert, am anderen Ende des Bahnhofvorplatzes leuchtete im Hintergrund die Weihnachtsdeko der Fußgängerzone mit den zwei riesigen Weihnachtsbäumen um die Wette, welche den Abschluss dieses Weihnachtsmarktes bildeten. Ganz weit hinten in der Mitte der Shoppingzone sah man die Megaweihnachtpyramide mit ihrem integralen Glühwein-, Glühbier- und Bratwurststand. Vor mir breiteten die Marktstände ihre Ware aus, zumeist alles lecker Fresschen. Und so kam ein herrlicher Mix aus dem Geruch nach gebratenen Mandeln, Glühwein, Champignons in Knoblauchsauce, Glühwein, Currywurst mit Pommes, Glühwein, Crêpes mit Ahornsirup, Glühwein und Spießbraten mit Krautsalat zu mir herübergewedelt. Hatte ich eigentlich schon den Geruch von lecker Glühwein erwähnt?

Um das Ganze dann so richtig kitschpostkartenmäßig rüber kommen zu lassen, hatte sich über allem eine schöne, weiße Schicht Neuschnee gelegt. Das war einfach zu viel für mein hoffnungslos romantisch angehauchtes Herz. Plötzlich nahm die Blinkfrequenz meiner Augenlider schlagartig zu.

„Hey Flip, was machst du den hier?“, schallte es mir entgegen. „Hey, sag einmal heulst du etwa?“

Verdammte Scheiße!, dachte ich. Das kam ja wieder genau passend. Ich blöde Heulsuse, ich kann mir mit einem Vorschlaghammer den Daumen platt hauen (leider tatsächlich schon mal unfreiwillig ausprobiert) und da kommt nicht eine Träne, bin ich aber mal so richtig glücklich und zufrieden und kann die ganze Welt umarmen, dann flenne ich wie ein Mädchen. Und dann auch noch vor Zeugen!

„Nee, ich flenne doch nicht, muss ‘ne Ladung von dem gefrorenen Pulverschnee in die Augen gekommen haben“, versuchte ich den Imageschaden einzugrenzen. Vor mir stand nämlich Thomas, ein wirklich netter Arbeitskollege, der mich seit dem ersten Tag in der neuen Firma unter seine Fittiche genommen hatte. Schnell fingerte ich nach meinem Taschentuch und versuchte unter dem Vorwand meine Nase zu schnäuzen die verräterischen Spuren meines Heulsusenanfalls zu verwischen.

„Na, dann is‘ es ja gut“, erwiderte er. „Ist ja ’n toller Zufall dich hier zu treffen. Wolltest du heute noch auf die Piste? Könnten ja was zusammen unternehmen.“

Oh mein Gott! Alles, aber bloß das nicht!, dachte ich mir. Nicht, dass ich Thomas nicht mochte, im Gegenteil, der war wie schon gesagt richtig nett. Etwa fünf Jahre älter als ich, also Anfang dreißig. Sah recht gut aus und war in der Firma sowohl als ausgesprochen guter Konstrukteur als auch als ziemliche Partymaus bekannt. Er war noch Single, aber, und das war halt das Problem, absolut nicht schwul.

Ich würde sonst ja kein Problem haben mit ihm durch die Gemarkung zu ziehen, hatten wir bereits ein paar Mal gemacht und endete für mich immer sehr früh am Morgen mit einem gehörigen Bedarf an Aspirin und literweise Mineralwasser. Also nichts gegen ein Spontanbesäufnis, ich war in der Beziehung, wenn es halt passte, immer sehr aufgeschlossen (bin ja schließlich in der Feuerwehr, obwohl auf die Feststellung lege ich jetzt gesteigerten Wert: Feuerwehrleute trinken auch nicht mehr wie andere, aber halt auch nicht weniger!) Doch heute passte es mir absolut nicht. Ich hatte schließlich Klein-Jan-Phillip versprochen mich ab sofort ein bisschen mehr um seine Belange zu kümmern. Und Thomas in die auf meiner geistigen Liste stehenden Lokale zu schleppen wäre einfach absurd gewesen. Außerdem wollte ich auf der Arbeit noch ein bisschen mit meinem Outing warten, na wenigstens die nächsten zehn bis zwanzig Jahre zumindest. Tja, Mr. Doppelleben lässt grüßen.

„Ach Thomas, weiß ich jetzt gar nicht so recht „, antwortete ich schließlich. “Ich muss auch noch so ein paar Sachen erledigen und werde mich danach vielleicht auch gleich aufs Ohr hauen“, log ich kackfrech. Ich sah den enttäuschten Blick meines Gegenübers. „Aber es ist ja noch nicht so spät und ein oder zwei Glühwein könnte ich schon vertragen“, versuchte ich dem Ganzen die Spitze zu nehmen.

Scheinbar erfolgreich, denn Thomas meinte sogleich: „Klasse, dann aber nicht hier, sondern lass uns rüber gehen zum finnischen Weihnachtsmarkt und ein paar Glögg reinziehen.“

Okay, die Idee mit dem Glögg war an sich nicht schlecht, denn der war echt lecker, die Idee mit dem finnischen Weihnachtsmarkt dagegen schon.

„Eigentlich keine schlechte Idee. Hast du aber schon daran gedacht was da heute los sein wird? Mann, eine Sardine hat da in ihrer Dose sicherlich dreimal mehr Platz!“, versuchte ich mich in Diplomatie.

„Also, wo du Recht hast? Gut dann also doch hier“, ging er auf meinen Einwurf ein. „Lass uns den Stand hinten Richtung Passage nehmen, der hat ein ganz passables Tröpfchen.“

Na, ob man bei gezuckertem und heiß gemachtem Rotwein aus der Retorte nun von einem Tröpfchen reden konnte, da war ich mir zwar nicht so sicher. Aber erstens waren wir hier im hohen Norden winzerisches Notstandsgebiet, zweitens schmeckte das warme Zeug bei dieser Jahreszeit wirklich lecker und drittens geht Wirkung immer noch vor Geschmack. (Okay, habe mich also gerade als Suffkopp und Kulturbanause geoutet)

Wir schoben also los Richtung Glühweinbude. Dort angekommen bestellte Thomas gleich zwei Glühwein mit was zu Trinken drin und so nahmen wir also den Kampf gegen die herrlich klare Winterkälte auf. Aus den Boxen des Standes brabbelte die ganze Zeit „Last Christmas“ von Wham (ich hasse dieses Lied!!) und erinnerte mich zugleich an meine heutigen Vorsätze. Okay, dann wollen wir mal die Schlagzahl erhöhen, ich hatte zwar ein klein wenig ein schlechtes Gewissen, wollte Thomas aber heute halt wirklich nicht mit auf die Pirsch nehmen. Gleichzeitig wusste ich aber, dass ich ihn so schnell jetzt nicht los würde. Zwei bis drei Runden Glühwein würden wenigstens noch dazwischen stehen. Ich bestellte gleich die nächste Runde (meinen diesmal jedoch heimlich ohne Schuss. Mann, ich kann schon mit fiesen Waffen kämpfen!) und haute den angefangen Becher in einem Zug weg.

„Los komm, Thomas, mach schon hinne, wir sind ja nicht zum Spaß hier!“, versuchte ich ihn zum nächsten Becher zu animieren. Der ließ sich das auch nicht zweimal sagen und leerte den angefangenen Glühweinbecher in einem Zug.

„Na, dann fröhliche Restfeiertage“, prostete er mir danach mit dem neuen Becher zu. Irgendwie schien Weihnachten bei ihm immer bereits mit dem Öffnen der ersten Glühweinbude anzufangen.

„Tja, dann fröhliche Restfeiertage“, prostete ich zurück. Ratzfatz war auch diese Runde vertilgt und Thomas hatte wieder bestellt, diesmal natürlich mit Schuss für uns beide.

So, ich musste jetzt irgendwie den Absprung schaffen. Ich schaute rüber in die Fußgängerzone. Ach, die Weihnachtspyramide!, fiel es mir ein, da lungerte freitags immer die halbe Firma rum, da könnte ich Thomas bestimmt gut parken.

„Du Thomas, lass uns mal gleich rüber zur Pyramide gehen. Ich muss eh gleich noch in die Stadt und irgendwie hab ich heute mal Lust auf ein Glühbier.“

Nicht, dass ich das Zeug wirklich mochte, das war gepanscht mit Honig, Zucker, Zimt und Zitrone. Wenn ich auch als Norddeutscher von Wein keine Ahnung hatte, von Bier dagegen schon. Und wer Bier panscht, gehört eigentlich gleich an den Flügeln seiner protzigen Weihnachtspyramide aufgehängt, rein zur Abschreckung versteht sich. Andererseits wollte ich aber schon den Absprung kriegen. Also hin da und ein Glas von dem Zeug runtergewürgt.

„Klar, können wir machen“, antwortete Thomas. „Mir wird es hier eh ein bisschen langweilig.“

Also gesagt, getan. Wir vernichteten noch schnell unsere dritten Becher Glühwein und tigerten los. Oje, als ich mich in Bewegung setzen wollte, merkte ich, dass ich den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen hatte. Frühstück bestand bei mir traditionell und vor allem aus Zeitmangel eh nur aus einer Tass Kaff’ und einem Joghurt. Auf Mittag hatte ich heute verzichtet, weil ich vor meinem Urlaub noch meinen Schreibtisch leer arbeiten wollte. Hatte auch einigermaßen geklappt. Doch nun sollte ich schleunigst mal über ’ne Grundlage nachdenken. Gut, zuerst einmal auf die Schnelle ’ne leckere Portion Champignons mit Knoblauchsauce (danach ein Pfefferminz, bin ja kein Barbar) und später dann ins „La Carrosse“ einer Men-Only-Bar und Restaurant. Das „Carrosse“ war sozusagen Punkt eins meiner Liste.

Okay, jetzt aber so ein scheiß Glühbier runterquälen und Thomas parken, dachte ich mir. An der Pyramide angekommen reckte ich auch schon meinen Hals, um nach ein paar bekannten Gesichtern Ausschau zu halten. Aber leider nichts zu sehen. Mist, wenn man sich schon mal auf die Leute verlässt, dachte ich. Ich bestellte uns schnell zwei Glühbier und spähte weiter. Mit meinen 1,90m Größe hatte ich keine Probleme den ganzen Pulk zu übersehen. Leider wieder ohne Erfolg. Aus den Außenlautsprechern drang, ach wie abwechslungsreich, „Last Christmas“ (grrrrr, ich hasse diesen Song!! George Michael war ja kein schlechter Sänger, aber dieses Lied ist seit Jahren zur Weihnachtszeit überall zu hören. Das wird langsam richtig nervig.) Na ja, trinken wir halt gleich noch ein Glühbier, dachte ich verzweifelt. Irgendwann tanzen die Leute aus der Firma bestimmt alle an.

„Mann du Arsch, ich habe doch schon dreimal gesagt, ich möchte ein Glühbier und nicht so ein fuck Kakao - Ach lass stecken und fick dich doch ins Knie!“

Eine glockenreine Jungenstimme, die so gar nicht zu der Schimpfkanonade passen wollte, drang von der Getränkeausgabe hinter mir zu mir herüber. Auch Thomas schien den kleinen, schimpfenden Pimpf bemerkt zu haben und drehte sich Richtung Ausgabe.

„Hey Alter, mal wieder die üblichen Probleme. Darf ich dich auf ein Glühbier einladen, bin eh gerade dran etwas zu besorgen“, sagte er plötzlich zu dem gerade wie ein Rohspatz schimpfenden Pimpf. Man schien sich also zu kennen.

„Selber Alter, aber das mit der Einladung ist schon ’ne gute Idee. Ich gebe dann auch ’ne Runde Kurze aus. Aber besorgen musst du die dann schon“, schallte es wieder hell und rein zu mir herüber.

Mann, das ist ja ein schönes Früchtchen, dachte ich mir so und drehte mich, während ich noch an dem letzten Rest dieses widerlichen Glühbieres nuckelte, lässig um.

Oh weia!! Schwerer Fehler!, dachte ich noch für den Bruchteil einer Millisekunde, um dann an dem gerade in Höhe meines Kehlkopfes befindlichen Getränks jämmerlich zu krepieren. Ich musste schlucken und wollte gleichzeitig ein vollkommen erstauntes „Mein Gott„ artikulieren, dieser gewagte Multitaskingversuch eines männlichen Kehlkopfes hatte zur Folge, dass ein kleiner Teil des Glühbieres seinen Weg in meine Luftröhre fand, dies wiederum löste einen fürchterlichen Hustenreiz aus. Da ich aber immer noch wie gebannt mein Glas an meinen Mund hielt, fand weiterer Glühgerstensaft seinen Weg in den falschen Hals und so schien sich das Spiel unendlich zu wiederholen, bis ich hochrot und tränenüberströmt meinem sicheren Erstickungstod entgegenging.

Was war passiert? Als ich mich umdrehte, um mir amüsiert den kecken und schimpfenden Rohrspatz anzusehen, traf mich fast der Schlag. Die Stimme ließ mich irgendwie einen kleinen, pickeligen Dreizehn- oder Vierzehnjährigen vermuten. Was ich aber dann zu sehen bekam, war also wirklich der absolute Hammer. Vor mir stand ein Bild von einem Jungen!!

Schwarzes, mittellanges, wuseliges Haar, eine gesunde, leicht gerötete Gesichtsfarbe, besonders um die Wangenknochen herum. Eine Stupsnase einfach zum dahin und wieder davonfliegen. Dazu Augen, die einfach der absolute Hammer waren. Die Farbe war so ein megageiles Unentschieden zwischen Stahlblau und leicht hellem Grün. Der Gesichtsausdruck schier unbeschreiblich. Keck, megalieb und ziemlich herausfordernd schien es so einigermaßen zu beschreiben. Das Ganze thronte auf einem hoch gewachsenen Astralkörper. Sportlich kräftig, aber nicht ein Gramm zuviel auf den Rippen. Sofern man dies unter den warmen Klamotten, in denen er sich eingemummelt hatte, überhaupt abschätzen konnte. Kurz gesagt, ein Kunstwerk. Dieser Adonis konnte gar nicht echt sein, der war bestimmt gemalt. Das Alter dieses jungen Gottes musste der Maler dabei so auf sechzehn oder siebzehn festgelegt haben. Die Stimme hatte da ein wenig getäuscht. Trotzdem passte sie einfach perfekt zu dieser Erscheinung.

Es ist schon seltsam, was so ein schwules Hirn alles noch wahrnimmt, wenn der Rest des Körpers gerade dabei ist, für immer die Versorgung mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff zu verlieren. Ich bin mir sicher, das Hirn eines Heteros hätte jetzt so eine Art Notfallprogramm ablaufen lassen, so mit röcheln und um Hilfe jammern und so. Nicht jedoch bei mir. Einzig und allein, das Betrachten und die bilddatentechnische Verarbeitung dieser vor mir stehenden Offenbarung schien in meiner Schaltzentrale den Status von Prio Eins zu besitzen. Okay, sollte ich gleich vor meinem Schöpfer stehen, würde ich haargenau die Ursache meines plötzlichen und unerwarteten Ablebens beschreiben können. Aber musste ich das überhaupt? Schließlich konnte diese Erscheinung nur von ihm höchstpersönlich zu mir herunter auf Erden geschickt worden sein. Was da vor mir stand und mich mittlerweile etwas erstaunt und amüsiert musterte, konnte nur ein Engel sein. Ein Engel kurz vor Weihnachten, tja das hatte wirklich Stil.

Ein weiterer Hustenanfall zwang mich in die Knie. Plötzlich war die Erscheinung vor mir verschwunden. Gleichzeitig verspürte ich irgendwie eine sehr angenehme Präsenz hinter mir. Ein leichter Geruch, betörend und süßlich wie frisches Marzipan, gesellte sich dazu. Marzipan, wo zum Teuf… gab es den hier am Stand Marzipan?

Wumm! Eine Hand sauste flach auf meinen Rücken. Ich musste erneut husten, bekam aber erstaunlicher Weise wieder ein ganz klein wenig Luft. Aber nicht nur das. Nur einen kurzen Moment verweilte die Hand auf meinem Rücken. Das reichte jedoch aus, um meinen Körper wie unter Strom zu stellen.

Wumm! Ein zweites Mal sauste die Hand nieder. Dieses Mal verweilte die Hand sogar etwas länger. Unglaubliche Stromstöße durchzuckten mich. Okay, Luft schien ich jetzt wieder zu bekommen, der Hustenreiz ebbte ebenfalls ab, anscheinend sollte ich also so kurz vor Weihnachten nicht jämmerlich ersticken, sondern mit 100.000 Volt gegrillt werden.

Die Hand verschwand von meinem Rücken, damit auch dieses unglaubliche Gefühl. Schade, dachte ich noch.

Dann kam dieser Engel wieder in mein Blickfeld. Ich richtete mich auf, durch meine tränenden Augen erschien er wie in einem Weichzeichner, ganz so wie bei diesem David Hamilton, Zärtliche Cousinen oder wie dieser Film von ihm heißt.

Dieser Engel blickte zu der Stelle herüber, wo ich Thomas vermutete und zeigte dabei lachend auf mich.

„Sach’ mal, kennst du diesen Spaßvogel? Hat der Vogelgrippe oder ist der von Geburt an so komisch? Mann! Wenn ich dem nicht gerade so richtig auf den Rücken geschlagen hätte, wäre der ja noch krepiert. Wäre ‘ne schöne Scheiße gewesen, und das so kurz vor Weihnachten.“

Danke für dein Mitgefühl, du süßer, kleiner Teufel, dachte ich so bei mir. Aber mal ehrlich, anscheinend hatte er mich mit seiner brutalen Ersten Hilfe wieder zurück ins Leben gerufen.

„Na lass man, das ist der Jan-Phillip, ein Kollege von mir, und der ist schon ganz in Ordnung. Muss sich wohl gerade an dem Rest seines Glühbieres verschluckt haben.“

„Ach so“, trällerte dieses süße, reine Glockenspiel zurück. „Na dann nichts für ungut.„ Und zu mir gewandt: „Du bist also Jan-Phillip, ist ja ein ziemlich unpraktischer Name, hast du was dagegen, wenn ich Flip zu dir sage?“

Woher kennt der bloß meinen Spitznamen, fragte ich mich noch. “Ich finde das einfach praktischer.“ Aha, dachte ich und nickte zustimmend.

„Ach so, ich bin übrigens der Lucas, Lucas mit ’c’! Und ach ja, einfach nur Lucas, sonst nichts keinen Doppelnamen, kein Bindestrich“, grinste er mich an.

Lucas, einfach nur Lucas, dachte ich, gibt es einen schöneren Namen auf der Welt als einfach nur Lucas? Mein Weihnachtsengel hieß also einfach nur Lucas. Genauso wie der Apostel, wegen dessen 2000 Jahre alter Story hier ja jedes Jahr dieser ganze Budenzauber abgehalten wird. Einfach nur Lucas, nein ehrlich, dieser Bengel ist einfach nur so etwas von unglaublich süüüüüß!

Ich musste ziemlich bescheuert aus der Wäsche geguckt haben, außerdem meldete sich jetzt auch mein Magen wieder vehement zu Wort. Mir war ganz flau, meine Beine waren wabbelig wie altes Gummi. Ich musste also unbedingt mal was essen. Oder sollte da noch etwas anderes sein? Ich hoffte jedenfalls inständig, die beiden anderen würden die jämmerliche Erscheinung, die ich gerade abgab, auf meinen beinahe Erstickungstod zurückführen.

Na ja, da hatte ich wohl die Rechnung ohne meinen vorlauten Weihnachtsengel gemacht.

„Sach’ mal Thomas, kann der auch sprechen oder kann das Modell dort nur röcheln und würgen? Außerdem starrt der mich schon die ganze Zeit so komisch an, als ob der mich auffressen will. Du, der ist doch wohl nicht gefährlich, oder?“ Ein breites Grinsen huschte über sein keckes Gesicht.

„Nee, nee Lucas, der ist schon ganz lieb. Und normalerweise kann der sogar ununterbrochen reden, vor allem, wenn der einen im Tee hat.“

Ups, war ich wirklich so eine Labertasche? Warum hatte Thomas noch nie etwas gesagt? Und vor allem, was habe ich ihm denn wohl so alles erzählt, wenn ich einen im Tee hatte???? Also, ich sollte mal wirklich ernsthaft auf mich aufpassen!

„Ich glaube, der Flip ist einfach noch ein bisschen fertig“; setzte Thomas sein Plädoyer zu meiner Verteidigung fort. “Du hast ihn ja schließlich gerade vor dem sicheren Ersticken gerettet. Lass in erst mal zu sich kommen. Ich hole uns derweil mal was zu Trinken.“ Sprach ‘s und verschwand. Danke auch schön, Herr Anwalt, dachte ich noch.

„Okay, ist in Ordnung, und denk bitte auch an die Kurzen, ich glaub, der Flip könnte wirklich einen gebrauchen!“, rief ihm mein Weihnachtsengel hinterher. Und dann zu mir gewandt: „Na, wie geht’s, alles im grünen Bereich? Wenn du willst, können wir uns ja auch da drüben mal kurz setzen. Da hinten auf der Bank meine ich. Alte Leute sollten sich ja ein bisschen schonen. Vor allem nach so einer Aufregung.“

Ich konnte gar nicht glauben, dass jemand wirklich in der Lage war noch breiter und fieser zu grinsen als wie ich das bereits vor ein paar Minuten zu sehen die Ehre hatte. Aber mein Weihnachtsengel schaffte die Steigerung einfach mühelos. Mann, war das ein Früchtchen.

„Nee ist schon gut“, krächzte ich, na ja zugegeben, ich hatte mich schon mal besser angehört. „Nein, geht wirklich schon wieder, ich hatte mich halt ziemlich bös verschluckt. Bin manchmal wirklich so ein richtiges Schusselchen.“

Mann, tuntiger ging dass nun wirklich nicht mehr!! Hey! Hallo Flip, was ist mit dir los? Kann mir mal einer die Zunge verknoten, den Mund abschließen und den Schlüssel wegwerfen?

„Aber erst mal meinen aufrichtigen Dank für deine etwas brutale, aber anscheinend wirkungsvolle Hilfe“, versuchte ich schnell meinen verbalen Ausrutscher zu kaschieren und hielt ihm meine ausgestreckte Hand hin.

Diesmal hatte ich wohl voll ins Schwarze getroffen. Die Betonung auf ’brutal’ schien ihm wohl etwas peinlich zu sein. Jedenfalls liefen seine Wangen leicht rot an. Mann, wie megasüß war das denn jetzt wieder? Gleichzeitig griff er etwas scheu meine ausgestreckte Hand.

Peng! Da war es wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr meinen Körper ein Stromstoß von mehreren tausend Volt. Blitzschnell hatte mein Weihnachtsengel seine Hand wieder zurückgezogen. Hatte er etwa dasselbe gespürt? Ach Quatsch, Flip, du spinnst doch. Du solltest endlich mal was essen und deutlich weniger trinken. Dann klappt das auch wieder mit deinem Realitätssinn.

In diesem Moment kam Thomas mit einem Tablett um die Ecke, darauf drei Glühbier (würg) und drei Korn (noch mal würg).

„Na, dann hau wech den Scheiß“, meldete sich mein Weihnachtsengel zu Wort und griff sich eines der Schnapsgläser und prostete uns zu. Gleichzeitig legte er mit der freien Hand einen Zehn-Euro-Schein aufs Tablett. „Übrigens, Danke fürs Holen, weißt ja, dass ich mit diesen schwuchteligen Pennern da an der Theke immer Stress habe.“

Na, eine Wortwahl hat dieses Früchtchen und typisch blöder Hetero. Alle sind sie immer schwul oder schwuchtelig. Menno, immer diese blöden Vorurteile. Und dann auch noch Schnaps saufen. Wenn ich mir den mal so genau ansehe, ist der doch höchstens sechzehn. Wundert mich schon, dass Thomas da kein Problem sieht. Schnaps für Kiddies holen. Pah, Thomas ist doch sonst nicht so leichtsinnig.

„Du, was macht denn übrigens Moni. Ist sie auch in der Stadt?“, hörte ich Thomas fragen. Ich stürzte derweil unfallfrei den Schnaps herunter. War mal gar nicht so ungut, irgendwie brachte der etwas Ruhe in meine Eingeweide. Fühlte mich gleich etwas freier und unbeschwerter, griff dann aber gleich zu einem der Gläser mit dem Bier, um das Nachbrennen des Korns zu kaschieren. Thomas hatte zwar noch nicht Prost gesagt, aber manchmal muss man auch mal auf die Etikette verzichten können.

„Ach, meine Mutter hat sich heute vorgenommen die komplette City leer zu kaufen. Ich war vorhin mit ihr Hosen kaufen. Also, das hat mir echt den Rest gegeben. Lieber laufe ich demnächst nackt rum als mir das noch mal anzutun.“

Schöne Vorstellung, dachte ich, und erwischte mich dabei mir diese Ankündigung nicht nur innig zu wünschen, sondern auch gleich in Multicolor und HDD-Qualität auszumalen. Mann Flip, beruhig dich mal wieder, das ist doch noch ein Kind!

„Ich hab mich dann abgesetzt und bin hierher gegangen. Na ja, den Rest kennst du ja. Also, meine Mutter wollte so in ‘ner halben Stunde hier vorbei kommen. Wir wollten dann noch schick essen gehen. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Moni wird sich bestimmt freuen. Und danach trennen sich sowieso unsere Wege. Ich will dann noch auf Tour, bin schließlich schon seit einem Monat wieder solo. Ein ziemlich unhaltbarer Zustand, da muss ich mich heute mal dringend drum kümmern. Will ja schließlich Weihnachten nicht einen auf Lucas allein zu Hause machen. Moni hat mir erzählt, dass ihr vielleicht über Weihnachten zusammen weg fahren wollt. Reiner, ungezwungener Urlaub mir einem guten Freund, hat sie gesagt. Na, wer’s glaubt. Ich jedenfalls wünsche euch da schon mal viel Spaß. Kannst ja heute Abend bereits mal ein bisschen mit dem Baggern anfangen. Guck nicht so, ich weiß doch, dass du auf sie abfährst. Na, meinen Segen habt ihr, soll ja schließlich auf ihre alten Tage noch ein bisschen Spaß haben, meine alte Dame.“

Also für dieses freche Grinsen muss der irgendwo einen Kurs belegt haben. Von allein kann man das doch gar nicht, dachte ich. Und frech wie Oskar ist der dazu auch noch. Wie ich Thomas kenne, kann diese Moni noch nicht so alt sein. Der steht nämlich nicht auf Methusalem. Na ja, ich schätze den Lucas ja so auf sechzehn, wenn sie dann schon recht früh mit diesem Bengel bestraft ähm beschert wurde, so vielleicht mit achtzehn oder zwanzig, na dann geht sie jetzt so auf die vierzig zu. Okay, doch schon Methusalem, aber Thomas muss es ja wissen.

Viel wichtiger war, was hatte er noch mal gesagt, ach so, dass er solo ist. Schon einen ganzen Monat immerhin. Na, das ist ja ein Skandal und bei diesem Aussehen auch schwer verständlich. Tja, dann wünsch ich uns beiden viel Erfolg für diesen Abend. Also so jeder für sich natürlich! (seufz)

Aber verdammt, ich konnte einfach nicht anders. Die ganze Zeit schon schaute ich wie gebannt auf diesen Bengel, als er mit seiner locker frotzeligen Art mit Thomas sprach. Dieser schien dem Charme dieses Bengels ebenfalls voll zu erliegen. Ich hatte mich zwar geistig schon lange aus dem eigentlichen Gespräch ausgeklinkt, aber irgendwie ging es immer wieder um Thomas Annäherungsversuche an diese Moni. Ich dachte zuerst ich spinne, da gab doch dieser dreiste Kerl unentwegt Tipps wie Thomas bei seiner Mutter landen könnte und machte sich gleichzeitig ein wenig lustig über die beiden.

Und was machte Thomas, der hörte andächtig zu, holte zwischendurch nochmals ‘ne Runde Glühbier und Korn und nahm alle Tipps dankbar entgegen.

Tja, und was machte ich, ich starrte die ganze Zeit auf meinen Weihnachtsengel, hatte vor etwa fünfzehn Minuten bemerkt, dass er lange dunkle Wimpern hat, fast wie ein Mädchen, vor zehn Minuten dann, dass er wunderschöne weiße Zähne besitzt. Links kurz oberhalb der Oberlippe prangt ein unglaublich süßer, kleiner Leberfleck (vor acht Minuten) und nun betrachtete ich seit etwa fünf Minuten seine Lippen, wie sie sich synchron zu einer Unterhaltung bewegen, der ich schon lange nicht mehr folgte. Als Thomas kurz verschwunden war, hatten diese Lippen sich mit mir unterhalten. Ich werde mal bei Gelegenheit nachfragen, was ich so geantwortet habe.

„Hallo Flip! Hey, hallo Herr Jan-Phillip, na Thomas wie heißt der nochmals mit Nachnamen? Ach so, Böhm. Also neuer Versuch. Hallo Herr Jan-Phillip Böhm, ist noch irgendjemand zu Hause? Ich hatte gerade gefragt, was der werte Herr denn heute Abend noch so vorhat. Meine Mutter wird sicherlich gleich erscheinen und dann wollen wir erst einmal aus dieser Saukälte raus, irgendwo was essen. Und Lust mitzukommen?“

Hatte dieser kleine, süße Weihnachtsengel gerade schon wieder mit mir gesprochen? Was hatte er gefragt, was ich heute noch so vorhätte? Oh ja, da wäre so einiges, was ich so vorhätte oder besser, was ich mit ihm vorhätte. Ob ich heute Lust hätte und noch kommen möchte? Na, das war ja mal direkt. Oder nein, ich glaube mitkommen hatte er gerade gesagt. Schade, aber nee, mitkommen war gar nicht nötig. Nimm mich nur einfach jetzt und hier auf der Stelle. Saukälte? Na, da würde ich schon für sorgen, dass uns beiden mächtig warm wird. Boar, was ich da gerade dachte, war so dermaßen versaut, dass selbst in meinem Hirn ein dicker, schwarzer Balken erschien. Nee, das war jetzt wirklich nicht jugendfrei.

Jugendfrei! Mich traf es wie ein Blitz, sag mal Flip, was ziehst du hier eigentlich gerade ab? Das ist doch noch ein Kind!! Du stehst hier wie so ein alter sabbernder Pädo und ziehst dieses kleine, unschuldige Ding (na ja, unschuldig streichen wir mal sofort wieder) mit deinen Augen aus. Von dem, was du gerade gedacht hast, was du mit ihm noch so alles machen willst, mal ganz zu schweigen. Du zitterst, wenn du nur an ihn denkst, kriegst eine gewischt, wenn du ihn nur kurz berührst, und hast ein Gefühl in der Magengegend, das nichts mit der spärlichen Nahrungsaufnahme von heute zu tun hat. Tja, was war das also wirklich für ein Gefühl? Ich wusste es natürlich, traute es mir jedoch nicht einzugestehen. Schmetterlinge! Tatsächlich waren es diese kitschigen Schmetterlinge im Bauch, die sich dort gerade ganz fies eingenistet hatten und wahrscheinlich bereits die Silvesterfeier vorverlegten, zumindest dem Pogo nach zu urteilen, den sie da gerade in meinen Eingeweiden tanzten. Fehlt nur noch, dass sie gleich die ersten Böller zünden. Ich glaub es einfach nicht. Zehn Jahre lebst du wie ein Mönch, oder so wie man sich vorstellt wie Mönche halt so leben. Dann kannst du endlich mal so richtig loslegen und was tust du Idiot, du verknallst dich in ein Kind. Mann, du bist ja wirklich krank!!

Hilft alles nichts, dachte ich, ich muss hier einfach weg. Langsam kroch eine richtige Panik in mir hoch.

„Hey Flip, meinst du, du kriegst heute noch irgendeinen zusammenhängenden Satz heraus? Nur Mut, vorhin hat das doch auch schon einmal geklappt. Oder kannst du immer nur einen Satz pro Tag?“ Wieder grinste mich dieser teuflische Weihnachtsengel oder dieser engelhafte Weihnachtsteufel an.

„Ähh, Thomas … ähh Lucas“ - Panik, nackte Panik ! - “Tut… ähm, tut mir schrecklich Leid….., was wichtiges vergessen…., wirklich!“ - Meine Hände waren feucht wie ein Handtuch nach dem Duschen. - „Also.. Ich muss dann wirklich.“ - Kalter Schweiß lief mir aus Körperöffnungen von denen ich bis dahin noch nicht einmal wusste, dass ich dort welche hatte - „Ich wünsche euch dann..., äh was denn… ach ja, noch einen schönen Abend. Grüße dann auch an Mutter, unbekannter Weise, äh… deine Moni meine ich natürlich.„ - Kann sich jetzt hier nicht irgendwo ein großes, schwarzes Loch auftun? - „So bin dann weg, … wünsch euch dann noch frohe Ostern, … nur für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen, äh Weihnachten meine ich natürlich… und rutscht dann schön, na ja nicht aus, … na, ihr wisst schon...„ – Mann, nichts wie weg hier! Ich drehte mich um, peng, und rannte voll vor einen Stehtisch. Die von mir ausgehende Impulskraft zerstörte augenblicklich die ohnehin chronisch labile Balance des Massenschwerpunktes dieses allseits beliebten Partymöbels. Sofort begab sich dieser auf die Reise in einer bogenförmigen Bahn, um sich dem ein neues Gleichgewicht versprechenden Asphalt zu nähern. Zwei kleine Wunder retteten mein Leben. Erstens, der Tisch war völlig frei von Gläsern, Flaschen, Aschenbechern oder sonstigen ekligen Hinterlassenschaften. Und zweitens, die schwere Tischplatte verfehlte nur um wenige Zentimeter die Zehen des mir gegenüberstehenden Bullen von einem Mann. Der sicher, wäre es anders gekommen, Hackfleisch aus mir gemacht hätte.

„Tschuldigung, es tut mir wirklich Leid, ich muss nur ganz dringend weg … Ich hoffe wirklich, Ihnen ist nicht passiert, … ja noch mal vielmals Entschuldigung!!„, faselte ich, während der Bulle mich nur leicht irritiert musterte. Seine Hände steckten jedoch geballt in seinen Hosenaschen. Ich hechtete über die Trümmer des Tisches hinweg und sah zu, dass ich Land gewann. Zu Lucas und Thomas rief ich noch mal zurück: „Also Tschüß ihr beiden… Ich hoffe man sieht sich.“ Tja, hoffte ich das wirklich?

Ich drehte mich noch mal um. Zum einen, um mich zu vergewissern, dass mich das bullige Muskelmonster nicht verfolgte, und zum anderen, um einen letzten Blick auf meinen Weihnachtsengel zu erhaschen, den ich nach dieser Katastrophe bestimmt nie wieder sehen würde. Darin war ich mir absolut sicher.

Ich war mir zudem sicher, dass Thomas und vor allem aber mein kleiner Weihnachtsengel sich scheckig lachen würden über mich.

Doch was sah ich?

Also, zuerst einmal, Mister Bulligundvielzuvielmuskelmasse war sich immer noch nicht einig, wie er jetzt angemessen reagieren sollte, und war daher vorsichtshalber in einen Zustand völliger Lethargie verfallen.

Und Thomas? Den hörte ich gerade auf eine wohl kurz zuvor gestellte Frage antworten: „Nee, Lucas. Der ist wirklich nicht immer so. Eigentlich ein total aufgewecktes und pfiffiges Kerlchen. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist, bis wir hier an die Pyramide ankamen, war der noch völlig normal. Ob der vielleicht das Glühbier nicht verträgt? Wer weiß?“

Na, und was machte die Ursache für mein so plötzlich entstandenes gefühlsmäßiges Notstandsgebiet, nein, er grinste gar nicht mehr, sondern, und das haute mich nun völlig von den Socken, er sah mir sehr nachdenklich und, so schien es mir zumindest, ausgesprochen traurig hinterher.

Weg hier, dachte ich nur. Dieser Blick war nun wirklich absolut waffenscheinpflichtig. Wollte ich nicht, dass noch irgendetwas passierte, was wir alle unser Leben lang bereuen würden, musste ich soviel Abstand zwischen uns bringen wie nur möglich. Eine andere Stadt fiel mir ein, ein anderes Land vielleicht, nein, noch besser ein anderer Kontinent. Ich rannte, ich rannte wie verrückt, aber wo sollte ich nun hin?


Scheinbar kam ich langsam wieder zu mir, denn vor mir tauchte plötzlich wieder das neoklassizistische, weihnachtsbekerzte Gebäude des Hauptbahnhofs auf. Immer noch von Panik getrieben hechtete ich durch den Kleinsten der in dieser Stadt aufgebauten Weihnachtsmärkte Richtung Bahnhofseingang. Der verführerische Duft von gebratenen Champignons zog mir in die Nase. Sollte ich es wagen, dachte ich, denn mein leerer, schmetterlingsbefreiter Magen meldete sich plötzlich vehement zu Wort. Nein, schrie mein immer noch panikbefallenes Hirn, auf keinen Fall! Die Gefahr Thomas oder schlimmer noch Lucas könnten hinter dir her gekommen sein ist viel zu groß!

Also weiter, dachte ich, erst mal durch den Bahnhof weiter Richtung Cinemaxx und Hochhaus. In dieser Stadt war es übrigens völlig normal den halben Abend damit zu verbringen durch den Bahnhof zu laufen, schließlich waren die meisten Party-Locations munter um selbigen verteilt. Und ausgenommen man hatte den Abend langfristig im Voraus und zudem generalstabsmäßig geplant, blieb es nicht aus, ein- oder mehrmals den bahntechnischen Knotenpunkt dieser Stadt mit seinen unzähligen Geschäften und Schnellrestaurants zu durchqueren. Eine Tatsache, die dazu führte, dass manchen Abend auf und um den Bahnhof genau so viel los war wie tagsüber zu den Hauptverkehrszeiten. Von dieser Feststellung völlig unbeeindruckt eilte ich jedoch schnellen Schrittes und quasi immer noch vor mir selbst weglaufend durch den Bahnhof Richtung hinteren Ausgang.

Dort angekommen empfing mich das muntere Treiben auf den großen, sich anschließenden und in zwei Ebenen aufgeteilten Platz. Dieser schrie in seiner lieblichen und versifften Siebziger-Jahre-Romantik dringend nach einem neuen Investor mit frischem Geld und noch frischeren Ideen. Der alte Investor, sinniger Weise ein professioneller Insolvenzverwalter, der sich jedoch nach gescheiterten Bemühungen um maximale Gewinnoptimierung nun selbst verwalten musste, sah sich leider vor einiger Zeit gezwungen auf halben Wege halt zu machen. So standen sich Großraumkino, In-Disco, Fitnesstempel und Trend-Lokalitäten des 21. Jahrhunderts auf der einen, Bhagwan-Disco, Programmkinos, Italiener und Mexikaner in schäbigen Betonbauten mit Siebziger-Jahre-Flair auf der anderen Seite gegenüber. Zwischen allem wuselte eine auf Weihnachten und zugleich auf Wochenendvergnügen gebürstete Menschenmenge, die gerade vom zweitgrößten Weihnachtsmarkt dieser Stadt kommend nun dem Bahnhof und dann sicherlich weiter der Altstadt zustrebten. Ich hatte jedoch für dies alles keinen Blick. Geradeaus blickend Richtung Hochstraße, welche den Platz am gegenüber liegenden Ende abschloss, hatte ich soeben einen Entschluss gefasst. Ich wollte nun zielstrebig mein eigentliches Ziel dieses Abends aufgreifen und mich in die schwule Szene dieser Stadt stürzen. Ich war mir sicher, hier sehr geringe Gefahr zu laufen auf Thomas und vor allem natürlich auch auf Lucas zu treffen. Gleichzeitig hoffte ich, nun nach Jahren der Enthaltsamkeit und des Versteckspielens einer dermaßen großen Reizüberflutung zu erliegen, so dass mir mein kleiner Weihnachtsengel gründlich aus meinem derzeit leider immer noch ziemlich verwirrten Hirn geschwemmt würde.

Ich seufzte nochmals schwer, als ich festen Schrittes die Hochstraße unterquerend und vorbei an dem riesigen Hochhaus nun dem Ziel meines homoerotischen Selbstversuchs entgegen ging. Ich fasste mich dann aber ziemlich schnell und versuchte mich nun wieder auf den bevorstehenden Abend zu freuen. Das Ziel korrespondierte zudem ausgesprochen gut mit meinem mittlerweile schon rebellisch protestierenden Magen. Dementsprechend zufrieden näherte ich mich nun endlich dem einzigen Men-Only-Restaurant dieser Stadt, dem La Carrosse. Etwas mulmig war mir aber schon. Wie bereits auf dem gesamten Weg von der Weihnachtspyramide in der Innenstadt bis hierhin, blickte ich mich mehrmals verstohlen um. Diese Male jedoch nicht nur, um mich zu vergewissern, dass mir weder Thomas noch Lucas gefolgt waren, sondern auch, um sicher zu sein, dass ich nicht zufällig noch irgendeinem anderen bekannten Gesicht begegnen würde. Ich verwünschte in diesem Moment meine Zerrissenheit. Auf der einen Seite wollte ich nun endlich damit anfangen, offen und frei mit meiner Neigung umzugehen und auf der anderen Seite war da dann noch immer dieses kleine Teufelchen in mir, welches mir plötzlich zittrige Knie und schweißnasse Hände bereitete und meinen Beinen befehlen wollte, sofort kehrt zu machen, um mich dann augenblicklich in mein stilles Kämmerchen zu verziehen. Ich wusste mit Überschreiten der Türschwelle zu diesem Restaurant würde ich zum ersten Mal in meinem Leben ganz öffentlich meine spezielle Neigung zum männlichen Geschlecht outen, mich outen, auch wenn es wahrscheinlich keinen der ringsherum Anwesenden sonderlich interessieren würde. Für mich aber war es damals ein ausgesprochen beeindruckender Schritt. Und hätte mich nicht irgendwann die Erkenntnis getroffen, dass, sollte ich noch eine weitere Stunde unschlüssig glotzend vor dem Eingang verweilen, ich sicherlich mit einem Türsteher verwechselt worden wäre, würde ich wahrscheinlich noch heute inmitten des ersten Schritts zu diesem bedeutsamen ersten Schritt verweilen.

Also griff ich mir endlich ein Herz und wagte mich in die Höhle des Löwen. Immer noch zögernd schob ich mich durch den freundlich anmutenden Eingangsbereich. Entgegen meinen schlimmsten Befürchtungen erwartete mich kein schummerig verplüschtes Ambiente, sondern ein wirklich helles und dezent farbenfrohes Interieur.

Das Restaurant und die angrenzende Cocktailbar mit Lounge strahlten sogar ein wirklich gehobenes Ambiente aus. Schnell blickte ich an mir herunter, um mit einem innerlichen ‘na ja, geht schon irgendwie’ meine Garderobe auf Dresscode-Kompatibilität zu prüfen. Mein Eintreten hatte die zu diesem Zeitpunkt wenigen, natürlich ausschließlich männlichen Gäste dazu bewogen, kurz zu mir herüber zu schauen. Sofort fühlte ich mehrere Augenpaare mit Scannerblick an mir haften. Dies dauerte jedoch nur wenige Sekunden und schon wurden die kurzeitig unterbrochenen Tätigkeiten wieder aufgenommen. Ich selbst fühlte wie ich plötzlich eine gesunde Gesichtsfarbe entwickelte. Mir blieb jedoch nicht viel Zeit mich näher mit meiner peinlichst gesunden Durchblutung zu beschäftigen, denn schon sah ich wie ein adrett aussehender Kellner mittleren Alters auf mich zu schob.

„Schönen guten Abend der Herr, haben Sie reserviert“, fragte er mich, sehr professionell und gar nicht tuntig. Dies gab mir zunächst ein wenig Sicherheit, um dann im nächsten Moment genau dies zarte Pflänzchen Selbstsicherheit in mir sofort wieder verdorren zu lassen.

„Ähhh, nein. Ähm, ich meine muss man das denn?“, antwortete ich stotternd, um mich dann fragend im halb leeren Restaurant umzusehen.

„Oh, müssen natürlich nicht. Aber es ist jedoch ratsam. Unser Restaurant ist zumeist sehr gut besucht“, gab mein Gegenüber nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme zurück. „Ich nehme doch an, der Herr wünscht zu speisen, oder möchten Sie es sich lieber in unserer Lounge bequem machen?“, lächelte er mich an.

„Nein, nein ich wollte schon ganz gern etwas essen“, gab ich dieses Mal fast ohne zu stottern zurück.

„Ja, da haben Sie aber schon etwas Glück, denn heute Abend habe ich tatsächlich noch ein Plätzchen für Sie frei. Sind Sie allein oder erwarten Sie noch Begleitung?“

Erwartungsvoll blickte er mich an.

„Nein, ich bin allein.“ Das ’leider’ hatte ich mir noch gerade so verkniffen.

Ich hatte den Eindruck nun einen gewissen mitleidigen Blick zu verspüren, ich bin mir heute aber sicher, dass es doch nur Einbildung war.

„Ja, wenn Sie mir dann bitte folgen würden“, und schon schob er mit mir ab zu einem Fensterplatz am Rand. Na toll, dachte ich. So jetzt können wenigstens auch alle Passenten draußen sehen, was für einer du bist. Das war natürlich totaler Blödsinn, erstens waren sicherlich alle, die draußen vorbei eilten, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und zweitens, wer sollte sich schon die Mühe machen durch die kleinen Fenster zu linsen, um mich hier sitzen zu sehen. Aber dennoch, in diesem Moment hatte ich das Gefühl, ein großes Schild um den Hals zu tragen mit der Aufschrift: ‘Jan-Philipp Böhm, 25, schwul und gerade frisch geoutet„.

„Wenn ich so frei sein darf zu fragen, sind Sie zu Besuch in der Stadt?“, wurde ich plötzlich aus meinen unangenehmen Gedanken gerissen. Mein Kellner grinste mich aufmunternd an. „Ähhh?“, war alles, was mir dazu einfiel.

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich dachte nur, wir haben hier überwiegend Stammgäste. Und es scheint mir, dass Sie unser Restaurant zum ersten Mal besuchen?“, erwiderte der Kellner schnell.

„Äh, ach so. Nein, zu Besuch nicht, sondern ich bin erst vor kurzem hier in diese Stadt gezogen. Ihr Restaurant wurde mir empfohlen.“ Ja, von mir selbst, setzte ich ungehört hinzu, und fuhr fort: „Na ja, und da dachte ich, heute wäre wohl ein guter Tag, die Empfehlung auszuprobieren. Ach, und vielen Dank für Ihren Tipp mit dem Reservieren, werde ich für ‘s nächste Mal natürlich beherzigen.“ Ich war richtig stolz auf meine nahezu stotterfreie Antwort.

„Ach so, bitte entschuldigen Sie nochmals meine Neugier. Darf ich Ihnen dann jetzt die Karte bringen oder möchten Sie zunächst etwas trinken?“ Ich merkte, wie sich meine Restaurantfachkraft zunehmend entspannte.

Ich wählte sowohl die Karte als auch ein Glas Rotwein vorweg. Ach, ich fühlte mich zunehmend wohler und freute mich auf einen angenehmen Abend, den ich nun mit mir allein verbringen würde. Dieses schöne Gefühl wurde nur einmal kurz von einem kleinen Schock gestört, welcher von den Preisen ausging, die mir nach dem Öffnen der ledergebundenen Menüauswahl entgegen grinsten. Ach was soll‘s, beruhigte ich mich dann aber ziemlich schnell, heute hast du etwas zu feiern, nämlich deine Freiheit. Also wechselte ich geistig in meine Spendierhosen und meinem immer noch leeren und bis dahin lediglich mit diversen Alkoholika gefüllten Magen folgend wählte ich ein opulentes Vier-Gänge-Menü.

Während ich nun ein zweites Glas Rotwein nippend auf den Beginn dieser kleinen privaten Völlerei wartete, begann ich mich für die übrigen Gäste zu interessieren.

Wie bereits erwähnt waren diese ausschließlich männlicher Natur. Ich stellte fest, dass ich mit Abstand der jüngste Gast war. Um mich herum waren eher Männer mittleren Alters. Hier und da traf mich mal ein scheuer, mitunter aber auch ein etwas abschätzender Blick. Erstaunlicher Weise war mir dies jedoch plötzlich nicht mehr so unangenehm. Langsam begann ich mich sogar richtig wohl zu fühlen. Neugierig setzte ich meine Beobachtungen fort.

Neben dem meinigen waren fünf weitere Tische besetzt. Alle waren jeweils mit einem Pärchen belegt. Ich beobachtet wie diese miteinander umgingen. Hier und dort lief Konversation, dann ein verliebter Blick, auf einem Tisch fanden sich zwei Hände in zärtlicher Berührung. Ganz natürlich erschien mir dies, so wie in jedem anderen Restaurant dieser Welt, nur dass dort sich zumeist Männlein und Weiblein gegenüber saßen. An dem Tisch gegenüber bemerkte ich wie plötzlich das gedämpft dahin plätschernde Gespräch verstummte, sich dass Pärchen verliebt tief in die Augen sah, dann die Köpfe sich näherten und beide sich schließlich in einem kurzen, aber innigen Kuss trafen.

Ich ertappte mich dabei wie ich meinen Blick scheinbar gar nicht abwenden konnte. Dies war der erste zärtliche Kuss unter Männern, den ich ganz bewusst und live und in Farbe sah. Na ja, und was war jetzt mit mir, was fühlte ich? Ehrlich? Tja, ich empfand es einfach nur schön. Eine unendliche Sehnsucht stieg in mir empor.

„Ach Lucas“, seufzte ich kaum hörbar. „Was gäbe ich darum, wenn wir beide nun so hier sitzen würden wie die beiden Glückspilze dort.“

Ich erschrak. Ängstlich blickte ich mich um. Uff, scheinbar hatte mich keiner gehört. Na, Glück gehabt. Wieder verspürte ich den Drang in Panik zu verfallen und erneut vor mir selbst wegzulaufen.

Mensch Flip, sagte ich zu mir selbst, du musst aufhören an ihn zu denken. Das ist nicht gut. Der ist doch noch ein Kind. Das ist nicht normal. Such dir einen anderen hübschen Jungen, aber den dann in deinem Alter. Werde dann glücklich mit ihm, aber schlag dir diesen - ach so süßen - Bengel aus dem Kopf!

Die Ankunft meiner Vorspeise rettete mich vor weiteren zermürbenden Gedanken und die nächste Stunde verbrachte ich damit, ein wirklich hervorragendes Mahl zu vertilgen.

„Ich möchte dann auch gleich zahlen“, sagte ich schließlich zu meinem Kellner, als dieser mir zum Abschluss einen Capuccino brachte. „Und mein Komplement an die Küche, das Essen war einfach spitze!“

Ich war pappsatt und meine Laune war hervorragend, als ich mich schließlich, nachdem ich den Capuccino geschlürft, die Rechnung bezahlt und ein anständiges Trinkgeld hinterlassen hatte, zum Aufbruch bereit machte.

„So, und jetzt ab ins Cocido“, sagte ich laut zu mir, als ich wieder draußen in der herrlich klaren Winterluft stand.

Das Cocido war und ist eine der angesagtesten Gay-Bars dieser Stadt und bekannt dafür, hier gut chillen und flirten zu können. Also genau richtig für meiner einer, hatte ich mir gedacht, als ich tags zuvor mit meiner Internetrecherche für den heutigen Abend beschäftigt war. Flugs hatte ich mir die Adresse herausgesucht und auf meine heutige To-Do-Liste gepackt.

Tja, also auf ins Cocido! Das bedeutete zunächst einmal wieder flugs durch den Bahnhof gestapft. Wie schon gesagt, Bahnhof-Crossing ist für die Nachtschwärmer dieser Stadt eine Pflichtdisziplin. Mein Weg führte wieder durch die Shoppingmeile und natürlich wieder an der Riesenweihnachtspyramide vorbei. Dort hatte man aber schon längst den Verkauf des Panschglühbiers eingestellt und der Platz war nur noch durch ebensolche nächtlichen Streuner wie meiner einer bevölkert. Zumeist Pärchen natürlich. Menno! Auch wenn die meisten (na ja eigentlich alle) ziemlich hetero waren, auch ich wollte endlich mit so einem Schnuckel im Arm durch die Gegend ziehen, hetero natürlich nicht, sondern selbstverständlich so richtig vorschriftsmäßig schwul, ist doch klar! Seufz, sofort war da wieder dieses Gemälde von einem megasüßen Engel mit strubbeligen, schwarzen Haaren, Killerblick und stahlblaugrünen Augen vor mir. Erotikfaktor tierisch nach oben treibend, im Weichzeichnerformat natürlich!

Ach, dachte ich, warum kann mich mein kleiner Engel nicht einfach in Ruhe lassen. Mensch Flip, das kann doch nie etwas werden. Erstens ist er mit Sicherheit nicht schwul. Die allgemeine Behauptung der Mädels, dass alle wirklich hübschen Männer schwul sind, stimmt meiner eigenen Erfahrung nach (leider) ganz und gar nicht und soll eigentlich nur über den Fall hinwegtäuschen, wenn die Gattung Homo Erectus Femininum mal wieder nicht in der Lage ist, so ein richtig schnuckeliges Juwel abschleppen zu können. Und zweitens, mein kleiner Engel ist einfach viel zu jung! Und zwei, drei weitere Jahre der Enthaltsamkeit kann man doch nach den vielen Jahren meines Mönchslebens nun wirklich nicht mehr von mir erwarten. Würde auch nicht funktionieren. Nur fünf Minuten mit diesem Gott irgendwo ungestört allein und Flip the monster will clearly be awake!

So, nun war’s also wieder vorbei mit meiner Selbstbeherrschung. Schön, dass ich jetzt gar keine Lust mehr auf meinen so sorgfältig geplanten Abend hatte. Ich wollte eigentlich nur noch nach Haus, mich mit einem Vanille-Sahne-Tee ins Bett verkriechen und in Selbstmitleid zerfließen. Aaach, die Welt ist ja sooo hart und ungerecht! Aber irgendwie war es jetzt hier mitten in der Fußgängerzone viel zu kalt zum Flennen und der Weg zurück zum Bahnhof genauso lang wie ins hoffentlich kuschelig warme Cocido. Na also, geht doch! Ich trabte somit weiter, Kopf eingezogen, Hände tief in die Taschen vergraben und meine plötzlich aufgetauchte Melancholie genießend, vorbei an dem Amüsierviertel der Stadt. Auch so ’ne Einzigartigkeit dieser Stadt. Während anderswo Bordelle, Stripp-Bars und Nachtclubs schön versteckt irgendwo am Stadtrand lagen, hatte es dahingegen die Messe- und Expostadt keinesfalls nötig diese zu verstecken. Gleich neben C&A, Babyparadies und Fastfood-Tempel konnte man hier gegen Kohle natürlich seine Heterogelüste feiern. Na gut, mein Ding ist das nicht, selbst wenn ich auf Mädels statt auf Jungs stehen würde. Aber wer halt Spaß daran hat.

So nun ging’s weiter Richtung Versicherungsviertel und in eine kleine Seitengasse einbiegend stand ich plötzlich vor der nächsten Etappe meines Gay-Selbstfindungstrips. So ein bisschen flau im Magen war mir da schon, und das, obwohl ich ja erst vor kurzem für ’ne ganze Kompanie geschlemmt hatte. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Na, kurz tief Luft geholt und dann ran an den Feind. Sprich an die Tür, die mich noch von dieser hoffentlich mollig warmen Location trennte. War ja klar, nachdem ich wie blöde an der Tür rum gedrückt hatte, mir überlegte, haben die dich vielleicht gesehen und sofort abgeschlossen?, dann kurz davor war nun endgültig in meine Depri-Phase überzuwechseln und nach Hause zu schleichen, versuchte ich es mit ziehen und trat ein. Mann, wer baut denn so dämliche Türen ein?, dachte ich noch.

Eine wirklich mollige Wärme schlug mir entgegen. Okay, erster Pluspunkt, dachte ich mir. Das Lokal selbst sah auf den ersten Blick aus, wie jeder andere für junges bis mittelaltes Publikum gedachte Schuppen. Ein bisschen viel Plüsch vielleicht. Dann fiel mein Blick auf die unzähligen nackten Putten in allen möglichen Formen und Ausführungen in mehr, mehr als weniger eindeutigen Posen und ich wusste, klar hier bist du richtig. Obwohl Putten! Mann, muss mich denn heute alles an diesen Weihnachtsengel erinnern!

Ich schlich mich weiter Richtung Theke. Ich spürte, wie ich von den Anwesenden beäugt wurde. Dieses Abscannen muss also irgendwie so ein schwules Ritual sein, dachte ich mir. Na ja, kann ich mit leben, wenn ich denn auch darf. Wow, das war plötzlich eine völlig neue Erkenntnis für mich. Wenn ich sonst doch immer sehr verschämt irgendwelche Schnuckel begutachtet hatte, peinlichst darauf bedacht, dass bloß niemand etwas merkt, war das hier ja anscheinend ziemlich selbstverständlich.

Also wechselte ich die Richtung weg von der Theke und hin zu einem freien Tisch Marke Logenplatz. Also ziemlich am Rand, aber mit super Blick auf das ganze Geschehen.

Kaum saß ich, kam auch schon einer der wirklich süßen Jungs hinter der Theke auf mich zu.

„Hallo, ich bin der Kai. Und, was darf ich dir bringen?“, fragte er und legte mir zugleich eine Getränkekarte vor. Kein, na, wer bist du? Bist du neu hier? Oder, was treibt dich denn zu uns? Sondern nur ein wirklich freundliches Lächeln, während er geduldig wartete, bis ich mir auf die Schnelle einen Überblick über das Getränkeangebot verschafft hatte. Ich beschloss ihn auf der Stelle zu mögen und diesen Schuppen hier zu meinem Stammlokal zu machen.

„Äh! Hi Kai, ich bin der Flip, also eigentlich Jan-Phillip, und es wäre nett, wenn du mir einen Mojito bringen könntest.“

„Klar, wird erledigt, Einen Mojito bitte sehr. Einen Großen oder lieber einen Kleinen?“, fragte er noch.

„Äh, groß wenn es nichts ausmacht“, antwortete ich. Nervös knibbelte ich an der Karte rum.

Meine mir zugeteilte Bedienung verschwand, um kurze Zeit später mit zwei kleinen Schalen Erdnüssen und Oliven zurück zu kommen. „Der Mojito kommt dann gleich“, sagte er und verschwand wieder Richtung Theke. Super Service, dachte ich, und sah dann meiner Cocktail-Fachkraft zu, wie diese damit begann, meinen Getränkewunsch herzurichten. Um nicht weiter die Getränkekarte zu zerfleddern, begann ich nun mich an den Erdnüssen zu vergreifen und dann damit, nun selbst die übrigen Anwesenden zu scannen. Vor der Theke saßen zwei Typen mittleren Alters, der eine so Marke väterlicher Typ und Alt-68er, daneben ein ziemlich verklemmt wirkender Kerl Marke Einzelhandelskaufmann mit Halbglatze und Hawaii-Hemd (!), scheinbar bei der letzten Sommer-Schnäppchen-Aktion beim Lidl erstanden.

Also wirklich, wo bleibt denn da der so oft zitierte gute Geschmack von schwulen Kerlen!

An einem Tresen seitlich der Theke saß ein scheinbar gut situiertes Pärchen (also Männlein und Weiblein) mit Sohn! Wow, schon wieder ’ne völlig neue Erfahrung für mich. Scheinbar wurde ich hier gerade Zeuge von massiv zur Schau getragener Toleranz. Papa, vom Typ her liberal-konservativer Bank-Filialleiter zusammen mit seiner Gattin, vom Typ schaut mal alle her, was mein Mann sich so alles leisten kann, hatten scheinbar kein Problem damit, ihren schwulen Sohn, dieser vom Aussehen her garantiert BWL-Student, in dessen Stammkneipe zu begleiten. Wahrscheinlich ist das in den Kreisen vielleicht sogar hip. Wer hat den schon gern so’n stinknormales Kind?

Na, ich fand es jedenfalls ziemlich toll und überlegte mir, ob ich wohl mein Mütterchen eines Tage auch mal hierher entführen würde. Also ehrlich gesagt, nach längerem Nachdenken fand ich die Idee dann doch nicht mehr ganz so prickelnd.

„So, hier der Mojito, wohl bekommt’s“, wurde ich plötzlich aus meinen Gedanken gerissen. Mein Kellner namens Kai platzierte formvollendet zuerst die obligatorische Serviette und dann einen riesigen Pott Rum-Limetten-Getränk vor meiner Nase. Schon entschwand er wieder, wobei er für einen kurzen Augenblick einen Hauch angenehm duftendes Eau de Toilette in Nasenhöhe parkte. Hmm, passt zu ihm, dachte ich, frisch, nicht aufdringlich, sondern gerade richtig dosiert. Ach, irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment so richtig wohl. Und dann ging die Tür auf und neue Gäste betraten das Lokal.

Ich blickte entsetzt auf und sog tief die Luft ein. Lucas!, dachte ich panisch. Ich bemerkte wie auch alle anderen Anwesenden auf das gerade hereinkommende Pärchen starrten. Dies war aber auch wirklich lecker anzusehen. Ich selbst entspannte mich plötzlich wieder, denn auf den zweiten Blick merkte ich nämlich, dass der eine der beiden meinem (ach, was rede ich da schon wieder), also dem Lucas nur sehr ähnlich sah. Also schwarze Haare, süßer Blick, unerhört jung und drahtig, aber eben nur sehr ähnlich. Der andere der beiden war ebenfalls hoch gewachsen, schlank mit blonden, schulterlangen, wuseligen Haaren und mit seinem schlabberigen Ringelkapuzenshirt, welches unter seiner Jacke hervorlugte, wirklich megasüß anzuschauen. Beide gingen nun Richtung Garderobe und pulten sich aus ihren Jacken. Danach sahen sie sich suchend um.

Plötzlich gingen sie in meine Richtung. Mir blieb fast das Herz stehen, dann wechselten sie jedoch abermals die Richtung und steuerten auf die freien Tische mir gegenüber zu. Bitte, bitte nicht in die Ecke setzen, dachte ich. Uff, sie entschieden sich für einen Platz in der Ecke mir schräg gegenüber, wo ich die beiden nahezu unbemerkt beobachten konnte. Wow, das war wirklich schöner als Fernsehen. Wie die beiden so da saßen, sich megaverliebt ansahen. Erst so ganz scheue Blicke, dann berührten sich ihre Hände verspielt auf dem Tisch liegend. Kurz unterbrochen durch Kai, der ihre Bestellung aufnahm. Dann wieder vorsichtiger Kontakt der Hände, verliebte Blicke und langsames Aneinanderrücken. Abermals unterbrochen durch Kai, der ihnen zwei Gläser mit in Cola ertränkten Eiswürfeln hinstellte. Jetzt, da für eine längere Zeit mit keiner Unterbrechung mehr zu rechnen war, schmolz das Eis. Also zeitgleich mit dem in den Colagläsern. Erst wieder verliebte Blicke, mittlerweile saßen sich beide auch schon förmlich auf der Pelle. Der Schwarzhaarige hatte seinem blonden Schnuffel mittlerweile den Arm um dessen Schultern gelegt, blickte im dabei tief in die Augen und strich mit seiner freien Hand durch dessen Haare.

„Darf ich noch etwas bringen?“, wurde ich plötzlich beim Glotzen meines ganz persönlichen Emo-Kanals unterbrochen. Ich musste die letzen fünf Minuten wohl wie blöde an meinem Mojito genuckelt und dabei lautstark versucht haben, das Crushed-Eis durch den Strohhalm zu saugen, so dass meine Service-Fachkraft darauf aufmerksam geworden war.

„Äh, was? Ach so, ja bitte noch so einen, geht das?“, fragte ich dämlich grinsend, innig hoffend, dass dieser Kai bloß nicht meinen sabbernden Blick zu dem Pärchen gegenüber mitbekommen hatte. Anscheinend Profi genug ließ er sich jedoch nichts anmerken und kurze Zeit später stand ein weiterer Pott Rum-Limetten-Gemisch vor mir. Mann, ich überschlug gerade die verschiedenen Sorten Alkoholika, die ich mittlerweile in mich hineingeschüttet hatte und war mir sicher am nächsten Morgen ein ziemlich übles Erwachen erwarten zu dürfen. Ich machte mir sodann eine mentale Notiz, mir gleich nach dem Nachhausekommen mindestens eine Familienpackung Aspirin zu schmeißen, um wenigsten einigermaßen den nächsten Tag zu überleben. Aber was soll’s, nach dieser Werbepause wendete ich mich wieder dem Erotikprogramm zu, welches mir schräg gegenüber geboten wurde. Scheinbar hatte irgendjemand Fast Forward gedrückt, denn die beiden Schnuckel hatten sich mittlerweile beide fest und innig im Arm. Ich hatte mich also gerade rechtzeitig wieder eingeklinkt, um zu sehen wie sich die Lippen der beiden zaghaft und zärtlich näherten. Mensch, der Regisseur dieses Streifens musste echt ein Profi sein. Was ich da sah war einfach megaerotisch. Bestens versorgt mit Erdnüssen, Oliven und Rum verfolgte ich völlig zufrieden das Programm, welches da vor mir ablief. Was die beiden, mittlerweile völlig losgelöst von ihrer Umwelt, dort anstellten, war einfach nur schön.

Nach dem Pärchen im La Carrosse, war dies nun das zweite Mal in meinem Leben, dass ich einem schwulen Pärchen live und in Farbe beim Küssen zusah. Und was genau dachte ich dabei? Tja, eigentlich nur, Menno das will ich auch! Sollte es noch irgendwelche Bedenken darüber gegeben haben, dass ich nicht so gepolt war, wie ich dachte, dass ich gepolt sei, dann waren diese jedenfalls ab sofort zu 100 Prozent ausgeräumt. Nicht nur, dass mir dieser Anblick nicht das Geringste ausmachte. Nicht nur, dass ich diese beiden, wie sie dort so zärtlich und gegenseitig Rücksicht nehmend miteinander umgingen, unheimlich süß fand. Nicht nur, dass ein unglaubliches Kribbeln meinen ganzen Körper durchströmte. Nein, tief in mir drin wuchs langsam und allmählich eine unbeschreibliche Sehnsucht, die plötzlich begann richtig weh zu tun.

Auf einmal wurde mir sonnenklar, das, was die beiden mir da gerade vorexerzierten, das wollte ich auch. Vielleicht nicht gleich heute Abend, nee das sicherlich nicht. Aber doch so bald als möglich. Ich wollte nicht mehr so lange warten bis ich alt und schrumpelig war. Ein Freund musste her, so ein richtig lieber und netter Knuffel. Süß und schmusebedürftig sollte er sein, so und das so schnell wie möglich. Mir wurde richtig duselig in meinem Alkohol geschwängerten Hirn und mein romantisch verseuchtes Herz machte mal wieder ein paar Extrahüpfer. Und wieder tauchte vor meinen Augen eine ganz bestimmte Person auf. Das megasüße Grinsen, welches sein Gesicht meistens beherrschte, ausgetauscht gegen einen traurigen und nachdenklichen Blick. Mann, langsam begann ich zu verzweifeln, bei einem statistischen Anteil von fünf bis zehn Prozent Schwulen an der männlichen Gesamtbevölkerung muss es doch noch jemand Anderen geben als nur diesen, zugegeben megageilen, aber dennoch unerreichbaren Engel.

Verzweifelt, verträumt und innerlich dauerseufzend schaute ich wieder zu dem mittlerweile eng verknoteten Pärchen hinüber. Dies tat ich wohl noch so eine weitere halbe Stunde. Den beiden ihr junges Glück von ganzen Herzen wünschend und mir selbst dieses Glück ganz oben auf den Wunschzettel für das nahe Weihnachtsfest schreibend. Wie immer, ging leider auch dieser schöne Moment viel zu schnell zu Ende. Irgendwann lösten sich die beiden voneinander, besprachen dann scheinbar kurz wie der Abend noch so weiter verlaufen sollte, winkten zu Kai herüber, der sie kurze Zeit später abkassierte und standen dann auf, um das Lokal zu verlassen.

Ich blickte ihnen voller Sehnsucht hinterher. Als beide durch die Tür entschwanden, nahm ich langsam auch wieder die restliche Umgebung wahr. Mein persönlicher Service-Beauftragter schien zu dieser späten Stunde das einzig verbliebene Personal zu sein. Die beiden Typen vor der Theke waren verschwunden auch Herr und Frau Bankdirektor mit Sohn schienen das Lokal schon lange verlassen zu haben. Auch sonst schienen neben mir nur noch vier weitere Gäste sich an ihren Getränken festzuhalten. Ich schaute auf die Uhr, diese zeigte ein Uhr an. Ich beschloss Kai seinen Feierabend zu gönnen und winkte zu ihm herüber mit dem Zeichen zahlen zu wollen.

Er nickte tippte etwas in die Kasse und schob dann um die Theke zu mir herüber, sein Kellnerportemonnaie in Händen. „Na, schon los?“, fragte er.

„Ja, will vielleicht noch in die Fabrik“, versuchte ich cool und versiert zu klingen.

„Ach, so. Und ich dachte, du wärst neu hier in der Stadt. Hab dich jedenfalls hier noch nie gesehen. Aber anscheinend kennst du dich ziemlich gut aus“, sagte er und lächelte mich dabei freundlich an.

„Wie? Nee, hast schon Recht, ich wohne tatsächlich erst seit kurzem hier in der Stadt, aber ich habe gehört, die Fabrik soll ganz okay sein, so für unser einer.“ Ups, hoffentlich war das jetzt nicht zu aufdringlich. Da oute ich mich doch plötzlich ganz offen und unterstelle ihm, genauso zu sein. Nur weil er hier arbeitet, heißt das ja noch lange nicht, dass er auch schwul ist.

„Ja, da hast du Recht“, wischte er mit seiner Antwort meine Bedenken weg, „Schade, ich muss hier noch bis zum bitteren Ende Dienst schieben und ich glaube nicht, dass die vier dort“, sein Blick wanderte zu den verbliebenen Gästen, „so schnell das Weite suchen werden. Ich wäre sonst vielleicht noch mitgekommen. Aber nur wenn dir das nichts ausgemacht hätte, natürlich!“, setzte er noch schnell nach.

„Nee, sicher nicht“, antwortete auch ich ziemlich schnell.

„Tja schade, Flip, aber dann will ich mal abrechnen.“ Wow, er hat sich sogar meinen Namen gemerkt. Während er angestrengt auf seinen Kassenzettel blickte, sah ich mir diesen Kai zum ersten Mal genauer an. Tja, eigentlich ganz süß. Schlank, zwar nicht so groß wie ich, eher so 1,75m, kurze, blonde Haare. Und sofern ich das so richtig mitgekommen hatte, hellblaue Augen. Am bemerkenswertesten war aber sein offenes und freundliches Gesicht. Er hatte irgendwie eine sehr sympathische Art. An seiner Freundlichkeit schien nichts Falsches zu sein.

„So, das waren dann drei große Mojito“, rechnete er schließlich vor. „Das macht dann 22,50 €.“ Ich kramte in meinem Portemonnaie und reichte ihm einen Zwanziger und einen Zehneuroschein. „Stimmt so“, sagte ich ohne groß nachzudenken. Ich war zwar kein Krösus, andererseits hatte ich aber wie schon erwähnt keine wirkliche Geldnot. Und wenn ich mich amüsierte, dann, so war halt mein Prinzip, sollten auch andere ihren Spaß haben. Wenn es mir also irgendwo gefiel, geizte ich also nie mit dem Trinkgeld. Und heute Abend hatte es mir hier wirklich sehr gut gefallen.

„Äh, wie... Ist das wirklich recht so?“, fragte mich Kai.

„Ja, ja bitte!“, antwortete ich etwas eingeschüchtert. Mann, was mag der jetzt von mir denken.

„Ja, dann vielen Dank und einen schönen Abend noch“, sagte er, und wandte sich ab zu gehen.

„Danke, dir auch und hoffentlich auch einen baldigen Feierabend“, antwortete ich.

„Ähh, Flip!“ Er drehte sich plötzlich wieder zu mir herum. Ich sah ihn erwartungsvoll an.

„Ja Kai, was is’n?“, erwiderte ich äußerst intelligent.

„Ach, äh. Nicht, dass du jetzt irgendwas Falsches von mir denkst. Aber du machst einen ganz sympathischen Eindruck und da du ja noch neu bist hier in der Stadt, dachte ich vielleicht hast du ja mal Bock zu Quatschen oder mal wieder auf Piste zu gehen. Also hier, ähem...“, er kramte in seinem Portemonnaie herum. Schließlich fand er, was er suchte. Er zog ein kleines Kärtchen aus einem kleinen Seitenfach, wo er dieses wohl vorher extra platziert hatte. „Ähem, also hier ist meine Nummer.“ Er gab mir eine Art Visitenkarte. Scheinbar selbst am PC gemacht. Ich blickte darauf. Ganz nüchtern gehalten, war sie. Nicht so peinlich wie die meisten, die ich bis jetzt bei irgendwelchen Möchtegernwichtigen gesehen hatte. Einfach nur Name, Kai Fischer, Adresse, Festnetz- und Handy-Nummer.

„Also nur so, wenn du Bock hast. Ruf mich dann einfach an. Wir Schwestern müssen doch zusammenhalten“, grinste er mich etwas schüchtern an.

Schwestern?, überlegte ich krampfhaft und dann verstand ich, ach so klar, na so ein bisschen hatte ich also doch noch zu lernen. Nun war es an mir etwas schüchtern zu werden.

Ich kramte in meinen Taschen und fand tatsächlich eine von meinen nigelnagelneuen Firmenvisitenkarten. „Hast du mal was zu schreiben?“, fragte ich. „Ich hab hier nur meine Firmenkarte, aber ich schreib dir mal meine private Festnetz- und meine Handynummer auf.“ Er gab mir seinen Kuli und ich kritzelte die Nummern auf meine Karte und drückte ihm beides, also Kuli und Karte, in die Hand.

„Wow, Dipl-Ing.!“, las er vor. Ich wurde rot. „Na ja, noch nicht so lange“, sagte ich. „Tut mir Leid, ich hatte keine andere Karte.“

„Muss dir doch nicht Leid tun. Ich würde auch lieber was anderes machen als zu Kellnern, aber mit dem Job hier tritt mein Studium irgendwie auf der Stelle.“

„Was studierst du denn?“, fragte ich. „Physik und Mathe Lehramt“, antwortete er. „Aber wie gesagt, im Moment hab ich da so’n kleinen Durchhänger.“

„Macht doch nichts, ich finde es jedenfalls toll, wenn du versuchst dein Geld selbst zu verdienen. Nicht jeder hat schließlich Eltern mit ‘ner Unmenge Kohle. Ich drücke dir jedenfalls die Daumen, dass es weiter geht.“ Ich merkte, wie bei dem Wort Eltern ein kurzer, dunkler Schatten über sein Gesicht huschte. „Auf jeden Fall vielen Dank für dein Angebot. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich tatsächlich darauf zurückkommen“, setzte ich noch nach.

„Mensch klar, gerne sogar und ich freu’ mich schon drauf“, erwiderte er und strahlte mich dabei an.

Ich verabschiedete mich von ihm, zog meine Jacke an, mummelte mich in meinen Schal und drückte meine Mütze tief ins Gesicht. Als frisch verkleideter Eskimo schickte ich mich an das Cocido zu verlassen. An der Tür angekommen blickte ich noch mal zurück und nickte Kai nochmals aufmunternd zu. Zwei hellblaue Scheinwerfer strahlten zurück. Dazu winkte er mir noch zaghaft zum Abschied nach.

Wow, kam es mir in den Sinn, kann es sein, dass dich gerade jemand angebaggert hat? Nee, das kann doch nicht sein. Wer soll dich denn schon gut finden? Aber, je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr schien mir dies wahrscheinlich. Das war nun wirklich neu für mich. Schon wieder etwas, worüber ich unbedingt die nächsten Tage nachzudenken hatte. Etwas verwirrt tapste ich auf die Straße. Was dieser Abend wohl noch so alles an Überraschungen bringen wird?, dachte ich.

Vom Cocido zur Fabrik war es nicht weit. Einmal quer über den Uni-Campus, dann weiter über den Damm Richtung Christuskirche und schon stand ich vor einem leuchtreklamenbekränzten Eingang inklusive „freundlich-einladender“ Stahltür mit Guckloch. Na toll, so was war nun gar nicht mein Ding. Eigentlich hasse ich solche Clubs, deren Eingänge aussehen wie ein Hochsicherheitstrakt, mit arroganten Türstehern davor, die einen eher wie einen Bittsteller behandelten als wie einen zahlungskräftigen Gast. Denen brauchte nur deine Nase nicht zu gefallen und schon warst du draußen, ausgestoßen, sozialer Abstieg, kein Mitglied mehr dieser westlichen Partygesellschaft. Einzige Chance war erneutes Anstehen am nächsten Tag und Hoffen, doch noch den sozialen Aufstieg zu schaffen und von diesen Ärschen in einen von diesen Pissclubs eingelassen zu werden. Aber nicht mit mir! Darauf konnte ich verzichten.

In Berlin unter den S-Bahnbögen am Hack’schen Markt gab es auch so einen Laden. Seit Jahren, immer wenn ich mal in der Bundeshauptstadt verweilte, versuchte ich in diesen sch... Schuppen hereinzukommen. Aber immer scheiterte ich an dieser Disco-Miliz. Mein innigster Wunsch war es, einmal soviel Geld zu besitzen, um diesen blöden Laden aufzukaufen. Ich würde dann ganz großkotzig vorfahren, um diesen dämlichen Schuppen sofort zu schließen und diese ganzen Nasen umgehend an die frische Luft zu setzen. Tja, Träume halt. Meistens endeten diese Versuche dann damit, dass ein völlig deprimierter Jan-Phillip seinen Frust im The Harp, dem benachbarten Irish-Pub ertränkte.

Diese Gedanken ließen mich gerade den Entschluss fassen, kehrt zu machen, als sich plötzlich die Tür öffnete. Eine Gruppe Jungs kam gerade fröhlich schwatzend heraus.

Okay Flip, dachte ich, einen Versuch ist es wert. Zögerlich ging ich rein. Wie erwartet, Kasse mit Schranke, darum lungerten drei „nette“ Herren in schwarzen C&A-Anzügen, kurz geschnittene Haare und kantiges Gesicht. Abgeschmackter ging es fast gar nicht. Und? Ich konnte es gar nicht glauben. Als ich mein Portemonnaie zückte, um den unvermeidlichen Eintritt zu entrichten, lächelten - äh, bin ich hier im falschen Film? - also wirklich lächelten mich die Herren von der Club-Guerilla an!

„Schönen guten Abend“, sagte einer von ihnen. „Heute ist übrigens freier Eintritt. Wenn Sie bitte nur hier diese Wertkarte nehmen möchten, wir rechnen über diese Karten hier am Ausgang ab, sobald sie uns wieder verlassen.“ Und drückte mir ein Stück Plastik in die Hand.

Sein Kollege öffnete freundlich nickend die Schranke und ließ mich durch. Na, das ist ja mal eine ganz neue Erfahrung, dachte ich, als ich die Treppen herunter in Richtung der mir entgegenwummernden Musik ging. Unten angekommen wurde ich freundlichst an die Garderobe verwiesen, wo ich mich meiner Jacke, Schal und Mütze entledigte. Auch hier wollte man kein Geld von mir. Als ich mich dann umdrehte kam ein nettes Mädel mit Tablett zu mir und drückte mir „zur Begrüßung“, wie sie sagte, ein Glas Sekt in die Hand. Also, so lasse ich mir das gefallen, dachte ich mir als ich mich noch artig bei ihr bedankte. Mir gefiel es. Selbst wenn hier anscheinend auch Mädels bedienen. Aber was soll es, man muss ja schließlich auch ein Herz für das schwache, fehlgeleitete Geschlecht haben. Also dieser Laden hat ja gar nichts von diesen Hetero-Baggerschuppen, die ich sonst so kennen zu lernen die Qual hatte. Langsam aber sicher kam ich zu dem Entschluss, dass ich mit dieser von mir selbst völlig unbeeinflussten Wahl meiner sexuellen Orientierung wohl tatsächlich einen Glücksgriff gemacht hatte. Um es kurz zu sagen, all diese schwulen Schuppen, die ich heute besucht hatte, haben mir tausend Mal besser gefallen als die Buden in denen ich bis dahin meiner Nachtschwärmerei frönen musste.

So ziemlich zufrieden mit mir und der Welt betrat ich nun die Tanzbude. Aufgeräumt und freundlich konnte man das Ambiente beschreiben. Modische Bar mit langem Tresen inklusive freiem Blick auf die Tanzfläche. Schwarze, zum Teil verspiegelte Wände. Eine kleine Bühne für den DJ und rechts von der Theke ein Separée zum Kuscheln. Kein Geschnörkel, kein verstaubtes Billigplastikpalmengedöns, einfach nur back to the roots und gut. Die Mucke gefiel mir ebenfalls auf Anhieb. Nichts, was ich zu Hause hören würde, aber hier zum Abtanzen oder auch nur zum Gucken nicht schlecht. Also Letzteres, das Gucken, nahm ich dann auch sogleich in Angriff. Erst mal ein schönes Plätzchen an der Theke gesucht, dann ’ne Cola Light bestellt. Irgendwann musste ich ja versuchen, mein morgiges (oder eher heutiges) Erwachen so halbwegs erträglich zu machen. So, nun aber frisch und frei geglotzt.

Obwohl der Laden hier laut World Wide Web klar der diesigen schwulen Szene zugeordnet war, hatten sich auch einige Mädels und sogar einige Heteropärchen hierein verirrt. Aber anscheinend übte man sich in Toleranz, was wohl für die meisten Heteros eine neue Erfahrung sein dürfte, dachte ich bitter. Auf der Tanzfläche war das für eine Disse übliche muntere Treiben gepaart mit der unaufgeforderten, aber doch nicht vermeidbaren Einlage einiger Selbstdarsteller. Auch schwule Dissen scheinen sich hierin nicht von den Heterotanzbuden zu unterscheiden. Um die Tanzfläche herum lungerte dieser oder jener Typ, die meisten scheinbar auf Fleischbeschau, wie man deren erwägenden Blicken entnehmen konnte. Das Separée im Hintergrund schien von einigen erfolgreichen Fleischbeschauern bevölkert zu sein, denn dort wurde weniger geplaudert als vielmehr hemmungslos geknutscht. Als ich gerade gedankenverloren an meiner Cola nuckelte, bemerkte ich plötzlich ein Pärchen, welches gerade Hand in Hand das Separée verließ und auf die Tanzfläche zusteuerte. Die unliebsame Erfahrung vom frühen Abend in Erinnerung setzte ich zuerst die Cola ab, um dann erfreut erschrocken in ihnen das Pärchen aus dem Cocido wieder zu erkennen. Den völlig zerzuselten Haaren und ihren verknautschten Gesichtern nach zu schließen hatten sie nach langem Geknuddel und Geknutschte jetzt wohl das Bedürfnis nach Auslauf. Doch so richtig konnten beide nicht von sich lassen, denn obwohl die Mucke nun gar nichts von Kuschel-Rock die 650te hatte, begannen sie eng umschlungen zu schwofen. Verliebte Blicke wechselten mit zärtlichen Küssen und ab und an legte einer dem anderen zärtlich seinen Kopf auf dessen Schulter. Ach, bei mir lief schon wieder das innerliche Dauerseufzprogramm an. Je länger ich die beiden beobachtete, desto mehr mutierte der Schwarzhaarige zu meinem Weihnachtsengel und ich bemerkte wie ich mir sehnlichst wünschte, den Blonden mit seinem Ringelkapuzenshirt durch meiner einer zu ersetzen.

Verdammt, verdammt, verdammt!, dachte ich plötzlich, warum nur lässt dich dieser Bengel einfach nicht los? Mann Flip, das heute Abend hätte alles so schön sein können. Alles war doch so, wie du dir das in deinen kühnsten Träumen erhofft hattest. Super Locations, tolle, megasüße Jungs, hast sogar von einem die Telefonnummer in der Tasche, also sogar noch mehr als du dir jemals für deinen ersten Abend hier erhofft hattest, und ständig denkst du nur an diesen Rotzbengel. Ich fühlte mich plötzlich irgendwie fertig und schaute auf meine Uhr. Zwei Uhr, na, das war ja keine Zeit, doch irgendwie war mir nun danach, meinen heutigen, ersten Abstecher in die Homowelt zu beenden. Ich schütte den Rest Cola runter, warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das eng umschlungen tanzende Pärchen und trabte dann Richtung Garderobe, nahm dort meine Sachen entgegen, bedankte mich mit einem kleinen Trinkgeld, wandte mich dann zum Ausgang, bezahlte dort etwas peinlich berührt mein eines Glas Cola, wurde trotzdem freundlich von der Türstehermannschaft verabschiedet und stand plötzlich wieder draußen in der kalten, klaren Winterluft.

So, was jetzt?, dachte ich. Gut, könntest jetzt zu Fuß nach Hause gehen, ist gar nicht so weit von hier entfernt, oder du nimmst ein Taxi. Andererseits hatte ich auch keine Lust auf Grübeln, und mein jetziger Zustand versprach einfach eine Nacht des Nachdenkens und schlaflosen Herumwälzens, sofern ich jetzt nach Hause gehen sollte. Also was machen? Na klar, erst mal zurück zum Bahnhof. Dort zunächst einmal einen Becher dieses „sagenhaften“ Kaffees, den es dort gab, runterschütten und dann vielleicht noch in irgendeinen Club, hetero diesmal, zum Ablenken. Der Anblick von sich abschleckenden Heteropärchen hat dich doch bis jetzt immer wieder voll abgetörnt, darauf war Verlass. Das war genau, was ich brauchte, um endlich über diesen verzwickten Weihnachtsengel hinweg zu kommen.

Tja, lieber hochgeschätzter Leser, hätte ich damals gewusst, was dieser in meiner kindlichen Naivität gefasste Entschluss so mit sich brachte, ich wäre wohl schreiend und ohne Unterbrechung nach Hause gelaufen, hätte meine Tür verrammelt und mich zitternd unter die Bettdecke verkrochen, aber so trabte ich völlig ahnungslos Richtung Bahnhof, ohne zu wissen, dass sich mein Leben alsbald vollkommen verändern sollte.

Wäre dies hier nun ein Film, vorzugsweise sonntags 20:15 Uhr im ZDF, würde jetzt wahrscheinlich die nächsten fünf bis zehn Minuten eine schmalzig-dramatische Dauermusikuntermalung zu hören sein, so aber ist es halt doch nichts anderes als der trockene Bericht aus dem etwas interessanteren Teil meiner Lebens, den ich nun schon seit Stunden auf die Gefahr einer Sehnenscheidenentzündung hin mit meinen untalentierten Fingern in meinen neuen Laptop hämmere.

So, nun aber zurück zur Geschichte und zurück zu einem ziemlich angepissten, genauso verwirrten und zudem noch jämmerlich fröstelnden Jan-Phillip, der wieder mit tief in den Taschen vergrabenen Händen durch einen gerade einsetzenden Schneefall Richtung Innenstadt stiefelte. Komisch, dachte ich, früher warst du doch nicht so ein Frostköttel. Das muss was mit dem Schwulsein zu tun haben. Ich glaube, Schwule frieren immer, so wie Mädchen. Früher, als du noch nicht schwul warst oder es zumindest noch nicht wusstest, hast du jedenfalls bei so einem Wetter nicht so geschlottert. Ich weiß, das ist völliger Blödsinn, aber solche Gedanken gingen mir den Abend durch den Kopf. Nach einer Reihe weiterer solch tief schürfender Überlegungen erreichte ich schließlich den Bahnhof. In der hell erleuchteten Haupthalle empfing mich mollige Wärme. Zugleich merkte ich, dass mir dieses ewige Gelaufe durch die kalte klare Winterluft trotz Frostattacke gut getan hatte. Von den diversen Alkoholika schien die meiste Wirkung schon verpufft zu sein. Jetzt noch einen Pott Kaffee und ich würde vielleicht den kommenden Tag ohne chemische Helferlein überstehen können. Ich ging daher schnurstracks Richtung Curry Paul. Der Laden war ’ne Institution. Rund um die Uhr geöffnet und zugleich offizielle Kantine für die reisenden Bahnangestellten war hier immer was los und zudem gab es hier alles, was ein Nachtschwärmer so brauchte.

Nachdem ich also einen großen Pott dampfendes, schwarzes, entfernt kaffeeähnliches Gebräu konsumiert hatte, begann ich zu überlegen, wo jetzt denn wohl hin. Ich blickte auf das Schild Curry Paul, welches über dem Teil der Essenausgabe prangte, der den Grill beherbergte und an dem die Würstchen gebändigt wurden. Da fiel es mir ein, ach ja Paul. Na, dann guck ich gleich mal im Paul Paolo vorbei. In den Laden wollte ich schon immer mal rein. Gleich am Platz hinter dem Bahnhof gelegen war das eine Musikkneipe (eigentlich jedoch auch nichts anderes als eine Disse) mit einem großen Vorzelt am Eingang, wohl als dauerhafte Notlösung weil der Schuppen einfach zu klein konzipiert worden war. Aus diesem Zelt dröhnte permanent megalaute Mucke, was aber niemanden störte, denn außer dem rund um die Uhr besetzten Polizeirevier gegenüber wohnte an diesem Platz niemand, den dieser Lärm wirklich stören könnte. Dass ich bis jetzt einen Bogen um den Laden gemacht hatte, lag an meiner bereits erwähnten besonderen Liebe, die ich der Türstehermafia entgegenbrachte. Das vorhin erlebte, positive Gegenbeispiel jedoch hatte mich ermutigt, nun auch hier einen Versuch zu wagen.

Gut, dieser Mut wurde nicht sonderlich belohnt. Kaum war ich an dem Laden angekommen, wurde ich auch schon von einem ganz besonders „netten“ Exemplar dieser Gattung in Augenschein genommen. Gerade schätzte ich schon das Ergebnis seiner Bewertung mit der Note “ungenügend“ ein und wandte mich bereits zum Gehen, als dieser wohl seine Gesamtbewertung auf „knapp ausreichend“ anhob und mir mit gönnerhaftem Blick Einlass gewährte. Mann, ich hasse diese Typen und ich wünsche allen Clubs, die diese Spezies auf die Menschheit loslassen, einfach nur die Pest an den Hals.

Na gut, ich war also drin. Welch großes Glück. Mann, ich könnte kotzen. Tat es aber nicht, sondern schob mich in den eigentlichen Discobereich vor. Es war voll, es war laut und es war stickig. Mensch, wann würden die bloß endlich dieses scheiß Rauchen verbieten. Von mir aus könnte so eine Packung Zigaretten fünfzig Euro kosten. Dann könnten sich diese Suchtbolzen nichts anderes mehr leisten und würden nur noch zu Hause in ihren Wohnungen die Luft verpesten, na aber so?! Gut, ich werde es wohl noch gerade so überleben. Ich drängelte mich also weiter durch den vernebelten Raum, meine tränenden Augen ignorierend, bis ich schließlich vor der Theke stand. Ich beugte mich vor, um meinen Wunsch nach einem Pilsbier, der mit chronischer Ignoritiz erkrankten Thekenmannschaft mitzuteilen. Ich stützte mich dabei auf dem Tresen ab. Schwerer Fehler! Das Teil war dermaßen peckig, dass ich daran kleben blieb. Nachdem es einer der Tussen hinter der Theke einfach nicht mehr möglich war meinen Bestellwunsch zu ignorieren, befreite ich meine Hände von dem Tresen, wobei ich sicher war, die äußersten Hautschichten dort zurückgelassen zu haben. Aber was soll es, ich bekam mein schlampig eingeschenktes und wie ein Kieslaster tropfendes Pils, bezahlte dieses mit einem Fünfeuroschein, verzichtete auf mein sicherlich total vollgepecktes Wechselgeld und wandte mich der Tanzfläche zu. Nur nicht anlehnen, dachte ich noch, als mein Hintern der Theke bedrohlich nahe kam. Was ich auf der Tanzfläche erblickte, war mittleres Mittelmaß. Hier und dort ein paar wirklich hübsche Jungs, die aber meistens um irgendwelche völlig aufgeplusterte Zicken herum scharwenzelten. Überall vollkommen hormongesteuerte Heten mit total überzogenem Balzverhalten. Bäh, mir war zum Kotzen! Ich nippte an meinem Pils und jetzt hätte ich wirklich fast gekotzt. Schiet, das war doch tatsächlich heimisches Pils und noch nicht mal richtig temperiert! Also von der Temperatur hätte man das auch als Grog verkaufen können. Aber heimisches Pils hätte man auch als Eis am Stiel verkaufen können, die beste Temperierung konnte dieses Desaster nicht retten. Tja, also kurz zur Erklärung. Ich liebe diese Stadt, wirklich. Diese Stadt ist tausend Mal besser als ihr Ruf und seit der Expo besitzt sie sogar richtiges Flair. Aber eins kann man den Leuten hier nicht vorwerfen, nämlich das sie die geringste Ahnung vom Bier brauen hätten, auch wenn sie es immer wieder versuchten. Da waren die hier alle vollkommen beratungsresistent. Aber was soll es, die meisten Wirte hatten es begriffen und boten für Kenner immer eine trinkbare Alternative, man musste halt nur daran denken, wenn man bestellte. Okay, ich hatte dieses Mal nicht daran gedacht und musste somit leiden. Aber auch so ein 0,4l Glas ist ja auch irgendwann einmal leer.

Gut, schon bald war das Glas leer, die Blase dafür aber voll. So ein Mist dachte ich, worst case. Jetzt auch noch auf’n Pott und das hier! Nach dem unliebsamen Erlebnis mit der versifften Theke und in Anbetracht der vergnügungssüchtigen Massen hier machte ich mir bezüglich dem Zustand der sanitären Einrichtung keine Illusionen. Ein Schild wies mir den Weg zu den Erleichterung versprechenden Örtlichkeiten. Ich holte noch mal tief Luft, na toll, mehr wie zig Kubikmeter kalter Rauch war das auch nicht, war aber immer noch besser als das, was mich dann sogleich erwartete. Ich öffnete die Tür und eine muntere Mischung atemberaubender Gerüche schlug mir entgegen. Na, dann mal schnell gemacht. Klein-Phillip in der Hand suchte ich schließlich Erleichterung, streng darauf achtend bloß nichts zu berühren, vor allem nicht mit dem kleinen Racker in den Händen. So, das war geschafft. Schnell mein bestes Stück eingepackt. Ein Blick zu den Waschbecken zeigte mir, dass hier gute Erziehung fehl am Platz war und ich aufs Händewaschen verzichten sollte. Ich war also drauf und dran diese Örtlichkeit schnellen Schrittes zu verlassen, als ein Stöhnen aus einer der Kabinen hinter mir mich besorgt herumdrehen ließ. Die Tür war nur angelehnt und ich erkannte schemenhaft eine Gestalt am Boden kniend, das schmuddelige Porzellan innig umschlungen. Na lecker, dachte ich. Ein erneutes Stöhnen. Bitte nicht, dachte ich verzweifelt, lass sich bitte ein anderer um ihn kümmern. Irgendein Kumpel, der noch nicht so besoffen ist wie er. Ich wollte schon gehen, da plötzlich ein erneutes Stöhnen, dann ein Würgen, dann ein Wimmern. Ach Scheiße, dachte ich, konnte aber nicht anders und ging zu der Kabine herüber. Vorsichtig öffnete ich die Tür und sah mir den Pflegefall an. „Nein, das kann doch nicht? Nein, das ist doch jetzt wohl nicht wahr?“, entfuhr es mir erschrocken. Doch ein näheres Hinsehen bewies, es war wahr. Vor mir, scheinbar total abgeschmiert aus den himmlischen Gefilden, lag ein gestürzter Engel, mein gestürzter Engel. Vor mir, sich die Seele aus dem Leib kotzend, lag Lucas!

„Mensch Lucas, das darf doch nicht wahr sein, was hast du denn bloß angestellt?“, rief ich völlig entsetzt und stürzte in die Kabine. Der stechende Geruch frischer Kotze schlug mir entgegen. Ich musste schlucken und war kurz davor, aus reiner Sympathie das vor ein paar Stunden vertilgte opulente Mahl ebenfalls in die verdreckte Schüssel zu befördern. Doch wie ich dort meinen gestürzten Engel liegen sah, völlig verdreckt, zitternd und nur noch Galle spuckend, reagierte ich nur noch mechanisch.

„Komm Lucas, du musst hier weg, kannst hier schließlich nicht ewig bleiben“, sagte ich und kniete mich neben ihn. Ich sah ihm ins Gesicht, er war aschfahl, Tränen standen ihm von der Anstrengung in den Augen. Ich fühlte seine Stirn und bemerkte den kalten Schweiß. Dann sah ich die Dreckkruste in seinem Gesicht. Ich mochte gar nicht daran denken, woraus die so alles bestand. Erneut musste ich meinen eigenen Brechreiz unterdrücken. Mann, wo ist in diesem verfickten Klo bloß Papier?, dachte ich, als ich zu dem „natürlich“ leeren Papierabroller in der Kabine sah. Ich sprang raus und fegte durch die übrigen Kabinen, gefolgt von einem „Mensch, such dir ’nen eigenen Pott“ oder auch „Mann, hey verpiss dich!“ als ich den ein oder anderen auf der Schüssel eingeschlummerten Gast unsanft weckte. Ah, da, jubelte ich innerlich, in einer Kabine gab es doch tatsächlich noch eine intakte und scheinbar nutzbare Rolle Papier. Ich griff mir diese und rannte zum Wachbecken, einen Teil des Papiers dabei abrollend. Ich überwand mich und fingerte an dem verseuchten Wasserhahn herum.

Ich hielt das abgewickelte Papier in den Wasserstrahl, durchfeuchtete es und rannte dann wieder zu meinem kranken Engel. Das Wasser ließ ich laufen, ist doch nicht mein Ding, wenn die in dieser Siffbude nicht sauber machen können, ich werde jedenfalls dieses Seuchenteil nicht noch mal freiwillig anfassen.

Ich kniete mich erneut neben Lucas, der immer noch apathisch über der Schüssel hing, die Rolle Papier auf meinen Oberschenkeln balancierend fasste ich mit der freien Hand sein Kinn, zog seinen Kopf sanft zu mir, so dass er mich ansehen musste und begann dann, das eingeweichte Papier nutzend, mit den Aufräumarbeiten in seinem Gesicht.

Langsam, so schien es mir, kam er wieder zu sich. „Fhhlipp, ssssssschööön, daf du hier bisfts“, lallte er. „Aaauch wwweenn daf besfftimmt nur ein Traum isst.“

Irgendwie sah er mich mit einem leicht irren Grinsen an. Na, ich dachte mir nichts dabei und stellte zugleich ärgerlich fest, dass das aufgeweichte Papier nicht reichte. Also pfefferte ich dieses ins Klo, nahm die Rolle und sprang auf, um erneut zum Waschbecken zu gehen, dabei bemerkte ich ein paar neugierige Nasen durch die Kabinentür lugen. Jetzt kochte so richtig der Ärger in mir hoch, wie konnten sie es wagen Lucas, meinen Lucas, so anzustarren. Geholfen hatte ihm keiner und jetzt hatten sie gefälligst auch nicht das Recht ihn so zu sehen. „Mann, verpisst euch! Alle! Mensch, ihr stört!“, giftete ich sie an, um ein „Is’ ja schon gut, Mann“ erwidert zu bekommen. Egal, sie trollten sich jedenfalls und ich konnte zurück zum Waschbecken, wo noch immer das Wasser lief. Als ich mit einem neuen durchtränkten Haufen Papier zurückkam, sah ich, dass Lucas sich mittlerweile vom Porzellan gelöst hatte und nun mit voneinander weg gestreckten Beinen auf dem Boden saß, seinen Rücken an die Kabinenwand gelehnt. Immer noch blickte er mich mit glasigen Augen an. „Oochh Fhhlipp, ssschööön, dass du wieder hier bisft. Aauuch wwwweens nur ein Traum isft, isch dachte schon duu wärst jetze ganz wech.“

Okay, irgendwie schien ich da wohl was verpasst zu haben, war mir jetzt gerade aber ziemlich schnurz. Ich beugte mich über ihn und setzte meine Reinigungsarbeiten in seinem Gesicht fort. Das Ganze, Papier einweichen, im Gesicht herumwischen, Papier wegschmeißen und neues holen, wiederholte ich insgesamt viermal. Mit dem Rest der Rolle legte ich dann meinen Engel trocken.

„Mönsch Phillip, bisst du das wirklich?“, blinzelte mich mein Engel auf einmal an, nachdem ich ihm ein letztes Mal mit dem trockenen Papier durchs Gesicht gefahren war. „So wirklich in äächt?“ Irgendwie verstand ich zwar immer noch nicht, aber anscheinend war mit dem Freilegen seines hübschen Gesichts sein mit Alkohol benebeltes Gehirn etwas klarer geworden. „Mönsch Flip, lass dich knutschen.“ Ich merkte, wie er mir einen dicken Kuss verpassen wollte, hatte ich mir noch vor einer halben Stunde nichts sehnlicher als das gewünscht, so war es nun das Letzte, was ich wollte. Von dem betörenden Marzipanduft, der mir an der Weihnachtspyramide zusammen mit dem süßen Äußeren dieses Bengels fast den Verstand geraubt hatte, war nichts mehr zu spüren. An dessen Stelle war stattdessen der stechende Gestank dieser Örtlichkeit hier getreten. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Sofort merkte ich, wie ein Schatten über sein Gesicht huschte. Seine Augen blickten mich sehr traurig an. „Ooch, ja klar“, seufzte er tief. „War ja klar, du magst mich überhaupt nicht, darum bist du auch vorhin in der Stadt abgehauen. Kannst mich bestimmt nich ab, ääh? Unn jetzt sowieesoo nich mehr! Aacch Scheiße... Übbs… Boah, is mir schlecht“, war alles, was er noch raus brachte. Panisch erwartete ich eine neue Kotzattacke, um dann nur zu bemerken, dass er wieder ziemlich apathisch blickte und dann scheinbar einschlief! Na toll, dachte ich, was kommt wohl noch?

Es half alles nichts, wir mussten hier raus. Lange konnte ich diesen Siff und Gestank nicht mehr ertragen. Ich rüttelte ihn, gab ihm ein paar sanfte Ohrfeigen. Wirklich wach wurde er zwar nicht, aber ich merkte, als ich ihn unter den Achseln packend die Kabinenwand hochschob, dass er seine Beine anwinkelte und scheinbar im Halbschlaf mithalf. Na, wenigstens das, freute ich mich. Ihn an der Wand haltend verschnaufte ich erst einmal. Was wohl sein komisches Gelaber bedeutet hat, fragte ich mich nun. Wieso denkt er, ich würde ihn nicht mögen? Und wieso interessiert ihn das überhaupt? Na egal, sagte ich zu mir selbst, das können wir immer noch klären, jetzt aber erst mal raus hier. Ich umfasste seine Seite und legte seinen Arm um meine Schulter, holte tief Luft und befahl im dann: „Los Lucas, jetzt raus hier und reiß dich mal zusammen!“ Als ich ihn so umfasste, spürte ich trotz Jacke und Pullover, dass mein kleiner Engel recht gut gebaut war. Auch wenn er bestimmt kein Problem mit Übergewicht zu haben schien, war ich dennoch froh, dass mein Pflegfall scheinbar weiter im Halbschlaf bereit war, meinen Befehlen zu folgen. Mühsam verließen wir beide somit diesen ungastlichen Ort. Da sowohl er als auch ich unsere Jacken nicht an der Garderobe abgegeben hatten, schob ich mit ihm direkt durch die Tanzbude Richtung Ausgang, dabei betont unfreundlich unseren Weg frei blaffend.

Am Ausgang angekommen wurden wir sofort von diesen widerlichen Typen der Türsteher-Guerilla beäugt. „Bää hab iscch einen Geschmack im Mund“, faselte unterdessen mein fallen angel.

„Hey du!“, blaffte einer dieser Möchtegernrambos und sah mich betont lässig an. „Sieh zu, dass du hier raus kommst, und nimm bloß deinen besoffenen Kumpel mit, haste mich verstanden, eh?“

Jetzt tickte etwas in mir aus. Zuerst parkte ich jedoch meinen Engel auf einen der freien Stühle, die wohl für diese Fleischklöpse hier gedacht waren für den Fall, dass ihre Muskelberge zu sehr auf ihr Hirn drückten (welches die sicherlich in ihrem Ar... hatten). Dann baute ich mich vor diesem besonders netten Exemplar auf und blaffte ihn an:

„So, du Arsch, jetzt hörst du mir mal ganz genau zu, ich red auch ganz langsam damit du ‘ne Chance hast irgendetwas davon zu kapieren.„ Ich staunte selber über meinen Mut, oder war es einfach nur Leichtsinn? Eigentlich war das doch glatter Selbstmord, diesen Mr. Muskelmann hier vor seinen tumben Kollegen anzumachen. Gleiches musste dieser wohl auch gedacht haben und anstatt mich umgehend zu Brei zu verarbeiten, glotzte er mich nur blöde an.

„Also“, fuhr ich fort, „ich komm hier vollkommen unbedarft in euren scheiß Schuppen und das Erste, was ich hier sehe, ist ein Kind, randvoll mit Alkohol, das auf eurem versifften Pott fast beim Kotzen krepiert. Seht euch den Bengel doch mal an, der ist doch wenn’s hoch kommt gerade mal sechzehn. Ich möchte mal wissen, wer von euch Arschgeigen den hier rein gelassen hat.“

„Ja, aber...“, versuchte sich Muskelmann zu behaupten.

„Klappe, jetzt red ich!“, fuhr ich dazuwischen. Mann, wo hatte ich bloß den Mut her, wunderte ich mich, wusste gar nicht heute Nacht in der Kaba-Dose gepennt zu haben.

„Also noch mal, ihr lasst hier um diese Uhrzeit noch einen Minderjährigen rein, gebt dem Alkohol und lasst ihn dann auf eurem Seuchenklo fast verrecken. Ich gebe euch jetzt die Wahl, ihr besorgt für ihn erst einmal eine Flasche Wasser, dann ruft ihr schön für uns beide ein Taxi und ich vergesse das hier alles. Oder wir verschwinden jetzt, gehen gleich hier rüber zu unseren Freunden und Helfern“, ich zeigte in Richtung der Polizeiwache, „und es gibt ’ne deftige Anzeige. Hab ich mich irgendwie klar ausgedrückt?“, fragte ich noch herausfordernd.

„Ja klar“, antwortete Muskelmann, man sah förmlich, wie sein Hirn arbeitete. „Das mit dem Wasser geht klar.“ Er nickte einen seiner Gorillas zu, der auch sofort verschwand, um sodann mit einer Flasche Wasser zurück zu kommen.

„Aber mit dem Taxi, glaubst du die nehmen euch oder besser ihn mit?“, er zeigte auf Lucas. „In dem Zustand?“ Okay, da hat er Recht, dachte ich, sagte dann aber: „Das lass man meine Sorge sein!“

Muskelmann fingerte daraufhin ein Handy aus seiner Tasche. War schon interessant anzusehen, wie er mit seiner riesigen Pranke versuchte dieses filigrane Teil zu bearbeiten. Irgendwie schaffte er es aber die Nummer einzugeben und brachte dann sogar die kommunikative Fähigkeit auf uns ein Taxi zu bestellen.

“Das Taxi kommt in etwa zehn Minuten“, sagte er. „Die haben eine Durchfahrtserlaubnis, das holt euch direkt hier ab“, fügte er noch hinzu.

Na, bis hierhin hat es ja gut geklappt. Ich selbst kümmerte mich nun wieder um Lucas und versuchte ihm etwas Wasser einzuflößen. Anfänglich schien er sich zwar lallend dagegen wehren zu wollen, schließlich konnte ich ihn jedoch davon überzeugen, nachzugeben. Dann trank er sogar gierig fast die halbe Flasche aus.

Muskelmann und seine Freunde wussten anscheinend nicht wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Dass sie so ein Schmachthaken wie meiner einer vor allen Leuten dermaßen auf den Pott setzte, hatten die wohl auch noch nie erlebt. Ich selbst kam ja aus dem Staunen über mich nicht heraus.

Kurze Zeit später kam das Taxi. Der Fahrer stieg aus, sah mich, sah dann Lucas und wollte sofort wieder fahren, und zwar ohne uns. Okay, insoweit hatte Muskelmann Recht. Jetzt machte sich jedoch mein Fimmel bezahlt, immer mit genügend Bargeld aus dem Haus zu gehen. Plastikkarten waren eh nicht so mein Ding und ohne ausreichend Asche in der Tasche fühlte ich mich irgendwie nackt. Ich zog unseren widerspenstigen Chauffeur zur Seite griff in mein Portemonnaie und beförderte einen Fünfzigeuroschein zu Tage. „Der gehört Ihnen als so ‘ne Art Sondeprämie, wenn Sie uns fahren. Fahrtgeld natürlich noch dazu und sollte tatsächlich ein Malheur passieren zahl ich die Reinigung und den Verdienstausfall.“ Unser Chauffeur guckte mich abschätzend an und nickte dann zustimmend. Uff, dachte ich, das war knapp. So, jetzt stand ich aber auch gleich vor dem nächsten Problem. Mal abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht wusste, wo Lucas eigentlich wohnte, und ich die letzten zehn Minuten Null Erfolg hatte, ihm seinen Wohnsitz zu entlocken, wollte ich die teuer erkaufte Toleranz unseres Fahrers auch nicht überstrapazieren. Eine Entscheidung musste her und die hieß: Ab zu mir nach Hause!

Gesagt getan, ich setzte mich zu Lucas in den Fond des Wagens und beschrieb unserem Fahrer sodann den Weg zu mir. Ich bemerkte, dass er fuhr als wenn er rohe Eier transportieren würde. Na ja, trotz Kunstledersitzen ich hätte an seiner Stelle dem Braten auch nicht getraut. Und schon ging es auch los. „Flip, duuu Fliiipp, ich muss mal“, lallte Lucas leise, kaum dass unsere Fahrt begann. „Mann Lucas, reiß dich mal zusammen“, zischte ich ihm ins Ohr. „Das geht jetzt nicht, außerdem dauert es auch nicht lange und wir sind bei mir.“

„Oh toll, bei dir wirklich?“, guckte er mich mit riesigen Kinderaugen an, um dann jedoch nachzusetzen: „Duuu Fliiipp, ich muss mal.“

So ging das nun die ganzen zehn Minuten, die wir fuhren. Ich schwitzte Blut und Wasser. Unser Fahrer musste wohl ebenfalls meine Not mitbekommen haben. Plötzlich fuhr er deutlich schneller und passierte sogar eine der Ampeln bei tiefdunkelgelb.

Endlich kamen wir vor meinem Wohnblock an. Der Fahrer hielt, ich drückte ihm noch mal einen Zwanziger in die Hand und dafür half er mir auch Lucas aus dem Auto zu hieven. Ich lehnte diesen dann neben der Haustür an die Wand, sah kurz dem davonbrausenden Taxi nach und kramte dann nach meinem Schlüssel.

„Duuuu Fliiipp?“, hörte ich auf einmal Lucas triumphierend sagen. „Duu, jetzt muss ich nicht mehr!“

Ich drehte mich um, sah unwillkürlich in die Gegend seines Gemächts und ein dunkler Fleck in seiner Hose verriet mir das Malheur. Ich war nahe dran zu schreien!

„Verdammt noch mal Lucas, du nervst total. Einen Sack Flöhe zu hüten ist wirklich eine Wohltat gegen dich!“ Ein unglaublich trauriger Dackelblick traf mich mitten ins Herz. Oh Kerl, dachte ich, du hast ja nicht die geringste Ahnung wie sehr ich dich liebe. Aber im Moment würde ich dich am liebsten nur so gegen die Wand klatschen wollen. „Na komm schon“, sagte ich hingegen um einen versöhnlichen Ton bemüht, „das kriegen wir auch irgendwie hin.“

„Ach Flip, du musst mich doch wirklich hassen“, fing er auf einmal an zu jammern. „So scheiße wie ich mich benommen habe.“ Er schniefte und fing fast an zu flennen. War das jetzt diese typische alkgeschwängerte Gefühlsduselei oder was?, dachte ich, sagte dann aber :

„Mensch Lucas, ist doch wirklich nicht so wild. Hast halt heute ein bisschen arg viel in dich rein geschüttet. Aber das wird wieder. Versuch jetzt einfach nur einigermaßen unfallfrei durchs Treppenhaus zu kommen. Den Rest schaffen wir dann auch noch.“

Ich bemühte mich ihn aufmunternd anzublicken, dies hatte scheinbar jedoch den gegenteiligen Effekt. Plötzlich brach er in Tränen aus und schlang dann seine Arme um mich. Eine Wolke von Alk, schlechtem Atem und na ja... umgab mich ebenso plötzlich. „Ach, du bist einfach viiiiel zu guuut zu mir“, hauchte er mir entgegen.

Ich versuchte mich von ihm zu befreien und antwortete: „Tja, das glaube ich zwar auch, aber jetzt lass uns mal zusehen, dass wir ins Warme kommen. Ich friere mir hier langsam den Allerwertesten ab.“ Daraufhin schloss ich endlich die Haustür auf und schob Lucas vor mir her Richtung Fahrstuhl. Einige Minuten später standen wir endlich vor meiner Wohnung. Erstaunlich schnell fand ich den richtigen Schlüssel und kaum eingetreten, bugsierte ich meinen Engel ins Bad. Dort angekommen platzierte ich ihn auf dem Klo und begann dann damit, mir die Klamotten vom Leib zu reißen.

Nee, nee liebe Leser, nicht was ihr da jetzt so denkt. Ich wollte einfach nur raus aus den klammen und versifften Klamotten. Ich pulte mich auch nur bis auf meine Retro aus und bemerkte, dass Lucas mich etwas verblüfft ansah.

„Ja los, nun mach hinne!“, sagte ich zu ihm. “Sieh zu, dass du aus deinen peckigen Klamotten kommst. Ich will gleich noch ‘ne Maschine anschmeißen. Mit dem Trockner sind deine Sachen dann heute Nachmittag auch wieder sauber und trocken.“

Er schien zu begreifen und fing an, ziemlich ungeschickt an seinen Klamotten zu fingern.

„Na komm, lass dir helfen, so wird das ja nie was“, sagte ich schließlich entnervt und fing an, ihn aus seinen Klamotten zu pellen. „Hey, das ist wohl nicht der erste Junge, dem du aus den Sachen hilfst“, grinste er mich etwas unsicher an, als er letztlich nur in seiner nassen Boxershorts auf dem Klo saß. „Na, wenn du meinst“, entgegnete ich nur. Ich musste jedoch zugeben, wären nicht die etwas abtörnenden Umstände der letzten Stunde gewesen, so wie er da saß mit einem wirklich geilen Body an dem wirklich alles stimmte, ich hätte ihn sicher auf der Stelle vernascht. So aber wollte ich eigentlich nur noch ins Bett. „So Lucas, jetzt pass auf“, sagte ich ernst. Ich hab jetzt wirklich keinen Bock mehr auf irgendwelche Späße. Ich hole dir jetzt ein paar Klamotten für die Nacht und mache die Liege in meinem Arbeitszimmer für dich fertig. Du kannst dann mal in der Zwischenzeit versuchen zu duschen ohne dich dabei zu ertränken und leg mir deine Shorts raus, damit ich die auch gleich in die Wäsche packen kann. Meinst du, das schaffst du?“

„Jawohl Sir!“, antwortete er, sprang auf und wollte salutieren. Er wankte dabei jedoch bedrohlich und konnte sich gerade noch so an der Duschkabine fangen.

„Lucas, bitte, ich mach keine Witze. Ich möchte einfach nur ins Bett und habe keinen Bock heute Abend noch mal den Samariter spielen zu müssen. Klar?“

Er nickte betreten. Ich verschwand kurz ins Schlafzimmer, um ihm ein T-Shirt und eine Retro von mir für die Nacht heraus zu suchen, ging damit dann zurück ins Bad, zeigte ihm wo er Handtücher und Shampoo finden konnte und machte mich dann daran, ihm sein Nachtlager zu bereiten. Mittlerweile war es vier Uhr durch und ich einfach nur noch todmüde. Als ich zurück auf den Flur kam, lagen dort seine Shorts. Mit spitzen Fingern beförderte ich diese in die Maschine in meiner Küche. Ja, waschen und trocknen musste ich in der Küche, da das Bad für Maschine und Trockner zu klein war. Die Küche hingegen war riesig und in meiner maßgeschneiderten Einbauküche waren beide Geräte optimal integriert.

Ich ging dann wieder in mein Schlafzimmer, um nun für mich meine Schlafsachen zu holen. Setzte mich dann auf mein Bett und wartete. Nach einer kurzen Weile hörte ich, wie sich die Tür vom Bad öffnete und kurze Zeit später stand ein frisch geduschter Lucas vor mir. Das blaue T-Shirt mit dem etwas kindischen Aufdruck, welches ich ihm herausgesucht hatte, und die schwarze Retro standen ihm sagenhaft gut. Mit einem Handtuch verstrubbelte er sich gerade seine samtschwarzen Haare. Mit aller Gewalt versuchte ich Klein-Phillip daran zu hindern, offen zu zeigen wie gut mir dieser Anblick gefiel.

„Warte, ich zeig dir, wo du heut Nacht schlafen kannst. Komm bitte einfach mal mit.“

„Och schade, du hast hier ja wirklich ’ne geile Liegewiese“, sagte er und betrachtete mein zugeben wirklich riesiges Französisches Bett. „Da könnte ich es mir auch total gemütlich darin vorstellen“, grinste er mich an.

„Nix da!“, antwortete ich hastig. „Ich will heute nur noch absolute Ruhe. Außerdem ist deine Liege auch schon fertig. Also schleich dich. - Ach übrigens, ich habe dir auch einen Eimer daneben gestellt, für alle Fälle und das Klo ist auch gleich nebenan.“

Dieses Mal war es an mir breit zu grinsen, als ich sein bedröppeltes Gesicht sah. Ich geleitete ihn ins Arbeitszimmer, stellte ihm noch ein Glas und eine Flasche Mineralwasser hin und verschwand dann selbst im Bad, um mich wieder soweit herzurichten, damit ich mir wieder selbst gefallen konnte.

Nach einer ausgiebigen Dusche zog ich meine Nachtpolten an und schleppte mich in mein Zimmer. „Gute Nacht, Flip, und danke!“, hörte ich Lucas aus dem Arbeitszimmer rufen. „Ja, dir auch eine Gute Nacht, Lucas, und träum was Schönes.“

„Das werde ich garantiert“, antwortete er noch. „Und ich weiß auch schon von wem!“

Dieser Spinner, dachte ich noch, als ich mich endlich in mein weiches und warmes Bett kuscheln konnte. Ich hatte kaum das Licht gelöscht, als ich auch schon tief und fest in Morpheus Armen lag. Ich wurde einmal kurz wach, als ich glaubte meine Schlafzimmertür hätte sich bewegt, schlaftrunken fingerte ich nach dem Lichtschalter meiner Nachtischlampe, fand ihn doch nicht sofort und entschloss mich daraufhin einfach weiter zu schlafen. Das zweite Mal wurde ich wach, als ich merkte wie sich ein warmer Körper an mich kuschelte. Ich erschrak, dank der Leuchtreklame des Hotelbetriebs gegenüber brauchte ich aber gar nicht erst zum Lichtschalter zu greifen, um zu merken, dass sich Lucas wohl heimlich in mein Bett geschummelt hatte, um sich dann im Schlaf zuerst an meinen Rücken zu kuscheln und jetzt, da ich mich sachte auf meinen Rücken gedreht hatte, seinen Arm zärtlich auf meinen Bauch zu legen. Er grummelte noch irgendwas im Tiefschlaf, was sich fast so wie „Flip“ anhörte, und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

Mir war nach allem anderen zumute als nach Lächeln. Ich war einfach nur kurz davor, kaputt zu gehen. Da lag nun dieser Engel völlig unschuldig neben mir. Wahrscheinlich nur aus Dankbarkeit und vielleicht auch, weil er so ein bisschen Angst vor dem morgigen Erwachen hatte, und weiß doch gar nicht, was für eine Bestie da gerade neben ihm erwachte. Mein kleiner Engel war in allerhöchster Gefahr und er ahnte nichts. Ja wirklich, er schwebte gerade in der größten Gefahr von mir vernascht zu werden. Sofern ich es zuvor noch nicht gewusst hatte, von jetzt an wusste ich sehr genau, was Tantalos der Sage nach für Qualen erlitten hatte. Ich schaute mein Opfer an und nahm mir zugleich fest vor, meinem inneren Verlangen nicht zu erliegen, koste es was es wolle. Ich durfte einfach nicht. Er war zu jung, aber auch verdammt hübsch, dachte ich. Er ist bestimmt nicht schwul, hat aber einen viel zu geilen Body, um hetero zu sein, dachte ich. Mann, der ist doch noch viel zu unschuldig, das glaubst du doch wohl selber nicht, dachte ich. So ging das eine ganze Zeit in denen Dr. Jekyll und Mr. Hyde in mir ihre fröhlichen Urstände feierten. Das nun auch noch der Lucas-typische Geruch meine Nasenlöcher bevölkerte und seine vollen, süßen Lippen mich im Schlaf anlächelten, gab mir den Rest. Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Rücken lag und meine Zimmerdecke anstarrte und dabei zu ignorieren versuchte, dass Klein-Phillip in einer verzweifelten Attacke versuchte, den Stoff meiner Retro zu durchbohren. Doch ich blieb standhaft. Bei dem Gedanken daran könnte ich mir noch heute einen Orden verleihen. Irgendwann musste mich der innere Kampf dann doch dermaßen geschwächt haben, dass ich einschlief. Nicht jedoch ohne zuvor nochmals diesen betörenden Duft dieses sagenhaften Engels neben mir eingesogen zu haben.

Als ich wieder erwachte, war es helllichter Tag. Der Duft, den ich nun bemerkte, war ein anderer und als ich neben mich schaute, war die Seite an der mein Engel gelegen hatte leer. Eine leichte Panik befiel mich, die sich erst dann legte, als ich ein Klappern in der Küche vernahm und den Duft, der jetzt die Wohnung erfüllte, als den von frisch gebrühtem Kaffee und von Aufbackbrötchen erkannte.

Nun hörte ich leises Klappern auf dem Flur, um dann im nächsten Moment zu sehen, wie die Tür zum Schlafzimmer, welche nur angelehnt war, vorsichtig aufgeschoben wurde. Das Erste, was ich nun sah, war ein übervolles Tablett, welches sich zaghaft ins Zimmer schlich, gefolgt von einem über beide Wangen strahlenden Lucas. Es sah einfach nur hinreißend aus, wie er da so ganz langsam seinen verstrubbelten Kopf durch die Tür steckte, dabei das Tablett balancierte und mich mit einem honigsüßen Lächeln ansah. „Guten Morgen Flip, na, gut geschlafen?“, fragte er, worauf ich ein „Na, eigentlich bin ich ja noch gar nicht wach“ brummelte. „Na komm schon, du Schlafmütze, ist schon fast zwei Uhr am Mittag und ich dachte, da wäre es doch mal Zeit für ein vernünftiges Frühstück. Ich hoffe du bist mir nicht böse, dass ich so ’n paar Sachen aus deinem Kühlschrank geholt habe?“

„Ein paar Sachen?“, fragte ich spöttisch. „Na, mir scheint, dass du den gesamten Kühlschrank geplündert hast und den halben Küchenschrank noch dazu. Mehr passte wohl nicht mehr aufs Tablett, was?“

„Ja, da haste Recht, mehr passte wirklich nicht, aber du hast da ja noch ein zweites in der Küche, dass hole ich gleich noch, da sind noch das Geschirr, die Brötchen, die Eier und der Kaffee drauf. Du trinkst doch Kaffee oder soll ich noch Tee oder Kakao machen? Mein Kompliment übrigens, bist wirklich gut eingerichtet und ausgestattet.“

„Nee, lass mal, Kaffee ist schon recht. Aber sehe ich das jetzt richtig, sollen wir wirklich hier in meinem Bett essen?“, fragte ich verdutzt.

„Ja klar ist doch voll romantisch... Äh, ich meine voll cool“, verbesserte er sich, als er meinen verdutzten Blick bemerkte, und lief dabei rot an.

„Und die Krümel?“, versuchte ich, die Situation zu retten. „Da kann ich ja nachher das ganze Bett neu beziehen.“

„Ach, da sehen wir uns vor, und wenn es dann doch sein muss, helfe ich dabei, ist doch klar!“, bot er an.

Na ja, irgendwie hatte das ja was für sich, denn eigentlich war ich noch viel zu faul, um aufzustehen, andererseits verspürte ich aber schon so was wie Hunger. Lucas setzte das Tablett mitten aufs Bett und verschwand dann noch einmal in die Küche, um kurze Zeit später mit dem zweiten Tablett herein zu kommen. Auch dieses pflanzte er mitten aufs Bett, um sich dann selbst vorsichtig daneben zu setzen. Sofort begann er ein Brötchen aufzuschneiden und mit Butter zu beschmieren. Na, das mit dem Vorsehen konnten wir wohl getrost lassen, denn allein dieses eine Brötchen krümelte schon genug, um das halbe Bett damit einzudecken. Na egal, dachte ich, war vielleicht sowieso Zeit mal wieder zu wechseln. Ich entspannte mich also, als Luca plötzlich fragte: „Na Philipp, was möchtest du denn drauf haben?“ „Äh?“, fragte ich blöde. „Schmierst du das jetzt für mich?“ „Na klar, ich hab doch wohl noch einiges gut zu machen“, grinste er mich dabei an. „Ach, denn fang ich mal mit Marmelade an, Erdbeere, wenn’s nichts ausmacht“ - „Klaro! Wird erledigt“, kam es zurück. „Du Lucas?“, fragte ich dann, „Wie kommt es eigentlich, dass du schon wieder so fit bist, nach so einem Absturz wäre ich sicher für Tage schachmatt“ - „Ooch, weißt du, ich bin ja noch jung“, wieder ein Grinsen. „Und außerdem hab ich hervorragend geschlafen, hatte dann zwar etwas Kopfschmerzen, aber als ich den Kaffee gesucht hatte, habe ich deine Aspirin entdeckt und mir zwei davon geschmissen. Äh, ich hoffe du hast nichts dagegen.“ Ich machte eine Handbewegung, die signalisieren sollte, natürlich nicht. „Ja danke, sag mal, schon witzig, lagerst du deine Schmerztabletten immer neben Kaffee und Tee? Gehört wohl bei dir zum Frühstück. Hast wohl öfter so lange Nächte, was?“ Wieder grinste er mich an, ich zuckte nur mit den Schultern. „Ach, wie geht’s dir überhaupt. Brauchst du vielleicht auch welche?“, fragte er dann besorgt.

Tja, wie ging es mir denn so. Na ja, eigentlich ziemlich gut. Von Kopfpein keine Spur, neben mir saß ein sagenhaft süßer Engel, grinste mich zwischenzeitlich schon wieder an und schmierte mir ein Brötchen. „Also, wenn ich liege, geht es mir eigentlich ganz gut, Herr Docktor, und Kopfschmerzen habe ich erstaunlicherweise auch keine“, antwortete ich.

„Na, das ist ja super, dann lass uns jetzt mal so richtig schlemmen, mein Süßer!“, kam es auf einmal von Lucas, was mir für kurze Zeit erschrocken den Mund aufstehen ließ. Was Lucas wiederum nutzte, um mir eine der für mich vorbereiteten Brötchenhälften in den selbigen zu schieben.

Es war einfach herrlich. Wir schlemmten und genossen alles, was so meine Vorräte hergaben. Der Kaffee war süperb, ich kriegte den nie so hin. Die Eier genau richtig, nicht zu weich, nicht zu hart, und mein Engel hörte gar nicht damit auf, mir ein Brötchen nach dem anderen zu schmieren. Ach, wenn das doch nur immer so sein könnte, seufzte ich innerlich. Wir alberten rum wie die kleinen Kinder und genossen einfach den Tag. Gut, dass ich noch nächste Woche frei habe für meine Besorgungen, dachte ich noch so bei mir. Der Samstag war eigentlich immer so mein Einkaufstag, aber heute bei dieser Gesellschaft hätte mich wirklich nichts aus dem Bett geholt.

Ach, es ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Nach einiger Zeit, wir mussten so eine bis eineinhalb Stunden geschlemmt und rumgeblödelt haben, bemerkte Lucas, dass ich immer ruhiger und nachdenklicher wurde,

„Hey Flip, was ist denn los? Du bist ja auf einmal so still“, fragte er. „Naa, da ist nichts, ich hab halt nur so ein bisschen gegrübelt“, versuchte ich abzulenken. „Nichts wirklich Wichtiges. Aber mal was anderes, Lucas. Sag mal, kann es sein, dass du heute Nacht hier mit in meinem Bett gepennt hast?“

Nun wurde Lucas etwas verlegen und nachdenklich. „Och Flip“, begann er nach einer kurzen Pause, „mir war da in deinem Arbeitszimmer so einsam, weiß auch nicht wieso, aber als ich dann mal auf den Pott musste, wollte ich danach nicht wieder dahin allein zurück und habe mich dann bei dir breit gemacht. Ich hoffe du bist nicht sauer deswegen?“, setzte er ängstlich nach.

„Ach quatsch, nee nicht wirklich. Ich war nur etwas überrascht, als ich heut Nacht dann merkte nicht mehr allein im Bett zu sein. Aber lass man, war schon in Ordnung.“

„Uff, na da bin ich ja froh.“ Lucas strahlte mich mit seinen stahlblaugrünen Augen an.

„Mensch Lucas! Da fällt mir ein, was ist eigentlich mit deiner Mutter. Müssen wir der nicht mal Bescheid sagen, wo du steckst? Die macht sich doch bestimmt Sorgen?“

„Nee, keine Angst, die ist das gewohnt. Ich komme manchmal das ganze Wochenende nicht nach Hause, tauche zum Schluss aber immer heil und munter wieder auf. Da macht sie sich schon lange keine Sorgen mehr. Bin ja auch kein Kind mehr!“, versuchte er mich zu beruhigen. Ach ja, wäre schön, wenn es so wäre, dachte ich hingegen. Ob das wohl stimmte, mit seiner Mutter? War die echt so cool? Na, ich hatte meine Zweifel. Eine andere Frage brannte mir jetzt jedoch auf der Zunge.

„Okay, ich hoffe wirklich, dass deine Mutter sich da keine Sorgen macht, nicht dass es da noch Ärger gibt. Aber mal ’ne andere Frage“, ich sah ihm dabei in seine Augen. „Warum hast du dich gestern Abend eigentlich so dermaßen abgeschossen? Hast du etwa Liebeskummer, gibt’s da irgendein Mädel, was dir den Kopf verdreht und das Herz gebrochen hat?“

So, jetzt war es raus. Die Antwort auf meine Frage interessierte mich wirklich rasend. Lucas sah mich verdutzt an, überlegte eine kurze Weile und begann dann zu lachen.

„Neee, wegen einem Mädel wohl bestimmt nicht, aber Liebeskummer schon!“, antwortete er.

Ich stand natürlich wieder mal auf der Leitung. „Wie jetzt Liebeskummer und doch kein Mädel, wie soll ich denn das jetzt verstehen?“

„Na ja, ist doch gar nicht so kompliziert“, Lucas richtete sich auf zog sich etwas mehr zur Wand hin, so dass er sich nun an die Wand lehnend hinsetzen konnte, und sah mich forschend an.

„Das ist halt so„, fuhr er fort, „ich habe da gestern jemanden kennen gelernt, in den habe ich mich so rautz bautz verknallt. Weißt du, einfach so, gesehen angestarrt und dann völlig drin verschossen. So mit Schmetterlingen im Bauch, Kribbeln und sogar richtigen hunderttausend Volt Stromstoß nur beim Hände schütteln. Voll kitschig, aber auch total aufregend. Ich hätte nie gedacht, dass so was passiert, nicht mir jedenfalls.“

Ach, wieder seufzte ich innerlich, irgendwie kam mir seine Beschreibung schmerzhaft bekannt vor. Aber wie schön für ihn, dachte ich, wer ist wohl die Glückliche? Immer noch stand ich anscheinend voll auf der Leitung.

„Na, das hört sich doch toll an“, sagte ich daher auch. „Aber das ist doch kein Grund sich so abzuschießen. Das macht man doch eher aus Frust.“

„Ja, aber genau den Frust hatte ich ja auch“, antwortete er. „Denn leider kann dieser Jemand mich wohl gar nicht leiden, oder zumindest dachte ich das bis vor kurzem. Na, und da bin ich halt getilt. Die ganze Zeit, die ich gestern Abend mit meiner Mutter und Thomas beim Essen verbracht hatte, bekam ich schon keinen Bissen mehr runter. Ich glaube, ich muss wohl ‘ne fürchterliche Laune verbreitet haben. Die beiden waren richtig froh, als ich fragte, ob ich aufbrechen und sie alleine lassen könnte. Dann wollte ich eigentlich in mein Stammlokal, aber hatte da irgendwie keine Lust darauf und bin dann gleich in den Schuppen in dem du mich dann aufgegabelt hast. Ich hab da dann auch voll den Frust geschoben und mir einen Cola-Bacardi nach dem anderen reingeholfen. Aber was soll man denn auch machen, wenn derjenige, in den man sich so Hals über Kopf verknallt hat, nichts von einem wissen will und sogar förmlich davon rennt, und zwar dermaßen panisch, dass er sogar Tische und Stühle umschmeißt, um davon zu kommen.“

Als er dies sagte, sah er mich ängstlich forschend an. Bei mir hingegen löste sich langsam der Knoten in meiner überlangen Leitung. Das kann doch nicht sein, dachte ich, nee der kann doch nicht dich meinen? Das geht doch nicht! Wieder einmal stieg Panik in mir hoch.

„Lucas?“ fragte ich daher zaghaft. „Verstehe ich das jetzt richtig, meinst du jetzt etwa mich? Stehst du etwa nicht auf Mädels, sondern mehr auf Jungs?“

Lucas schaute mich ängstlich an. Es schien mir, als wenn er sogar mit den Tränen kämpfte.

„Und, Philipp? Was ist wenn es so wäre?“... “Ja ich bin schwul“, sagte er nach einer kurzen Pause leise zu mir. „Und, hast du da ein Problem mit?“

„Was ich?“, erwiderte ich erstaunt. „Nein, Lucas, glaube mir, das habe ich wirklich nicht, aber...?“

„Ja, und es ist wahr“, unterbrach er mich mit einem Zittern in der Stimme. “Ich habe mich verliebt, und zwar in dich. Philipp, ich hätte nie geglaubt, dass ich so schnell schon für so etwas bereit sein würde, aber es ist einfach so, Philipp, ich liebe dich!“

Große erwartungsvolle Augen schauten mich durch einen tränenverhangenen Vorhang an. Ich war einfach nur platt. Noch vor kurzen hatte ich erst beschlossen, endlich offen, vor allem mir gegenüber offen, mit meinem Schwulsein umzugehen. Hatte dann in einer Szenekneipe die erste lockere Bekanntschaft gemacht und nun saß hier der Traum von einem Jungen, mein Traum, in meinem Bett und beichtete mir gerade, dass er in mich genauso verliebt sei wie ich es ja auch in ihn war. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ja, es ist zu schön, sagte die panische Stimme in meinem Hirn, du musst diesem Spuk ein Ende bereiten, es geht einfach nicht.

Ich räusperte mich, rang nach Worten und fing dann schließlich an:

„Lucas, ich weiß jetzt gar nicht was ich sagen soll“, begann ich. “Mir fehlen da jetzt einfach die Worte. Also zunächst, ich habe wirklich nicht das geringste Problem damit, dass du auf Jungs stehst, denn auch ich kann mit den Mädels nicht so recht was anfangen. Ja, es ist wahr, auch ich bin schwul.“

Lucas sah mich plötzlich sehr überrascht, aber auch erfreut an.

„Und Lucas, es ist auch nicht so, dass ich dich nicht mögen würde. Nein, ehrlich nicht, sondern ganz im Gegenteil, ich mag dich sogar sehr. Ja, Lucas, auch ich habe mich in dich verliebt, gleich auf dem ersten Blick, als wir uns gestern Abend so vollkommen unerwartet über den Weg liefen.“

Zwei tellergroße, freudestrahlende Augen blickten mich an. „Mensch Flip, ich glaub‘s ja einfach nicht, da haben wir beide uns ineinander verliebt und kriegen es dann fast nicht gebacken uns das gegenseitig zu sagen. Wow, Flip, ich werde verrückt.“

Ich merkte wie Lucas mich freudestrahlend umarmen wollte und wehrte ihn ab. Sofort sah er mich wieder sehr skeptisch und ängstlich an. „Flip, was ist? Hast du nicht gerade gesagt, dass du mich auch liebst?“

„Ja, Lucas, das stimmt“, antwortete ich, „aber es darf einfach nicht sein. Es ist einfach nicht richtig. Wir beide, das geht nicht. Lucas, wir müssen vernünftig sein.“

„Aber wieso, warum geht das nicht? Du stehst doch auch auf Jungs und ich bin doch einer und bestimmt auch ein einigermaßen gut aussehender. Und du? Du liebst mich doch und ich lieb dich doch auch. Was kann denn dann daran nicht richtig sein?“

Wieder war er kurz davor in Tränen auszubrechen. Ihn so da sitzen zu sehen machte mich fertig. Und obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte hart zu bleiben, vor allem mir selbst gegenüber, brachte ich es jedoch nicht übers Herz und nahm ihn in den Arm. Sofort kuschelte er sich an meine Seite.

„Du Lucas, schau mich doch an, ich bin 25. Mann, ich bin ein alter Sack. Und dann schau dich an, du dass geht einfach nicht. Zwei, drei Jahre später okay aber so, nein, wir müssen vernünftig sein. Und dann deine Mutter, was soll die denn denken?“

Lucas sah mich erstaunt an, dann überlegte er angestrengt und lächelte mich dann plötzlich an.

„Ach Scheiße, das darf doch nicht wahr sein. Nicht du auch noch“, sagte er, ich verstand mal wieder gar nichts. “Sag mal, Flip“, fuhr er fort, “was denkst du eigentlich wie alt ich bin, jetzt mal ehrlich?“

„Na ja“, antwortete ich, „genau weiß ich es ja nicht, aber ich schätze dich so auf sechzehn oder sechzehneinhalb vielleicht. Und das ist es ja, du bist noch viel zu jung. Nicht nur wegen dem Gesetz, sondern auch so. Es geht eben nicht.“

Lucas sagte gar nichts mehr, sondern stand einfach auf und ging aus dem Zimmer. Ich war nun völlig perplex und überlegte gerade, ob ich hinterher sollte, als er plötzlich mit seiner Jacke in der Hand zurückkam. Wortlos setzte er sich wieder aufs Bett und begann in seiner Jacke zu wühlen. Schließlich zog er sein Portemonnaie heraus, öffnete es und kramte ein Plastikkärtchen hervor.

„Hier Flip, wenn ich es dir einfach nur sage, würdest du es eh nicht glauben, aber hier ist mein Führerschein, dort steht auch mein Geburtstag drauf. Ich bin wirklich schon 19 oder na ja nicht ganz, sondern erst in ein paar Tagen, erst dann habe ich meinen 19. Geburtstag.“

Daraufhin reichte er mir seinen Führerschein. Mit großen, ungläubigen Augen glotzte ich auf das Stück Plastik. Tatsächlich, ich sah das Geburtsjahr, es passte, in ein paar Tagen würde mein Engel 19 Jahre alt werden. Ich sah zu Lucas hinüber, aber wie konnte das bloß sein? Wie konnte er nur so jung aussehen? Wieder blickte ich ungläubig auf das Plastikkärtchen und dann stutzte ich. Erst jetzt wurde mir bewusst, wann er eigentlich Geburtstag hatte. Dort stand doch tatsächlich der 25.12., mein Lucas war also tatsächlich ein Weihnachtsengel. Ich musste schmunzeln.

„Aber, ich kapier das nicht“, sagte ich schließlich. „Ich hätte schwören können, du wärst noch ein Kind, na, oder ein Jugendlicher eben. Niemals hätte ich dich auf 18 geschweige denn 19 Jahre geschätzt. Wie kommt das?“

„Ach weißt du, Flip“, seufzte Lucas, „das passiert mir dauernd. Ich weiß auch nicht genau warum das so ist. Aber seit ich denken kann, sehe ich schon immer jünger aus als ich eigentlich bin. Mein Kinderarzt damals sagte, das wäre so ‘ne Sache der Gene. Ich würde mich halt so äußerlich langsamer entwickeln und irgendwann würde sich das einfach ‘rauswachsen’, meinte er noch. Wir sollten uns deswegen auch keine Sorgen machen, wäre ja keine wirkliche Krankheit und deshalb natürlich auch nicht weiter schlimm. Na, der hatte gut reden. Der muss ja auch nicht ständig diskutieren, wenn er mal was besonderes einkaufen will, mal einfach in der Kneipe ein Bier haben will oder seinen Führerschein vergessen hat und von der Polizei benahe als Crash-Kid verhaftet wird. Es ist auch noch gar nicht so lange her, da sah ich mit siebzehn aus wie ein Zwölfjähriger, kannst dir vielleicht vorstellen, wie toll das war? Und als ich dann mit achtzehn natürlich mit Ausweis endlich in die Schuppen konnte, die meiner Veranlagung so entsprachen, kannst du dir vielleicht denken, was für Typen mich da anmachen wollten. Bah, nur widerlich. Aber du hast ja selbst mitbekommen, was für eine Wirkung ich auf dich habe, nur dass du dich ja so scheiße ritterlich aufführen musstest.“ Er machte eine kurze Pause und schaute mich dann recht herausfordernd an, „Also, was ist, kannst du uns jetzt wenigstens ein Chance geben, du oller Sack?“

Ich musste schlucken, da saß nun der Traum meiner unzähligen schlaflosen Nächte vor mir, hatte mir seine Liebe gestanden und die letzte große Hürde, die ich mir selbst aufgebaut hatte, einfach eingerissen. In mir kam ein unbändiges Glücksgefühl hoch und wie war das natürlich wieder bei mir, wenn ich so richtig glücklich war? Richtig, mir war dann wieder zum Heulen. Mir wurde soeben erst bewusst, wie haarscharf ich doch beinahe an meinem, nein, unserem Glück vorbeigeschliddert wäre.

„Ach Lucas“, seufzte ich, “was bin ich doch für ein Idiot. Wenn du nicht den Mut gehabt hättest für diese Aussprache. Mann, ich Blödmann, sehe doch das Glück nicht, selbst wenn es mir ins Gesicht springt und mich in die Nase beißt.“ Nun war gar kein Halten mehr und meine Schleusentore waren sperrangelweit auf. Jetzt war es an Lucas mich in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber ich merkte, dass auch er mit den Tränen kämpfte.

„Ach Flip, was sind wir beide doch für Deppen gewesen. Aber jetzt, jetzt kommt alles in Ordnung, nun lass ich dich nicht mehr los.“ Er drückte mich noch fester in seine Arme und blickte mir tief in die Augen. Ganz langsam näherten sich seine Lippen den meinen. Plötzlich spürte ich ihre samtene Weichheit auf meinem Mund. Überglücklich sog ich nochmals tief Luft durch die Nase ein, um dann seinen Kuss zu erwidern. Wie wild drückten wir nun unsere Lippen aufeinander. Ich spürte seine Umarmung und bemerkte wie seine Hand sanft durch meine Haare glitt. Ich selbst legte nun meine Hand behutsam auf seinen Rücken und strich diesen langsam und zärtlich herab. Immer noch unsere Lippen aufeinander pressend merkte ich wie seine Zunge auf einmal Einlass begehrte, nach einem kurzen Zögern ergab ich mich seinem Begehren. Auch ich forderte nun Einlass, auch mir wurde dieser gewährt. Sofort vertieften wir uns fordernd in den innigsten und zugleich zärtlichsten Kuss meines Lebens. Mein Herz pochte wie irre und schien förmlich vor Glück zerbersten zu wollen. Auch Lucas schien es genauso zu ergehen. Nach einer Ewigkeit unterbrachen wir unsere Umarmung nur kurz, um die Tabletts mit den Überresten unseres Frühstücks vom Bett herunter auf die Seite zu stellen und schon wälzten wir uns eng umschlungen und erneut in einem innigen Kuss vertieft auf dem Bett herum. Unsere Hände erforschten dabei den Körper des anderen ohne dabei auf die störende Präsenz von T-Shirt oder Retro zu achten. Wir hatten es nicht eilig, darin bestand eine unausgesprochene Übereinkunft. Wir wollten genießen, wir wollten entdecken, ganz sachte, ganz ohne Hast. Ich weiß nicht mehr wie lange wir so eng umschlungen, verrückt vor Liebe und Zuneigung dem jeweils anderen gegenüber auf dem Bett verbrachten. Als ich langsam aus dieser unglaublichen Trance wieder zu mir kam, mussten wohl Stunden vergangen sein.

„Du Flip“, fragte Lucas nachdem es uns gelang für einen kurzen Moment unsere gierigen Münder voneinander zu lösen, „kann ich auch heute Nacht bei dir bleiben?“

„Ist das eine Frage? Ich hoffe doch sehr, dass du bei mir bleibst. Kannst du dir denn vorstellen, jetzt nach dem, was mit uns beiden passiert ist, überhaupt woanders zu sein als bei mir?“, sagte ich entrüstet.

Er sah mich an und hauchte dann nur: „Ach Schatz, ich liebe dich!“

Dies aus seinem Mund zu hören war für mich nun wirklich das Schönste, was ich je gehört hatte, und ich antwortete nur: „Ja, mein Engel, ich liebe dich auch!“

„Engel?“, sah er mich fragend an. Ich erwiderte verliebt seinen Blick und begann dann kurz zu erklären wie es kam, dass er für mich mein Engel war. Ich erklärte ihm wie ich ihn vom ersten Moment an für einen Engel hielt, wie ich von seinem Aussehen und seiner Art fasziniert war, kurz wie ich nur noch an ihn als meinen persönlichen Weihnachtsengel denken konnte. Lucas schmunzelte und sagte dann: „Tja, Engel klingt eigentlich ganz gut, obwohl ich glaube, dass ich da kein gutes Vorbild für all die netten süßen Weihnachtsengelchen abgeben werde, aber wenn du meinst, dann bin ich halt dein Engel. Und du, mein Schatz, bist dann natürlich mein kleines Teufelchen“, lachte er und drückte mir einen dicken Kuss auf. Wieder wollte er uns in eine innige Umarmung verwickeln, doch ich hielt kurz inne und sagte dann:

„Du Lucas, auch wenn du jetzt ja ein großer Junge bist„, ich konnte mir das Grinsen dabei nicht verkneifen, „ich finde, wenn du jetzt schon die zweite Nacht in Folge fortbleibst, solltest du doch deine Mutter anrufen und sie wenigstens kurz informieren. Komm, mach es mir zuliebe, ich hätte sonst wirklich ein ziemlich schlechtes Gewissen.“

„Na ja, okay, dann halt dir zuliebe“, antwortete er und trennte sich widerwillig von mir. „Aber dann muss ich dein Telefon benutzen, der Akku von meinem Handy ist nämlich genauso leer wie die bundesdeutsche Rentenkasse, darf ich?“

„Na klar„, antwortete ich. „Das Festnetztelefon ist im Arbeitszimmer, ist ein Schnurloses, wenn du möchtest, kannst du es auch gern ins Wohnzimmer mitnehmen, da hört dich keiner.“

„Ach was, mein Schatz, vor dir habe ich doch keine Geheimnisse mehr“, sprach er und entschwand dann in mein Arbeitzimmer gleich gegenüber. Durch die offenen Türen konnte ich sehen wie er zum Telefon griff.

Er wählte die Nummer und es dauerte scheinbar eine Weile bis sich schließlich seine Mutter meldete.

„Hi Mum! Ich bin’s Lucas. … Wie was ist, wie du kennst keinen Lucas? Na hör mal, der Lucas, dieser verdammt hübsche und unglaublich liebe Junge, der seit fast 19 Jahren seine Wohnung mit dir teilt. Na, kommt langsam wieder die Erinnerung? Na, ist ja kein Wunder, wenn‘s ein bisschen dauert, bei deinem Alter!„

Er hatte sich, während er sprach, zur Tür herumgedreht, so dass ich nun sein sagenhaft breites Grinsen in ganzer Pracht bewundern konnte. Scheinbar hatten beide eine kindliche Freude daran, sich so aufzuziehen, denn anhand seiner Reaktionen konnte ich erahnen, dass auch seine Mutter ihn hoch nahm. Diese Frotzeleien gingen eine Weile hin und her, als Lucas plötzlich ernster wurde.

„Warum ich mich melde, tja Mum, da gibt es eine Menge zu erklären… Nein, nein, nichts schlimmes, ganz im Gegenteil. Na ja, um es ein wenig abzukürzen, ich bin hier bei jemandem, der es scheinbar übernommen hat, mich auf meine alten Tage noch erziehen zu wollen… Was, ja, ja, erziehen hab ich gerade gesagt, weißt du, das ist das, was du schon seit knapp 19 Jahren nicht geschafft hast. Nun gut, und dieser jemand meinte, ich sollte mich mal bei dir melden, damit du dir keine Sorgen machen musst wenn…., wie was meinst du mit ‘rot im Kalender anstreichen’ ich meld’ mich doch immer, na ja häufig, okay öfter mal, mmh gelegentlich jedenfalls, na, is’ ja auch egal jetze.

Wer das ist? Tja, den kennst du leider noch nicht, müssen wir aber schnellstens nachholen, das kennen lernen meine ich. Also dieser süße, charmante Boy ist das Liebste und Beste, was mir je passiert ist, ja, du jetzt mal ausgenommen natürlich.“

Ich horchte auf, so offen wie mein Engel von ‘diesem süßen Boy’ sprach, schien er ja gegenüber seiner Mutter keine Probleme mit seinen Neigungen zu haben. Ja, und wie er es sagte, dieser liebe und sanfte Ausdruck in seiner Stimme, dieser unglaublich verträumte Blick, als er zu mir herüber schaute. Ich war kurz davor einfach so hin und weg zu fließen vor Glück.

Es dauerte daher ein wenig bis ich plötzlich die Veränderung bemerkte. War er noch soeben dabei gewesen in einem schwärmerischen Ton von uns zu berichten, so merkte ich plötzlich wie er sich innerlich anspannte, seine Stimme plötzlich einen leicht verzweifelten, ja zittrigen Ausdruck annahm.

„Was, ein Brief? Heute morgen von der MHH? Nein, nein, brauchst du nicht aufmachen.“ Er schrie fast in den Apparat. „…. Nee, nee, ist nichts Wichtiges, ich habe da nur an so einem kleinen Test teilgenommen. Hatten die bei uns in der Schule gemacht, nichts Wildes, weißt du…„ Man spürte förmlich, wie er versuchte, sich selbst wieder zu beruhigen. “… die Schulleitung war da informiert. Worum‘s da ging? … Na, äh um so ’ne Hautcreme, ja so ’ne neue Hautcreme für Teens, weißt du. Na, und ich denke, die schicken da jetzt ihre Ergebnisse und wollen sich wahrscheinlich fürs Mitmachen bedanken oder so. Ne, also lass mal, ich wollte eh gleich nach Hause kommen. Ja, hab noch so’n blödes Referat für morgen vorzubereiten. Ja, voll blöde, so kurz vor den Weihnachtsferien. Aber kennst ja die Pauker. Bald sind die Abi-Prüfungen und da müssen sie uns ja schon einmal vorher so richtig quälen. Also dann bis gleich! Mach’s gut.“

Wenn es einen Preis geben sollte für den dümmsten Gesichtsausdruck des Monats oder so, dann hatte ich den wohl in diesem Augenblick vollkommen zu Recht verdient. Mit offenem Mund saß ich auf meinem Bett, glotzte wie blöde in der Gegend rum und verstand nun rein gar nichts mehr. Vor ein paar Minuten noch wollte mein süßer Engel das ganze Wochenende bei mir bleiben und nichts anderes tun, als mich in seinen sanften Armen halten. Ich musste ihn sogar drängen sich einmal kurz loszureißen, um wenigstens zu Hause Bescheid zu sagen, und nun das!

Was hatte das bloß auf sich mit diesem Referat, war es so viel wichtiger als unsere gerade entdeckte Liebe?

Während ich noch vollkommen verwirrt auf meinem Bett saß, hörte ich Lucas in der Küche rumoren. Den Geräuschen nach zu urteilen, räumte er wohl gerade den Trockner aus und suchte nach seinen Sachen.

Und richtig, nur zwei, drei Minuten später erschien er in der Tür zu meinem Zimmer, zwar in Socken, die Schuhe in der Hand, aber sonst bereits komplett angezogen. Ich sah ihn fragend an. Täuschte ich mich oder wich er meinen Blicken aus?

Jeweils auf einem Bein hüpfend schlüpfte er in seine Sneakers. Immer bemüht, mich bloß nicht anzusehen.

„Ach Flip, es tut mir ehrlich Leid, das blöde Referat. Ich hab das total verschwitzt.“

„Aber, gerade noch… da wolltest du doch noch... ich kapier das nicht...„, war alles, was ich herausbrachte.

„Ach Flip, bitte mach’s mir nicht schwerer als es eh schon ist, du hast es ja selbst eben mitbekommen. Gerade erst bei dem Telefonat ist mir der Mist wieder eingefallen. Ich find’s doch selbst ultra scheiße, aber es ist wirklich wichtig, so kurz vor dem Abi. Bitte versteh doch!“ Noch immer vermied er es mir in die Augen zu sehen.

Ich wollte gerade aufspringen, ihn umarmen, mich einfach nur an ihn klammern, ihn anflehen nicht zu gehen, doch mit einer einzigen schnellen Bewegung griff er seine Jacke, die nach der Aktion mit seinem Führerschein noch immer auf dem Bett lag, warf sie sich über und eilte ohne auch nur noch ein einziges Mal zurückzublicken in den Flur. Ich war wie gelähmt, nicht in der Lage nur einen einzigen Gedanken zu fassen.

Ich hörte nur noch, wie er die Wohnungstür öffnete und mir zurief. „Flip, glaub mir bitte, das alles tut mir unendlich Leid, wirklich…. Und Flip ich ruf dich an… später...„ Dann schlug er die Tür zu. Ich hörte wie er das Treppenhaus herunter hastete. Dann war es still.

„Ja, aber wie willst du dich denn melden…?“, brabbelte ich immer noch vollkommen paralysiert vor mich hin. „Du hast doch gar nicht meine Nummer...?“ Schlagartig war mir eingefallen, dass ich noch gar nicht im Telefonbuch eingetragen war, weder mein Handy noch mit meinem Festnetzanschluss.

Ich weiß nicht mehr wie lange ich wie gelähmt auf meinem Bett hockte. Ich merkte nur plötzlich, dass mir wohl seit längerem die Tränen herunter liefen. Wie geschockt saß ich da und erst als die Dämmerung hereinbrach und mein Zimmer in ein konturloses Nichts zu tauchen begann, stand ich auf, schleppte mich in den Flur und schaltete das Licht an. Mit dem Handrücken wischte ich meine Tränen fort. Immer noch wortlos schluchzend ging ich in die Küche. Hier empfing mich ein kleines Chaos. Der restliche Inhalt des Trockners, von Lucas in aller Eile geleert und auf der Suche nach seinen Sachen durchwühlt, lag über den ganzen Küchenboden verstreut. Die Retro und das T-Shirt, welches ich ihm für die Nacht geliehen hatte lagen obenauf. Ich nahm den bereit stehenden Wäschekorb und begann mechanisch die bunt verteilte Wäsche einzusammeln. Shirt und Retro brachte ich in mein Schlafzimmer. Dort angekommen, warf ich diese auf einen Stuhl. Danach begann ich ebenso mechanisch zunächst die Hinterlassenschaften unseres Frühstückes aufzuräumen, um danach mein Bett neu zu beziehen. Insgeheim dankbar darüber, durch diese Beschäftigung nicht weiter nachdenken zu müssen. Als ich jedoch das Geschirr in den Geschirrspüler und die Bettwäsche in die Maschine gesteckt hatte, kam sie plötzlich wieder, die beängstigende Leere, die sich von dem Zeitpunkt an eingestellt hatte, als ich Lucas die Tür ins Schloss schlagen hörte.

Wieder kämpfte ich mit den Tränen. Ich schlich mich in mein Zimmer, wie bereits zuvor unbewusst darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, jedes Geräusch zu vermeiden, welches vielleicht dazu führen könnte, das Telefon zu überhören. Denn genau das war es, was die ganze Zeit im Raum stand. Das unbändige Verlangen das Klingeln des Telefons zu hören, den Hörer abzunehmen und Lucas Stimme zu vernehmen. Wie er erklärt, dass es ihm Leid tut mich so erschreckt zu haben, dass er sagt, er könne keine Sekunde mehr ohne mich sein, ich ihm erleichtert erwidern würde, dass es mir genauso geht, und er mir dann versprechen würde sofort zu mir zu eilen. Dieser Gedanke, so kindisch, so schrecklich schwülstig wie er war, war doch das Einzige, was in meinem Kopf herumgeisterte. Ziellos wie ein Tiger im Käfig lief ich in meinem Zimmer auf und ab, schließlich griff ich nach dem Shirt, welches mein Engel noch vor kurzem getragen hatte. Ich legte mich auf mein Bett, löschte das Licht, rollte mich zusammen und kuschelte mich an das Shirt. Ich versuchte den einzigartigen Duft meines Engels zu erhaschen, welcher an ihm haftete, und dann endlich brach es aus mir heraus. Erst war es nur ein leichtes Schluchzen, dann ein Wimmern und schließlich begann ich hemmungslos zu weinen.

Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf, als die ersten Sonnenstrahlen des neu heran brechenden Tages begannen sich durch die Spalte meiner Jalousie zu stehlen. Noch immer hielt ich das Shirt, welches mein Engel getragen hatte, an mich geklammert. Ich musste mich wohl in den Schlaf geheult haben, denn das Shirt fühlte sich klamm und feucht an. Doch jetzt hatte ich keine Tränen mehr. Erschöpft und unwirklich fühlte sich der neue Tag an. Ich lugte durch einen Spalt der Jalousien, der Sonntag schien seinem Namen alle Ehre zu machen, denn draußen strahlte kalt und klar die Wintersonne mit einem frostig blauen Himmel um die Wette.

Fröstelnd stand ich auf. Über Nacht war die Heizung heruntergefahren. Nur mit Shorts und einem T-Shirt bekleidet hatte ich zusammengerollt auf meinem Bett gelegen.

Schnell drehte ich die Heizung an, schlurfte dann in die Küche, drehte dort ebenfalls die Heizung an und setzte einen Tee auf. Den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit in Händen wartete ich bis der Tee durchgezogen war. Gedankenverloren blickte ich aus meinem Küchenfenster. Ich beobachtete wie eine Krähe ein achtlos dahin geworfenes Brötchen auf dem mit schmuddelbraunem Schnee überzogenen Asphalt aufpickte, um dann mit seiner Beute auf einen der kahlen Äste des einzigen Baumes der angrenzenden Seitenstraße zu flüchten. ‘Lucas!’ Wie ein Blitz traf mich der Gedanke. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Ein schier unmenschliches Gefühl des Verlassenseins überkam mich. Wenn ich die Kälte und Leere beschreiben sollte, die das plötzliche und unerklärliche Verschwinden meines Engels in mir hinterlassen hatte, dann traf es dieses trostlose Bild, welches mir der Blick aus dem Fenster bot.

Vorsichtig nippte ich an dem Becher in meinen Händen. Gierig die Wärme aufsaugend, die der heiße Tee mir bot. Ich spürte wie sich langsam mein Körper mit Wärme füllte, doch eine winzige Stelle in mir schien sie nicht erreichen zu wollen. Eine Stelle tief in mir bewahrte die Kälte des Morgens und ließ mich erschaudern. Ihr wohnte eine kleine Stimme inne, Lucas, immer wieder Lucas, war es, was diese Stimme bohrend und unbarmherzig wiederholte und mir ein Gefühl der Kälte und Leere bescherte.

Ich beschloss unter die Dusche zu gehen. Ich betrat das Bad, auch hier hatte die Nachtabschaltung der Heizung für eine unangenehme Temperatur gesorgt. Ich drehte das Thermostat auf und verschwand dann wieder in der Küche, um mir einen zweiten Becher Tee zuzubereiten. Ich umfasste den Becher und schaffte es tatsächlich für eine kurze Zeit einmal nichts zu denken. Ich genoss den Tee und die Leere in meinem Kopf.

Dann war es Zeit unter die Dusche zu gehen. Ich hoffte, mit ausreichend viel warmem Wasser den ganzen gestrigen Abend einfach abspülen zu können, wusste aber zugleich, dass es mir nicht gelingen würde.

Erneut im Bad angekommen, zog ich mich komplett aus und betrachte mich dann in dem Spiegel über dem Becken. War ich denn so abstoßend, dass mein Engel gleich panikartig die Flucht ergreifen musste? Aber nein, er hatte mir doch seine Liebe gestanden. Außerdem, so schlecht sah ich doch gar nicht aus, oder? Mir schwirrte der Kopf und bevor ich mich jetzt noch aus reinem Selbstmitleid in meinen eigenen Adoniskörper (pah, gleich wird mir übel!!) verliebte, schlich ich unter die Dusche. Ich drehte den Hahn auf und ließ das warme Wasser auf mich rieseln, immer noch nicht in der Lage einen klaren, zusammenhängenden Gedanken zu fassen.

Egal wie sehr ich mich auch einseifte und schrubbte, die Liebe zu meinem Engel, die Sehnsucht nach ihm, das unbändige Verlangen ihn in meine Arme zu schließen ließ sich nicht so einfach abwaschen.

Mann Flip! Nun sei doch mal realistisch!, versuchte ich mich selbst zur Räson zu bringen, wie oft hast du denn bei deinen akribischen Internetrecherchen von diesen klassischen One-Night-Stands gelesen?

Klar, mir war schon bewusst, dass dies gerade unter Schwulen noch mehr verbreitet war als unter Heten. Der schnelle Sex, die schnelle Nummer und dann Tschüß. Was will man auch erwarten von einer Gruppierung, deren Bezeichnung allein sich nur auf die Sexualität reduzierte? ’Homosexuell’, das sagte doch schon alles. Bäh! Ich wollte nicht mehr schwul sein! War doch eigentlich schon vorauszusehen. Erst einmal kennen lernen, am besten gleich mit ein bisschen Alkohol als Hemmungslöser. Dann ein wenig rumshakern, danach große Liebe heucheln und ewige Treue schwören und dann Peng! Wild rumbumsen und schließlich Tschüß und gut.

Ach ja, und dann der Klassiker! ’Ich ruf dich an.‘ Pah, da könnte ich warten bis ich schwarz werde, da kommt nichts mehr. Bestimmt nicht. Mann, ich könnte kotzen, da bin ich doch gleich am ersten Abend meiner neu entdeckten Freiheit auf solch eine Schlampe reingefallen! Nein, ich wollte wirklich nicht mehr schwul sein. Die können mich doch alle mal, diese scheiß Schwuchteln. Und diese verlogenen Heteroweiber doch gleich mit. Ich wollte mit dieser ganzen Sex- und Liebesscheiße nichts mehr zu tun haben. Nie mehr!!

Mir war es jetzt sonnenklar, ich würde Mönch. Ich würde mich ab sofort in buddhistische Askese üben. Sollte mir jemals wieder in Sachen Liebe Schmerzen zugefügt werden, dann nur noch Kopfschmerzen und das auch nur, weil mein Heiligenschein drückt!

So, ich würde jetzt alles, was mit dieser ganzen unglückseligen Sexualität zu tun hat, über Bord werfen. Und meinen scheinheiligen als Engel verkleideten Weihnachtsteufel zuallererst! Wollen wir doch mal sehen, ob es einer wagen würde, den frisch geläuterten Heiligen Jan-Phillip Böhm jemals wieder in den fauligen Moloch der Fleischeslust zu zerren!

Mann, tat das gut! Jetzt war ich wieder Herr meiner Sinne. Jetzt konnte ich über allem stehen. Nicht mehr lange und ich würde über diese ganze unglückselige Episode mit einem abfälligen Lächeln urteilen.

So richtig Scheiße war jedoch, dass mir noch immer total zum Heulen war! Denn, irgendetwas stimmte da doch nicht. Irgendetwas wollte da so ganz und gar nicht in mein neues, eiligst zusammen gezimmertes Weltbild passen!

Ja, was? Richtig! Für den klassischen One-Night-Stand fehlte bei der ganzen Geschichte etwas, und zwar etwas ganz entscheidendes. Sollte bei so einer Sache wirklich nur der niedere Sextrieb die einzig entscheidende Rolle spielen, tja dann fehlte bei dem, was ich erlebt hatte, eine ganz entscheidende Kleinigkeit.

Wow, richtig! Der Kandidat bekommt 1000 Gummipunkte! Tja, was hier fehlte, war der Sex! Über das Stadium des Kuscheln und Knutschens waren wir ja gar nicht hinausgekommen.

Na super toll, Flip, du bist ja so erbärmlich! Nicht nur, dass dieser Engel dich ausgenutzt und belogen hat. Er hat dich bei deinem einzigen One-Night-Stand deiner schwulen Laufbahn auch noch um den eigentlichen One-Night-Stand selbst gebracht.

Mann, Jan-Phillip Böhm, wie dämlich kann man eigentlich sein?

Doch, ganz ehrlich gesagt, irgendwie kam mir das dann auch nicht so richtig logisch vor.

Die Temperatur des mittlerweile Hektoliterweise über mich rauschenden Wassers der Dusche näherte sich inzwischen bedrohlich der Nullgrad-Marke, ich musste wohl zwischenzeitlich den Warmwasservorrat des gesamten Häuserblockes aufgebraucht haben. Meine Haut war mittlerweile so schrumpelig, dass alle Faltencreme der Welt nicht mehr ausreichen würde, hier wieder einigermaßen Glätte zurückzubringen. Bibbernd drehte ich den Hahn zu, griff nach meinem riesigen, vorgewärmten Badehandtuch, immer noch bibbernd wickelte ich mich darin ein und rubbelte mich langsam trocken.

Immer wieder kreisten meine Gedanken um die zuletzt entdeckte Unstimmigkeit. Irgendwie musste hinter Lucas Verhalten mehr stecken, als eine reine amouröse Nebensächlichkeit. Das Eingeständnis seiner Liebe zu mir klang schließlich doch wirklich aufrichtig. Er hatte sich doch schließlich auch richtig abgeschossen gestern Nacht, nur weil er sich, wie er glaubte, unglücklich in mich verliebt hatte. Konnte man so etwas tatsächlich nur vortäuschen? Ich war mir plötzlich wirklich unsicher. Und dann das Telefonat mit seiner Mutter. Ich Rindvieh war es doch schließlich selbst gewesen, der ihn dazu genötigt hatte, und erst dieses Telefonat hatte ihn dann zu dieser panikartigen Flucht veranlasst.

Immer noch in mein Handtuch gewickelt verließ ich das Bad und schleppte mich in die Küche, um einen weiteren Pott Tee aufzusetzen.

Mann, war es doch erst gestern Abend, dass du hoch motiviert deine ersten Gehversuche in der schwulen Szene dieser Stadt gestartet hast, dachte ich so bei mir, und Peng schon steckst du voll in einer Beziehungskiste, ohne dass es dabei wirklich schon zu einer eben solchen gekommen ist.

War das denn wohl unter Schwulen immer so kompliziert? Ich merkte, dass ich scheinbar nicht die geringste Ahnung hatte, und so ganz allmählich dämmerte mir, dass Schwulsein wohl tatsächlich ein Ausbildungsberuf ist.

Irgendwie war dies alles einfach eine Nummer zu groß für mein schlichtes Gemüt. Alles in mir schrie förmlich danach, meine Verwirrtheit zu teilen, doch mit wem? Konnte ich es wirklich wagen, einen meiner alten Kumpel und Weggefährten in mein dunkles Geheimnis einzuweihen? Stefan vielleicht? Oder doch lieber keinen aus meiner alten Clique? Vielleicht sollte ich Thomas anrufen. Aber einen Arbeitskollegen? Nein, das dann doch wohl lieber nicht. Mann, wenn man mal wirklich jemanden braucht, der einen aus der Sch… holt! Das alles kann einen ja wirklich richtig kirre machen.

Während ich also diesen höchstkomplizierten Gedanken über das Schwulsein im Allgemeinen und die Auswirkungen desselbigen auf das doch so zarte und empfindsame Persönchen, welches seit 25 Jahren auf den Namen Jan-Phillip Böhm hörte, nachhing, wanderte mein Blick durch die Küche. Vom Kühlschrank im Edelstahldesign, der allein stehend der L-förmigen Küchenzeile trotzte, hin zur abzugshaubengekrönten Multifunktionskochstation. Dann weiter über die mit zahllosen elektrischen Helferlein voll gestopfte Arbeitsplatte. Mein Blick blieb plötzlich an dem achtlos abgelegten Häuflein persönlicher Utensilien liegen, welche ich dort in der Nacht zuvor bei dem Entleeren meiner für die Schnellwäsche bestimmten Hose abgelegt hatte. Schlüsselbund und Handy, das durch ein beständiges Fiepen den drohenden Leerstand des Akkus ankündigte. Dazu Portemonnaie und Feuerzeug, letzteres hatte ich seit Jahren eigentlich nicht mehr wirklich nötig, da ich ja ein geläuterter Ehemals-Raucher bin. Tja, und dann ein kleines Kärtchen, welches ich schon längst vergessen geglaubt hatte. Doch nun fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. ’Kai!’ Na klar, warum bin ich da nicht gleich darauf gekommen? Wenn überhaupt, dann war doch er wohl der absolut kompetente Gesprächspartner für mich! Wenn einer meine völlig verkorksten Gefühlswelt wenigstens ansatzweise durchleuchten könnte, dann doch wohl er.

Nur, ich kannte in doch kaum. Wir hatten uns doch nur kurz kennen gelernt. Dazu war ich Gast und er meine Bedienung. Da musste er doch schließlich nett und freundlich zu mir sein. Andererseits hatte er mir doch seine Telefonnummer gegeben und mich aufgefordert, mich einmal bei ihm zu melden. Zum Quatschen und so. Das überstieg doch schließlich ganz klar das Maß an Freundlichkeit, welches man als Gast von einer Kneipenbedienung zu erwarten hatte. Und dann hat er mir ja auch noch zum Abschied nachgewunken. Und dass er sich freuen würde, wenn ich mich melden würde, hatte er ja auch noch zu mir gesagt.

Aber Flip, dachte ich mir, sei doch mal ehrlich, ich glaube nicht, dass er damit gemeint hatte, ihn gleich als Kummerkasten, Briefkastenonkel und Seelenklempner zu missbrauchen. Denn das war ja genau das, was ich eigentlich von ihm wollte. Ich braucht jetzt unbedingt ‘ne starke Schulter an der ich mich ausheulen konnte, einen Menschen, der mich vielleicht auch in den Arm nahm und der mir darin vollkommen zustimmen würde, dass alle Männer Schlampen und sowieso nur auf den schnellen Sex aus sind. Auch wenn letzteres bei meinem Weihnachtsengel ja scheinbar gar nicht zutraf, aber irgendwie tat es dann nicht mehr so weh, wenn ich mir dies einredete.

Tja, aber war ich nicht eigentlich genau so eine egoistische Schlampe, wenn ich Kai jetzt anrufen würde, ihn vielleicht sogar zu einem Treffen einladen würde, nur um mich dann bei ihm über meine unglückliche Liebe auszuheulen? Schließlich war mir ja nicht entgangen, dass ich anscheinend einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Vielleicht war da ja bei ihm ein wenig mehr im Spiel, als nur der Wunsch mit mir mal durch die einschlägigen Clubs zu ziehen? Tja, und bei mir?

Na ja, wenn ich ehrlich bin fühlte ich mich gestern doch ein wenig geschmeichelt, als er mir seine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte. Schließlich war das alles ja auch ziemlich neu für mich. Doch würde er je den Vergleich mit meinem Weihnachtsengel standhalten?

Mensch noch mal! Das ist ja zum verrückt werden, dachte ich so bei mir. Da brauchst du jetzt unbedingt jemanden zum Reden und deine alten Kumpels kannst du nicht anrufen, weil du noch immer zu feige bist, ihnen die Wahrheit über dich zu erzählen. Bei deinem Kollegen und mittlerweile auch ebenso guten Kumpel Thomas? Bingo! Natürlich genau dasselbe. Hasenfuß Flip traut sich nicht. Und bei den einzigen beiden schwulen Jungs, die du kennst, kannst du den einen ja nun nicht zutexten, weil ja gerade der der Grund für deinen gefühlsmäßigen Supergau ist, tja und bei dem anderen? Gerade wenn ich mich bei dem ausheulen sollte, musste ich mit eben solchen Komplikationen rechnen, nur dann vielleicht bei ihm selbst und zwar wegen mir. Ich war also in so ‘ner klassischen Pattsituation gelandet.

Unschlüssig ging ich in der Küche auf und ab, Kais Karte dabei in Händen haltend. Also erstmal anziehen, kam der Praktiker in mir durch, dann tief durchatmen und dann, zack, den Hörer in die Hand, nahm ich mir vor.

Also gesagt, getan. Nach etwa fünfzehn Minuten und mindestens gleich vielen Panikanfällen, stand ich nun angezogen in meinem Arbeitszimmer, den Hörer meines schnurlosen Telefons in der einen und Kais Visitenkarte in der anderen Hand. Das fiepende Handy hatte ich zwischenzeitlich ans Stromnetz angedockt. Tja, so stand ich nun da, und war mir immer noch unschlüssig.

Ach was soll’s, überwand ich mich schließlich, ich werd mich doch nur einfach zwanglos mit ihm verabreden. Dabei werde ich dann schon sehen, wie das so zwischen uns aussieht. Vielleicht bilde ich mir das bei ihm ja auch nur ein und wir können wirklich einfach nur so quatschen. Vielleicht fällt da bei Gelegenheit auch noch einen guter Rat für mich ab, besonders bezüglich des Umgangs mit meinen Kopfgeistern, welche die panikartige Flucht meines Engels in mir freigesetzt hatte. Mann Flip, jetzt aber endlich mal mutig sein!, feuerte ich mich an.

Bereits eine Minute lang ertönte das Freizeichen, als ich (im dritten Anlauf) nach dem hastigen Wählen der Nummer und dem noch schnelleren Wiederauflegen mit gehörigem Herzklopfen diesmal doch angestrengt in den Hörer lauschte.

Ein kurzes Knacken und dann ein „Ja, hallo? Hier Fischer.“ - „Ähh, ja hier auch hallo, äh, also hier ist Flip, äh, du erinnerst dich vielleicht Jan-Phillip, der Typ von vorgestern Abend bei dir in der Kneipe“, kam es von mir äußerst intelligent zurück.

„Wer? Jan- wie? Ach jetzt kommt es mir, Flip bist du das?„, schallte es mir plötzlich aufgeregt entgegen. „Mann, das ist ja super, dass du dich so schnell meldest! Du, wollen wir heute was unternehmen? Äh, ich muss vorher aber noch arbeiten. Mann, so ein Mist. Aber das kriege ich schon hin. Muss nur für Klaus einspringen. Der wollte mit seinem Lover irgendwas erledigen. Nur ein, zwei Stunden. Dann hätte ich frei. Also was meinst du? Wollen wir uns nachher treffen...?“

Junge, Junge dachte ich, als mir ein Wortschwall nach dem anderen aus dem Hörer entgegenprasselte, da ist aber einer ganz schön aufgeregt. Und schon hatte ich wieder ein schlechtes Gewissen. Scheinbar lag ich nicht verkehrt mit meiner Vermutung, dass sich Kai so ein klein wenig in mich verguckt hatte, wieso sollte er sonst dermaßen aus dem Häuschen sein, wenn ich plötzlich bei ihm anrief. Tja und ich, ich wollte ihn ja quasi als meinem Mülleimer missbrauchen und mich bei ihm über meine Höllenqualen ausheulen, die durch das plötzliche Verschwinden meines Weihnachtsengels ausgelöst wurden. Sollte ich nicht besser wieder auflegen? War ich in diesem Augenblick nicht genauso schlimm wie mein Engel?

„Du Flip, lass mich mal kurz überlegen, …ähm... ja so müsste es gehen“, schallte es mir indessen freudig aus dem Hörer entgegen. „Flip, pass auf, am besten du kommst direkt bei mir im Cocido vorbei. So gegen sechs? Passt das bei dir?“

„Äh, na ja …“, antwortete ich. Immer noch war ich unschlüssig darüber, was ich eigentlich mit diesem Anruf bezwecken wollte. Innerlich verfluchte ich meine Feigheit und innerlich war mir auch klar, dass ich im Begriff war jemanden ziemlich weh zu tun, wenn ich jetzt nicht ehrlich war.

„Du Flip, wenn das zu früh ist, können wir uns auch später treffen oder auch woanders, wenn du das möchtest, du musst mich nicht im Cocido abholen, wenn dir das nicht passt...“, versuchte Kai meine anscheinenden Bedenken auszuräumen.

„Nein, nein, lass man, sechs Uhr ist okay und das Cocido ist auch in Ordnung“, erwiderte ich schnell mein schlechtes Gewissen ignorierend.

„Super, dann bis um sechs im Cocido…“, einer der derzeit angesagten Klingeltöne erklang plötzlich im Hintergrund. Da ich auf Kais Festnetzanschluss anrief, musste es sich wohl um sein Handy handeln.

„Tschuldigung Flip, mein Handy“, bestätigte Kai umgehend meine Vermutung. „Tja, dann will ich mal dran gehen, wir waren ja soweit klar, oder?“ Ich nickte zustimmend, Mann wie blöd war das denn wieder! Anscheinend wertete Kai jedoch die Stille am anderen Ende der Leitung als Zustimmung.

„Also dann bis nachher, und du Flip, ich freue mich schon darauf!“, flötete Kai zum Abschied durch den Hörer.

„Ja, ja dann bis um sechs,…, und ich freue mich auch“, antwortete ich und legte dann, mit einem ziemlich miesem Gefühl den Hörer zurück in die Ladestation.

Mann, was bist du nur für ein Arsch, dachte ich, der ist jetzt völlig aus dem Häuschen, weil du dich mit ihm treffen willst, und dabei suchst du doch nur ‘ne Schulter zum ausheulen. Mann, schwul sein ist doch echt die Pest! Ich hatte zwar Null Erfahrung wie die Heten mit ihrem Liebeskummer umgingen, aber ich war mir sicher, bei denen war das bei Weitem nicht so kompliziert.

Wieder begann ich in meinem Zimmer wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen und zugleich mein armes Hirn zu zermatern. Hatte ich vor meinem Anruf nur ein Problem, nämlich das fluchtartige Verschwinden meines Weihnachtsengels, so waren es jetzt zwei. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mit Kai umgehen sollte, und ich Depp hatte nichts besseres zu tun als mich mit ihn zu verabreden. „Mensch Jan-Phillip Böhm, das war ja mal wieder richtig genial, du bist wirklich das größte Rindvieh unter der Sonne!“, schimpfte ich mit mir selbst.

Aber was sollte es. Ich hatte immer noch Gelegenheit alles richtig zu stellen, auch wenn ich Kais Gefühle sicherlich verletzen würde. Aber besser jetzt als später. Und vielleicht hatte er ja doch ein wenig Verständnis für meine Lage und wir könnten uns dann gegenseitig trösten. Ja, ich wusste, eine ziemlich blöde Idee, aber irgendwie musste ich jetzt einfach raus aus meiner Bude und unbedingt mit jemandem sprechen, und mich mit Kai zu treffen schien mir derzeit die einzige Möglichkeit dazu zu sein.

Ich schleppte mich also ins Bad und erschrak erst einmal gehörig, denn was mir da mit eingefallenem, zerknautschtem Gesicht und rot verheulten Augen aus dem Spiegel entgegenstarrte, war ja auch wirklich zum Fürchten. Dagegen war ja Mike Myers Halloween ein reiner Kindergeburtstag!

Okay, dann war also erst einmal eine Grundsanierung angesagt. Geduscht hatte ich ja bereits. Mittels meines elektrischen Rasierers rückte ich daher zunächst dem Bartschatten zu Leibe, dann wurde mittels Feuchtigkeitscreme die Gesichtshaut ein wenig aufgemöbelt. Ein Lappen mit kaltem Wasser sorgte dafür, dass die rot geränderten Augen verschwanden. After Shave und passendes Eau de Toilette rundeten schließlich den Gesamteindruck ab. Dann ging es ab ins Schlafzimmer, wo ich vor dem Kleiderschrank stehend mein Outfit zusammenstellte. Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich nun schon deutlich frischer zurück ins Bad, um mir mittels Gel meine blonden Haare zu verstrubbeln. Tja, als ich dann so vor dem Spiegel stehend das Gesamtkunstwerk betrachtete, gefiel mir nicht nur das, was mich da so ansah, vielmehr wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mich sogar ziemlich aufgebrezelt hatte. Nur um jemanden zu treffen bei dem man sich ausheulen will, ziemlich viel Aufwand, dachte ich. ‘Mann Flip, was willst du eigentlich wirklich?’, meldete sich sogleich die Region in meinem Schädel zu Wort, in der ich mein Gewissen vermutete. Jene Regionen in denen mein Verstand und meine Gefühle beherbergt zu sein schienen antworteten synchron: ‘Ich habe nicht die geringste Ahnung!’ Dies half mir zwar nicht wirklich weiter, aber es war zumindest ehrlich. Unschlüssig verließ ich das Bad und an der Garderobe angekommen schlüpfte ich zunächst in meine Boots und warf mir dann meine Jacke über. In Anbetracht meiner kunstvoll zerzuselten Haare verzichtete ich auf eine Mütze und wappnete mich nur mit Schal und Handschuhen gegen die zu erwartende Kälte.

Ich sah auf die Uhr, es war viertel vor fünf. Ich würde also so knapp eine Stunde zu früh dort sein. Aber ich hielt es zu Hause einfach nicht mehr aus. Ich konnte auch genauso gut im Cocido warten bis Kai Feierabend hatte. Ich hoffte nur, ihm würde das nicht unangenehm sein. Aber irgendetwas trieb mich aus dem Haus. Ich verließ somit meine Wohnung und machte mich auf den Weg in die Stadt.

In der Bahn und auch während meines Weges zu Fuß in Richtung unseres Treffpunkts machte mir ein seltsames Gefühl sehr zu schaffen. Einerseits schnürte sich immer dann mein Herz zusammen, sobald ich an Lucas dachte und daran wie er mir zuerst seine Liebe gestanden und sich dann so plötzlich aus dem Staub gemacht hatte. Und dann war da so eine Art Vorfreude, ja eine förmliche Neugier auf Kai. Ich konnte es nicht erklären. Ich wusste nur, dass ich irgendwie nichts genau wusste. Mit klopfendem Herzen stand ich plötzlich vor dem Cocido. Warm und Vertrauen erweckend fiel ein gelb-oranges Licht durch die Milchglasscheibe der Tür auf den nach wie vor schneebedeckten Weg. Ich atmete tief durch und dann, diesmal jedoch kampflos, öffnete ich die Tür und ich trat ein. Vom Dunkel ins Helle kommend dauerte es eine Weile bis ich das Innere der Kneipe wahrnehmen konnte, wieder spürte ich abschätzende Blicke auf mir ruhen. Mein Blick wanderte sofort zu Theke. Kai konnte ich dort nicht finden. Stattdessen stand dort, ein Glas mit einem Geschirrtuch abtrocknend, ein Mann etwa Mitte Vierzig, schlank, dunkelbraune Haare. Er schaute mich leicht gelangweilt an. Ich erinnerte mich, ihn bei meinem ersten Besuch ebenfalls hinter der Theke gesehen zu haben, Und plötzlich erinnerte ich mich auch, wie damals einer der Gäste ihn mit Klaus angesprochen hatte. Aha, somit war er also der besagte Klaus und er und sein Lover also mit dem, was sie vorhatten, wohl früher fertig geworden. Aber wo war Kai?

Mein Blick schweifte durch das Lokal. Es waren zu dieser Zeit nur wenige Gäste anweisend. Zwei junge Männer saßen vor der Theke, drei weitere an einem Tisch nicht unweit vom Eingang. Im hinteren Teil des Raumes in einer Nische schien ein weiter Tisch besetzt zu sein. Eine Jacke über einen aus der Nische herausschauenden Stuhl ließ dies vermuten. Aber von Kai keine Spur. Ich ging also zur Theke, immer noch innerlich sehr angespannt. Ich spürte förmlich wie meine Aufgeregtheit sekündlich zunahm. Nochmals tief durchatmend, um mein klopfendes Herz zu beruhigen, wandte ich mich an diesen Klaus und flüsterte förmlich. „Ähm hallo, also ich bin Flip und wollte mich hier eigentlich mit Kai treffen. Hat der schon Feierabend. Ist er schon gegangen? Hat er vielleicht irgend etwas gesagt, vorher?“

„Äh, was ist?“, bellte Klaus. „Tschuldigung, aber ich habe kein Wort verstanden! Äh, aber warte Kai, haste gerade nach Kai gefragt?“

Ich nickte und sah ihn zugleich verschreckt an.

„Ne, der ist noch hier. Ist da in der Ecke mit ’nem richtigen Schnuckel. Der kommt regelmäßig hierher und Kai und er kennen sich ziemlich gut.„ Plötzlich fing mein Gesprächspartner breit an zu grinsen. „Aber ich glaube, im Moment sollte man die beiden wohl besser nicht stören“

Erschrocken drehte ich mich um und sah in die Ecke in die mein Gegenüber gerade gezeigt hatte. Es war jene Ecke, die ich vom Eingang aus nicht einsehen konnte, die hier von der Theke aus aber sehr gut einzusehen war. Und was ich dort sah, ließ mein Blut in meinen Adern gefrieren. Ich traute zunächst meinen Augen nicht, was ich dort sah, konnte nur ein Ergebnis meines durch die Gefühlsachterbahn der letzten 48 Stunden vollkommen überlasteten Hirns sein. Dort in der Ecke saß Kai, scheinbar aufgeschreckt, als er Klaus seinen Namen rufen hörte. Und neben ihn, dicht an Kais Schulter gekuschelt saß Lucas!! Seinen Arm um Kai geschlungen. Er sah ziemlich zerzuselt aus, die Augen in diesem Moment jedoch ebenso wie die von Kai vor Schreck ziemlich weit aufgerissen. Ich bemerkte, dass Lucas Augen von tiefen Rändern umrahmt waren.

Beide sahen mich an als sähen sie einen Geist. Keiner sagte einen Ton. Mir selbst war es in diesem Moment als zöge mir jemand den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte es einfach nicht fassen. Dort saß also Lucas, jener Lucas, der mir vor noch recht kurzer Zeit alles bedeutet hatte, ohne den ich glaubte nicht mehr leben zu können, und eng in seinen Armen lag Kai, jener Kai mit dem mich wirklich freundschaftliche Gefühle verbanden und wegen dem ich bis soeben noch ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich befürchtete er könnte von mir etwas erwarten, was ich ihm nicht entgegen bringen konnte. Und jetzt? Jetzt sah ich diese beiden eng aneinandergekuschelt und, da war ich mir sicher, bei einer Tätigkeit aufgeschreckt, die eindeutiger nicht sein konnte.

Ich starrte beide an. Langsam fing ich an zu zittern, mir war schlecht und ich spürte wie sich ganz allmählich eine Enttäuschung und zugleich eine Wut in mir sammelten, die mir die Tränen in die Augen schießen ließen.

Kai schien der Erste zu sein, der seine Sprache wieder fand. „Oh nein! Scheiße, Flip, das ist nicht so wie das jetzt hier aussieht. Nein, glaub mir bitte! Im Gegenteil, Flip, wir haben uns sogar gerade über dich unterhalten...“

Während Kai mich förmlich anflehte, sah mich Lucas immer noch fassungslos an. Ich hingegen kochte förmlich vor Wut, oder war es verletzte Eitelkeit?

Plötzlich entlud sich alles bei mir und ich schrie die beiden an:

„Tja, das glaube ich gern, dass ihr beiden Schlampen euch über mich unterhalten habt. Scheckig gelacht habt ihr euch wahrscheinlich über mich. Über dieses dämliche, unerfahrene Frischfleisch, welches euch so mühelos auf dem Leim gegangen ist. Was hattet ihr vor? Eine Wette oder so, wer mich als erstes flach legt? Ist Lucas deshalb abgehauen, weil ihr mich erstmal auf kleiner Flamme kochen wolltet? Erstmal spitz machen und dann sehen, wem ich als erstes auf den Leim gehe? Oder wolltet ihr beide zugleich über mich herfallen, ist doch bestimmt geil mit so ‘ner naiven Tucke, oder?“

Mir fiel auf, dass mittlerweile alle Augen im Lokal auf mich gerichtet waren. Aber dies war mit so ziemlich egal. Ich fuhr unbeirrt fort die beiden anzuschreien:

„Ach, aber wisst ihr was, ihr könnt mir beide gestohlen bleiben. Vögelt doch soviel rum wie ihr wollt, ihr beiden notgeilen Schwuchteln, aber lasst mich dabei in Ruhe, habt ihr verstanden?“

Lucas war immer noch starr vor Schreck, Kai hingegen sah mich völlig verständnislos an. Dies machte mich nun rasend.

„Kai, du scheinst ja überhaupt nichts zu kapieren, aber ich sag dir, eines Tages wirst auch du merken wie scheiße es ist, mit den Gefühlen anderer zu spielen und Lucas... „ Ich sah dabei meinen ehemaligen Weihnachtsengel tief in die Augen, dabei ausgesprochen bemüht, meine vor Wut zitternde Stimme so verächtlich wie möglich klingen zu lassen: „Lucas, noch nie hat mich jemand so dermaßen verletzt wie du. Ich wünsche ja niemanden etwas Schlechtes und auch dir wünsche ich noch recht viele perverse und geile Abenteuer. Ich hoffe, du wirst dermaßen viel vögeln und durchgevögelt werden, bis du dann irgendwann einmal jämmerlich an AIDS krepieren wirst!“

Noch immer sah ich in seine weit aufgerissenen Augen, doch in diesem Moment merkte ich, dass ich eine wunde Stelle getroffen hatte. In diesem Moment sah ich, wie etwas sehr Wichtiges zu Bruch ging. Lucas wandte sich plötzlich von mir ab und ich sah wie sein Körper von einem heftigen Zittern erschüttert wurde. War es ein leises Wimmern, was ich vernahm? Er hatte sich wieder an Kai geklammert und ich selbst war nun vollkommen verwirrt. Kai hingegen sah mich an, als könne er überhaupt nicht glauben, was er da gerade gehört hatte, und mit einem unglaublich traurigen Ausdruck in seinen hellblauen Augen sagte er dann nur: „Du Flip, ich glaube, es ist jetzt wirklich besser, wenn du gehst.“

„Ich… ich glaube…. ich glaube, du hast Recht...“, stammelte ich, drehte mich um und ging vollkommen paralysiert hinaus.

Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich kann mich weder an den Weg zur Stadtbahnhaltestelle noch an die Fahrt selbst erinnern. Auch daran, wie ich in meine Wohnung gelangte, oder wann ich mich entschloss ins Bett zu gehen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Zum ersten Mal seit dieser schicksalhaften Begegnung mit diesem verteufelten Engel, der mich einfach nicht loszulassen schien, war es mir möglich gewesen für längere Zeit an rein gar nichts mehr zu denken. Nach einem traumlosen Schlaf wachte ich schließlich auf. Es ist Montag, fiel mir ein und nachdem ich zunächst panikartig auf den Wecker schielte, es war halb acht Uhr morgens, ich noch panikartiger aus dem Bett springen wollte, fiel mir ein, dass ich ja nunmehr zwei Wochen Urlaub hatte. Urlaub, auf den ich mich sehr gefreut hatte und der mir nach diesem Wochenende nun wie eine beängstigend lange Zeit vorkam, Zeit in der ich gezwungen war, mich mit mir selbst zu beschäftigen.

Ich streckte mich, unentschlossen mich noch mal umzudrehen und weiterzuschlafen oder nun doch aufzustehen. Da bemerkte ich, dass ich wieder jenes Shirt in den Händen hielt, welches Lucas drei Nächte zuvor getragen hatte. Warum nur, dachte ich, warum nur kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Warum muss mir immer und immer wieder sein engelsgleiches Gesicht, sein teuflisches Grinsen und sein göttlicher Body erscheinen. Wieder war alles da, dieses unbeschreibliche Gefühl, dieses unglaubliche Verlangen, die sagenhaft tiefe Enttäuschung und die unbändige Wut, die ich empfand, wenn ich an ihn und an diesen Kai dachte.

Das Klingeln des Telefons erlöste mich davon, weiter nachdenken zu müssen. Ich schälte mich aus meinem Bett, stand auf und schlurfte dann in mein Arbeitszimmer. Ich starrte auf den Hörer der in seiner Ladestation steckte, innerlich hoffend, das blöde Teil würde jede Sekunde damit aufhören, durch sein nerviges Klingeln meine Aufmerksamkeit zu erwecken. Der Anrufer am anderen Ende der Leitung erwies sich jedoch als äußerst hartnäckig und so ging ich nach etlichen Sekunden, die ich vor dem Telefon verharrte, endlich ran.

„Böhm“, meckerte ich in den Hörer.

„Flip, hör bitte zu und bitte, Flip, leg nicht auf!“

Ich erschrak, als ich Kais Stimme erkannte. Ich glaubte es nicht, wie dreist konnte man eigentlich sein?

„Flip bitte, ich muss unbedingt mit dir reden, bitte!“, flehte er mich an. „Bitte, Flip, es geht um Lucas!“

Endlich fand ich meine Stimme wieder. „Ich will aber nicht mit dir reden. Und was Lucas angeht, sag ihm von mir, er kann mir gestohlen bleiben und du übrigens auch. Werdet glücklich miteinander. Und Kai, ruf mich nie wieder an, hast du verstanden? Nie wieder!!“

Während ich die ersten Sätze noch mit einer betont ruhigen, aber ebenso verächtlichen Stimme gesagt hatte, hatte ich die letzten beiden Sätze förmlich in den Hörer gebrüllt, um dann ohne auf eine weitere Antwort zu warten den Hörer in die Ladestation zu knallen. Ich zitterte. Unschlüssig blieb ich vor dem Apparat stehen, unfähig irgendeine Entscheidung zu treffen. Plötzlich riss mich ein erneutes Klingeln des Telefons aus meiner Lethargie. Ungläubig starrte ich das lärmende Teil an.

Zögerlich griff ich letztendlich zum Hörer. „Ja, wer ist da?“, meldete ich mich.

„Du Flip, bitte, hier ist noch mal Kai. Mensch Flip, glaube mir, dass fällt mir jetzt wirklich unglaublich schwer…“

„Ja, mir auch!“, brüllte ich in den Hörer. Eine unbändige Wut kroch in mir hoch. „Scheinbar rede ich ja Suaheli, sonst könnte ich dir ja wohl klar machen, dass du mich gefälligst in Ruhe lassen sollst. Mann, ich dachte, ich wäre vorhin eindeutig genug gewesen. Dann also noch mal, Mann, verpiss dich, ruf hier nie wieder an und du und Lucas, ihr beide könnt meinetwegen krepieren, mich würde es nicht im Geringsten kümmern. War das jetzt eindeutig genug?“ Ich hörte, wie Kai tief durchatmete, wartete jedoch keine weitere Antwort ab und beendete das Gespräch. Wutentbrannt suchte ich das Telefonkabel an der Ladestation und riss es dann aus seiner Anschlussbuchse. Immer noch vor Wut schäumend lief ich in mein Schlafzimmer und schmiss mich auf mein Bett.

Waren es fünf Minuten oder zehn? Vielleicht war auch bereits eine halbe Stunde vergangen. Ich wusste es nicht, doch plötzlich meldete sich mein Handy zu Wort. Scheiße, das hatte ich ja völlig vergessen. Ich konnte mir schon denken, wer dran war. Mann, ist der krank oder was? Was will der eigentlich? Entnervt drückte ich mir ein Kissen über die Ohren. Nachdem der Klingelton meines Handys zu mehreren Wiederholungen angesetzt hatte, schaltete sich endlich meine Mailbox ein. Ein kurzes Fiepen, etwa drei Minuten später, teilte mir dann auch mit, dass eine Nachricht vorlag. Dann nach weiteren fünf Minuten eine weiteres Fiepen, welches mir wohl den Empfang einer SMS meldete. Wieder drückte ich mein Kissen auf die Ohren. Dann nach weiteren fünf Minuten ein erneutes Fiepen.

„Mann, merkt der Kerl das noch?“ Völlig gereizt sprang ich auf, an Schlaf war bei meinem derzeitigen Gemütszustand ohnehin nicht zu denken. Ich überlegte kurz, dann fiel mir ein, dass sich mein Handy ja ebenfalls an einem Ladegerät und sich ebenso wie das Festnetzteil in meinem Arbeitszimmer befand. Ich ging also zurück ins Arbeitszimmer und fingerte an meinem Handy herum. Zuerst sah ich die Anzeige „Anruf in Abwesenheit“ und wie vermutet, es war Kais Nummer. Ich drückte die Meldung weg. Dann erschien die Mitteilung, dass eine Nachricht in meiner Mailbox vorlag. Ich wusste genau von wem die war, auch diese Meldung verschwand sodann im elektronischen Nirvana. Dann unterrichtete mich das Teil über den Empfang von zwei neuen SMS. Als ich diese gerade ungelesen löschen wollte, erhielt ich eine dritte. Das gleichzeitige Herumfingern an meinem Handy hatte zur Folge, dass diese Nachricht sofort auf dem Display erschien.

„BITTE FLIP, VERSUCH DEINEN VERLETZTEN STOLZ MAL FUER EINE WEILE HERUNTERZUSCHLUCKEN UND RUF MICH AN! ES GEHT UM LUCAS, DEM GEHT ES WIRKLICH RICHTIG DRECKIG UND DER BRAUCHT DICH JETZT WIRKLICH!!! LG KAI „

Mann, ich war wirklich sprachlos, was war denn das für eine Scheiße. Mensch ihr blöden Schwuchteln, macht sich eigentlich irgendeiner mal Gedanken über mich? Ihr konntet doch eure Griffel nicht voneinander lassen und wenn Lucas mich so sehr bräuchte, warum ist er dann so ohne weiteres abgehauen und hat mich wie den letzten Deppen sitzen gelassen? Kommen die eigentlich noch irgendwie klar? Ich war wirklich außer mir vor Wut, wenn es Lucas wirklich dreckig gehen sollte, was ich ehrlich gesagt ganz und gar nicht verstand, ja dann war es doch nur gerecht. Sollte er doch am eigenen Leib erfahren wie es mir erging, als er so plötzlich aus meiner Wohnung stürmte. War mir doch egal wie es ihm jetzt ging. Und Sunnyboy wie er war würde er sich doch bestimmt bald darüber hinweg helfen, er hatte ja schließlich auch noch seinen Kai.

Na, und was hatte ich? Mann, ihr kümmert euch doch alle einen Scheißdreck um mich!, dachte ich verbittert und ohne die beiden anderen Nachrichten zu lesen schaltete ich mein Handy aus und pfefferte es auf meinen Schreibtisch.

Mir ging es wirklich elend. Ich war müde, schlafen wollte ich aber auch nicht. Ich war hungrig konnte mich aber nicht aufraffen, um zu frühstücken. Ich stand dort in meinen Nachtpolten, konnte mich aber nicht dazu entschließen, zu duschen und mich dann anzuziehen. Unschlüssig stand ich im Arbeitszimmer. Mein Blick fiel plötzlich auf meinen PC. Okay, der war nicht mehr der Neueste, auch nicht unbedingt der Schnellste, hatte mich aber mein ganzes Studium lang begleitet und war wie bereits erwähnt zusammen mit dem World Wide Web ein wichtiger Partner auf meinem Weg zur inneren Selbstfindung. Ich wollte dieses Teil schon lange mal ersetzen und hatte mich dazu entschlossen, mir dieses Jahr selbst einen Laptop zu Weihnachten zu schenken. Ich hatte mir auch schon ein spezielles Gerät ausgesucht, war aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen, es zu kaufen. Sollte ich heute vielleicht? Nein, ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, jedenfalls nicht jetzt gleich. War ja auch noch ein wenig Zeit bis Heilig Abend. Jetzt wollte ich einfach nur in Ruhe gelassen werden. Ich wollte niemanden sehen und ich wollte mit niemandem reden. Wie um ganz sicher zu gehen, schlich ich zur Wohnungstür und drehte um abzusperren den Schlüssel gleich zweimal im Schloss herum. Anschließend ging ich durch die Wohnung und ließ alle Jalousien herunter. Dann ging ich zurück ins Arbeitszimmer und startete den PC. Ich wollte ein wenig im Netz surfen. War es doch erst drei Tage her, dass ich glaubte mein inneres Coming Out gepackt zu haben und zumindest scheibchenweise bereit war, auch mein äußeres Coming Out anzugehen, so stand ich nun sozusagen wieder vor dem Trümmerhaufen meines schwulen Selbstbewusstseins. Plötzlich war es wieder so wie am Anfang, ich wollte nicht mehr schwul sein, eigentlich wollte ich gar nichts sein. Also nichts mit Liebe und so. Ich wollte es einfach wieder vollkommen ignorieren, so wie in den Jahren zuvor. Ganz egal was Klein-Jan-Phillip nun auch davon halten sollte. Er ist ja auch die letzten Jahre mit den regelmäßigen Streicheleinheiten als einzige sexuelle Erfahrung ganz gut klar gekommen. Warum sollte das in Zukunft nicht auch reichen?

Während der PC bootete, brachte ich tatsächlich genügend Elan auf, um mir einen Tee zu kochen und ein paar Toastbrote zu schmieren. Der Blick in den Kühlschrank prophezeite mir dabei, dass meine Zeit als Eremit ziemlich begrenzt sein würde, vorausgesetzt ich würde zwischenzeitlich nicht damit anfangen, nur von Lust und Liebe zu leben. Lächerlich, letzteres wollte ich mir ja gerade für immer abgewöhnen. Aber für ein, zwei Tage hatte ich wohl noch genug an Vorräten im Hause, beruhigte ich mich. Ich brachte sodann mein Frühstück in das Arbeitszimmer und setzte mich an den PC. Ich startete den Browser und biss in die erste Scheibe Toast. Unschlüssig surfte ich eine Weile durch das Netz der Netze und vertilgte dabei mein Frühstück und leerte die Kanne Tee zur Hälfte.

Schließlich gelangte ich auf meine Lieblingsseite. Jene Seite mit Stories von, mit und über schwule Jungs. Und wie immer fesselte mich diese Seite sofort. Unzählige Stunden hatte ich schon auf dieser Seite verbracht. Die meisten Geschichten kannte ich schon. Zumindest jene, die als beendet gekennzeichnet waren, denn unbeendete Stories waren mir ein Graus. Schließlich wollte ich doch wissen, wie es den Helden der einzelnen Geschichten so erging und das bis zum bitteren Ende, welches zum Glück bei den meisten Stories jedoch nicht wirklich bitter war.

Viele dieser Geschichten waren dermaßen gut, dass man sie ohne weiteres auch mehrmals lesen konnte. Einige davon waren auch so richtig meine Lieblinge geworden. Ich suchte mir eine Geschichte heraus, die ich schon länger nicht mehr gelesen hatte. Diese Geschichte war in mehrere Teile gegliedert, die allein schon mehrere hundert Seiten aufwiesen. Das besondere war jedoch, das diese Geschichte wiederum ein Teil von mehreren Geschichten war und diese wiederum sogar von zwei unterschiedlichen Autoren stammten. Die Geschichten waren unglaublich gut geschrieben und die allen Geschichten übergeordnete Story sehr intelligent und spannend. Kurzum, sie versprachen sehr gute Unterhaltung bei einem Thema, welches mich, ob ich es jetzt wollte oder nicht, nun einmal ständig beschäftigte, nämlich das Anderssein, das Schwulsein, um es beim Namen zu nennen. Ich konnte mich noch sehr genau erinnern, wie ich diese Geschichten zum ersten Mal las und wie sehr diese mich beeindruckt hatten.

Auch dieses Mal war ich gefangen von dieser eigenen, geheimen Welt, meiner Welt. Förmlich süchtig sog ich eine Geschichte nach der anderen auf. Nur kurz unterbrochen durch die notwendigsten Verrichtungen und sehr spät am Abend, oder war es schon früher Morgen, fiel ich, nachdem ich es geschafft hatte das entscheidende Knöpfchen am PC zu drücken, mit brennenden Augen ins Bett. In dem leichten Schlaf, der folgte, durchlebte ich die Geschichten noch einmal, nur gestört durch die immer wieder auftretenden „Gastspiele“ von Lucas und Kai. Als ich endlich am späten Mittag aufwachte, konnte ich mich jedoch an keine Details erinnern. Ich stand auf, und nachdem ich mir ein schnelles Frühstück gezaubert hatte, setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch und startete den PC. Schnell war ich wieder in meiner Welt und konnte so die wahre Welt um mich herum vergessen. Ich konnte mit meinen Helden mitfiebern, mitlieben und mitleiden, ohne selber Schaden zu nehmen. So verging auch der zweite Tag in meinem selbst gewählten Exil.

Es war an Tag Nummer drei, als ein knurrender Magen und ein leerer Kühlschrank mich zu der Überzeugung brachten, dass es für Diogenes allerhöchste Zeit war seine Tonne zu verlassen. Ich schlurfte also zunächst ins Bad, dort angelangt blickte ich vorsichtig in den Spiegel und erschrak. Ein ungekämmtes mit Bartstoppeln übersätes Etwas sah mich an. Ich hob einen Arm und schnupperte vorsichtig an dem Shirt, welches ich jetzt schon drei Tage trug. Müffeln war wohl eine ausgesprochen gut gemeinte Umschreibung dessen, was ich nun da gerade wahrnahm. Okay, dachte ich, Schluss jetzt mit der Einsiedlerei und ab unter die Dusche!

Gesagt, getan. Eine gute halbe Stunde später stand ein frisch geduschter, frisch rasierter und frisch Zähne beputzter Jan-Phillip Böhm in seinem Schlafzimmer und suchte sich saubere Klamotten aus seinem Schrank. Während ich mich anzog, dachte ich über die letzten beiden Tage nach. War eigentlich schön blöd, seinen Urlaub so zu vergeuden. Andererseits hatten das sich Zurückziehen und das Lesen dieser vielen guten Geschichten mir auch mal wieder richtig gut getan. Na, und vermisst hat dich ja schließlich auch keiner. Nicht ein einziger Anruf in der letzen Zeit, dachte ich. Ach du Scheiße, fiel mir plötzlich ein, die Telefone! Die hatte ich ja beide ausgeschaltet. Nachdem ich mich fertig angezogen hatte, ging ich rüber in mein Arbeitszimmer und aktivierte erst einmal die beiden Telefone. Da ich keinen Anrufbeantworter besaß, konnte ich natürlich auch nicht feststellen, ob mich jemand über Festanschluss zu erreichen versucht hatte. Bei meinem Handy sah es da etwas anders aus. Zwar waren hier keine neuen Nachrichten auf der Mailbox eingegangen, dafür zeigte mir das Symbol eines Briefumschlages auf dem Display jedoch an, dass ich eine oder mehrere neue SMS bekommen hatte.

Ich öffnete den Ordner und mir blieb erst einmal die Spucke weg! 32 neue Nachrichten, war dort zu lesen! Ich scrollte durch die Liste und glaubte es fast gar nicht. Alle waren sie von Kai. Ja, spinnt der jetzt total? Die letzte Nachricht von ihm war gerade mal ‘ne Stunde alt. Mann, also wirklich, der ist ja wirklich krank. Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen. Was ist, wenn der so ‘ne Art Stalker ist? Mann, hatte ich nicht schon Probleme genug? Nicht auch noch so einen Scheiß. Die SMS löschen wollte ich erstmal nicht, lesen jedoch auch nicht. Ich beschloss die ganze Sache zunächst einmal zu ignorieren. Kopfschüttelnd steckte ich das Handy in die Jackentasche. Da mir zuvor ein Blick aus dem Fenster klar gemacht hatte, dass es draußen heute außerordentlich kalt sein würde, verzichtete ich dieses Mal nicht auf meine Mütze, besonders dicke Handschuhe und ein besonders flauschiger Schal komplettierten meine Ausrüstung für die geplante Expedition in die Stadt. Immer noch innerlich kopfschüttelnd über die Hartnäckigkeit von Kai verließ ich zunächst mein Wohnung und dann das Haus.

Draußen angekommen schlug mir eine bittere Kälte entgegen. Irgendwie hatte sich dieser Winter wohl dazu entschlossen alle Kälterekorde zu brechen. Ich schulterte meinen Rucksack, den ich für meine Einkäufe mitgenommen hatte, und stapfte Richtung Stadtbahnhaltestelle. Zwar nervte mich die Kälte kolossal, wie schon erwähnt war ich dabei, so langsam aber sicher zu einem ausgewiesenen Frostköttel zu mutieren, andererseits versprachen der Schnee und diese Temperaturen eine weiße Weihnacht. Und das war natürlich ein absolutes Highlight für mein romantiksüchtiges Gemüt. Liebeskummer hin oder her. Tja und zack, da war er auch schon wieder, mein Gedanke an Lucas. Sollte mich dieser Kerl nun wirklich mein ganzes Leben lang verfolgen? Ich beschloss meine Stimmung mit der Aussicht auf einen Glühwein zu heben, was mir dann auch so einigermaßen gelang. In der Stadt angekommen begann ich zunächst die nötigen Einkäufe zu tätigen. Danach bummelte ich gelassen durch die Stadt, vorbei an den vielen hell erleuchteten Schaufenstern. Mittlerweile war es schon wieder dunkel geworden. Eine Weile lang versuchte ich mich noch durch die Auslagen in den Schaufenstern für die noch von mir zu besorgenden Weihnachtsgeschenke inspirieren zu lassen, was mir jedoch nicht wirklich weiter half. Schließlich steuerte ich den Weihnachtsmarkt in der Altstadt an. Auf dem Weg dorthin kam ich an der riesigen Weihnachtspyramide in der Mitte der Fußgängerzone vorbei. Dies gab mir dann doch einen gewaltigen Stich durch mein Herz. Waren es doch erst ein paar Tage her, dass ich dort…. Nein!, befahl ich mir. Dadurch lässt du dich jetzt nicht herunterziehen und ging entschlossen weiter Richtung Altstadt.

Obwohl ich auf dem Weihnachtsmarkt keine bekannten Gesichter traf, blieb ich gut zwei Stunden auf dem Markt. Die vielen Stände regten letztlich doch noch meine Fantasie an und ich fand schließlich einige der Geschenke, die ich für Weihnachten suchte. Diese Erfolge belohnte ich dann mit einigen Glühweinen und erst als der voll gepackte Rucksack begann unangenehm auf meinen Schultern zu drücken, machte ich mich endlich auf den Heimweg. Aus dem dichten Gedränge des Marktes trat ich nun auf die zu diesem Zeitpunkt schon etwas geleerte Fußgängerzone. Hier merkte ich sofort, dass die Temperaturen wohl noch einmal einen gehörigen Satz nach unten gemacht hatten. Schnellen Schrittes eilte ich daher Richtung Bahnhof und dann unter diesem hindurch Richtung Stadtbahn. Keine zehn Minuten später verließ ich die Bahn wieder und machte mich mit meinen Einkäufen auf den Weg zu meiner Wohnung. Als ich die Straße vor unserem Häuserblock überquerte, sah ich sie bereits und erschrak. Eine dunkle Gestalt kauerte vor unserer Haustür. Der Gehweg entlang unserer Straße führte quasi unter unserem Haus hindurch. Dies war möglich, weil die untere Etage, welche mehrere Geschäfte und sogar ein Bank beherbergte, etwas zurück sprang. Die Wohnungen darüber bildeten somit eine Art Arkade. Dieser Schutz vor Regen oder anderen Unbilden des Wetters wurde nachts, zumeist zur Frühlings- oder Sommerzeit, von einigen Obdachlosen oder auch erschöpften Nachtschwärmern dazu genutzt, um dort zu übernachten. Dies hatte mir der Hausmeister erklärt, als ich vor einem Monat einzog. Das sei zwar ein wenig ärgerlich, sagte er noch, doch wären diese ungebetenen Gäste in der Regel recht harmlos und am nächsten Morgen meistens auch wieder verschwunden. Ich sollte mich also nicht erschrecken, wenn ich einmal einen dieser „Übernachtungsgäste“ vor der Tür antreffen sollte. Dass es sich aber bei diesen Temperaturen jemand vor unserer Haustür „bequem“ machen würde, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Mit größter Vorsicht näherte ich mich also der Haustüre, den Blick fest auf die davor kauernde Gestalt gerichtet. Ich sah, wie diese die Jacke über den Kopf gezogen hatte und die Hände darunter hielt, um sie zugleich zu reiben und warm zu pusten. Dabei zitterte die Gestalt am ganzen Körper. Ich war unsicher, ich wusste nicht wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Sollte ich vielleicht meine Hilfe anbieten oder doch besser nicht? Ich entschied mich für den berühmten Schritt nach vorn.

„Äh….. Ähm... Hallo, kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, fragte ich. Die schlotternde Gestalt sah plötzlich auf, die Jacke rutschte etwas zurück und ich sah in das nahezu blau gefrorene Gesicht von Kai!

Ich war ziemlich geplättet. Mann, das war jetzt aber wirklich ’ne harte Nummer. Was dachte sich der Kerl denn eigentlich? Erst macht er mich an, flirtet sogar mit mir, dann spannt er mir meine große Liebe aus, um mich danach mit seinen Anrufen und SMS zu verfolgen, und jetzt lauert er mir auch noch vor meiner eigenen Haustür auf. Ich bekam kurzzeitig einen Panikanfall. Ist der vielleicht nicht ganz richtig im Kopf, sollte ich jetzt nicht besser laut schreiend weglaufen? Man hat ja schließlich schon soviel schlimmes Zeug gelesen oder auch gehört. Vielleicht ist er ja so ein völlig durchgeknallter Stalker. Man bedenke schließlich die Temperaturen und der sitzt hier und wartet stundenlang in dieser Kälte auf mich. Sollte ich jetzt nicht besser die Polizei rufen, dachte ich noch so bei mir. Letztlich entschied ich mich jedoch dazu, ihn einfach nur wie blöde anzustarren.

„Wwwww… hhhey Fffflip, ttschuldige, dass ich ddir hier einfffach so auflauere. Abbber bbittte, Fffflip, ich muss mit dir reden. Bitte es ist... wwww…. wirklich sehr, sehr wichtig. Es geht…www… um Lucas... Flip, hör mir bitte zu.“

Das wie Espenlaub zitternde Bündel vor mir sprach mich an und riss mich dabei aus meinen Gedanken. Sein flehender Blick, seine schlotternden Zähne…, es half nichts, meine ganze Wut, meine ganze Enttäuschung waren einfach verschwunden. Vor mir sah ich plötzlich nur noch einen verzweifelten und unglaublich niedlichen Jungen, der mich jämmerlich frierend mit unglaublich ernstem und zugleich unsicherem Blick ansah. Um wenigstens noch einen Rest meines verletzten Stolzes zu retten, bemühte ich mich um einen möglichst kühlen Blick und versuchte genauso bemüht gelangweilt zu antworten.

„Okay Kai, ich wüsste zwar nicht im Geringsten, was du mir noch zu sagen hättest. Und ich habe dir doch schon mehrfach zu verstehen gegeben, dass ihr mir beide gestohlen bleiben könnt. Aber anscheinend werde ich dich ja so einfach nicht los. Aber wenn wir schon reden müssen, dann nicht hier in der Saukälte. Ich friere mir hier nämlich langsam den Ar…. ab und außerdem kannst du, glaube ich, auch ein wenig Wärme vertragen. Ich will schließlich nicht Schuld daran sein, wenn dein Lucas wegen einer Lungenentzündung zum Witwer wird. Wäre doch schade um ein solch schönes Paar.“

Sah mich Kai zunächst recht dankbar an, merkte ich doch, wie er bei meinem letzten Satz sehr traurig in sich zusammen sackte. Okay, diese letzte Bemerkung von mir war schon so ziemlich unterstes Niveau und irgendwie wollte sich der Triumph, den ich mir damit erhofft hatte, nicht so wirklich einstellen.

„Na los, Kai, komm schon rein“, versuchte ich nun wieder auf ihn zuzugehen. „Wärm dich erstmal auf, und dann sag mir das, was du meinst mir sagen zu müssen.“

Ich schloss die Haustür auf und wartete auf Kai, der sich recht schwerfällig und vor Kälte immer noch unkontrolliert zitternd erhob. An der Tür angekommen schob ich ihn in das Treppenhaus. Ich schloss hinter ihm die Tür und sofort umgab uns die wohlige Wärme des geheizten Flures. Dies hatte jedoch auf Kai einen recht unglücklichen Effekt. Er musste ja Stunden draußen vor meiner Tür verbracht haben und das bei dieser Kälte. Der plötzliche Temperaturwechsel löste nun bei ihm den schlimmsten Hustenanfall aus, den ich je miterlebt hatte.

Kai hustete, was das Zeug hielt, er krampfte und zitterte, kalter Schweiß stieg auf seine glühend heiße Stirn. Wahnsinn, dachte ich, der holt sich ja glatt den Tod und das nur, weil er mit mir sprechen will?

Beherzt packte ich ihn bei seinen Schultern, von meinem verletzten Stolz war nun nichts mehr übrig. Ich trieb ihn die Treppe hoch zu meiner Wohnung, gleichzeitig stützend, da ihn die Anstrengung des nicht abreißen wollenden Hustenanfalles in die Knie gehen ließ.

„Mensch Kai, was machst du nur für ’nen Scheiß!“, sagte ich, als ich schließlich die Wohnungstür öffnete und ihn in den Flur meiner Wohnung schob. „Pass auf, ich lass dir jetzt ein warmes Erkältungsbad ein, du pellst dich derweil aus deinen klammen Klamotten und verschwindest dann für die nächste halbe Stunde im Bad zum Auftauen. Währenddessen mach ich uns ’ne leckere heiße Schokolade, heize das Wohnzimmer ein und dann können wir meinetwegen das besprechen, was du mir unbedingt sagen willst. Mann, was in aller Welt, kann denn so wichtig sein, dass du mir förmlich auflauerst? Da muss es ja um Leben und Tod gehen, wenn du dir feiwillig benahe eine Lungenentzündung einfängst. Übrigens, tut mir Leid wegen dem blöden Spruch von vorhin, aber ich bin einfach immer noch sehr verletzt, wegen der Sache vom letzten Wochenende.“

Kai sah mich zwischen zwei seiner Hustenattacken an, er nickte, um mir zu verstehen zu geben, dass er meine Anweisungen verstanden hatte, war aber scheinbar noch nicht in der Lage zu antworten. Stattdessen folgte er mir ins Bad. Während ich das Wasser einließ, begann er, wie von mir vorgeschlagen, seine Sachen auszuziehen. Ich organisierte ihm in der Zwischenzeit Handtücher, einen Bademantel und warme, trockene Unterwäsche von mir.

Wenn das noch öfter vorkommen sollte, dachte ich so bei mir, mich plötzlich an eine ähnliche Situation erinnernd, die ja noch gar nicht so lange zurück lag, dann sollte ich mir wirklich mal so eine Art Gästenotfall-Set anschaffen. Ich schmunzelte, Mann, ist doch wirklich verrückt, da bist du schwul und Single und jeder Junge, der dich in deiner neuen Wohnung besuchen kommt, landet sofort bei dir unter der Dusche oder in der Wanne. Danach läuft er dann auch noch in deiner Unterwäsche rum und trotz allem bist du immer noch Jungfrau!

Ich seufzte und ging dann mit den Sachen unterm Arm zurück ins Bad. Kai war inzwischen bis auf seine Boxershorts ausgezogen. Zitternd stand er etwas unschlüssig mitten im Bad. Ich sog die Luft ein. Wow, dachte ich, was für ein Body! Seine blonden Haare, die strahlend blauen Augen, der sportlich durchtrainierte, aber gottlob nicht protzig muskelbepackte Körper, der zudem ein leichte sommerliche Bräune bewahrt hatte, verschlugen mir glatt die Sprache. Kai sah mich etwas unschlüssig an und nachdem wir so eine Weile standen und ich merkte, dass Kai trotz der von mir auf Anschlag gedrehten Heizung weiter wie Espenlaub zitterte, fanden Mund und Kehlkopf dann doch wieder Kontakt zu meinem Sprachzentrum.

„Also Kai, hier sind trockene und warme Klamotten. Deine eigenen Sachen hänge ich derweil in der Küche über die Heizung. Wenn du magst, backe ich eben noch schnell einen Kuchen auf und dann können wir uns im Wohnzimmer bei Kuchen und Schokolade aufwärmen und unterhalten. Muss dir ja wirklich wichtig sein. Ich hoffe, es ist nicht wegen dir und Lucas, oder hat er dich mittlerweile auch so versetzt wie mich? Wenn ja, können wir uns ja beide gegenseitig trösten. So als Leidensgenossen.“ Letzteres sollte eigentlich ein Scherz sein, um ein wenig das Eis zwischen uns zu brechen. Die Reaktion, die ich Kais entgleisten Gesichtzügen entnehmen konnte, zeigte mir jedoch, dass dieser Versuch mächtig in die Hose ging.

„Flip, danke, dass du nun doch mit mir sprechen willst„, sagte er schließlich gequält, und das nicht nur, weil er jedes Wort zwischen den immer noch anhaltenden Hustenattacken herauspresste. „Und entschuldige auch bitte für den ganzen Umstand, den ich dir jetzt auch noch mache, aber ich wusste nicht, wie ich dich sonst dazu bringen konnte mir zuzuhören. Aber lass bitte deinen Zynismus. Mir ist das hier wirklich wichtig. Ja, es geht um Lucas. Aber anscheinend kapierst du wirklich gar nichts. Wie denn auch? Aber glaube mir, ich mache mir schreckliche Sorgen. Mann Flip, ich habe tierische Angst um ihn!“

Eine weitere Hustenattacke unterbrach die weiteren Ausführungen. Ich hingegen wurde kreidebleich. Kais verzweifelter Gesichtsausdruck und sein flehender Ton ließen keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit dessen, was er mir da sagte. Was war nur los? Was war mit Lucas? Was kapierte ich da nicht? Panik, nackte Panik stieg in mir auf.

Aber es half nichts. Zunächst musste Kai erst einmal wieder zu einer einigermaßen normalen Verfassung gelangen und dazu musste er erst einmal in das warme Bad. Ich riss mich also zusammen, nickte Kai noch mal aufmunternd in Richtung der Wanne mit dem dampfenden und schäumenden Wasser zu und verließ, Kais klamme Klamotten im Arm, das Bad.

Während ich nun die nächste halbe Stunde abwechselnd im Wohnzimmer und in der Küche werkelte, vollzog sich tief in mir drin eine seelische Achterbahnfahrt. Was war denn nun tatsächlich zwischen Kai und Lucas? Waren sie wirklich ein Paar? Hatte Lucas mich nur benutzt, als so eine Art Appetithäppchen für zwischendurch? Und warum machte sich Kai nun solche Sorgen? Tja, und dann war da immer noch die Frage, warum ich nicht aufhören konnte an Lucas zu denken. War ich wirklich immer noch in ihn verliebt? Warum sonst hatten mich Kais Andeutungen über Lucas dermaßen in Panik versetzt?

Ich saß mittlerweile vollkommen aufgelöst im Wohnzimmer. Hatte den Tisch gedeckt, einige Teelichter angezündet und wartete angespannt darauf, dass Kai nun endlich das Bad verließ. Was für eine komische Situation, dachte ich, als mein Blick so durch das Zimmer schweifte. Ich hatte das Licht gedämpft, der frisch aufgebackene Kuchen stand auf dem Couchtisch, daneben die Kanne mit dem dampfenden Kakao. Leise Musik aus meiner Stereoanlage im Hintergrund und die im Zimmer verteilten Teelichter ließen irgendwie etwas ganz anderes vermuten als die bevorstehende Aussprache zweier Konkurrenten um ein- und dasselbe Herzblatt. Es war schon verrückt, eigentlich als Ablenkung gedacht, hatte ich ganz unbewusst meine Bude in eine Kuschelecke für eine mögliche Romanze verwandelt. Gerade als mir dies bewusst wurde und ich aufstehen wollte, um das Ganze doch ein wenig unverfänglicher zu gestalten, hörte ich wie die Tür zum Bad geöffnet wurde. Nur ein paar Sekunden später kam Kai auch schon ins Wohnzimmer. Abermals blieb mir die Luft weg. In der Tür stehend rubbelte er sich seine Haare trocken. Er hatte auf das Shirt, welches ich ihm hingelegt hatte, verzichtet und nur die ebenfalls bereitgelegte Retro angezogen. Der geöffnete Bademantel lag locker über seinen wohlgeformten Schultern. Ich konnte mich gar nicht satt sehen an dieser ausgesprochen hübschen Erscheinung. Seine athletische Brust glänzte noch leicht von der Restfeuchte des Bades. Brust und Beine war vollkommen unbehaart, nur eine kleine, erst auf den zweiten Blick sichtbare Spur blonder Haare verschwand verführerisch vom Bauchnabel kommend in den Bund der Retro bei der sich eine unglaublich wohlgeformte Wölbung abzeichnete. Ich spürte förmlich wie mir der Sabber am Kinn herunter lief. Mann, mit ihm und Lucas einen flotten Dreier, wow das wär’s, war momentan der einzige Gedanke, der durch mein krankes Hirn geisterte.

Mein Gott Flip!, dachte ich plötzlich. Ich glaub es einfach nicht. Was ist mit dir los? Da machst du vor ein paar Tagen voll die Szene, nur weil dich dein Lover, den du nebenbei bemerkt erst ein paar Stunden kanntest, scheinbar betrügt, und jetzt träumst du plötzlich von wildem Sex mit eben diesem Lover und zugleich auch noch mit genau dem Typen mit dem dich dein Engel ja wohl augenscheinlich betrogen hat. Hey Flip, sag mal geht’s denn wohl noch? Sind denn alle Schwule nur krank?! Denken die denn immer nur an Sex?!

Diese Gedanken brachten mich schließlich wieder zurück auf die Erde und zurück in mein Wohnzimmer in dessen Tür nun immer noch ein mittlerweile etwas unschlüssig dreinblickender Kai stand.

„Mensch Kai, komm her. Nimm dir diese Decke hier und pack dich damit ordentlich warm ein und dann greif erst mal tüchtig zu, damit du wieder zu Kräften kommst“, ordnete ich in einem bestimmenden Ton an, auch um mich selbst wieder zur Raison zu bringen.

Kai nahm die vom mir angebotene Decke, wickelte sich darin ein. Schade, dachte ich noch, als sein megageiler Körper unter dem dicken Tuch verschwand und setzte sich dann mir gegenüber in einen der Sessel meiner Ledergarnitur. Während er sich also einrichtete, goss ich uns die heiße Schokolade ein und verteilte anschleißend an uns beide etwas von dem aufgebackenen Apfel-Zimt-Kuchen. Immer noch hatte Kai keinen Ton gesagt, sondern guckte nur etwas unschlüssig durch den Raum.

Während ich mich nun wieder auf die Couch fläzte, brach er endlich sein Schweigen:

„Also Flip, erst nochmals danke für alles! Aber sag mal, erwartest du noch jemanden? Wenn ja, dann mache ich auch schnell. Schließlich will ich dich wirklich nicht stören oder so.“

„Äh, was meinst du denn damit?“, antwortete ich ausgesprochen geistreich.

„Na ja, wegen der Lichter und der Musik und so. Ich meine ja nur, wenn du heute noch was vorhast, sag es mir bitte.“

„Ach so“, ich schlug mir mit der flachen Hand vor die Stirn und lächelte etwas verlegen. „Nein, nein, schon gut, ich wollte es uns einfach nur ein wenig gemütlich machen. Ähm, erst kurz bevor du dann aus dem Bad kamst ist mir dann aufgefallen, dass es vielleicht etwas ZU gemütlich ist. Wenn du willst, kann ich auch gerne das große Licht anmachen.“

„Ach so, nein lass mal, ist schon recht so. Ich dachte halt nur. Weißt du, ich will dir nämlich echt nicht zur Last fallen, aber mir ist das Gespräch mit dir wirklich sehr wichtig, vor allem auch wegen Lucas.“

„Okay, aber bevor wir loslegen greif erst mal richtig zu. Dein Husten und Zittern ist ja anscheinend vorbei. Ich hoffe nur, du hast kein Fieber oder so? Zeig mal!“

Instinktiv legte ich meine flache Hand an seine Stirn. Er zuckte etwas zurück, hielt mir dann aber seine Stirn wieder hin. Es war zwar kein Fieber, was ich spürte, doch etwas anderes löste diese Berührung aus, ein Kribbeln. Nicht Stromstöße wie die, welche ich bei einem ganz bestimmten Engel verspürt hatte, aber dennoch ein ganz eigenartiges, wohliges Kribbeln, welches sich zunächst durch meine Fingerspitzen kommend über meine Hand, weiter durch meinen Arm und dann über den ganzen Körper ausbreitete. Nach einer Weile, es konnte auch eine Stunde gewesen sein, zog ich meine Hand wieder weg.

Leicht irritiert sah Kai mich an.

„Okay, Fieber hast du anscheinend nicht. Zum Glück!“, versuchte ich die Situation zu retten. „Also dann ran an die Bouletten, oder besser gesagt den Kuchen. Wenn du da stundenlang gesessen hast, musst du ja jetzt gewaltigen Kohldampf schieben.“

Zögernd griff Kai zunächst zu dem Stück Kuchen und probierte.

„Mhmm, schmeck gut, selbst gemacht?“, fragte er schmatzend mit leicht gefüllten Backen und biss dann herzhaft erneut in sein Stück Kuchen hinein.

„Nö, nur aufgebacken“, antwortete ich. „Aber ich finde, der passt ganz gut zur Jahreszeit.“

„Jau, da haste Recht“, antwortete Kai und griff zu seinem Becher mit der heißen Schokolade.

„Hey pass auf!“, rief ich, entgeistert sah Kai mich an.

„Häh? Was is’n los mir dir?“, fragte er.

„Ach nichts, ich wollte nur sagen, dass der Kakao ziemlich heiß ist. Nicht, dass du dir noch die Schnute verbrennst.“

„Ach so“, antwortete Kai erleichtert und pustete vorsichtig in seinen Becher. „Ne, Schnute verbrennen ist nicht so gut, das hast du ja schon besorgt am letzen Wochenende, wenn ich das jetzt mal so sagen darf.“

„ Okay, okay“, erwiderte ich. „Mit Smalltalk willst du dich wohl nicht lange aufhalten, oder? Na, dann kommen wir also gleich zur Sache. Gut, ich gebe zu, einiges von dem, was ich da so gesagt habe, war vielleicht nicht so ganz in Ordnung. Aber ich war ziemlich verwirrt und auch ziemlich verletzt. Schließlich war es ja nicht ich, der Lucas sitzen lassen hat. Und es war auch nicht ich, der sich dann in deine Arme geworfen hat. Mann, das hat mich wirklich doppelt schwer getroffen, denn eigentlich mag ich dich nämlich ziemlich gern.“

Uups, Mann, kann ich nicht einfach mal meine Klappe halten? Der letzte Satz, den hatte ich zwar gedacht, aber raus sollte der eigentlich nicht. Kai sah mich ziemlich merkwürdig an.

„Meinst du das jetzt wirklich ernst?“, fragte er.

„Tja, äh, na ja, schon“, stotterte ich. „Ne, wirklich Kai, du bist mir schon ziemlich sympathisch. Deshalb war ich ja auch so gekränkt, als ich euch beide sah… Ähm…. also Kai, jetzt sag mal, wie lange seid ihr beide, du und Lucas, denn schon zusammen? Und ist das für Lucas normal, dass er sich ab und an auch mal dazwischen so einen Typen wie mich gönnt? Und wie stehst du überhaupt dazu?“

So, jetzt war es raus, alles, was mich die letzten Tage so beschäftigt hatte, stand nun als große Frage im Raum. Kai sah mich lange und eindringlich an, sein Gesicht verriet in keinster Weise, was er dachte. Ich platzte schier vor Neugier und zugleich schämte ich mich dafür, ihm meine Gefühle so plump an den Kopf geworfen zu haben.

„Flip, sag mir bitte eins, liebst du Lucas wirklich?“, brach er plötzlich das Schweigen.

Ich sah ihn ungläubig an, von allen Antworten, von allen Fragen war dies nun das Letzte, was ich erwartet hatte.

„Äh, tja, wie soll ich das jetzt sagen„, ich suchte nach den richtige Worten. “Ja, Kai, ich liebe ihn. Ich kann nicht sagen, warum ich das weiß, schließlich habe ich da keinerlei Erfahrung, aber ganz tief in mir drin bin ich mir so sicher, dass ich ihn wirklich liebe. Vom ersten Moment an, als ich ihn sah, war es irgendwie um mich geschehen und seitdem geht er mir einfach nicht aus dem Kopf und aus meinem Herzen schon gar nicht.“

Ich sah Kai direkt an, als ich zu ihm sprach. Keine Regung war zu sehen, nichts, was darauf hindeutete, wie er meine Antwort aufnahm.

„Und Kai„, fragte ich schließlich vorsichtig, „was ist mit dir? Liebst du ihn auch?“ Wie eine Faust umklammerte die Angst vor seiner Antwort mein vor Aufregung pochendes Herz. Es schienen Stunden zu vergehen, bevor Kai antwortete.

„Ja, Flip ich liebe in auch!“

Es war, als würde eine Welt zusammenbrechen. Tief in mir drin hatte ich immer gedacht, ja innig gehofft, die beiden hätten nur ein lockeres Verhältnis wie das bei Schwulen in diesem Alter so üblich zu sein schien. Einfach eine lockere Beziehung, Sex halt. Ich hatte gedacht, vielleicht, wenn ich erst einmal mit mir selbst im Klaren gewesen wäre, hätte ich Lucas vielleicht zurück erobern können. Aber so?

„Und Lucas?“, meine Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern. „Lucas, liebt er dich auch?“

Ich wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. Schließlich kannte ich sie schon und doch wollte ich sie nicht wahrhaben.

„Ja, ich denke schon.“ Kai sah mir direkt in die Augen, als er dies sagte. Für mich war es jetzt einfach zuviel. Ich spürte, wie sich die ersten Tränen ihren Weg bahnten.

„Verdammt Kai, das tut halt einfach so weh! Und wie lange seid ihr schon zusammen?“ Eigentlich wollte ich es ja gar nicht wissen.

Kai stand auf, wickelte sich aus seiner Decke, raffte den Bademantel um seinen Körper und setzte sich neben mich auf die Couch. Ich sah ihn mit tränenverschleierten Augen an.

„Hier nimm das“, er reichte mir eine der Servietten, die ich auf den Tisch gelegt hatte. “Putz dir erst einmal die Tränen aus deinem süßen Gesicht. Die stehen dir nämlich gar nicht. Und dann hör mir einfach mal zu.“

Er sagte dies ganz zärtlich. Seine Nähe war mir keinesfalls unangenehm und ich erwischte mich dabei, wie ich mir plötzlich wünschte, dass er seinen Arm um mich legen würde.

Kai tat jedoch nichts dergleichen, sondern lehnte sich so an das Ende der Couch, dass wir uns ansehen konnten, dann begann er:

„Also Flip, ja es stimmt, Lucas und ich wir lieben uns, und das schon eine lange Zeit, aber nicht so wie du das denkst!“

Ich blickte erstaunt auf.

„Zugegeben, Lucas und ich, wir hatten mal etwas miteinander. Aber das war ganz zu Anfang und auch nur sehr kurz. Genau genommen nur eine Nacht.“

Mein Gesicht schien ein einziges Fragezeichen zu sein, denn plötzlich musste Kai lachen.

„Ach entschuldige Flip, das muss ja furchtbar für dich sein, wenn ich so in Rätseln darüber spreche. Also kurz und knapp, Lucas und ich, wir sind nicht zusammen, wenn du das befürchtest.“

Wirklich aufatmen konnte ich nicht. Kai merkte das anscheinend und fuhr fort:

„Lucas ist für mich mehr der Bruder, den ich nie hatte, und ich bin für ihn glaube ich der Bruder, den er sich immer gewünscht hatte. Und seine Mutter und auch Thomas, ja genau, dein Arbeitskollege Thomas, sind die Familie, die ich schon seit langem nicht mehr habe.“

Bei dem letzten Satz legte sich wieder ein Schatten über Kais Gesicht, so wie schon einmal, damals als ich ihn im Cocido beiläufig auf seine Eltern ansprach.

„Du siehst also, Flip, es gibt keinen Grund auf mich eifersüchtig zu sein.“

„Tja, aber der Abend im Cocido, als wir uns treffen wollten, und vorher als Lucas so plötzlich verschwunden war, ich verstehe das alles nicht.“

„Hmm, also ich gebe zu, das ist alles auch ein wenig verwirrend. Ich denke, ich sollte dir einfach alles erklären, auch wenn Lucas mich wahrscheinlich erwürgen wird, wenn er das erfährt. Vor allem, wenn er erfährt, dass ich dir alles erzählt habe. Aber Flip, bevor ich anfange, will ich dir noch zwei Dinge sagen.“

Erwartungsvoll sah ich Kai an.

„Flip, eins kann ich dir versprechen, Lucas liebt dich genauso sehr wie du ihn. Die ganzen letzten Tage hat er nur von dir gesprochen und es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn so leiden sehen. Und Flip, das andere ist, ich habe eine verdammte scheiß Angst um ihn. Flip, glaub mir, Lucas braucht uns jetzt beide. Ich weiß nicht, was mit ihm geschieht oder was er machen wird, wenn wir jetzt nicht beide für ihn da sind!

Ich sehe, dass dich das jetzt noch mehr verwirrt hat, also will ich jetzt mal von vorne beginnen.

Also, ich kenne Lucas jetzt schon seit nunmehr genau drei Jahren, es war etwa um diese Zeit kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag, ich war gerade achtzehn geworden und von zu Hause rausgeflogen, als wir uns über den Weg liefen. Und Flip, eins kann ich dir versichern, wenn Lucas damals nicht gewesen wäre, gäbe es mich bestimmt nicht mehr.

Wie schon gesagt, war ich gerade achtzehn Jahre alt geworden und zur Feier des Tages von meinem Erzeuger vor die Tür gesetzt worden. Der hatte nämlich heraus gekriegt, dass sein einziger Sohn schwul ist, und konnte das natürlich nicht auf sich und seiner Familienehre sitzen lassen. Nachdem er sich also zunächst einmal Mut angetrunken hatte, hat er mich vor den Augen meiner Mutter und meiner kleinen Schwester zusammengeschlagen und mich dann samt meiner paar Habseligkeiten vor die Tür gesetzt. Meine Mutter hat sich nicht getraut auch nur irgendetwas zu machen, vielleicht war sie aber auch nur genauso angeekelt von ihrem schwulen Sohn wie mein Erzeuger. Meine kleine Schwester war damals elf Jahre alt und hat wohl die Welt nicht mehr verstanden. Sie ist die Einzige, die ich immer noch schwer vermisse. Aber ich habe Angst, dass mein Erzeuger ihr irgendetwas antun könnte, wenn ich sie treffen würde. Daher habe ich schweren Herzens jeden Kontakt abgebrochen.“

Mit weit aufgerissenen Augen hörte ich zu, wie Kai ziemlich kühl und distanziert von dieser menschlichen Katastrophe berichtete.

„Meine Güte Kai, das ist schon ziemlich krass“, entkam es mir schließlich. “Ich hatte schon vermutet, dass irgendwas nicht stimmt, damals, als ich von Eltern sprach, die das Studium ihrer Kinder nicht finanzieren können. Aber dass es so hart für dich ist, Mann, das habe ich natürlich nicht geahnt.“

„Ja, war schon ein ziemlicher Hammer für mich, eben noch der liebe Sohn und ganze Stolz meines Erzeugers und dann das. Weißt du, ich war mir damals selbst erst seit kurzem darüber im Klaren, dass ich halt etwas anders ticke. Ich hatte mich nämlich unsterblich in unserem Jahrgangsschönling verliebt. Hendrik hieß er und war wirklich ein Traumboy und das größte Arschloch unter der Sonne, wie sich für mich leider erst später herausstellte. Um es kurz zu machen, dieser Hendrik kam irgendwann dahinter, dass ich ziemlich verschossen in ihm war, nutzte das und mich ziemlich aus und sorgte dann schließlich auf einer ziemlich linken Tour dafür, dass alle Welt erfuhr, dass ich schwul bin. Das blieb dann natürlich auch meinem Erzeuger nicht verborgen und pünktlich zu meinem Achtzehnten war ich dann reichlich ramponiert und obdachlos.

Tja, und dann hatte ich doch noch Glück. Lucas stolperte im wahrsten Sinne des Wortes in mein Leben oder genauer gesagt, er stolperte über mich.

Ich war ja nun von Zuhause rausgeflogen, in meiner damaligen Schule konnte ich mich dank der Aktion von Hendrik auch nicht mehr blicken lassen und die wenigen scheinbaren Freunde, die ich damals besaß, wollten plötzlich auch nichts mehr von mir wissen. Ich packte daher alles Wichtige in meinen Rucksack und ließ den Rest einfach dort liegen, wo mein Erzeuger dies bei meinem Rausschmiss hingeworfen hatte. Dann schleppte ich mich zum nächsten Geldautomaten und plünderte mein Konto, bevor mein Erzeuger noch auf dieselbe Idee kam. Viel war es eh nicht. Ich ging dann zum Bahnhof und nahm den nächsten Zug hierher. Ich muss schon ziemlich abgerissen ausgesehen haben, als ich hier ankam, vor allem dank der freundlichen Sonderbehandlung meines Erzeugers. Erst hier traute ich mich dann in die Notaufnahme eines der Krankenhäuser. In dem Krankenhaus in unserem Städtchen wäre ich Tunte wohl auch gar nicht erst behandelt worden. Hier brabbelte ich dann etwas von einem Sturz auf der Bahnhofstreppe und dass ich zuerst keine Zeit gehabt hatte mich verarzten zu lassen. Irgendwie hatte ich zwar das Gefühl, dass man mir kein einziges Wort glaubte, aber irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass es auch niemanden wirklich interessierte.

Nun ja, frisch verarztet konnte ich mich dann anschließend wieder auf zum Bahnhof machen. Da stand ich dann also, ohne Zuhause, ohne irgendein Ziel, mit meinen paar Habseligkeiten und einer gehörigen Portion Wut im Bauch. Ich hab mir dann auch erstmal ziemlich einen angetrunken, mit dem Ergebnis, dass ich es mir spät in der Nacht auf der Suche nach einem nicht so zugigen Schlafplatz ganz in der Nähe von Lucas Wohnung in einem der Hauseingänge bequem gemacht hatte. Du siehst also, ich habe bereits Erfahrung damit, mich in der Saukälte bei irgendwelchen Leuten in deren Hauseingängen breit zu machen. Ich hab es mir damals also in meinem Bundeswehrschlafsack bequem gemacht und voll wie ich war, bin ich dann auch tatsächlich eingepennt. Am nächsten Morgen ist Lucas dann tatsächlich auf dem Weg zur Schule über meine Beine gestolpert. Es war noch ziemlich dunkel und der Eingang, den ich mir ausgesucht hatte und der zum Gehweg hin zeigte, war dank eines defekten Außenlichts ausgesprochen schlecht beleuchtet. Plautz machte es und da lag Lucas. Er war über meine Beine gestolpert und dann in einen schmuddeligen Schneehaufen gestürzt. Ich hatte erst gar nichts mitbekommen, war nämlich immer noch ganz schön angetrunken, aber dann hörte ich ihn wie einen Rohrspatz schimpfen und wachte schließlich auf.

Ich kann dir sagen, Lucas hatte ein ganz schönes Theater veranstaltet und ich dachte, Mann, was regt sich der Stift so auf? Hätte er halt besser aufpassen sollen, und das sagte ich ihm dann auch. Tja, das hätte ich lieber nicht machen sollen. Er ging dann nämlich sofort auf mich los.

Lucas hat mir übrigens erzählt, dass du dich auch in seinem Alter getäuscht hast. Das ist wirklich nicht schwer bei ihm. Er sieht halt wirklich viel jünger aus als er ist. Ich glaube, er hat dir auch erklärt, wieso das so ist.

Na ja, und ich bin da eben auch darauf hereingefallen. Er sah damals auch so verdammt jung aus. Gerade dachte ich noch, was will denn dieses Kind, als er sich schon auf mich stürzte und mir den ersten Haken verpasste. Ich saß ja noch halb aufgerichtet in meinem Schlafsack und konnte mich kaum wehren. Tja, und da blieb nichts anderes übrig, als mich nur halbwegs vor seinen Schlägen zu schützen. Irgendwann traf er dann aber eine meiner von meinem Erzeuger bereits mit besonderer Liebe behandelten Rippen und ich schrie auf, um mich danach nur noch vor Schmerz zu krümmen. Da wurde Lucas plötzlich kreidebleich und sprang auf.

‘Mann, das wollte ich nicht. Scheiße, das tut mir furchtbar Leid. Aber ich weiß auch nicht, ich werde immer total wild, wenn sich jemand über mich lustig macht. Mann, so ein Scheiß, soll ich ’nen Arzt rufen oder so?’, stammelte er völlig neben sich stehend. Ich versuchte indes mich aus meinen Rucksack zu pellen und genoss es nebenbei, wie der höllische Schmerz so ganz allmählich wieder nachließ.

‘Ne lass man’, antwortete ich ihm, ’da kannst du eigentlich gar nichts für. Um meine Rippen hat sich nämlich schon ein anderer verdient gemacht. Außerdem war es ja auch nicht sonderlich nett von mir, dich erst zu Fall zu bringen und mich dann auch noch lustig zu machen. Frieden?’, fragte ich noch und hielt im die Hand entgegen. ‘Ich heiße übrigens Kai.’

‘Frieden’, antwortete er, grinste mich unglaublich lieb an und griff meine Hand. ‘Ich bin der Lucas, Lucas mit c übrigens!’ Dann half er mir auf die Beine. So kamen wir schließlich ins Gespräch. Ich folgte ihm einfach auf seinem Weg zu seiner Schule. Als wir dann in einen heller ausgeleuchtet Bereich des Weges kamen, sah Lucas plötzlich mein ziemlich lädiertes Gesicht.

‘Ach du Scheiße, wie siehst du denn aus? Das war ich doch nicht, oder?’ Sein süßes Grinsen, welches mir vom ersten Moment an beinahe die Sprache verschlagen hatte, verschwand und er sah mich total besorgt an.

‘Ach das, nö, da hab mal keine Angst. Das war mein Alter’, versuchte ich ihn zu beruhigen. Tja, und da hatte ich was angefangen. Lucas ließ nicht locker, bis ich ihm alles erzählt hatte. Längst waren wir auch nicht mehr auf dem Weg zu seiner Schule, sondern zurück auf den Weg zu sich nach Hause. Er hatte entschieden, dass sich um mich zu kümmern nun eindeutig wichtiger war als Erdkunde oder Latein.

Wir waren kurz vor seiner Haustür, als ich dann mit meiner Erzählung zu dem Punkt kam, wo meine Erzeuger von meinen speziellen Vorlieben erfuhren. Ich stockte und wusste nicht so recht, was ich Lucas nun sagen sollte. Ich hatte diesen süßen Kerl in dieser knappen halben Stunde, die wir uns nun kannten, richtig ins Herz geschlossen und wollte ihn nun mit meinem Eingeständnis schwul zu sein nicht verstören oder gar verlieren. Immer wieder fragte er nun, warum mein Alter mich vor die Tür gesetzt hatte, und immer wieder druckste ich rum, bis ich halt nicht mehr konnte und schließlich verzweifelt brüllte:

’Ach Scheiße, Lucas, ich bin schwul, verstehst du, so ‘ne schwuchtelige Tunte halt. Deshalb hat mich mein Alter vor die Tür gesetzt, nachdem er natürlich zuvor noch versucht hatte mir das Schwulsein aus dem Körper zu dreschen. Bist du jetzt zufrieden? Meinetwegen kannst du jetzt auch gerne abhauen. Könnte schon verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst.’

Ich fühlte mich damals richtig scheiße. Die ganze Aktion mit Hendrik und alles, was dadurch ausgelöst wurde, hatte eh schon mein Selbstwertgefühl auf Null fahren lassen. Jetzt auch noch von Lucas verachtet und verlassen zu werden, würde mich wahrscheinlich völlig fertig machen. Völlig niedergeschlagen wagte ich kaum ihm in die Augen zu sehen.

Lucas hingegen sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich fürchtete das Schlimmste. Dann plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem von diesen Lucastypischen Grinsen und schließlich brach er in schallendes Gelächter aus. Ich war vollkommen perplex. ‘Mann, ich glaub es einfach nicht, das kann jetzt doch wirklich nicht wahr sein!‘, prustete er los. Ich war innerlich schon auf Kampf gebürstet, auslachen lassen brauchte ich mich von ihm ja nun auch nicht.

Lucas merkte dies wohl und bemühte sich sein Lachen zu unterdrücken. Nach einer kurzen Pause sagte er dann: ‘Tschuldigung Kai, ich wollte dich nicht auslachen, ich habe nur über den unglaublichen Zufall gelacht. Weißt du, das muss irgendwie Schicksal sein. Gestern Abend habe ich nämlich erst mit ganz viel Schiss in der Buxen meiner Mutter gebeichtet, dass das wohl nichts wird mit den Enkelkindern, weil ich nämlich auf Kerle stehe und ich mir nichts sehnlicher zu Weihnachten wünsche, als möglichst bald auf einen süßen Traumprinzen zu treffen, der genauso veranlagt ist wie ich. Tja, und was hat sie dann gesagt? Dass sie es schon lange geahnt hätte, die Abwesenheit jeglicher Freundinnen in meinem Alter und die vielen Boygroup-Poster in meinem Zimmer hatten da wohl den mütterlichen Spürsinn geschärft. Und schließlich sagte sie noch, dass es zwar um die Enkelkinder schade wäre, sie sonst aber nicht das geringste Problem damit hätte. Tja, und dann sagte sie noch, dass, wenn ich offen zu meiner Vorliebe stehen würde, sich sicher bald jemand für mich finden würde. Na, und der erste süße Boy über den ich dann heute stolpere sagt mir dann auch prompt, dass er schwul sei. Wenn das nicht der Hammer ist!’

Ich glaubte damals nicht richtig zu hören, Lucas, der mir von Anfang an unglaublich sympathisch war, dieser Lucas, erzählte mir fröhlich schwatzend, dass er ebenfalls auf Jungs stand. Ich war fast den Tränen nahe.

Lucas sah mich hingegen an und sagte dann sehr nachdenklich: ’Du Kai, es tut mir unglaublich Leid, was dir passiert ist. Wenn ich so genau darüber nachdenke, hatte ich wohl wahnsinniges Glück mit meinem Coming Out. Bitte Kai, lass mich dir helfen. Ich glaube wir Angehörigen der berühmten zehn Prozent sollten einfach zusammen halten.’

Das gab mir dann damals den Rest und ich habe nur noch hemmungslos geheult. Irgendwie hat mich Lucas dann zu sich nach Hause gelotst. Dort hat er mir dann erst einmal ein sagenhaftes Frühstück bereitet, mir dann in seinem Zimmer eine Liege aufgestellt und mich nach dem Essen dazu genötigt, erst einmal richtig auszuschlafen. Abends hat er mich dann seiner Mutter vorgestellt. Der blöde Kerl wollte mir doch tatsächlich ‘ne Schleife umbinden und mich als sein Weihnachtsgeschenk ausgeben. Irgendwie konnte ich ihn aber davon abbringen und so stand ich dann ohne Schleife, aber trotzdem ziemlich aufgeregt vor seiner Mutter. Die hatte aber nichts besseres zu tun als mich sofort in den Arm zu nehmen und, als Lucas ihr in groben Züge meine Geschichte erzählt hatte, auch gar nicht wieder los zu lassen...“

Hier brach Kai seine Erzählung ab. Er schluckte schwer und ich merkte, wie sehr ihm die Erinnerungen noch zu schaffen machten.

„Mensch Kai, das ist wirklich ‘ne hammerharte Sache“, sagte ich zu ihm. „Mann, tut mir wirklich total Leid, dass ich so ein Arsch war. Ich kann jetzt verstehen, warum du so sehr an Lucas hängst. Und habt ihr euch dann gleich ineinander verliebt?“ Die Frage brannte mir einfach so unter den Nägeln.

‘Verliebt ja, aber wie ich dir schon gesagt habe, nicht so wie du das gedacht hast. Lucas war von dem Tage an immer für mich da und ich für Lucas. Wir hingen und wir hängen immer noch aneinander wie Pech und Schwefel. Aber eben mehr wir Brüder. Moni, seine Mutter, war übrigens auch einfach nur spitze. Gleich am nächsten Tag hat sie sich Urlaub genommen und mich dann zu allen möglichen Ämtern geschleppt. War auch letztlich gar nicht so schlimm. Schließlich war ich gerade achtzehn Jahre und somit volljährig geworden und mein Erzeuger hatte mich hochoffiziell rausgeschmissen. Vom Amt wurde er, solange ich keinen Beruf habe, zum Unterhalt verdonnert, was er auch zähneknirschend hinnahm, solange er mich halt nicht sehen muss. Moni schleifte mich dann auch gleich zu dem Gymnasium, das auch Lucas besucht, und sorgte dafür, dass ich nach einigen Tagen dort wieder zum Unterricht gehen konnte. Mann, wenn ich daran denke, was ich denen alles zu verdanken habe. Am gleichen Abend hat sie mich dann auch Thomas vorgestellt. Ja genau, deinem Arbeitskollegen Thomas. Der ist nämlich ziemlich sozial engagiert und macht als Ehrenamtlicher bei so einem Jugendprojekt mit. Er leitet hier in der Stadt nämlich eine schwule Jugendgruppe. Tja, jetzt guckst du, oder? Also bevor jetzt Gerüchte entstehen, Thomas ist 100% hetero, da aber bei der Jugendgruppe auch Jugendliche ab vierzehn teilnehmen, haben sich die Verantwortlichen gedacht, es ist wohl besser, wenn eine Hete den Vorsitz übernimmt, so wegen möglicher Verführung Minderjähriger oder so. Thomas ist echt spitze und der macht seine Aufgabe wirklich richtig gut. Übrigens soll ich dir von ihm ausrichten, dass du ihm gegenüber ruhig mit dem Versteckspielen aufhören kannst. Der hat ziemlich schnell geschnallt was mit dir los ist. Also gib dir ruhig einen Ruck und sprich bei Gelegenheit mal mit ihm.“

Kai grinste mich an und ich wurde rot. Kai fuhr jedoch völlig unberührt mit seiner Geschichte fort.

„Thomas hat mich dann ein paar Tage später auch gleich in der Gruppe eingeführt und er war es dann auch, der mir meine jetzige Wohnung besorgt hat. Ich habe etwa ein halbes Jahr bei Lucas gewohnt, doch ich wollte schon gern auf eigenen Füßen stehen und vor allem Lucas und Moni nicht zur Last fallen. Nachdem ich mein Abi in der Tasche hatte, bin ich dann auch ausgezogen. Hat ganz schön Tränen gegeben, bei Lucas wie auch bei mir. Aber ich glaube, es war einfach besser so. Wir waren uns in dieser Zeit in der ich bei Lucas wohnte unglaublich nahe gekommen, eines Nachts sogar ausgesprochen nahe. Es war eine wunderbare Nacht und ich bin unglaublich stolz darauf, für Lucas der erste Mann überhaupt gewesen zu sein, aber wir wussten auch, dass es so nichts mit uns werden würde und dass es bei dieser einen Nacht bleiben musste. Also Flip, du kannst mir wirklich glauben, dass ich nicht zwischen euch stehe. Lucas und ich, wir lieben uns wirklich nur wie Brüder und ich gönne euch wirklich von Herzen, dass ihr beiden glücklich werdet.“

Hier brach Kai nun abermals ab und ich sah, wie er plötzlich sehr besorgt wirkte.

„Flip, was ich dir jetzt erzähle muss wirklich unter uns bleiben, bitte versprich mir keinem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Lucas wird mich eh erwürgen, wenn er erfährt, dass ich mit dir gesprochen habe, aber bitte, was ich dir jetzt von Lucas erzähle, davon weiß keiner etwas, noch nicht mal seine Mutter. Versprich mir also, dass du schweigst wie ein Grab.“

„Kai, du machst mir Angst“, erwiderte ich und rutschte dabei nervös auf der Couch herum. „Aber ich verspreche dir keinem auch nur irgendetwas zu verraten, was immer es auch ist.“

„Okay, ich vertraue dir, und wenn nicht, das verspreche ich dir, werde ich dir alle Knochen brechen.“

Ein Blick in Kais entschlossenes Gesicht verriet mir, dass er dies durchaus ernst meinte. Ich schluckte.

„Also Flip, nach dieser einen besagten Nacht, die, so wunderschön sie auch war, die einzige für uns bleiben sollte, nach dieser Nacht wurde Lucas immer ungeduldiger. Er wollte endlich seinen Traumprinzen finden und wenn schon nicht ihn, dann doch das eine oder andere Abenteuer erleben. Nächtelang schwärmte er mir von irgendwelchen Typen vor und ich wurde es nicht Leid ihn vor diesem oder jenen auch schon mal eindringlich zu warnen.

Als ich dann auszog, wurde Lucas Wunsch nach einem Partner immer drängender. Ich selbst hatte erst einmal mit mir selbst zu tun, die neue Wohnung, dann das Studium, einen Nebenjob musste ich mir ja auch noch besorgen. Kurz, Lucas fühlte sich plötzlich ziemlich allein gelassen und zog durch die einschlägigen Kneipen.

Weißt du, Flip, Lucas flirtet für sein Leben gern. Er genießt die Wirkung, die sein unglaublich niedliches Äußeres auf andere hat. Du bist ihm ja selbst ziemlich schnell erlegen. Aber in Wahrheit ist Lucas immer nur auf der Suche nach diesem einen Mister Right gewesen. Leider ist sein junges Aussehen zugleich auch ein Fluch und immer wieder geriet er an die Falschen. Nicht alle sind so unglaublich anständig wie du das warst. Lucas hat mir von deinen Bedenken erzählt. Nun, kurz und gut, eine Woche nachdem ich ausgezogen war, lernte Lucas einen Typen namens Peter kennen, dieser Peter war in etwa in deinem Alter, Lucas war damals sechzehneinhalb. Tja, und dieser Peter war richtig scharf auf ihn. Lucas hat das aber leider mit echter Liebe verwechselt und alle Versuche von mir, ihn davor zu warnen, schlugen fehl. Unser Verhältnis litt ernorm darunter, denn Lucas vermutete, dass hinter meiner Ablehnung eigentlich nur meine Eifersucht auf Peter stecken würde. Auch Moni war gegen diese Beziehung. Und es war das erste Mal, dass ich erlebte, dass Lucas und sie richtigen Stress miteinander hatten.

Nach einem halben Jahr war der Spuk dann plötzlich wieder vorbei. Während Lucas die ganze Zeit an eine feste Beziehung glaubte, die nichts und niemand erschüttern konnte, vögelte sich dieser Peter nahezu durch die komplette schwule Szene dieser Stadt. Lucas war da nur so ein geiles Appetithäppchen, das er sich sicher zu haben glaubte.

Eines Tages, Lucas war beim Fußball und Moni bei der Arbeit, war dieser Peter dann so dreist, ihn in seinem eigenen Zimmer mit einem Typen aus der Bahnhofszene zu betrügen. Lucas kam unverhofft etwas früher vom Training und erwischte die beiden in seinem eigenen Bett. Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, was für eine Welt da für Lucas zusammenbrach. Er hatte nicht nur die beiden Kerle aus seinem Zimmer getrieben. Die gesamte Einrichtung musste daran glauben, besonders natürlich sein Bett. Danach stand er dann vollkommen aufgelöst vor meiner Tür. Ich habe ihm die nächsten Wochen dann geholfen, so wie auch er mir geholfen hatte. Eines Teils war ich froh, dass sich unsere Beziehung wieder deutlich verbesserte. Wir sind sogar durch dieses Erlebnis nur noch mehr zusammen geschweißt worden. Andererseits merkte ich jedoch auch, dass irgendetwas in Lucas kaputt ging, nämlich seine Unbekümmertheit. Er war seitdem nicht mehr in der Lage eine feste Beziehung, unsere mal ausgenommen, einzugehen.

Tja, und dann kamst du, und plötzlich war alles anders. Mann, ich hab mich so gefreut, als Lucas mir erzählte, wie du dich in sein Herz geschlichen hast, es war an dem Abend, kurz bevor du uns beide im Cocido überrascht hast. Doch er erzählte mir dann auch gleich, dass es nichts mit euch werden würde, nein, mehr noch nichts mit euch werden dürfte!“

Hier machte Kai wieder eine Pause und blickte mich sehr traurig an.

„Warum denn das nicht?“. fragte ich sogleich. „Ich weiß, zuerst war ich es, der dieser Beziehung keine Chance geben wollte, aber dann als scheinbar alles klar zwischen uns war, da ist Lucas plötzlich abgehauen wie ein geölter Blitz.“

„Ja, das habe ich ihn auch gefragt“, antwortete Kai. “Immer wieder habe ich ihn das an dem Abend gefragt, ja und dann hat er es mir in Tränen aufgelöst erzählt.“

„Was denn, was hat er dir erzählt?“ Ich konnte mich kaum noch beherrschen. Diese Ungewissheit und zugleich diese Sehnsucht nach meinem Weihnachtsengel, die, seitdem Kai erzählte, von Minute zu Minute größer wurde, machten mich fast verrückt.

Kai blickte mich wieder sehr traurig und besorgt an, dann seufzte er tief und fuhr fort:

„Gut zwei Wochen bevor ihr euch über dem Weg gelaufen seid, holte Lucas die Vergangenheit wieder ein. Als er von der Schule nach Hause kam, lag dort ein an ihn adressierter Briefumschlag in der Post. Er hat mir erzählt, dass er erst gar nicht groß Notiz davon nahm und den Umschlag einfach auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte. Erst als er gegen Abend noch etwas für die Schule vorbereiten wollte, fiel ihm der Umschlag wieder auf. Es war ein offizielles Schreiben. Absender war die MHH. Das hatte ihn dann doch schon ziemlich gewundert und als er den Umschlag endlich geöffnet hatte, war das schon ein kleiner Schock für ihn. Man teilte ihm mit, dass ein gewisser Peter, je eben genau sein Ex, derzeit in der MHH wegen einer Infektionskrankheit in Behandlung sei. Man habe den Patienten aus Prävention nach seinen engeren Kontakten in der letzten Zeit befragt und da sei eben auch sein Name genannt worden. Aus Gründen der Vorsicht wollte man ihn nun bitten, möglichst umgehend einen Termin für einen Routinecheck zu vereinbaren, Näheres würde man ihm dann bei der Untersuchung mitteilen.

Das klang eigentlich gar nicht weiter aufregend und als Lucas mich am nächsten Morgen gleich anrief, um mir von diesem merkwürdigem Schreiben zu berichten, haben wir dann noch so einige Scherze gemacht. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich vermutete, dass der Hurenbock sich wahrscheinlich bei einem seiner vielen Seitensprünge wohl den Tripper eingefangen hatte, und habe Lucas dann scherzhaft gefragt, ob es denn schon bei ihm im Schritt jucken würde. Wir haben dann noch ziemlich rumgeblödelt und Lucas versprach mir dann auch sich bei mir zu melden, sobald er Genaueres wüsste. Seitdem hatte ich diesbezüglich dann nichts mehr von ihm gehört und ehrlich gesagt habe ich auch da nichts weiter auf die ganze Sache gegeben. Ich war die letzten beiden Wochen eh ziemlich im Stress, schließlich hatte ich mir vorgenommen mein Studium wieder ein wenig ernster zu nehmen und das, obwohl so kurz vor Weihnachten auch im Cocido ziemlich viel zu tun war. Tja, so bin ich dann über die ganze Sache hinweg gekommen. Bis eben zu dem Abend an dem Lucas völlig aufgeregt bei mir anrief. Vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, wie du bei mir übers Festnetz angerufen hast, um mich zu fragen, ob wir uns treffen wollten?“

Ich nickte, ja das war der Abend, wo ich die beiden scheinbar in Flagranti erwischt hatte. Ich schämte mich jetzt förmlich für meine dämliche Reaktion damals.

„Vielleicht hast du dann auch mitbekommen, wie so etwa am Ende unseres Telefonats mein Handy bimmelte?“

Ich nickte wieder.

„Na ja, das war Lucas. Der hatte schon wie wild versucht mich übers Festnetz zu erreichen, doch da waren ja wir beide gerade zu Gange. So hatte er es dann übers Handy versucht. Tja, und wie ich ihn dann am Handy erlebte, da war ich dann doch schon ganz schön besorgt. Er war völlig fertig, wollte mir aber Näheres nur unter vier Augen berichten. Ich habe mich dann mit ihm im Cocido verabredet, weil ich ja Klaus zugesagt hatte, für ihn einzuspringen. Lucas kam dann auch schon kurz, nachdem ich den Dienst übernommen hatte, wollte aber so über die Theke hinweg natürlich nichts sagen. Gott sei Dank kam dann Klaus von seinen Besorgungen früher als erwartet zurück, denn Lucas konnte sich kaum noch zusammenreißen, so fertig war er.

Ich war wirklich ziemlich besorgt, denn so hatte ich ihn noch nie erlebt, selbst als er seinen Peter bei dem besagten Schäferstündchen erwischt hatte, war er nicht dermaßen von der Rolle gewesen.

Endlich konnten wir also sprechen und wir verzogen uns daher in die hinterste Ecke des Cocido. Ich brauchte ihn auch gar nicht erst zu drängen, denn er fing sofort an mir alles zu erzählen. Zunächst hat er von dir berichtet. Ich merkte sofort, dass es ihn ziemlich schwer erwischt haben musste. So verliebt wie er guckte. Noch nie hatte ich ihn von einem Boy so schwärmen gehört wie von dir. „

Jetzt war es natürlich für mich an der Zeit erst einmal gehörig rot zu werden. Kai ließ sich davon jedoch nicht weiter beeindrucken und fuhr fort:

„Ich war einerseits natürlich total glücklich darüber, dass Lucas anscheinend endlich seinen so lang ersehnten Traumboy gefunden hatte, und ich hoffte sehr, dass du in nicht enttäuschen würdest, anderseits konnte ich mir absolut nicht erklären, warum ihn das nun so fertig machte. Tja und als ich ihm das sagte, da kam dann wirklich der absolute Hammer. Ich habe dir ja erzählt wie sehr mir Lucas ans Herz gewachsen ist, was ich jedoch nun erfuhr, war ein ziemlicher Schock und ist es auch jetzt noch. Mann, Flip, ich weiß gar nicht, wie ich dir das jetzt am besten beibringe.“

Nun war es an mir ziemlich nervös und besorgt dreinzuschauen. „Äh, wieso mir beibringen? Was habe ich damit zu tun?“, fragte ich dann auch ziemlich irritiert.

„Nun ja, zunächst einmal natürlich nichts, aber du hast mir ja vorhin zu verstehen gegeben, dass du Lucas genauso sehr liebst wie er dich. Flip, was ich dir jetzt sage, kann vielleicht alles ändern. Bitte Flip, versprich mir, dass du Lucas nicht im Stich lässt, bitte!“

Jetzt war ich wirklich ziemlich nervös und völlig verstört schaute ich Kai an. Was ging hier vor sich, was war denn so schlimm, dass sich alles zwischen mir und Lucas ändern würde? Das war es dann auch, was ich Kai fragen wollte.

„Na, du machst es ja wirklich richtig spannend, Kai. Was um alles in der Welt könnte denn schon etwas zwischen mir und Lucas ändern? Hat es etwas mit diesem Brief von der MHH zu tun? Lucas hatte an dem Morgen nach unserer ersten gemeinsamen Nacht noch einen weiteren Brief bekommen. Ich habe das mitbekommen, als er mit seiner Mutter telefonierte. Was haben die denn herausgefunden? Etwas was ihn und diesen Peter betrifft? Er wird doch wohl nicht schwanger sein, oder?“, versuchte ich zu scherzen. Als ich jedoch sah, wie Kai sein Gesicht verzog, merkte ich sofort, dass dies mal wieder einer dieser Scherze gewesen war, die ich mir wohl echt lieber verkniffen hätte.

„Mensch Flip, was bist du nur für ein Arsch, hey, das ist wirklich verdammt ernst und du redest so eine gequirlte Scheiße, Mann!“, blökte er mich völlig zu Recht an. Ich sah ihn an, wie ein kleiner Sünder.

„Tschuldigung Kai“, erwiderte ich sofort. “Tut mir echt Leid, aber immer wenn ich total unsicher bin, mache ich solche blöden Witze. Ich glaube aber hier hätte ich mir das jetzt mal wirklich schenken können. Kai, ich verspreche dir, nichts rein gar nichts kann meine Liebe zu Lucas erschüttern. Wirklich nichts! Aber bitte, spann mich nicht weiter auf die Folter. Was ist los, was hat dir Lucas gesagt?“

„Okay“, antwortete Kai. „Entschuldigung angenommen, ich muss mich wohl erst an deinen komischen Humor gewöhnen. „

„Na ja, der ist ja auch manchmal ziemlich unangebracht“, gab ich zu. “Aber bitte Kai, erzähl weiter.“

Nach einer kurzen Pause, während der mich Kai sehr durchdringend ansah, fuhr er fort:

„Also, als ich Lucas nun fragte, was denn so schlimm an eurer gerade entdeckten Liebe sei, da brach er völlig zusammen und fing fürchterlich an zu heulen. Als ich ihn dann trösten und ihn in den Arm nehmen wollte, sprang er plötzlich auf und schrie bloß: ‘Nein, Kai fass mich bloß nicht an, nicht, ich bin so verdammt dreckig, Kai bitte, es ist schon schlimm genug, dass du hier neben mir sitzen musst, aber bitte fass mich nicht an, wenn dir dein Leben lieb ist!’

Wow, das war dann echt krass und jetzt war ich absolut gewillt alles zu erfahren. Also drängte ich Lucas mir wirklich alles zu erzählen. Nach einer kurzen Pause, während er sich wieder etwas beruhigt hatte, fing er dann auch endlich an.

Er erzählte mir, dass er, nachdem er mir von dem ersten Brief von der MHH berichtet und noch so seine Witze gemacht hatte, gleich für den nächsten Tag einen Termin vereinbart hatte. Völlig unbefangen ist er dann auch da hin gegangen. Es gab dann wegen seinem unglaublich jungen Aussehen auch wieder die üblichen Komplikationen, so von wegen wo denn seine Erziehungsberechtigten wären und warum man ihn denn allein dort hin gelassen hätte. Okay, Lucas hat dann wie gewohnt ziemlich heftig darauf geantwortet und irgendwann hat man sich dann wohl auch die Mühe gemacht, seinen Perso zu begutachten. Als man ihm dann aber sagte, warum man ihn wirklich herbeordert hatte, brach für Lucas eine Welt zusammen.“

Bewusst oder unbewusst machte Kai seine Erzählung so schrecklich langatmig und spannend zugleich. Ich rutschte nervös hin und her.

„Mensch Kai, du machst mich wahnsinnig. Was ist mit Lucas? Was um Gottes Willen hat er?“

Ich war von der Couch aufgesprungen und kurz davor, Kai am Kragen meines Bademantels zu packen und kräftig zu schütteln. Kai hingegen sah mich durchdringend fast flehendlich an und sagte dann:

„Flip bitte, du musst jetzt unglaublich stark sein. Lucas hat...„, er zögerte als ob er überlegen würde, ob er wirklich weiter sprechen sollte. Dann jedoch stand er ebenfalls auf, kam einen Schritt auf mich zu und packte mich mit beiden Händen an den Schultern.

„Also Flip“, er sah mir direkt in die Augen, “es ist noch nicht zu 100 Prozent sicher, aber Lucas ist vielleicht HIV-Positiv …“

Bumm, Aus, Schwarz, nichts mehr ….!

Meine Beine sackten weg, ich fiel! Nicht nur auf die Couch, die meinen Fall abfederte. Nein, ich fiel vielmehr in ein tiefes, schwarzes Loch. Ein dichter Nebel machte sich in meinem Hirn breit. Emotionen, sie waren einfach nicht mehr da. Ich war nichts, ich wusste nichts, ich spürte nichts.

„Flip, Mensch Flip, was ist los?!“

Klatsch! Ich spürte plötzlich einen Schlag an meine Wange. Der Nebel löste sich auf und ich sah in Kais besorgtes Gesicht.

„Mein Gott Flip, was war denn? Bitte reiß dich zusammen, wir müssen jetzt stark sein, du musst stark sein, für Lucas. Er braucht uns doch jetzt beide…“

Kai sah mich sehr ernst an. Es schien mir, als ob er in mich hineinsah. Als wollte er ergründen, was diese Nachricht wirklich in mir ausgelöst hatte.

„Kai, bitte lass mich ein paar Minuten nachdenken, bitte!!“, flehte ich ihn an. Ich versuchte zugleich seinem forschenden Blick auszuweichen.

Ich brauchte jetzt einfach ein wenig Zeit mich zu sammeln. Lucas, mein Lucas hat AIDS?!! Aber das kann doch nicht sein. Er doch nicht. Das geht doch gar nicht. Und wenn doch, hatte ich mich jetzt vielleicht bei ihm angesteckt? Sollte ich jetzt nicht besser in Panik verfallen?

Ich horchte in mich hinein. Nein, von Panik keine Spur. Oder etwa doch? Komisch, es ging hier doch gar nicht um mich. Ja, da war doch so etwas wie Panik, Panik wegen Lucas. Mein Lucas! Das konnte doch gar nicht sein. Mein Lucas durfte kein AIDS haben. Das geht doch gar nicht. Mein Engel durfte nicht krank sein. Vor allem nicht unheilbar krank. Nichts und niemand durfte ihm so etwas antun. Ich wurde wütend. Wer hat ihm so etwas angetan? Natürlich, dieser Peter war es. Kai hatte doch gesagt, dass er wegen einer Infektion bei der MHH in Behandlung war und man deshalb Lucas angeschrieben hatte. Dieser Peter, er würde niemals das Ende seiner Krankheit erleben. Ich würde dafür sorgen, dass er bereits vorher das Zeitliche segnen wird!

‘Mach dich doch nicht lächerlich‘, sagte eine kleine Stimme in mir. ‘Du kannst doch keiner Fliege etwas zu Leide tun und deinem Lucas hilft das auch nicht weiter.’ Ich musste dieser Stimme Recht geben.

Ja, aber wie wird es nun weiter gehen? Ich hatte plötzlich Angst, unglaubliche Angst Lucas zu verlieren.

„Kai“, krächzte ich, „bitte halt mich ganz doll fest. „

Kai, der mich die ganze Zeit eindringlich gemustert hatte, setzte sich nun neben mich auf die Couch und legte seinen Arm um meine Schulter. Liebevoll und voller Wärme sah er mich an. Er streckte mir seinen Arm entgegen, nahm meine Hand und drückte sie fest.

„Flip, alles wird gut. Glaub mir, wir müssen nur alle zusammen halten und dann kann uns auch nichts passieren!“

„Ja, aber mein Lucas und AIDS!“, erwiderte ich. „Das ist einfach nicht fair! Nicht mein Lucas!“ Ich konnte plötzlich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte erbärmlich.

„Pssst…„ Kai strich mir beruhigend über den Rücken. Wieder drückte er ganz fest meine Hand. Er beugte sich etwas nach vorn und ich spürte seinen Duft. Zart und seidig. Ähnlich wie Lucas und doch ganz anders.

„Flip, wenn überhaupt, dann ist Lucas zwar infiziert, das bedeutet aber nicht zugleich, dass er AIDS hat!“

Ich schaute Kai ungläubig an.

„Ja, aber... aber du hast doch gesagt, dass Lucas HIV-Positiv ist...“

„Dass er vielleicht HIV-Positiv ist, ja das habe ich gesagt, doch das heißt nicht, dass er auch gleich AIDS hat. Flip die Medizin ist heute viel weiter als noch vor einigen Jahren. Wenn Lucas wirklich das Virus hat, was aber noch nicht absolut sicher ist, dann gibt es heute gute Behandlungsmethoden dagegen. Wenn er sich dann entsprechend verhält, kann es gut möglich sein, das er niemals AIDS bekommt, oder aber zumindest lange Jahre davor sicher ist.

Doch das ist im Moment wirklich noch nicht die Frage. Zunächst muss Lucas noch den Bestätigungstest abwarten. Und in der Zeit braucht er dich einfach. Deshalb habe ich auch versucht dich zu erreichen und mit dir zu sprechen. Wenn du Lucas wirklich so liebst wie du sagst, dann musst du jetzt für ihn da sein. Bedingungslos! Meinst du, du kannst das?“

Kai sah mich fragend an. Was meinte er nur damit? Natürlich werde ich für meinen Weihnachtsengel da sein. Er braucht mich und ich werde für ihn da sein, wie kann Kai denn nur daran zweifeln?

Okay, meine Szene am Wochenende, die war natürlich nicht so doll gewesen. Suboptimal war wohl die bessere Bezeichnung dafür, wollte man ehrlich sein. Aber ich war halt so sehr verliebt und dann, wenn auch aus reiner Unwissenheit, ziemlich enttäuscht gewesen. Da macht man manchmal dumme Sachen und sagt mitunter Dinge, die man lieber nicht gesagt hätte…

„Mein Gott!“, entfuhr es mir plötzlich. “Mensch Kai, was hab ich da bloß gemacht, letztes Wochenende, als ich euch beiden so einen Scheiß an den Kopf geworfen habe? Was hab ich Lucas da bloß angetan!“

Mir wurde plötzlich ganz schlecht. Kai sah mich an, als wollte er sagen: ‘Na endlich fällt der Groschen!’

„Tja Flip, ich wollte es nicht so direkt sagen, aber als du Lucas damals gewünscht hast, er solle so lange vögeln bis er an AIDS krepiert, das war der Hammer für ihn. Du kannst dir nicht vorstellen, was da alles in ihm kaputt ging. Ich weiß ja, du warst sehr verletzt und konntest ja auch gar nicht wissen, was du mit dem Spruch anrichtest. Aber das war wirklich so eine Art Todesstoß für Lucas. Flip glaub mir, seitdem weiß ich nicht mehr, was ich mit Lucas machen soll. Ich erkenne ihn einfach nicht mehr wieder. Klar war er auch vorher ziemlich verzweifelt. Wer wäre das wohl auch nicht, wenn er auf einmal erfährt, dass so ein menschliches Arschloch wie dieser Peter ihn vielleicht mit dem Virus angesteckt hat. Flip, dieser Typ wusste, dass er HIV-Positiv ist und hat es trotzdem immer auf ungeschützten Verkehr ankommen lassen. Aber viel verzweifelter war Lucas darüber, dass er nach Jahren endlich in dir seinen Traumboy gefunden hatte und zugleich aus Angst auch dich anstecken zu können, sich sofort wieder von dir trennen musste. Als du ihn dann dermaßen zum Teufel geschickt hast, war es aus.

Flip, seit Tagen ist Lucas nur noch ein Häuflein nacktes Elend. Er lässt niemanden mehr an sich ran. Selbst mich nicht. Seine Mutter ist ebenfalls total verzweifelt. Zwar weiß sie nicht, was wirklich los ist, denn ich habe versprechen müssen ihr nichts zu sagen, aber ich glaube sie ahnt irgendetwas. Flip, Lucas liegt nur noch in seinem Zimmer und heult. Er isst nichts, er trinkt kaum etwas. Ich habe Angst um ihn. Das Ergebnis von diesem verdammten Bestätigungstest lässt noch zwei Tage auf sich warten, doch ich habe das Gefühl als ob ihn das schon gar nicht mehr interessiert. Flip, wenn er mal endlich für ein paar Minuten in einen unruhigen Schlaf fällt, dann spricht er im Schlaf nur von dir, um kurz danach heulend und zitternd aufzuschrecken. Wenn ich dann mit ihm reden will, weicht er mir aus und schweigt. Flip, ich habe eine Scheißangst um ihn. Wenn das so weiter geht, habe ich Angst er könnte sich was antun!“

Ich sah Kai erschrocken an. Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, dass er nicht übertrieb, dass er mir nicht nur ein schlechtes Gewissen machen wollte. Die Angst in seinen Augen war echt und das Flehen in seinem Blick brach mir das Herz.

„Kai, ich muss zu ihm. Jetzt sofort. Ich bin wohl der größte Idiot des Universums und wohl auch das größte Arschloch dazu!

Kai, glaubst du Lucas und ich haben noch eine zweite Chance?“

Kai sah mich an. Erleichterung stahl sich in sein Gesicht gefolgt von einem unglaublich süßen Lächeln.

„Flip, ich habe mich also doch nicht in dir getäuscht. Ich glaube, wir haben alle unsere Fehler. Und Lucas hätte von Anfang an aufrichtig zu dir sein sollen. Es hätte euch beiden eine Menge erspart. Aber er hatte so eine scheiß Angst, du könntest ihn fallen lassen. Auch ich war mir bis eben nicht ganz sicher, ob du wirklich der Richtige für ihn bist, doch jetzt schon.“

Ich sah Kai entgeistert an.

„Was macht dich denn da so sicher?“, fragte ich. Er sah mich wieder ganz süß an und antwortete schließlich:

„Du hast nicht ein einziges Mal gefragt, ob du dich vielleicht auch angesteckt haben könntest. Du willst zu ihm und es ist dir scheinbar egal, dass vielleicht die Gefahr besteht doch noch eingesteckt zu werden.“

Es stimmte, es war mir egal. Ich war jetzt nicht wichtig. Nichts war wirklich wichtig. Das Einzige, was zählte, war Lucas. Wirklich wichtig war nur, dass Lucas wusste, dass er auf mich zählen konnte. Ich wusste nicht, ob er mir jemals verzeihen würde. Ob wir uns jemals wieder zärtlich in den Armen liegen würden. Klar, ich hoffte es sehr, aber das war jetzt nicht wirklich wichtig. Ich wollte nur, dass es meinem Weihnachtsengel wieder gut ging. Sein unglaublich schemenhaftes Grinsen, seine frische, natürliche Art, das wieder erleben zu können war wichtiger als alles andere auf dieser Welt.

Ich stand auf, ging in die Küche, um Kais Klamotten zu holen, die ich dort zum Aufwärmen aufgehängt hatte. Zurück im Wohnzimmer angekommen, sah ich wie Kai bereits die Teelichter gelöscht und das Deckenlicht eingeschaltet hatte. Ich hielt ihm seine Sachen entgegen.

„Kai, was ist mit dir? Kommst du bitte mit mir mit. Ich glaube Lucas braucht uns. Ich glaube er braucht uns beide!“

****

Die Äste der Bäume scheinen unter der Last des Schnees fast brechen zu wollen. Der Blick aus dem Fenster des Gästezimmers ist unglaublich romantisch. Vielleicht ist es aber auch nur mein vor Glück fast schmerzhaft pochendes Herz, welches mir die Welt rosarot erscheinen lässt. Vor einer Stunde hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Mittlerweile erstrahlt die Winterlandschaft draußen in einem klaren, hellen Weiß. Das heisere Krächzen der Krähen durchbricht ab und an die Stille des Weihnachtswintermorgens. Seit einer halben Stunde bereits höre ich unten in der Küche ein unterdrücktes Rumoren. Kaffeeduft schleicht sich die Treppe hoch in unser Zimmer. Die ganze Nacht habe ich nun hier gesessen, meinen neuen Labtop auf dem Schoß, den Rücken an das hohe Kopfteil des kitschigen alten Ehebetts gelehnt und die Tastatur meines neuen Spielzeuges mit meinen ungelenken Finger malträtiert. Wie bereits zuvor streift auch jetzt mein Blick von dem Bildschirm weg durch den Raum, aus dem Fenster hinaus und dann wieder zurück in das Zimmer, um dann für eine Weile an dem Schönsten und Liebsten haften zu bleiben, welches es für mich auf dieser Welt gibt. Meinem Schatz! Er liegt neben mir auf dem Bauch und grunzt zufrieden im Schlaf. Über Nacht hat er die Decke ein wenig zur Seite geragt. In dem gut geheizten Zimmer scheint ihn dies aber nicht weiter zu stören. Mein Blick wandert von seinem Kopf mit diesen atemberaubend schön zerzausten Haaren hinunter an diesem unglaublich schönen Rücken bis hin zu diesem verboten schönen, knackigen Hintern, dessen nackte, pralle Backen mich schier anspringen möchten. Ich hole tief Luft, sauge seinen Duft ein, einen Duft, der den ganzen Raum füllt und dem auch der sich herein schleichende Kaffeeduft nichts anhaben kann. Eine Träne stiehlt sich in mein Gesicht. Ich kann mein Glück nicht fassen.

Die ganze Nacht habe ich nun hier gesessen und meine Geschichte, nein unsere Geschichte, in meinen Labtop gehackt. Wir haben uns geliebt. Es war herrlich, es war unglaublich, es war fast schon animalisch. Danach haben unsere verschwitzen und erschöpften Körper eng umschlungen auf Morpheus wohligen Schleier gewartet. Nur wenige Minuten hat es gedauert und ich konnte den gleichmäßigen Atem meines Schatzes hören. Ich selbst jedoch konnte einfach nicht einschlafen. Ich war erschöpft, ich war müde und doch gingen tausende Gedanken durch meinen Kopf. Die letzten Tage, so anstrengend und aufreibend sie auch gewesen sein mochten, waren doch die schönsten und wichtigsten Tage meines Lebens gewesen und ich hatte große Mühe all das zu ordnen, was in dieser Zeit mit mir passiert war.

So beschloss ich mich vorsichtig von diesem unglaublich schönen Gemälde zu lösen, das kleine Licht an meiner Seite des Bettes einzuschalten und mir aus unserem Gepäck den Laptop zu holen, welchen ich mir tags zuvor selbst zu Weihnachten geschenkt hatte. Schnell war das Ladegerät angeschlossen und der Laptop hochgefahren. Ein zufriedenes Grummeln meines Schatzes zeigte mir, dass diese Aktion seinem tiefen Schlaf nichts anhaben würde. So setzte ich mich also vorsichtig neben diesen unglaublich schönen Jungen und begann meine Geschichte aufzuschreiben.

Gerade bin ich dabei, nochmals den letzten Teil zu lesen. Ich scrolle hoch und komme an die Stelle, an der ich Kai auffordere mich zu begleiten. Ich hatte Mist gebaut, ganz großen Mist. Mein Engel war in echter Not. Es ging ihm dreckig und ich hatte ihn verraten. Zwar nicht wissentlich. Aber dennoch, er brauchte meine Hilfe und ich war nicht da. Ich fühlte mich ziemlich mies und als Kai sich anschickte sich anzuziehen, um mich dann zu begleiten, fiel mir ein großer Stein vom Herzen.

„Kai, warte mal bitte hier im Wagen“, sagte ich zu ihm, als ich meinen weinroten Flitzer vor einem Tankstellenshop parkte. “Ich springe nur schnell mal raus, um etwas zu besorgen.“

Als ich wieder zurückkam, blickte ich in das grinsende Gesicht von Kai.

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst“, sagte er und hatte große Mühe nicht in ein schallendes Gelächter auszubrechen, als er den riesigen Strauß roter Rosen sah. Eigentlich waren es sogar drei Sträuße gewesen, unverschämt teuer dazu und die Qualität dafür, dass ich sie an der Tanke erstanden habe, sicher mäßig bis schlecht.

„Naja“, antwortete ich mit einem schüchternen Lächeln, “irgendwie muss ich mich ja wohl bei Lucas für mein mieses Benehmen entschuldigen und irgendwie möchte ich ihm ja auch zeigen, wie sehr ich ihn liebe und da fiel mir halt auf die Schnelle nichts besseres ein.“ Ich fühlte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.

Kai blinzelte mich unglaublich verschmitzt an und sagte dann:

„Ach Flip, du bist unglaublich süß. Wenn du und Lucas nicht einfach zusammengehören würdet und ich dazu nicht auch noch Lucas bester Freund wäre, Mann, ich würde jetzt und hier auf der Stelle über dich wie ein Tier herfallen!“

Völlig verschüchtert stieg ich in mein Auto, nachdem ich zuvor die Blumen vorsichtig auf die Rücksitzbank gelegt hatte. Die ganze Fahrt über bis zu Lucas hin grübelte ich darüber nach, ob ich das, was Kai zu mir gesagt hatte, als Kompliment auffassen sollte.

Bei Lucas angekommen, befiel mich dann wieder ein unglaublich beklemmendes Gefühl. Was würde mich dort erwarten? Würde Lucas überhaupt mit mir reden wollen? Würde er mir verzeihen? Und wenn ja, wie werden wir mit diesem schrecklichen Virus umgehen können, der schließlich wie ein Damoklesschwert über uns schwebte?

Kai erlöste mich von meinen Gedanken, indem er mir mit einem aufmunternden Lächeln die Blumen in die Hand drückte.

„Hier, die hättest du beinahe vergessen!“, sagte er, sein Lächeln ging über in ein breites Grinsen. Dann wurde er wieder ernst und drückte die Klingel.

„Wird schon werden“, sagte er noch, dann öffnete Lucas Mutter die Tür.

„Ach du bist es Kai, ich dachte...“

Lucas Mutter war eine Frau in den Vierzigern. Doch dies sah man erst auf den zweiten Blick. Für eine Frau sah sie wirklich ausgesprochen attraktiv aus. Man wusste sofort von wem Lucas diese atemberaubende Ausstrahlung geerbt hatte. Ihr offenes Wesen strahlte eine gewisse Leichtigkeit und Fröhlichkeit aus, wenngleich leichte Schatten um die Augen darauf hinwiesen, dass sie sich in letzter Zeit starke Sorgen gemacht haben musste.

Ihr Blick wanderte von Kai zu mir, dann auf den Strauß mit den Rosen, die ich förmlich als Schutzschild vor mich hielt.

„Ähm, und wer sind Sie?“, fragte sie an mich gewandt. Meine Kehle war wie zugeschnürt. „Ich nehme mal nicht an, dass die Blumen für mich sind?“, fragte sie weiter. „Halt, warten Sie. Sie sind bestimmt dieser Phillip. Lucas hat ja tagelang von niemand anderem gesprochen, bis dann plötzlich….“

Sie sah mich eindringlich und herausfordernd an.

„Was haben Sie mit meinem Jungen gemacht?“, schrie sie plötzlich, griff mich an den Schultern und schüttelte mich unsanft. „Was haben Sie mit meinem Jungen angestellt?“

„Moni, es ist gut, beruhig dich doch bitte.“ Kai hatte sich zwischen uns gedrängt. Er legte Lucas Mutter beruhigend den Arm auf die Schulter. Sie ließ mich los und ich nutzte die Gelegenheit, ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen.

„Moni, Flip hat gar nichts gemacht, außer vielleicht sich unsterblich in Lucas zu verlieben, doch ich glaube das beruht bei den beiden auf Gegenseitigkeit. Alles andere ist wirklich ziemlich kompliziert und wir erklären dir das alles bei Zeiten. Aber jetzt müssen wir erst einmal zu Lucas. Ist er noch auf seinem Zimmer?“

„Das ist es ja gerade, Kai„, Moni sah ihn ganz verzweifelt an. “Vor etwa einer halben Stunde kam ich in sein Zimmer und wollte ihm etwas zu Essen hinstellen, in der Hoffnung er würde vielleicht endlich Hunger haben, doch sein Zimmer war leer und das hier lag auf seinem Bett. Sie hielt uns einen weißen Umschlag entgegen. Kai nahm ihn, sah ihn genauer an und reichte ihn dann mir herüber.

„Der ist an dich gerichtet“, sagte er und zeigte auf die beiden Worte auf dem Umschlag. ’Für Flip’ stand dort geschrieben.

Ich ließ die Blumen fallen und nahm den Umschlag entgegen, mit zittrigen Händen öffnete ich ihn und pulte umständlich den Brief heraus und begann ihn zu lesen.

‘Lieber Flip, mein liebster Flip!

Du glaubst nicht, wie schwer es mir fällt diese Zeilen zu schreiben. Nicht weil ich dir sagen möchte, wie sehr ich dich liebe oder weil ich dir sagen möchte, wie wichtig du mir bist und dass ich nicht mehr ohne dich leben kann. Nein, das fällt mir wirklich nicht schwer. Am liebsten würde ich das in ganz großen Buchstaben an jede Wand dieser Stadt schreiben, denn es ist wahr und es ist das Schönste und Beste, was ich je für einen Menschen empfunden habe.

Nein Flip, schwer fällt es mir deshalb, weil ich jetzt leider genau weiß, dass wir niemals eine Chance haben werden, wir niemals eine Chance haben dürfen!

Flip, ich liebe dich so sehr, dass ich fast wahnsinnig werde, und ich verzehre mich nach dir, dass es richtig weh tut. Aber ich weiß auch, dass es nicht sein kann und dass, wenn man einen Menschen wirklich so liebt wie ich es tue, es auch nicht sein darf.

Ich bin schmutzig. Ja, du hattest Recht, ich bin eine Schlampe und ich habe solange durch die Gegend gevögelt, bis ich schließlich an AIDS krepieren werde. Du konntest es nicht wissen, als du es mir an den Kopf geworfen hast, aber dennoch hast du Recht. Ich bin verseucht und du bist viel zu schade für mich.

Flip, ich werde gehen, denn ich darf dich nicht wieder sehen, aber ich weiß auch, dass ich ohne dich nicht leben kann. Bitte Flip, vergesse mich einfach und suche dir einen hübschen Schnuckel, der zu dir passt und der dich nicht so enttäuschen wird, wie ich das getan habe.

Eine letzte Bitte habe ich jedoch noch an dich! Sprich dich bitte mit Kai aus. Er ist nicht so, wie du denkst. Er ist neben dir sicher der beste Mensch der Welt und ein echter Freund. Sag ihm bitte, wie sehr ich ihn gemocht habe und sag ihm auch er soll sich um Moni kümmern, denn auch sie hat einen besseren Sohn verdient als ich es je war.

Eines Tages werdet ihr sicher alle meinen Entschluss verstehen und erkennen, dass es für alle das Beste war.

Flip, ich liebe dich immer noch so sehr, dass es weh tut.

Und Flip, bitte vergiss mich!

Dein Lucas’

Mir war schwindelig, mein Herz raste, mein Magen krampfte sich panikartig zusammen. Ängstlich und voller Verzweiflung sah ich zu Kai herüber. Dieser sah mich fragend an. Mit zittrigen Händen gab ich ihm den Brief.

Kais Blick flog über die Zeilen, ich merkte wie alle Farbe sein Gesicht verließ. Entsetzen spiegelte sich in seinem Ausdruck, als langsam der schreckliche Sinn dieser Worte durchsickerte.

„Komm mit!“, befahl er plötzlich und zog mich förmlich mit sich. Lucas Mutter sah uns beide fragend und verwirrt an.

„Später Moni. Wir werden dir später alles erklären. Jetzt müssen wir uns jedoch sehr beeilen“, sagte Kai und an mich gewandt: „Komm schnell, wir nehmen dein Auto, wir haben wirklich wenig Zeit!“

„Wohin soll ich denn fahren?“, fragte ich, als wir endlich in meinem Auto saßen.

„Ich bin mir zwar nicht 100 Prozent sicher, aber ich habe da so eine fürchterliche Ahnung. Du hast ja den Brief gelesen und deine Reaktion hat mir gezeigt, dass du das gleiche befürchtest wie ich auch. Fahr erst einmal Richtung Bahnhof. Kennst du das Hochhaus am Platz hinter dem Bahnhof?“ Kai sah mich fragend an, ich nickte.

„Lucas hat sich oft auf das Dach dieses Hochhauses verkrochen, wenn er sich einsam fühlte oder Probleme hatte und einfach mal in Ruhe nachdenken wollte„, fuhr Kai fort. „Irgendwann ist er mal da rauf, aus Jux hat er mir gesagt, er hatte irgendwie herausgefunden, dass die Tür zum Treppenhaus nach oben hin nicht abgeschlossen ist. Thomas wohnt in einem der Apartments dort und bei einem seiner Besuche mit Moni zusammen hat er das wohl entdeckt. Nach der Sache mit Peter hat er mich mal eines Abends da mit hinauf genommen. Es ist wirklich atemberaubend da oben. Ich konnte gut verstehen, dass es einen dorthin verschlagen kann, wenn man in Ruhe über etwas nachdenken möchte. Ich befürchte nun jedoch das Schlimmste.“

Kai sah mich verzweifelt an.

„Flip, wirklich, ich hoffe ich habe Unrecht, aber ich befürchte Lucas könnte sich wirklich was antun!“

Meine Kehle war wieder einmal wie zugeschürt. Ich nickte lediglich und mein Blick fragte nur, wie und wo?

„Flip, wir müssen zu dem Hochhaus und irgendwie auf das Parkdeck gelangen. Schnell Flip, wir dürfen keine Zeit verlieren!“

Ich gab Gas. Ampeln und Verkehrszeichen existierten nicht mehr. Wie im Trance ereichten wir den Platz hinter dem Bahnhof. Ich suchte die Auffahrt zu dem Parkdeck des Hochhauses und wurde schließlich fündig. Eine Schranke versperrte die Zufahrt. Kai sah mich an.

„Flip, was hast du vor?“

Ich gab Gas.

Ein hässliches Geräusch folgte dem unmittelbaren Kontakt zwischen Schranke und dem weinroten Lack meines Wagens. Die Schranke sprang zur Seite weg. Scheinbar ohne großen Schaden zu nehmen. Mein Wagen interessierte mich herzlich wenig, da war nichts, was man nicht mit ein wenig Geld wieder ungeschehen machen konnte. Was man jedoch nicht wieder ungeschehen machen konnte, war der Verlust meines Weihnachtsengels. Ich sauste die Auffahrt hoch. Ich hoffte, dass es keine Kameras gab oder zumindest niemanden, der jetzt die Bilder auswerten würde. Polizei war das Letzte, was wir jetzt brauchen konnten. Ich wollte meinen Lucas, nicht mehr und nicht weniger. Ich selbst hatte ihn durch meine bodenlose Dummheit so weit gebracht und ich selbst musste ihn nun auch wieder zurückholen. Auf dem letzten Parkdeck angekommen fuhr ich bis direkt an die Tür zum Treppenhaus heran. Kaum dass ich anhielt, sprang Kai bereits aus dem Wagen. Ich versuchte erst gar nicht den Wagen großartig zu parken, sondern ließ ihn so stehen wie er gerade stand und sprang ebenfalls heraus. Ich lief wie wahnsinnig hinter Kai hinterher und hechtete die Treppen hinauf. Auf halber Strecke holte ich ihn ein und überholte ihn sodann. Trotz meines Lauftrainings drohte mir fast die Luft weg zu bleiben, als ich schließlich die Tür zum Dach erreichte. Mit zittrigen Knien blieb ich kurz stehen, hinter mir hörte ich, wie Kai die Treppen hoch keuchte. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Sollte Lucas hier sein, sollte er noch keinen Blödsinn angestellt haben, wollte ich ihn auf keinen Fall erschrecken oder in die Enge treiben. Ganz langsam schob euch mich durch die Tür. Meine Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit draußen, die zudem von der riesigen Leuchtreklame vom Turm gegenüber durchbrochen wurde. Kai hatte Recht, der Blick über die Stadt war von hier aus atemberaubend. Doch dafür hatte ich nun keinen Sinn. Verzweifelt scannte ich das Dach des Hochhauses. Immer in der Erwartung jemanden am äußersten Rand des Daches stehen zu sehen. Aber da war niemand. War ich zu spät? Hatte mein Engel bereits sich und damit auch mich ins Unglück gestürzt? Würde ich je mit dieser Schuld leben können? Würde auch mir nichts anders übrig bleiben als den gleichen Weg zu gehen? Voller Panik und Verzweiflung betrat ich mit weichen Knien das Dach.

Dann sah ich ihn. An einen der Fahrstuhlschächte gelehnt kauerte eine dunkle Gestallt. Vorsichtig und auf Zehenspitzen näherte ich mich ihm. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Kai nun ebenfalls die Tür zum Dach erreicht hatte und im Begriff war mir zu folgen. Energisch winkte ich ab. Dies war meine Aufgabe. Ich hatte alles vermasselt und nur ich konnte meinen Engel wieder zurückholen.

Wenige Schritte trennten mich noch von meinem Engel. Ich hörte ihn schluchzen. Mir krampfte sich mein Herz zusammen, als ich ihn dort völlig fertig und zusammengekauert sitzen sah.

„Lucas mein Engel“, hörte ich mich leise flüstern. “Mein Schatz, ich war ein so unsagbar dummes und arrogantes Arschloch, kannst du mir jemals wieder verzeihen?“

Er sah mich nicht an, doch ich war mir sicher, dass er mich bemerkt hatte.

„Ich kann es nicht, ich schaffe es einfach nicht“, wimmerte er. “Flip, glaub mir, ich habe es wirklich versucht, ich stand dort am Rand und wollte es wirklich, aber ich hatte solch eine verdammte Angst. Ich kann es einfach nicht. Dabei wäre es das Beste für uns alle. Flip, bitte verzeih mir, ich weiß du verachtest mich und du hast allen Grund dazu, aber ich lieb dich doch so sehr, bitte hilf mir!!“

Mir wurde übel, ich spürte ein furchtbares Stechen in meinem Herz, mir schossen die Tränen in die Augen. Gibt es auf der ganzen Welt irgendjemanden, der so einen Engel leiden sehen könnte? Ich konnte es jedenfalls nicht und ich stürzte auf meinen Engel zu und nahm ihn fest in beide Arme. Ich spürte, wie er sich erschrocken aus meiner Umklammerung befreien wollte.

„Nicht Flip, das darfst du nicht. Ich werde dich anstecken. Das darf nicht sein. Niemals würde ich mir das verzeihen können! Du hast doch gar keine Ahnung, wen oder besser was du da gerade in den Armen hältst...“

„Schhh…, Lucas ruhig. Nichts dergleichen wird passieren“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Ich weiß Bescheid, Kai hat mir gründlich den Kopf gewaschen und mir alles erzählt und es ist mir egal. Aber eins ist mir mit Sicherheit nicht egal, und das bist du, Lucas. Egal was passiert, dich möchte ich bestimmt nie wieder verlieren. Außerdem ist ja noch gar nichts wirklich sicher und selbst wenn, es gibt Medikamente und es gibt Behandlungsmethoden. Wir werden uns entsprechend verhalten und wir werden trotz allem eine Zukunft haben. Also bitte Lucas, zieh dich selbst nicht so runter und gib uns beiden noch eine Chance. …Und Lucas, noch eins, ich bin so wahnsinnig froh, dass du dich nicht getraut hast. Lucas, ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte, ich will dich und ich will nie mehr ohne dich sein, geht das in deinen hübschen Schädel rein? Bitte mach nie wieder so einen Scheiß, versprich mir das, bitte! Lucas, ich brauche dich. Mit oder ohne Virus, das ist mir so etwas von egal - Lucas, ich liebe dich!“

Noch immer wich er meinem Blick aus. Ich löste meine Umarmung und nahm seinen Kopf in beide Hände. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen uns beide in die durch Tränen geröteten Augen. Meine Lippen näherten sich seinem Mund, sein betörender Duft umströmte meine Nase. Ich spürte seine weichen warmen Lippen, die er fest verschlossen aufeinander gepresst hielt. Ich gab jedoch nicht auf. Zärtlich streichelte ich durch seine Haare. Mit der anderen Hand fuhr ich seinen zarten und zitternden Körper entlang. Ich strich über seinen Rücken, dann sein Gesäß entlang, dann über seine Brust. Immer noch meine Lippen fest auf seinen Mund gedrückt. Meine Zunge spielte an seinen Lippen. Meine Hand fuhr seinen festen Bauch entlang, um sich dann in seinem Schritt zu verirren. Ich merkte, wie er sich langsam entspannte. Nur die große Beule, die ich in seiner Hose spürte, zeigte mir, dass sich zugleich eine andere Region seines Körpers stark erregte. Plötzlich öffneten sich seine Lippen und gewährten meiner Zunge Einlass. Auch seine Zunge begann plötzlich auf Entdeckungstour zu gehen. Ein wilder Kampf begann. Ich spürte seine festen Arme um mich, unsere Körper rieben wild aneinander. Nicht mehr lange und ich würde kommen.

„Halt Flip, nicht! Das Virus!!“

Lucas war aufgesprungen. Wieder zitterte er am ganzen Körper. Ich stand auf und nahm ihn wieder fest in meine Arme.

„Lucas, hast du denn gar nicht zugehört? Es ist mir egal. Du bist mir wichtig, sonst nichts. Und so leicht steckt man sich bestimmt auch nicht an. Bitte Lucas, gib dir doch eine Chance. Gib uns eine Chance. Zusammen werden wir alles durchstehen. Egal, was da kommen mag!“

„Flip hat Recht. Mensch Lucas, was hast du uns nur für einen Schreck eingejagt.“ Erst jetzt bemerkten wir Kai, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte.

„Lucas, du hast Freunde. Die sind immer für dich da. Du musst da nicht alleine durch. Vertrau uns doch bitte!„

Ich konnte Kai nur Recht geben. Aufmunternd blickte ich ihn an. Kai kam auf uns zu und nahm uns beide in den Arm. Ich spürte, wie Lucas ruhiger wurde, sein Zittern ließ zunehmend nach. Da standen wir nun. Mitten in der eiskalten Nacht auf einem der beiden höchsten Gebäude dieser Stadt. Angeleuchtet durch die riesige, blau-weiße Leuchtreklame des Turms gegenüber. Eng umschlungen, ängstlich wegen dem, was kommen würde und doch unsagbar glücklich über das, was wir hatten, nämlich uns und die unbedingte Liebe. Die brüderliche Liebe zwischen Lucas und Kai, die langsam auch auf mich abzufärben begann, und die Liebe zwischen mir und meinem Weihnachtsengel, der nichts und niemand mehr etwas anhaben konnte. Minuten, Stunden, Tage. Ich weiß nicht wie lange wir dort standen, doch es war einer der wichtigsten und aufregendsten Momente unseres Lebens, darin waren wir uns einig.

Dies ist nun vier Tage her. Vier Tage, die in ihrem Auf und Ab einer Achterbahn glichen. Zwei Tage nach dieser aufreibenden Umarmung auf dem Dach kam das Ergebnis des Bestätigungstests. Kai und ich hatten Lucas zur MHH begleitet und waren mindestens genauso aufgeregt und mit den Nerven am Boden wie er. Der Test war negativ und mit einer 99,9996 prozentigen Sicherheit konnte nun ausgeschlossen werden, dass dieser Peter meinen Lucas mit diesem schrecklichen Virus infiziert hatte. Wie sich leider später herausstellte, hatten nicht alle seiner Sexpartner dieses Glück. Was mit diesem Peter geschah, war mir herzlich egal. Das Schicksal seiner bedauernswerten Opfer hingegen berührte mich schon. Lucas hatte noch mal tierisches Glück gehabt, andere hingegen nicht. Diese Tatsache machte mich glücklich und wütend zugleich. In dem Gespräch mit dem leitenden Arzt stellte sich übrigens heraus, dass Lucas niemals hätte von dem Ergebnis des ersten Tests erfahren sollen. Dieser so genannte Suchtest ist zwar sehr einfach durchführbar, hat jedoch eine gewisse Unschärfe. Wird wie in Lucas Fall eine HIV-Infektion diagnostiziert, so kann dies auch eine falsch-positive Diagnose sein. Um dies sicher auszuschließen, wird dann der deutlich aufwendigere Bestätigungstest durchgeführt. Erst nach diesem Test wird der Patient über das Ergebnis unterrichtet. Ein blöder Fehler eines Praktikanten hatte in Lucas Fall für die Zusendung des folgenschweren Briefes gesorgt. Der Arzt hatte sich in dem Gespräch noch tausendmal für dieses Missgeschick entschuldigt. Obwohl ich kein sonderlich bibelfester Christ bin, danke ich noch jetzt Gott auf Knien dafür, dass nicht noch Schlimmeres wegen diesem blöden Missgeschick passiert ist.

Die letzten beiden Tage waren dann wie ein Traum für uns. Kai hatte sich über die Feiertage mit einigen netten Jungs aus Thomas Jugendgruppe zum Skilaufen in den Bergen verabredet. Einige von denen hatten ähnlich ’nette’ Erzeuger wie Kai und mussten oder durften daher auf Familienanschluss verzichten.

Ich hatte mich schließlich Thomas gegenüber geoutet. Offiziell jedenfalls, denn zu wissen glaubte er es ja schon lange. Damit hatte ich also einen ‘Nur’-Arbeitskollegen verloren und einen sehr guten Freund gewonnen.

Thomas und Moni waren sich ebenfalls einen weiteren Schritt näher gekommen. Nachdem der erste Schock über das Geschehene, welches wir den beiden in einem Gespräch am Abend ausgebreitet hatten, verklungen war, berichtete uns Moni mit deutlich schlechtem Gewissen, dass sie und Thomas über die Feiertage wie schon angekündigt einen Kurzurlaub machen wollten. Nachdem sie aber nun diese Beinahekatastrophe mitbekommen hatte, wollte sie ihren Lucas nicht alleine lassen.

„Zumal mein Spatz ja auch noch am ersten Weihnachtstag Geburtstag hat!“, wie sie entschuldigend sagte.

„Nichts da, du wirst erstmal mit deinem Thomas einen schönen Urlaub machen!“, hatte mein Engel darauf hin ganz entrüstet geantwortet. “Und allein bin ich ja nun wirklich nicht, denn ich habe schließlich meinen Flip und den gebe ich auch bestimmt nicht wieder her!“ Um dann das Gesagte noch mit einem dicken Kuss zu besiegeln.

Moni guckte uns selig an und Thomas gab uns seinen hochgesteckten Daumen. Tja, bei denen war dann ja alles okay. Doch dann war da doch noch etwas, was mich sehr belastete.

Lucas hatte nämlich darauf bestanden nun auch meine Mutter kennen zu lernen und vorgeschlagen die Feiertage, so wie ich es ja auch zuvor geplant hatte, bei ihr zu verbringen. Nun jedoch zu dritt.

„Du kannst mich ja als einen Freund und nicht als den Freund vorstellen, wenn du dich nicht traust“, hatte er mir dann mit einer unverschämten Mischung aus breitem Grinsen und Dackelblick vorgeschlagen.

„Nichts da!“, war daraufhin meine Antwort. „Wenn, dann bleibe ich schon bei der Wahrheit, komme was wolle. Ich werde meinen süßen Schnuckel doch nicht als irgendeinen Freund ausgeben!“ Ein Kniff in seinen unglaublich sexy Hintern hatte dann auch sein unverschämt breites Grinsen aus dem Gesicht gezaubert.

Auf der Fahrt nach Hause zu meiner Mutter hatte ich dann meinen voreiligen Schritt mich bei ihr so überstützt zu outen ziemlich verflucht. Was, wenn sie damit nicht klar kam? Würde ich eine Ablehnung, so wie Kai sie erleben musste, so einfach wegstecken? Ich blickte zu meinem Engel herüber, der selig in den Beifahrersitz gekuschelt schlief. Okay, dachte ich, egal was passiert, mein süßer Engel ist dieses Risiko auf jeden Fall wert. Ich hatte zwar meiner Mutter kurz am Telefon angekündigt, dass ich nicht allein kommen werde, sondern meinen Schatz mitbringen werde. Sie über das Geschlecht meines Schatzes aufzuklären, hatte ich aber in der Hitze des Gefechts total vergessen.

So stand ich dann da, mit meinen Weihnachtsengel zusammen Hand in Hand und wartete ängstlich darauf, dass meine Mutter die Haustüre öffnete. Plötzlich sprang auch schon die Tür auf und ich fand mich in den Armen meines Mütterchens wieder.

„Ach hallo mein Sohn, schön dich mal wieder so richtig knuddeln zu können!“, rief sie begeistert. Nach einer Weile ließ sie mich los und trat einen Schritt zurück. Dann betrachtete sie eindringlich musternd meinen Weihnachtsengel. Nervös knibbelte ich an dem Saum meiner Jacke.

„Aha, das ist also dein Schatz?“, fragte sie nach einer Ewigkeit. Ängstlich sah ich zwischen ihr und Lucas hin und her. Plötzlich legte sich ein breites Grinsen auf das Gesicht meiner Mutter. „Na ja, Geschmack hast du ja, das muss man dir neidlos eingestehen! So und nun kommt mal rein, ihr beide, ihr müsst ja förmlich ausgehungert sein, nach so einer langen Reise. Und du guck mich nicht so bedröppelt an„, fuhr sie mich nicht ganz ernst gemeint an. “Hey, ich bin deine Mutter, dass du mit Frauen nicht wirklich etwas am Hut hast, ist mir schon vor einiger Zeit klar geworden, aber ich habe mir halt gedacht, dräng ihn nicht dazu, dir das zu erzählen, irgendwann wird er schon von selbst damit ankommen.“

Ich war platt und überglücklich zugleich. Konnte eigentlich ein Mensch allein soviel Glück verdient haben? Aber schließlich war ja Weihnachten und da fragt man nicht, warum man glücklich ist, man freut sich einfach, wenn es so ist. Und glücklich, tja das bin ich noch immer. Überglücklich und unsagbar dankbar. Wieder schau ich zu dem Engel hinüber, der so selig schlummernd neben mir liegt und in seinen Geburtstag hinein schläft. Wieder kommt mir der gestrige Abend in Erinnerung. Nach der Bescherung, wir hatten uns beide echt goldene Ringe mit den eingravierten Namen des jeweils anderen und dem Datum unseres ersten Zusammentreffens geschenkt, einem üppigen Weihnachtsessen und einem schönen, besinnlichen Abend an dem wir uns zusammen mit Mütterchen Terminator II auf einen der Weichteilsender angesehen hatten, zogen Lucas und ich uns ins Gästezimmer zurück. Schnell hatten wir mit unseren Klamotten eine Spur zum Bett gelegt, die Hänsel und Gretel als blutige Anfänger erscheinen ließ. Auf dem Bett liegend verfingen wir uns in einer wilden Umarmung. Zum ersten Mal überhaupt spürten wir unsere vollkommen nackten Körper aufeinander. Mit heißen, verlangenden Küssen erforschten wir uns gegenseitig. Lucas rieb meinen Ständer mit seinen weichen Händen bis ich kurz davor war zu explodieren. Ich revanchierte mich auf ähnliche Art und Weise.

„Flip, ich möchte dich in mir spüren, bitte“, hauchte mir mein Engel völlig versaut entgegen.

Mein Herz machte einen Freudensprung. Klein Jan-Phillip tat es ihm gleich, ich musste mich stark konzentrieren nicht schon vorher zu kommen. Eilig kramte ich in meinem Kulturbeutel, der auf dem Nachttisch neben dem Bett stand.

„Mann, was suchst du denn?“, fragte mich Lucas, der ungeduldig auf die Erfüllung seines Wunsches wartete.

„Ach, diese verdammten Gummis. Ich weiß doch, ich habe extra welche eingepackt.“

Lucas sah mich plötzlich enttäuscht an.

„Flip, also doch. Es macht dir doch was aus, dass ich beinahe mit HIV infiziert worden wäre. Du hast Angst mit mir zu schlafen. Gib es zu.“

Lucas hatte sich aufgesetzt und sah mich tief traurig an. Er kämpfte mit den Tränen.

„Ach, mein kleiner, dummer Engel“, säuselte ich und nahm ihn in den Arm. „Ich hab doch keine Angst vor dir, ganz im Gegenteil! Wie du weißt, habe ich ja an dem Tag als du dein endgültiges Ergebnis bekommen hattest auch einen Test machen lassen und mein Ergebnis bekomme ich frühestens in ein paar Tagen. Also, solange ich nicht hundertprozentig sicher darin bin, dass ich dich nicht mit irgendetwas anstecken kann, mache ich es lieber mit dem Gummi. Ist doch klar oder? Mann Lucas, ich lieb dich doch, und zwar so sehr, dass es beinahe weh tut!“

Mein Engel sah mich vollkommen verliebt an, Tränen, doch dieses Mal Tränen des Glücks, standen in seinen Augen. Er beugte sich ganz nah zu mir hinüber und nahm mich fest in seine Arme.

„Flip, ich lieb dich mindestens tausend und einmal mehr“, hauchte er mir ins Ohr.

Was dann folgte, war das Schönste und Vollkommenste, was ich je erlebt hatte. Ich kam in ihm, er kam in mir. Wir liebten uns bis zur vollkommenen Erschöpfung und ich weiß nicht mehr, wie ich überhaupt jemals auch nur eine Minute ohne ihn leben konnte.

Dies alles und noch einiges mehr ging mir durch den Kopf und so kam es, dass ich nun hier sitze und alles aufschreibe und sei es nur, um etwas Klarheit in meinen kleinen armen Schädel zu bekommen.

Heute werden wir drei erst einmal Lucas Geburtstag feiern. Morgen werde ich dann meinen Freunden hier meinen kleinen süßen Engel vorstellen. Es wird sicher ein richtiger Schock für sie werden und hier in unserem kleinen Dörfli für einen handfesten Skandal sorgen. Klar habe ich ein wenig Angst. Aber meine Freunde wären sicherlich nicht meine Freunde, wenn sie uns nicht verstehen und zu uns halten würden. Und was der Rest so sagt und denkt, ist mir herzlich egal. Mütterchen wird mit denen schon fertig werden. Und Lucas und ich werden nach Weihnachten sowieso wieder aufbrechen. Zu Silvester wollen wir beide nach Berlin. Ich habe Lucas von dem Pfannkuchenlauf erzählt. Er war sofort begeistert und wollte auch mitlaufen. Da habe ich dann wohl auch gleich meinen schwulen Laufpartner gefunden. Tja, und dann Silvester am Brandenburger Tor, das ist dann ja wohl klar.

Ich werde nachher wohl mal Kai anrufen. Ihm ein frohes Fest wünschen. Ob er sich schon einen süßen Schnuckel angelacht hat beim Skifahren oder beim Après-Ski?

Ich bin überglücklich. Alles ist im Fluss. Ich habe Lucas und Lucas hat mich. Nichts auf der Welt kann uns etwas anhaben. Schöner kann das neue Jahr nicht beginnen. Was es wohl bringen wird, das neue Jahr, wo werden wir dann wohl stehen, so in einem Jahr? Wird Kai seinen Mr. Right finden? Wird er sich jemals mit seinen Eltern versöhnen können? Lucas und ich, werden wir dann auch noch so glücklich sein wie jetzt? Ich blicke zu meinem Weihnachtsengel hinüber, lege meinen Laptop zur Seite und schmiege mich dicht an seinen seidig glatten Körper. Seine Wärme und sein Duft jagen mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

All die Fragen in meinem Kopf verblassen. Was passieren wird, wird passieren und ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die ich vielleicht ein anderes Mal aufschreiben werde. Was zählt, ist das Hier und Jetzt.

Anscheinend hat meine Umarmung Lucas aufgeweckt. Er dreht sich in meinen Armen. Er blinzelt mich an. Er kuschelt sich eng an mich. Ich spüre die Hitze seines Körpers, sein Herz, wie es leicht erregt in seiner Brust schlägt und ich bemerke, wie sein harter Schwanz gegen meine Bauchdecke drückt.

„Guten Morgen, mein Schatz“, grinst er mich unverschämt unanständig an.

„Na, du Nimmersatt, hast du schon wieder Lust auf mich?“, frage ich. „Ja, mein Süßer, außerdem warte ich doch noch auf mein Geburtstagsgeschenk von dir“, haucht er mir verliebt entgegen. Ich kann nur blöde grinsen. Ich sinke in seine Arme und verliere mich in seinen süßen Augen.

„Lucas“, stöhne ich, „mein Weihnachtsengel, lass mich bitte nie wieder los!“

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