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Trapped

Teil 2 - Stand by me

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Inhaltsverzeichnis

Fabian

„Ich fand es auch ... nicht unangenehm“, hörte ich mich sagen. Patrick sah mich erst irritiert an, lachte dann aber.

„Touché, Kleiner.“

Liebevoll sah er mich an und mir wurden die Knie weich. Ein Traum begann sich zu erfüllen.

Patrick hatte mich erneut völlig in seinen Bann geschlagen, nachdem ich schon beinahe aufgegeben hatte.

„Das war also unser erster Kuss …“, flüsterte ich mit einem verträumten Lächeln.

Ungeachtet der Uhrzeit schlenderten wir unter den amüsiert bis irritiert wirkenden Blicken der Kollegen nach draußen.

„Ich glaub das gerade nicht“, lächelte Patrick.

„Frag mich mal. Damit hätte ich bei dir nicht mehr gerechnet. Gehofft ja, aber nicht erwartet.“

„Und du wolltest wirklich verschwinden?“ Schuld und Reue stand in seinen Augen. Ich nickte nur.

„Deshalb hab ich ja bei Kramer gek... Oh Mist!“ Ich riss mich von seiner Hand los und rannte zurück in die Firma.

„Moni, wo ist der Chef?“, fragte ich keuchend.

„Gerade in den Kopierraum gegangen. Und herzlichen Glückwunsch für euch beide.“

Dankbar lächelte ich sie an und rannte in den besagten Raum. Patrick war dicht hinter mir.

„Herr Kramer, die Kündigung ...“ Er unterbrach mich mit einer unwirschen Geste und ließ meinen Umschlag in den Shredder fallen. Dann lächelte er mir zu.

„Welche Kündigung, Herr Westerkamp? Hatten Sie mich nicht nach ein paar freien Tagen für Herrn Reder und Sie selbst gefragt?“

Verdattert starrte ich ihn an und er lachte. „Ich lasse Sie nur ungern gehen, Sie erinnern sich? Und nun kehrt endlich Frieden in diese Firma ein, nachdem sie beide sich ja offensichtlich ...“, er machte, eine kleine Kunstpause, „offensichtlich vertragen haben.“

Dann wurde er jedoch sehr ernst.

„Sie werden noch genug Schwierigkeiten bekommen, nehme ich an.“

Mit diesen Worten holte er Patrick und mich von unserer Wolke auf den Boden der Tatsachen zurück. In der Firma würde es sicherlich keine Probleme geben, aber es lag noch so viel im Argen. Immerhin war Patrick ein werdender Vater und die Mutter würde uns vermutlich nicht ewig vom Hals gehalten werden.

Und ob Patrick sich wirklich im Klaren darüber war, dass wir nun eine völlig neue Ebene unserer Beziehung zueinander erreicht hatten? Sicher würde er jetzt nicht plötzlich mit allen Einzelheiten meines Körpers zurechtkommen.

Kramer schien meine Gedanken im Ansatz zu erraten und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Sie schaffen das schon.“

„Danke, ich hoffe es auch.“

„Herr Reder, Sie dürfen gerne eintreten. Auch für Sie hätte ich noch ein paar ernsthafte Worte.“

Patrick schlich langsam in den Raum und sah aus wie ein geprügelter Hund. Die Euphorie unseres Kusses schien verpufft zu sein und er wirkte unsicher und irgendwie verschlossen, fast schon abweisend. Kramer wandte sich kurz von uns ab und schloss die Tür.

„Herr Kramer?“ Mein Freund – ich ließ dieses Wort in Gedanken wieder und wieder auf der Zunge zergehen - trat dem Chef etwas unsicher gegenüber. Sehr zu meiner Überraschung griff er jedoch nach meiner Hand und hielt sie eisern fest. Kramer registrierte es mit einem wohlwollenden Nicken.

„Herr Reder, um es gleich am Anfang klarzustellen: Ich habe keine Probleme mit Homosexuellen. Für sie gelten dieselben Regeln wie für alle in diesem Haus. Hier wird gearbeitet, und nichts sollte dem entgegenstehen. Und ich bin froh über diese neue Situation, dass der Betriebsfrieden nun nicht mehr gestört wird. Aber wenn sich da etwas bei Ihnen beiden anbahnen sollte, sorgen Sie bitte dafür, dass hier alles seinen geregelten Verlauf nimmt.“

Patrick fühlte sich bei dieser Ansprache nicht besonders wohl. Mir war selber nicht ganz klar, wie nah ihn sein Verhalten an den beruflichen Abgrund geführt hatte.

„Wenn Sie Probleme bekommen sollten, sei es wegen Ihrer Familie oder dieser Schwangerschaft, dann können Sie mit mir darüber reden. Ihnen ist klar, dass wir hier mit freiem Kopf arbeiten müssen, um unsere Kunden zu halten. Und wenn Sie aus privaten Gründen etwas mehr Freizeit benötigen, dann komme ich Ihnen, im Rahmen meiner Möglichkeiten, auch entgegen. Aber machen Sie den Mund auf, verstanden?“

Patrick konnte nur noch nicken. Kramer hatte uns völlig überrascht.

„Gut, meine Herren, ich möchte sie beide bis Montag nicht mehr sehen. Sie haben sicherlich noch einiges zu erledigen. Sollte ich Ihre Hilfe benötigen und davon muss ich leider ausgehen, dann regeln wir das per Email.“

„Einverstanden.“ Patricks Hand glitt aus meiner, er streckte sie Kramer hin, der sofort einschlug. „Danke, Chef.“

Mit einer wegwerfenden Geste deutete der ältere Mann auf die Tür. „Raus jetzt!“

Auf dem Weg zum Auto ergriff er wieder meine Hand. Diesen Halt hatte ich auch bitter nötig, denn meine Eltern mussten auch noch informiert werden. Sie würden mich bestimmt für geisteskrank halten. Mit Feuereifer schmiedeten sie schon Pläne für die nahe Zukunft, um mich aus meinem Elend zurück ins elterliche Nest zu holen.

Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und glitt an meinem Gesicht aufwärts. „Geht es dir nicht gut?“ Ich schmiegte meine Wange in seine Handfläche.

„Meine Eltern denken, dass ich spätestens übermorgen nach Hause komme. Vermutlich suchen sie schon nach einer kleinen Wohnung in der Nähe.“

„Ich habe wohl denkbar schlechte Karten bei ihnen.“ Seine freie Hand zuckte unschlüssig. Er wollte mich umarmen, schreckte aber davor zurück. Ich nahm ihm die Entscheidung ab und zog sie auf meine Hüfte.

„Sie werden dich zu den Haien ins Meer werfen, ganz bestimmt.“ Nicht gerade begeistert schaute er mich an. Der Scherz war missglückt. „Oder sie geben dir eine zweite Chance, so wie ich.“

Diesmal lachte er auf. „Eine zweite Chance wie du? Es waren dutzende Chancen.“ Seine Stimme wurde wieder etwas ernster, als er meinen Gedanken von vorhin aufnahm. „Und ich hoffe, dass du mir auch weiterhin Chancen gibst. Das ist alles so neu für mich und ich werde bestimmt noch Fehler machen.“ Patrick öffnete die Autotür und ließ mich Platz nehmen, bevor er auf seine Seite ging.

„Was geht dir durch den Kopf, wenn du daran denkst, mich anzufassen?“, fragte ich, als wir beide Türen geschlossen hatten.

Ein anzügliches Grinsen huschte ihm über das Gesicht. „Daran denken ist eine Sache. Es tatsächlich zu tun ist etwas anderes. Als wir ... als du, ich meine, als wir ... bei mir ...“, er stotterte und wurde leicht rot, was bei ihm sehr ungewohnt war und irgendwie verdammt süß wirkte. Seine Hand krampfte um das Lenkrad und er atmete tief durch. „Als du neben mir lagst und ... es ... dir gemacht hast. Ach Fabi, hilf mir bitte.“

Ich guckte ihn mit gespieltem Entsetzen an. „Jetzt? Hier im Auto? Aber da können doch alle zugucken.“

„Du bist doof“, grinste er. „Es hat mir gefallen dich dabei anzusehen.“

„Patrick?“ Natürlich hörte ich das gerne, aber ich wollte auch nicht, dass zwischen uns eine Art Leistungsdruck aufkommt.

„Ja?“

„Bleib einfach locker. Ich bin gerne bei dir und will nicht, dass du dich zu etwas zwingst, bevor du bereit bist. Deine Nähe allein bedeutet mir viel.“

Darauf antwortete er nicht, aber sein Lächeln strahlte ein wenig wärmer als vorher. Wir fuhren los und Patrick hing seinen Gedanken nach. In ihm arbeitete es sichtbar.

„Hast du Hunger?“, fragte er unvermittelt und ich nickte.

Patrick

‚Bin ich glücklich?’ Diese Frage beschäftigte mich seit der Abfahrt von der Firma. Im Prinzip war ich es, aber Fabians Verständnis verunsicherte mich wieder aufs Neue. Er steckte zurück und wollte mich meine Fehler machen lassen. Mein eigenes Verhalten beschämte mich. Hatte er nicht was Besseres als mich verdient? Natürlich brauchte ich ihn jetzt, aber es war egoistisch.

Die nähere Zukunft war beängstigend. Ein Kind war unterwegs, mein Kind. Tini würde bald wieder frei sein, sie konnte nicht wissen, was dieses Foto von Fabi und mir auslösen würde.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, dass mein Freund sich über den Bauch rieb und einen kurzen Blick auf die Uhr warf. Er hatte mit Sicherheit noch nichts seit seiner Abreise aus der Heimat gegessen.

„Hast du Hunger?“ Er nickte und ich steuerte den nächsten Italiener an. Ich war ganz froh über die Unterbrechung, denn mein Arm schmerzte wieder.

Die Mittagszeit war schon vorbei und so fanden wir auch gleich einen Platz. Meine Gedanken schweiften wieder zu Tini und dem Kind. Natürlich würde ich nicht mehr mit ihr zusammenkommen, damit war es vorbei. Aber sollte ich mich nicht trotzdem um das Kind kümmern?

Zusammen mit Fabian würde es schon klappen und Tini würde irgendwann bestimmt einer vernünftigen Regelung zustimmen.

„Und Sie?“ Eine Stimme mit italienischem Akzent unterbrach mich.

„Äh...“

„Für ihn das Gleiche“, sprang Fabi ein, als ich nach einer halben Minute immer noch wie vom Pferd getreten dasaß und den Kellner anstarrte, der dann genervt in Richtung Küche abzog.

„Geht es dir gut?“ Seine Augen ruhten forschend auf mir.

„Ja, doch. Was hast du eigentlich bestellt?“

„Pizza Peperoni mit doppelt Käse und ein Glas Wasser.“

Die Antwort entlockte mir ein Lächeln. „Sehr gute Wahl. Ich liebe diese Pizza.“

„Ich weiß, dass du sie gerne isst. Du hast sie schon mehrfach in die Firma bestellt.“ Er wusste schon so viel über mich und ich eigentlich nichts über ihn, von Tommi mal abgesehen und dass er liebende Eltern hatte. Diese Erkenntnis war ein weiterer Dämpfer für meine Stimmung.

„Patrick, was beschäftigt dich? Sag jetzt bitte nicht ‚Nichts’. Du musst nicht alles mit dir selber ausmachen.“

„Wo genau kommst du eigentlich her?“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ein Stückchen westlich von Rostock, ungefähr zwanzig Autominuten. Du musst unbedingt mit mir hochfahren. Die Luft dort ist himmlisch und du riechst das Meer bis zu meinen Eltern.“

„Hast du Heimweh?“

„Manchmal“, antwortete er ehrlich. „Aber hier gefällt es mir auch sehr und, viel wichtiger als das, du bist hier.“

„Wie war er?“ Ich kassierte nur einen fragenden Blick. „Thomas, wie war er so?“

„Uff. Was soll ich sagen? Ich war verliebt in ihn. Für mich war er damals perfekt. Ein verdammt guter Freund. Sein Tod hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Mein Lebensmittelpunkt war plötzlich weg.“ Er unterbrach seine Erzählung und räusperte sich. Die Erinnerung bereitete ihm noch immer Schmerzen.

Ich hob beschwichtigend die Hand. „Tut mir leid, du brauchst nicht weiterreden.“

„Schon gut, irgendwann muss ich ja damit klarkommen. Manchmal verwirrt mich eure Ähnlichkeit. Ihr würdet ohne weiteres als Brüder durchgehen.“

Seine Hand zitterte ein wenig. Ich gab mir einen Ruck und griff nach dieser. Diese Art von Liebesbekundung fiel mir noch immer etwas schwer. Fast schon automatisch suchte ich den Blick zur Tür, aus Angst, mein Vater könnte jeden Moment auftauchen. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn und auch sonst schenkte uns niemand besondere Beachtung.

„Aber darüber hast du vorhin nicht nachgedacht, oder?“ Seine Augen schienen bis in mein Herz zu blicken.

„Nicht nur. Ich hab über Tini nachgedacht. Beziehungsweise über mein Kind. Könntest du dir vorstellen, dass wir uns ab und an zusammen darum kümmern?“

„Ich werde dich nicht im Stich lassen“, antwortete er ausweichend. Mit dieser Frage mutete ich ihm eine Menge zu, denn es betraf eine Zeit, mit der er wenig angenehme Erinnerungen verband.

Das Essen sorgte für eine wohltuende Unterbrechung des Gesprächs, welches uns beide ziemlich heruntergezogen hatte. Schweigend aßen wir unsere Pizza. Und auch nachdem wir fertig waren, sagte keiner von uns ein Wort, bis er aufseufzte.

„Patrick, ich brauch noch etwas Zeit bei der Sache. Und die haben wir ja, naturgemäß noch über ein halbes Jahr. Das Kind ist für mich eine lebende Erinnerung an unser erstes halbes Jahr. Und außerdem ... sei bitte ehrlich: Warst du glücklich mit ihr, bevor du mich getroffen hast?“

„Meistens. Aber mach dir deswegen keine Vorwürfe. Es ist nicht deine Schuld. Oder glaubst du, ich hätte mich gegen meinen Willen mit dir eingelassen? Die Schuld trifft Tini und mich gleichermaßen. Du hast mir lediglich den Ausweg gezeigt. Es ist ja nicht so, dass du dich mir an den Hals geworfen und bedrängt hast.“

„Du hast dich in den letzten Tagen ganz schön verändert“, lächelte er.

„Die Angst dich zu verlieren, hat mir die Augen geöffnet.“

„Ich sollte meine Eltern anrufen. Warte bitte einen Moment.“

Fabian ging kurz vor die Tür und ich winkte den Kellner zum Zahlen heran. Der Kleine stand vor der gläsernen Tür und telefonierte, heftig gestikulierend. Seinen Eltern schien die Planänderung nicht zu passen. Ich konnte es verstehen. Um meine Mutter würde ich mich auch noch kümmern müssen. Ohne meinen Vater, der sie zum Essen zwang, würde sie vermutlich nicht lange durchhalten. Es wurde Zeit, dass ich etwas gegen ihre Alkoholsucht unternahm.

Fabian kam bald zurück und wirkte mitgenommen.

„Nicht gut gelaufen?“, fragte ich.

„Nicht besonders. Sie vertrauen dir nicht.“

Das war ja zu erwarten. „Verstehe“, seufzte ich und beschloss den Kleinen aufzumuntern.

„Süßer?“

Er hob den Kopf und sah mich merkwürdig an. „Hast du eben wirklich ‚Süßer’ gesagt?“

Nickend bestätigte ich seine Frage und ein Strahlen trat erneut in seine Augen.

„Ich möchte mit dir zusammen zu meiner Mutter fahren. Sie braucht Hilfe.“

„Im Ernst? Ich soll mitkommen?“ Der ungläubige Gesichtsausdruck war unbezahlbar.

„Ja, natürlich! Du bist ein Teil meines Lebens geworden und das möchte ich ihr zeigen. Allerdings ist es zu bezweifeln, dass sie davon im Moment überhaupt etwas mit bekommt.“

Mein Student sah nun wieder richtig glücklich aus und griff nach meiner Hand. Zusammen verließen wir das Restaurant und gingen zum Auto. Je näher wir meinem Elternhaus kamen, desto angespannter wurde ich. Auch wenn mein Vater nicht dort sein konnte, die Erinnerungen an den letzten Sonntag waren übermächtig. Feucht rann mir der kalte Schweiß über die Stirn.

„Alles okay mit dir?“ Die sorgenvolle Stimme Fabians rettete mich aus den furchteinflößenden Gedanken.

„Geht schon“, antwortete ich gepresst. „Der Sonntag steckt noch in den Knochen.“ Die Todesangst, die ich bei dem Gedanken verspürte, musste ich nicht extra erwähnen. Sein mitleidiger Ausdruck sprach Bände.

Kurz darauf stoppte ich den Wagen neben meinem Elternhaus und warf an Fabian vorbei einen vorsichtigen Blick darauf ...

„Hier?“ Erstaunt musterte er das villenartige Haus mit dem viktorianischen Bogen über der Tür, der nachträglich angebaut worden war. Mein Vater stand dort jeden Morgen und wartete auf die Zeitung. „Wow, ein schönes Haus.“

„Oberflächlich vielleicht.“ Für mich strahlte es Kälte aus. „Dann lass uns mal rein gehen.“

Fabian folgte mir zur Tür und ich betätigte die Glocke, doch niemand öffnete. Antonia hatte sich nach der Verhaftung wahrscheinlich abgesetzt.

„Komm!“ Ich griff nach der warmen Hand meines Freundes und zog ihn um das Haus herum. Ein kleines Holztor führte in den Garten, der früher sehr gut gepflegt war und nun zusehends verwilderte. Der ehemals makellose Rasen war von Unkraut überwuchert.

Ich hielt geradewegs auf die Kellertreppe zu und hoffte, dass der Schlüssel noch immer in seinem alten Versteck lag. Die alte Wandlampe im Treppengang ließ sich leicht zur Seite kippen und in einem kleinen Loch, welches sich hinter der Lampenblende befand, lag der gesuchte Gegenstand. Das alte Türschloss öffnete sich mit einem rostigen Quietschen.

Wir betraten die kleine Vorkammer, in der wir früher immer die Klamotten für die Gartenarbeit deponiert hatten. Mittlerweile war der Raum, bis auf einen einsamen Besen, leer. Die nächste Tür führte in den Vorratskeller. In den Wandregalen befanden sich dutzende Weinflaschen und auch die Whiskeyflaschen meines Vaters.

Fabian betrachtete die Flaschen eingehend. „Single-Malt?“ Die Erinnerung an meinen alkoholischen Zusammenbruch jagte ihm einen kurzen Schauer über den Rücken.

„Es ist hoffentlich das Einzige, was ich mit ihm gemeinsam habe.“ Ich zögerte einen Moment. „Hatte. Zumindest in dem Ausmaß.“

Wir verließen den muffigen Keller und betraten den eigentlichen Wohnraum. Bis auf das dumpfe Ticken der Standuhr war es still. In der Küche standen benutzte Töpfe auf dem Herd und verströmten einen ranzigen Fettgeruch. Vaters Pfeife lag an seinem Platz im Essbereich, direkt neben der Sonntagszeitung.

Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn dort sitzen, ein Glas Whiskey vor sich stehend, den schweren Duft des Tabaks in der Luft, wie er mich mit eisiger Miene musterte. Für einen kurzen Moment wurden mir die Beine weich und Fabian war sofort stützend zur Stelle.

„Hier haben wir letzte Woche noch gesessen, als ich ihm von Tinis Schwangerschaft und ... von dir erzählte. Er wollte, dass ich mich um beide Probleme ‚angemessen’ kümmere. Ausgerechnet ihm musste ich davon erzählen ... es ist schwer, wenn man niemanden zum Reden hat.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

„Jetzt hast du mich und kannst mir alles erzählen. Schließlich gehörst du nun ebenfalls zu meiner Familie. Auch meine Eltern werden es noch verstehen.“ Er legte seine Hand auf meine Brust und ein warmes Gefühl gab mir neue Kraft.

„Antonia hat sich vom Acker gemacht, wie es scheint. Mutter ist vermutlich oben.“

Wir gingen leise in den Schlafbereich im ersten Stock. Der Weg führte an meinem alten Zimmer vorbei und ich öffnete die Tür.

„Hier drin bin ich aufgewachsen.“

Fabian warf einen Blick in den Raum und schüttelte den Kopf. „Sah das schon immer so aus?“ Die schmucklosen, braunen Eichenmöbel hatte ich schon mein ganzes Leben. Das schmale Bett neben dem massigen Schreibtisch wirkte verloren und die tristen weißen Wände strahlten eine sterile Kälte aus. Bilder und Poster durfte ich damals nicht aufhängen.

„Ja, es sah immer so aus. Wir hatten strenge Regeln und mich sollte nichts ablenken.“

Wortlos schloss ich die Tür und wir schlichen auf die Tür meiner Mutter zu. Die halb geöffneten Vorhänge ließen diffuses Licht durch die dichten Gardinen strömen. Die Fenster waren geschlossen, es roch nach Schweiß und Alkohol. Mutter lag im Bett und schnarchte leise. Der Cognac stand auf dem Nachtschränkchen. Ihr Anblick war erschreckend. Die Haut war fahl und das Gesicht wirkte eingefallen. Wahrscheinlich hatte sie seit einigen Tagen nichts mehr gegessen.

Sie reagierte nicht auf mein Rufen und ließ sich auch nicht wachrütteln. Fabian sah sich aufmerksam um und blieb an einem gerahmten Foto auf dem anderen Nachtschrank stehen. „Dein Vater?“ Er zeigte auf den stocksteifen Mann im Frack, in dessen Arm sich meine Mutter im altmodischen Kleid eingehakt hatte. Das Bild war bereits 30 Jahre alt.

Ich nickte und griff gleichzeitig zum Telefon. Meiner Mutter konnte ich alleine nicht mehr helfen.

Fabian

Patrick hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Haus war oberflächlich gesehen schön, aber es hatte keine Ausstrahlung, wenig persönliches. Sein Zimmer fand ich besonders schrecklich. Es vermittelte eine negative, fast schon depressive Atmosphäre. Die schweren Möbel waren erdrückend. Es war nicht weiter verwunderlich, wie er zu diesem schwierigen Menschen wurde und ich war froh ihm das alles verzeihen zu können.

Beim Anblick seiner Mutter stockte mir kurz der Atem. Sie sah furchtbar aus. Und dann entdeckte ich das Bild auf der anderen Bettseite. Die eine Person war eindeutig seine Mutter in jüngeren Jahren. Sie war hübsch, hatte aber keine Ähnlichkeit mit Patrick. Der Mann an ihrer Seite, der mich mit seinem strengen Blick nahezu durchbohrte, aber auch nicht.

„Dein Vater?“ Ich zeigte auf den Kerl mit dem kalten Blick und Patrick nickte nur. Es war mir schleierhaft, wie die Beiden so einen hübschen Sohn zur Welt bringen konnten.

„Guten Tag, Herr Doktor Billmeier, Patrick Reder hier. Bitte kommen Sie zum Haus meiner Eltern. Danke.“ Mein Freund steckte sein Telefon zurück in die Hosentasche.

Er bemerkte meinen fragenden Blick. „Sie braucht fachmännische Hilfe.“ Es lag nicht der Hauch einer Emotion in seiner Stimme.

„Liebst du deine Mutter?“ Eine dümmere Frage fiel mir wohl nicht ein. Der neue Ausdruck in seinem Gesicht jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Lieben? Weil sie nie für mich da war? Weil sie meinen Vater alles mit mir machen ließ? Sie hat mich im Stich gelassen, hat sich in den Alkohol geflüchtet. Sie bekommt professionelle Hilfe, mehr kann ich nicht für sie tun.“

Wie gerne hätte ich ihn nun in den Arm genommen, aber seine ganze Haltung schrie ‚Abstand’.

„Lass uns unten warten.“ Ohne die Frau eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte er an mir vorbei zur Treppe.

„Patrick, bitte warte!“ Ich sprintete hinterher und legte ihm die Hand auf die Schulter, die er unwirsch abschüttelte.

„Es tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Die Frage war dumm.“

„Allerdings“, kam es unterkühlt zurück und er lief weiter. Sein Verhalten machte mich sauer.

„Ich hab dir das aber nicht angetan. Und du weißt, wie sehr ich dich liebe.“ Diesmal blieb er stehen und wartete, bis ich aufgeholt hatte. Langsam drehte er sich zu mir um und sah mich schuldbewusst an.

„Sorry“, nuschelte er und streichelte mir flüchtig über die Wange. „Sei mir bitte nicht böse. Das Haus weckt immer meine schlimmsten Seiten. Niemand von uns hatte ein inniges Verhältnis zueinander, von meinem Vater und dem Hausmädchen mal abgesehen.“ Eine gehörige Portion Zynismus mischte sich in seine Stimme, die längst nicht mehr so kalt klang.

Dieses Mal ließ er auch meine Umarmung zu, in die er sich etwas hineinfallen ließ. Nach einem tiefen Atemzug griff er wieder nach meiner Hand und führte mich kommentarlos ins Wohnzimmer, wo wir uns nebeneinander auf die Couch setzten. Er zögerte einen Moment, schob dann aber doch seinen Arm hinter meinen Rücken und zog mich an der Hüfte dicht an sich heran. Gedankenverloren griff er nach meiner Hand und spielte mit meinen Fingern.

„Weißt du, so was hat es hier nie gegeben. Keine Nähe oder Umarmungen. ‚Emotionen behindern uns’, hat Vater immer gesagt.“

„Aber du teilst seine Meinung nicht mehr, oder?“

Statt einer Antwort küsste er mich und wirkte gleich viel befreiter. „Du färbst auf mich ab, denke ich. Kein Mensch hat mich jemals so verwirrt wie du, Fabi.“

Lächelnd kuschelte ich mich an ihn und wir saßen einige Minuten schweigend zusammen. Bis der fürchterliche Türgong mich zusammenzucken ließ. Patrick lachte leise und ging zur Tür.

„Hallo Herr Doktor. Bitte folgen Sie mir.“ Patrick führte einen weißhaarigen Mann im grauen Anzug herein.

„Fabian, bitte warte hier. Ich bin gleich wieder da.“ Er machte es bestimmt nicht mit Absicht, aber seine Stimme hatte wieder einen formell distanzierten Tonfall angenommen.

Die Beiden verschwanden im oberen Stockwerk. Ungefähr zehn Minuten lang lauschte ich dem nervtötenden Ticken der Uhr, bis ich mich ein wenig in der unteren Etage umsah. Auch hier fand ich kaum persönliche Akzente. Die Möbel wirkten alt, gepflegt und schmucklos. Es kam mir vor wie im Museum.

Nirgendwo fand ich Kinderbilder von Patrick. Meine Eltern hatten eine ganze Wand mit meinen Bildern zugepflastert. Im Esszimmer, nahe dem Stuhl mit der Pfeife, hing eine Urkunde der Bundeswehr, ausgestellt auf den Namen Heinrich Reder. Es passte in das Gesamtbild seines Vaters: Zucht und Ordnung, wohin man auch sah.

Mittlerweile waren dreißig Minuten vergangen und von Patrick noch keine Spur. Unruhig setzte ich mich wieder auf das Sofa und wartete. Die trübe Atmosphäre schlug mir auf das Gemüt.

Es dauerte nicht mehr lange, da kamen teppichgedämpfte Schritte näher. Patrick sah mich entschuldigend an, blieb jedoch auf Abstand. „Ich bringe Ihnen dann ein Glas Wasser. Fabian, möchtest du auch etwas trinken?“

Ich nickte leicht und Patrick verschwand für einen Augenblick. Dieser Doktor Billmeier setzte sich auf einen der zwei Sessel und musterte mich abfällig. Vermutlich waren ihm Jeans, Shirt und Sneakers nicht gut genug.

Patrick kam mit drei Gläsern und einer Wasserflasche zurück. Nach dem Einschenken nahm er, sehr zu meiner Enttäuschung, auf dem anderen Sessel Platz. Das bedrückende Schweigen wurde lediglich von der Uhr unterbrochen. Ich hielt es nicht mehr aus.

„Was ist denn jetzt mit deiner Mutter?“

Der Doktor runzelte die Stirn und Patrick wirkte für einen Moment verärgert, als ob er nicht darüber reden wolle.

„Sie wird gleich abgeholt und in eine Klinik gebracht, zum Entzug. Alleine kommt sie nicht klar und es besteht Gefahr, dass sie am Ende noch verhungert.“

Er bemerkte meinen erschrockenen Blick über seine herzlose Wortwahl und lenkte ein. „Es ist das Beste für sie. Doktor Billmeier ist ihr behandelnder Arzt und kümmert sich um die behördlichen Schritte, falls notwendig. Herr Doktor das ist mei ... ein Freund der Familie, Fabian Westerkamp.“

Innerlich zuckte ich zusammen und war sauer, blieb nach außen hin aber ruhig. Patrick sah es mir trotzdem an und warf mir einen flehenden Blick zu.

„Angenehm, schön Sie kennen zu lernen, Herr Westerkamp“, log der Arzt. Seine Stimme hatte einen spöttischen Klang.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Billmeier.“ Meine Stimme klang nicht weniger spöttisch und ich genoss die Verärgerung auf dessen Gesicht, als ich seinen Titel ignorierte. Patrick tat erschrocken, aber ein winziges belustigtes Funkeln schlich durch seine Augen. Dieser Mann war ein eingebildeter Fatzke.

„Ein Freund der Familie also? Herr Reder, ich hatte bereits eine Unterredung mit Ihrem Vater. Ist er zufällig eben ‚dieser’ Freund der Familie?“ Die Abscheu in den Worten war nun offensichtlich und dieser Mensch schenkte mir einen unheilsschwangeren Blick.

„Ganz recht, er ist es.“ Endlich erhob sich mein Freund und nahm demonstrativ neben mir Platz.

„Sie beschämen Ihre Familie. Nicht Ihr Vater gehört in das Gefängnis.“

„Das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen, Herr Doktor Billmeier. Kümmern Sie sich um meine Mutter und lassen Sie mich in Ruhe!“

„Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Die Anspannung im Raum nahm stetig zu und mir war unwohl. Der seltsame Arzt konnte mir ja egal sein, aber wie Patrick sich plötzlich vor ihm, in voller Größe, aufbaute und unnachgiebige Autorität verströmte, hatte etwas Beängstigendes.

„Jetzt hören Sie mir gut zu, Sie Schmarotzer: Ihre Meinung über mich können Sie sich sonst wo hinstecken. Sie sind der Arzt meiner Eltern und genießen gewisse Privilegien, die Ihnen mein alter Herr mit seinem verdammten Geld verschafft hat. Sie mögen vielleicht mit meinem Vater befreundet sein, aber es gibt Ihnen nicht das Recht mich zu beleidigen! Und wenn Ihnen das hier zuviel ist, dann können wir meine Mutter auch in jede andere Klinik einliefern lassen, das ist mir scheißegal! Haben Sie mich verstanden, Billmeier?“ Die Stimme meines Freundes wurde immer leiser und lauernder.

Der Angesprochene schien in den Sessel kriechen zu wollen, peinlichst darauf bedacht, sein Gegenüber nicht mehr zu reizen. Patricks gesamte Haltung war wie die einer Raubkatze, kurz vor dem Angriffssprung. Wenn mich seine Ausstrahlung nicht so verängstigt hätte, dann hätte ich über den duckmäuserischen Arzt gelacht. Aber das Lachen blieb mir im Hals stecken.

Mein Großer bemerkte meine Anspannung und kam einen Schritt auf mich zu.

„Ihnen steht kein Urteil über uns zu. Fabian, kommst du bitte mit mir in das Esszimmer? Er kann hier warten.“

Als ich mich nicht rührte, streckte er mir die Hand entgegen. „Komm schon, bitte“, fügte er deutlich sanfter hinzu und ich ließ mich in den anderen Raum führen. Billmeier sah krampfhaft in eine andere Richtung.

„Entschuldige bitte, aber der Kerl ist wie mein Vater, ein richtig bornierter Drecksack, jedoch feige bis zum Abwinken. Ohne meinen kleinen Auftritt hätte er immer weitergemacht und ich will mit diesem Menschen nicht diskutieren.“

„Charles Manson hätte mir nicht weniger Angst eingejagt als du eben.“

Patrick lachte. „War ich so schlimm?“

„Schlimmer. Für einen Moment sah es so aus, als ob du ihn gleich in winzige Stücke hacken würdest.“

„Ich hab das alles hier so satt. Sollte man sich im Haus seiner Eltern nicht geborgen und ‚daheim’ fühlen? Ich fühl mich hier eingesperrt, wie in einem Mausoleum. Hier drin macht mich alles krank. Am liebsten würde ich den Schuppen abfackeln.“

„Ich weiß echt nicht was ich dir jetzt sagen soll“, antwortete ich nachdenklich. „So was wie hier kenne ich einfach nicht. Aber versuch bitte nach vorne zu schauen. Das hier“, ich machte eine ausholende Geste, „das ist alles Vergangenheit. So sehr ich es mir für dich wünsche, es lässt sich nicht mehr ändern. Der Weg liegt vor uns, nicht hinter uns.“

Patrick lächelte endlich wieder. „Du hast Recht, aber ich werde wohl noch eine Weile brauchen.“

„Wir packen das. Vielleicht sollten wir uns demnächst einen Tapetenwechsel gönnen und einfach mal hier verschwinden. Ans Meer, zum Beispiel.“

„Ich halte es für keine gute Idee, solange deine Eltern noch sauer sind. Die Wogen sollten sich erst einmal glätten.“

„Sie beruhigen sich schneller als du glaubst, wenn sie merken, dass du es wirklich ernst mit mir meinst.“

„Das glaube ich dir ja, aber ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken. Und außerdem möchte ich mit Mutter sprechen, sobald sie wieder einigermaßen klar ist.“

Patricks Augen blickten in die Ferne und ein Ausdruck von Sehnsucht spiegelte sich darin. Er wirkte ein bisschen wie ein Junge, der im dichten Kaufhausgewühl seine Eltern verloren hatte. Stumm griff ich nach seiner kalt-klammen Hand.

„Okay. Natürlich sollst du dich wohlfühlen, wenn wir zu mir fahren.“

Mir fielen keine tröstenden Worte mehr ein und die Türglocke ließ mich erneut zusammenzucken.

„Ja, sie ist scheußlich. Wie passend für dieses Haus. Sehr stimmig. Aber hoffentlich hören wir sie heute zum letzten Mal.“ Er bewegte sich in Richtung Tür und ich blieb unsicher sitzen, vielleicht wollte er mich nicht dabei haben?

„Na komm, die Katze ist eh aus dem Sack, jetzt brauchen wir auch keine Rücksicht mehr nehmen. Außerdem tut mir deine Nähe gut.“

Er hakte seinen Arm unter meinen und wir gingen gemeinsam weiter. Doktor Billmeier stand unschlüssig im Wohnzimmer, als wir die Sanitäter mit der Trage hereinließen.

Auf dem Weg zur Treppe sprach Patrick ihn wieder an. „Sie können dann draußen warten, ich schicke Ihre Laufburschen gleich nach.“ Billmeier verschwand wortlos und sichtbar eingeschüchtert nach draußen. Die Augen des Arztes funkelten vor unterdrückter Wut.

Die zwei Männer zerrten die alte Frau etwas grob auf die Trage und folgten uns schweigend zum Ausgang. „Wenn meine Mutter wieder ansprechbar ist, dann will ich informiert werden. Sie haben ja meine Handynummer“, ranzte er den Doktor kaltschnäuzig an.

„Kleiner, warte bitte kurz.“ Er küsste mich, vor den Augen Billmeiers, auf die Wange und ging kurz ins Haus zurück.

Der Arzt sah uns mit unverhohlener Verachtung an, wandte sich aber ab, als Patrick mit dem Schlüssel das Haus verließ und die Tür verriegelte. Dieses Machtspiel zwischen den beiden gefiel mir überhaupt nicht und ich war mir auch nicht ganz sicher, ob der Kuss ernst war, oder einfach nur provozieren sollte.

„War das eben wirklich nötig?“ Kaum saßen wir im Auto, da schoss die Frage aus mir raus.

„Du meinst den Kuss? Ich wollte es schon die ganze Zeit über, aber nicht nochmal in dem Haus.“

„Du bist manchmal echt schwer zu durchschauen“, entgegnete ich frustriert.

„Und du traust mir immer das Schlimmste zu.“ Seine Stimme klang beleidigt.

„Lass uns bitte nicht streiten. Die letzte Stunde war aufregend genug.“

„Mir ist eigentlich auch eher nach kuscheln. Einverstanden?“

Wie hätte ich da noch widersprechen können?

Patrick

Fabian ahnte nur, welche Abgründe sich in mir auftaten, wenn ich in diesem Haus war. Mein Verhalten gegenüber der Frau, die ich als Mutter bezeichnete, konnte er bei seinem Elternhaus nicht verstehen. Ich hatte schon längst meine Gefühle für diese Familie verloren, wollte nicht mehr ein Teil von so etwas sein. Ein Gespräch gestand ich ihr noch zu, dann würde der letzte Bruch folgen.

Dass Fabian, seit dem Betreten des Hauses, heute all meine Taten anzweifelte und mir provozierendes Kalkül vorwarf, war zwar nachvollziehbar, aber es verletzte mich sehr. Er war der Einzige, der mir emotional noch nahe stand, der mir wichtig war.

Das Kuschelangebot hatte seine Laune zwar verbessert, aber während der Heimfahrt herrschte bedrückendes Schweigen.

„Bist du sauer auf mich?“ Ich hielt die Stille nicht mehr aus.

„Eher auf mich“, kam es zögerlich zurück. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“

Seufzend antwortete ich. „Doch, es hätte so aussehen können. Billmeier wird Ähnliches gedacht haben. Vielleicht wollte ich ihm, unterbewusst, ja wirklich noch eins auswischen, aber ...“

„Aber?“

„Ich hab gehofft du freust dich darüber, nach der heftigen Zeit in meiner persönlichen Hölle.“

Sein Gesicht verzog sich und das schlechte Gewissen prangte wie eine Leuchtreklame auf seiner Stirn. Das wollte ich aber auch nicht. „Fabi, fühl dich deswegen nicht schlecht. Ich werde zukünftig etwas aufpassen.“

Er antwortete nicht, sondern legte seine Hand auf mein Knie und auch seine Züge glätteten sich wieder.

„Wenn du dich entspannst, dann bist du besonders hübsch“, merkte ich noch an. Die Wirkung der Worte blieb nicht aus, er lächelte verlegen in sich hinein und wurde etwas rosig um die Nase. Um die Ernsthaftigkeit dieser Worte zu betonen, strich ich mit der rechten Hand über seine Wange.

„Surfst du eigentlich, wenn du zuhause bei deinen Eltern bist?“

Seine Augen bekamen sofort einen verträumten Glanz. „Ja, ich liebe die Wellen unter dem Brett, aber die sind da meist nicht ganz so spektakulär. Ich würde gerne Mal irgendwann auf richtigen Brechern gleiten. Hast du die WM gesehen? Dieses Jahr waren sie in Costa Rica. Einfach geile Strände und ... wie kommst du da eigentlich drauf?“ Sein fragender Blick wirkte regelrecht jungenhaft und ich musste grinsen.

„Du siehst wie ein Surfer aus. Du machst bestimmt eine gute Figur im Wasser.“ Er genoss meine Komplimente deutlich, nachdem ich sie ihm so lange Zeit verwehrt hatte. Er sehnte sich nach meiner Anerkennung.

In meiner Wohnung verzogen wir uns sofort auf die Couch und er schmiegte sich an mich, bis es kurz darauf an der Tür klopfte. Widerwillig stand ich auf und warf einen Blick durch den Spion.

Was wollte die denn jetzt? Ich bemühte mich um einen freundlichen Tonfall.

„Guten Abend, Frau Mohrbeck.“

„Herr Reder, ich möchte mich entschuldigen. Ich wusste ja nicht, was Sie alles durchmachen mussten. Und die Sache mit Ihrem Vater war ganz furchtbar. Der wollte Sie umbringen! Ich habe die ganze Nacht kaum schlafen können und habe auf Sie gewartet. Hier ist ein wenig von meinem Nudelsalat. Der ist von gestern, also noch ganz frisch. Oder haben Sie schon etwas gemacht?“ Sie plapperte wie ein Wasserfall und brachte mich zum Lächeln. Sie war eigentlich doch nicht ganz verkehrt.

„Frau Mohrbeck, beruhigen Sie sich bitte, es ist ja alles gut gegangen.“ Ich nahm die Schüssel entgegen. „Fabian und ich haben noch nichts vorbereitet und nehmen dankend an. Möchten Sie auf einen Kaffee hereinkommen?“

„Nein, nein, Sie brauchen bestimmt noch etwas Ruhe und da will ich Sie mal nicht stören.“

„Dann noch einen schönen Abend, Frau Mohrbeck. Ich bringe Ihnen die Schüssel morgen wieder.“

„Es hat keine Eile. Einen guten Abend Herr Reder. Einen schönen Gruß an Ihren Freund.“

Ob sie es wusste? Den Grund für das Theater gestern hatte sie zwar mitbekommen, aber zog sie auch die richtigen Schlüsse? Es war mir, ehrlich gesagt, mittlerweile egal. Er war schließlich auch mein Freund.

„Hast du Hunger? Hausgemachter Nudelsalat von meiner Nachbarin.“

Erstaunt sah er auf. „Von der Mohrbeck?“

„Sie hat gestern alles mit angesehen und ihre Meinung über mich wohl geändert. Die Polizei und den Notarzt hat sie auch informiert. Ich lag ja bewusstlos im Flur. Mein alter Herr hat ein ziemlich hartes Kinn. Dagegen ist auch mein Dickschädel nicht immun.“

Kurz umriss ich die Details der Auseinandersetzung, soweit ich mich erinnern konnte. Eine Gänsehaut kroch über seine Arme, aber er schwieg. Was sollte man dazu auch sagen?

„Ja, ich habe Hunger. Lass uns den Salat mal begutachten.“ Er entfernte die Alufolie von der weißen Porzellanschüssel. Sie war bis zum Rand gefüllt und nichts schien zu fehlen. Der war garantiert nicht von gestern übrig. Gierig mampften wir die Schüssel leer, das Zeug war köstlich.

Die leere Schüssel verschwand in der Spülmaschine und wir gingen zurück auf die Couch. Fabian kuschelte sich an meine Schulter und wir nickten ein. Keiner von uns hatte vergangene Nacht besonders gut geschlafen und der Tag war ziemlich anstrengend.

Irgendwann wurde ich wach, als Fabian sich unter meinem Arm herauswand. Draußen war es bereits dunkel.

„Ich geh nur kurz duschen. Kommst du dann ins Bett?“

Ich nickte ihn verschlafen an. „Gute Idee, bis gleich.“

Wenige Minuten später rauschte das Wasser der Dusche und ich verspürte einen unangenehmen Druck auf der Blase. Also klopfte ich leise an die Duschkabine.

„Stört es dich, wenn ich eben auf die Toilette gehe?“

„Nein, mach nur“, kam es zurück.

Ich setzte mich auf die Schüssel und verrichtete meine Notdurft. Durch die beschlagenen Scheiben der Dusche zeichnete sich die schlanke Silhouette seines Körpers ab. Er hatte die Arme im Nacken verschränkt und ließ das Wasser genießerisch über seine Haut fließen.

Meine Gedanken reisten zurück zu unserer letzten gemeinsamen Nacht, als er sich vor meinen Augen zum Höhepunkt streichelte. Vor dem geistigen Auge erblickte ich seinen sinnlichen Gesichtsausdruck und hörte das leise, wohlige Stöhnen. Mein Blut sammelte sich in tieferen Regionen.

„Pat, bist du eingeschlafen?“ Seine Stimme hallte leicht über die glatten Fliesenwände.

„Nein. Noch nicht.“ Ich stand auf, zog mich aus und lief unschlüssig auf die Dusche zu. Er stand noch immer mit dem Rücken zu mir. „Stell mal bitte kurz das Wasser aus.“

Er drehte sich kurz um und sah meinen Schatten vor der Kabine. Das Rauschen des Wassers verstummte. Ich öffnete die Tür und sah seinen nassen Körper, umgeben vom warmen Wasserdampf.

„Hättest du was dagegen, wenn wir schnell zusammen duschen?“

Seine Augen betrachteten mich neugierig und wurden größer, als er mir auf den Schritt starrte. Die Reaktion auf seiner Seite blieb nicht aus. Er schüttelte den Kopf und ich kletterte ebenfalls hinein.

Plötzlich bekam ich wieder Angst vor der eigenen Courage. Der Gedanke daran war eben doch noch etwas anderes. Fabian deutete meine Zurückhaltung richtig. „Schon gut, ich war auch so schon überrascht genug. Na komm, dreh dich mal um.“

Sanft drehten mich seine Hände an den Schultern um und ich ließ den Kopf gegen die Wand sinken. Mein Mut wurde mit einer zärtlichen Massage belohnt, wobei er auf einen größtmöglichen Abstand zwischen unseren Körpern achtete.

Nach viel zu kurzer Zeit hörte er wieder auf. „Darf ich dich einseifen?“ Ich brummte etwas Zustimmendes. Kurz darauf waren seine zarten Hände fast überall. Liebevoll massierte er meinen Oberkörper mit dem Duschgel. Als er meine Vorderseite wusch, berührte seine Brust meinen Rücken und seine Erregung drückte leicht gegen meinen Oberschenkel. Ich wollte es genießen, aber meinem Kopf wurde es für den Moment zuviel.

„Fabian, bitte hör auf. Ich ...“ Sofort zog er sich zurück. „Tut mir leid. Es ist einfach ein Schritt zuviel auf einmal.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hab mich hinreißen lassen. Es ist so schwer dir zu widerstehen, das glaubst du gar nicht.“

Ich wollte mich für seine Berührungen revanchieren, aber die Stimmung war weg. Jeder wusch sich selber fertig und wir verließen nacheinander die Dusche.

„Ich muss es vielleicht nicht, aber du solltest wissen, dass ich mein Verhalten von eben nicht okay finde. Es war schön, bis zu ... einem gewissen Punkt.“ Ich wollte es nicht aussprechen, aber er nickte verstehend.

Wir griffen nach unseren Badetüchern und trockneten uns ab. „Es wird Zeit mich daran zu gewöhnen“, murmelte ich und griff unvermittelt nach seiner Hand. So zog ich ihn ins Schlafzimmer.

Ohne jeden weiteren Kommentar legte ich mich nackt ins Bett und lupfte die Decke, damit er mir folgen konnte. Er kam der Aufforderung zögerlich nach.

„Hältst du es wirklich für eine gute Idee?“

„Vielleicht nicht, aber ich möchte es versuchen.“

„Dir ist aber schon klar, dass ich dich ziemlich heiß finde und ... ich bin auch nur ein Kerl.“

„Jetzt hör auf zu labern und komm endlich her“, lachte ich. Vorsichtig robbte er an mich heran.

Fabian

Seit der Dusche machte ich mir gewaltige Vorwürfe. Sein Anblick, wie er sich entspannt nach vorne beugte und mir seinen Rücken präsentierte, hatte mich ziemlich angemacht und beim Einseifen verlor ich ein wenig meine Selbstkontrolle.

Als mein Schwanz seinen Schenkel streifte, hätte ich am liebsten sofort mit ihm geschlafen, oder mich von ihm nehmen lassen. Es wäre mir völlig egal gewesen. Aber es war ein Fehler.

Und nun lagen wir nackt im Bett, all meine aufgestauten Sehnsüchte kämpften sich langsam an die Oberfläche. Ich konnte ihn ja verstehen, aber die Situation war vergleichbar mit einem Verhungernden, dem man ständig mit der Keksschachtel vor der Nase herumwedelte, ohne ihn davon essen zu lassen. Er hatte die Grenzen verwischen lassen und meine Sehnsucht auf mehr geweckt.

Die Gedanken waren nicht unbedingt hilfreich, um gegen meine steigende Lust zu kämpfen und ich war sicher, dass er den zunehmenden Druck an seiner Taille spüren musste. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und kuschelte meine Wange etwas tiefer an seine Schulter, während mein Arm reglos auf seiner Brust verharrte. Ich hoffte, dass er eingeschlafen war.

Den Gefallen tat er mir natürlich nicht, denn plötzlich sah ich in seine Augen, die im seichten Licht der Straßenbeleuchtung schimmerten und meine Pupillen innerhalb der hellen Iris fixierten.

„Du darfst ruhig weiteratmen“, flüsterte er. „Es ist alles okay, denke ich.“

Der Arm, auf dem ich lag, streichelte vorsichtig über meine untere Rückenpartie und jagte mir zusätzliche Schauer durch den Körper. „Du fühlst dich so herrlich weich an.“

„Nicht überall“, antwortete ich frech, aber mit wackeliger Stimme.

„Hab’s schon bemerkt.“ Seine andere Hand lag nun auf meiner Schulter und glitt langsam abwärts, bis er auf der Hüfte stoppte. Die zittrigen Finger beschrieben seinen inneren Kampf. Ich versuchte krampfhaft meine Atmung unter Kontrolle zu halten, um nicht aufzustöhnen.

Sein Daumen rutschte Stück um Stück tiefer und ich griff mit meiner Hand unabsichtlich fester um seine Schulter. Er schloss seine Augen und seine Hand legte sich um meine Erregung. Diesmal konnte ich das Keuchen nicht stoppen und er quittierte es mit der Andeutung eines Lächelns.

Seine Finger drückten und kneteten mich vorsichtig und er traf dabei einige verdammt gute Stellen. Mein Atem war längst außer Kontrolle.

„Er fühlt sich gut an, viel weicher als meiner.“ Sein rauer Tonfall zog in Wellen durch meine reizüberfluteten Nerven. „Fass mich bitte an!“

Das brauchte er nicht zweimal sagen. Meine Finger glitten flink unter die Decke und fanden sofort ihr Ziel. Nun stöhnte auch er auf und seine Finger bewegten sich fordernder. Seine Lippen fischten gierig nach meinem Gesicht und trafen meinen Mund. Sofort war seine Zunge in mir.

Ich hielt die Spannung nicht mehr aus und kam ohne Vorwarnung. Meine verlangende Erwiderung des Kusses brachte auch Patrick über die Klippe und meine Hand wurde feucht.

Fast schon erwartete ich, dass er von mir abrücken würde, doch das Gegenteil passierte. Er zog mich dichter heran. Das schwache Licht reichte aus, um seine leicht gerunzelte Stirn zu erkennen. „Woran denkst du?“

„An die Vergangenheit, die Gegenwart und an die Zukunft. Hauptsächlich an das Jetzt und unseren Weg. Du hast Recht, die Vergangenheit ist geschehen, steht fest.“

„Und wie siehst du die Zukunft? Bereust du das ‚Jetzt’?“

Er drehte sich auf die Seite, so dass wir Brust an Brust gekuschelt lagen. „Nein. Und die Zukunft ... ich kann es dir nicht genau sagen, doch der Weg geht in die richtige Richtung.“

Er schien noch etwas sagen zu wollen, während seine Stimme immer leiser wurde. Doch dann beruhigte sich sein Atem und er war eingeschlafen. Ich genoss einfach noch den Augenblick und folgte ihm bald ins Reich der Träume.


Warme Sonnenstrahlen wischten über meine Augen und weckten mich sanft auf. Das Bett fühlte sich kühl an und ich streckte meinen Arm nach Patrick aus. Ich griff ins Leere.

In seiner Wohnung war es verdächtig still. Ob er wohl auf die Couch ausgewandert war? Der Blick auf die Uhr ließ diesen Gedanken platzen, es ging bereits auf elf Uhr zu. Sicherheitshalber schlüpfte ich in meine Shorts und machte mich auf die Suche, doch die Wohnung war und blieb leer. Seine Schuhe und der Schlüsselbund fehlten.

Sein Verschwinden verunsicherte mich. Traurig ging ich ins Schlafzimmer zurück und zog die verschmierten Bettsachen ab. Kurz darauf hatte ich sie in dem Waschtrockner im Bad deponiert. Ich zog mich komplett an und ging in die Küche, um noch einen Kaffee zu trinken, bevor ich zu meiner eigenen Wohnung aufbrechen würde.

Doch an der Maschine klebte ein Stück weißer Karton, den er mit Klebeband am Gehäuse befestigt hatte.

„Guten Morgen, Kleiner.

Ich bin heute recht früh wach geworden und konnte nicht mehr einschlafen. Wecken wollte ich Dich aber auch nicht.

Ich bin gegen Mittag zurück und bring was zum Brunchen mit.

Bis nachher, Pat.“

Glücklich presste ich seine Nachricht an meine Brust. Ich hätte nicht wieder an ihm zweifeln sollen, vor allem nicht mehr nach dieser Nacht. Dass er mich angefasst hatte, kam mir beinahe wie ein Traum vor. Genießerisch ließ ich noch einen zweiten und dritten Kaffee durch die Kehle fließen.

Das Telefon riss mich aus meiner Schwärmerei. Es stand keine Nummer im Display, aber ich vermutete, Kramer wollte etwas.

„Westerkamp, bei Reder?“

Niemand antwortete und ich hörte jemanden scharf einatmen.

„Hallo?“

„Was machst du bei Patrick? Und wo ist er? Gib ihn mir.“ Mir stockte der Atem, es war Christine.

„Er ... er ist unterwegs“, stotterte ich. Die Frau war mir nicht geheuer, schließlich hatte Pat ihr die Attacke des Vaters zu verdanken und sie trug sein Kind.

„Na klasse. Jemand muss mich abholen. Ich sitze noch bei der Polizei. Die haben mich einfach mitgenommen, ohne Geld, nur die Brieftasche mit den Papieren.“

„Er ist nicht da und ich hab kein Auto.“ Mein Ton klang entschuldigend und ich wusste nicht warum. Neben ihr fühlte ich mich einfach klein. Sie war skrupellos.

„Hör zu, ich will von dir nicht geholt werden. Patrick ist mir was schuldig.“

„Sch-schuldig? Die Fotoaktion hat ihn fast umgebracht!“ Hatte die Tussi sie noch alle?

„Das war nicht geplant. Sein Vater hat einen schlimmeren Schaden als ich dachte. Patrick gehört zu mir, das wird er noch merken und du lässt die Finger von ihm.“

Ich hatte die Nase voll. „Das wird er ja wohl selber entscheiden können, von wem ‚er’ die Finger lässt und von wem nicht.“ Sie schnappte nach Luft und ich genoss kurz den billigen Triumph. Die Worte taten mir auch wieder leid. Das war nicht mein Niveau.

„Das soll er mir selber sagen“, zischte sie und beendete das Gespräch. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich stand starr auf dem Fleck, das Telefon ungläubig betrachtend.

So fand mich dann auch kurz darauf Patrick. Ich bemerkte ihn erst, als er mich mit seinem Arm umschlang und mir das Telefon aus der Hand nahm. Beiläufig registrierte ich seine Sporttasche an der Wand.

„Was ist passiert?“ Seine Stimme verriet nervöse Anspannung.

„Tini. Sie wurde entlassen und wollte abgeholt werden.“

Seine Haltung versteifte sich sofort und sein Tonfall kühlte ab. „War das alles?“

„Tut mir leid, ich glaub mir ist vor Ärger was rausgerutscht. Sie weiß jetzt vermutlich Bescheid.“

Ich schilderte ihm das Gespräch und erwartete, dass er sauer auf mich war.

„Komm, die Brötchen sind noch warm, frisch aus dem Ofen.“ Er klang bemüht locker, aber hinter seiner Stirn arbeitete es.

Patrick verteilte Teller, Brötchen und ein paar frische Feinkostsalate auf dem Esstisch. Mutlos kaute ich auf einem der leckeren Brötchen herum.

„Pat, bitte sag was.“

Er kaute nachdenklich weiter und schluckte. „Was denn? Dass ich sauer bin, weil du dich hast provozieren lassen?“

„Zum Beispiel, ja.“

„Konnte ich denn heute Nacht die Finger von dir lassen?“

„Nein, aber ...“

„Kein aber. Ich finde es nicht okay, dass sie es auf die Art erfahren hat, aber gelogen hast du auch nicht.“ Er sprach in einem ungewöhnlich beherrschten Tonfall und ich traute dem Frieden nicht ganz. Den Beweis für mein Misstrauen fand ich an seiner Hand, die sich dermaßen fest um die Tischkante schloss, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Er folgte meinem Blick mit den Augen und zog die Hand weg. „Verdammt, was bildet die sich ein? Und ich bin wirklich nicht sauer auf dich! Die Frau schafft es immer wieder aufs Neue. Sie hat dich mit Sicherheit absichtlich provoziert, weil du ihr anders nie geantwortet hättest. Glaub mir, ich weiß nur zu gut, wozu sie fähig ist.“

Ich erinnerte mich an dieses Telefonat in der Nacht, als er mit ihr geschlafen hatte, und fühlte mich richtig dämlich. Natürlich, sie hatte mich total ausgespielt.

„Wir müssen das klären“, meinte er mehr zu sich selbst.

„Wir? Ich soll mit?“ Mir war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken.

„Ja, ich möchte nicht mit ihr alleine sein. Sie soll ruhig sehen, dass du dir das nicht einbildest.“

„So wie bei Billmeier?“ Ich biss mir auf die Lippe, doch es war ausgesprochen.

Patrick warf mir einen angesäuerten Blick zu. „Fabian, du wolltest mit mir zusammen sein. Jetzt sind wir es wirklich und ich möchte es auch zeigen. Warum nimmst du immer gleich das Schlimmste an?“ Er gab sich die Antwort selber. „Wir haben wohl beide noch zu arbeiten, oder? Du an der Vergangenheit und ich an der Zukunft.“

Ich nickte bloß.

„Und was ist mit deinem Spruch, die Vergangenheit ließe sich sowieso nicht ändern und wir müssen nach vorne blicken?“

„Das ist unfair“, entgegnete ich leise.

„Du hast Recht, tut mir leid“, schlug er versöhnlicher an. „Aber auch Tini lässt sich nicht einfach unter ‚Vergangenheit’ ablegen.“

„Also gut, ich bin dabei.“ Er lächelte wieder ein wenig nach meiner Zusage.

Ich würde noch eine ganze Weile stark sein müssen, um unsere frische Beziehung nicht zu gefährden. Die ganze Sache schien schwieriger als gedacht, aber es würde sich lohnen, davon war ich überzeugt.

Patrick

Trotz aller Zuversicht war die Stimmung bei uns beiden angeknackst. Im Studio hatte ich mir den Tag schön vorgeplant, aber wieder war Tini im Weg. Schlimmer hätte es eigentlich nicht mehr kommen können, doch dann vibrierte mein Handy.

„Reder.“

„Billmeier hier. Sie ist wach.“ Der Arzt beendete das Gespräch und ich starrte auf das Telefon.

„Was ist los?“

„Meine Mutter ist wach. Kommst du mit?“

Fabian nickte niedergeschlagen.

„Sorry, Kleiner, ich hatte mir den Tag auch anders vorgestellt. Deutlich zweisamer.“

Nun stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen, aber er wirkte noch immer etwas verloren. Ich stand auf und besorgte mir noch einen Kaffee aus der Kanne. Fabian stand etwas deplaziert vor dem Tisch. Zwinkernd bewegte ich meinen Zeigefinger und winkte ihn heran. Der Kleine kam zögernd auf mich zu und ich schloss ihn in meine Arme. Sein Gesicht sank auf meine Brust und er holte tief Luft.

Ich griff nach seiner Taille und hob ihn vorsichtig an, um ihn nach einer Drehung auf die Küchenzeile zu setzen. Ich drängte mich zwischen seine Beine, legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zum Kuss heran. Seine Lippen öffneten sich zögerlich, doch dann erwiderte er den Druck meiner Lippen, während seine Arme meinen Rücken streichelten.

„Geht es dir wieder besser?“, fragte ich nach einer Weile.

Statt einer Antwort wurde er rot und warf einen verschämten Blick nach unten, wo sich seine Jeans verdächtig wölbte.

Lachend griff ich nach seiner Hand und legte sie auf meinen Schoß. „Keine Angst, mir geht es genau so.“ Ich seufzte. „Aber lass es uns später fortsetzen, wenn wir das mit meiner Mutter hinter uns gebracht haben.“ Ich glitt mit der Hand über seinen angespannten Schritt und er schloss mit einem kleinen Stoßseufzer die Augen. „Wirklich, ich freu mich drauf.“

Ich verstand mittlerweile meine ehemals krankhafte Scheu vor seinem Körper nicht mehr. Zumindest was das Anfassen anging. Alles an ihm fühlte sich sexy an, von der samtigen Haut zu dem Spiel der zarten Muskeln. Sein atemloses Keuchen, als ich ihn zum Höhepunkt streichelte, hallte noch angenehm durch meine Erinnerung. Das alles und auch die sanften Liebkosungen seiner Hand hatten gereicht, um mich auch um den Verstand zu bringen. Dies war mein bisher unbeschwertester Höhepunkt, eine regelrechte Befreiung aus den alten Zwängen und ich hoffte, dass dieses Gefühl auch zukünftig die Oberhand behielt.

Meine Lippen strichen noch einmal über seinen Hals, bevor wir uns voneinander lösten. Ich hielt ihm den gesunden Arm hin und half ihm von der Arbeitsplatte.

„Ich wünschte, so könnte es immer bei uns sein“, flüsterte er.

„Wird es, irgendwann bestimmt.“ Diese Worte meinte ich auch so.

Kurze Zeit später fädelte ich meinen Wagen in den Innenstadtverkehr ein. Billmeiers Privatklinik lag ein wenig außerhalb und der Verkehr nahm stetig ab, je näher wir dem weißen Kasten im Grünen kamen.

An der Schranke zum Parkplatz hielten wir an und ich öffnete das Fenster, um das Ticket zu ziehen. Wir fanden einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs.

Billmeier ließ es sich nicht nehmen uns persönlich zu begrüßen. „Welch eine Freude Sie hier zu sehen, Herr Reder.“ Seine Stimme troff vor Zynismus, denn hier fühlte er sich wieder stark. Fabian hingegen ignorierte er. „Folgen Sie mir.“

Wir gingen über die Treppe in den ersten Stock, wo sich die luxuriöseren Zimmer seiner Privatpatienten befanden. Meine Mutter befand sich gleich im ersten Krankenzimmer, 102 prangte auf dem goldenen Schild neben der Tür. Billmeier verließ uns grußlos, denn hier waren wir alleine und er musste keinem seiner Angestellten eine Show vorspielen.

Ohne zu klopfen traten wir ein. Mutter öffnete ihre Augen, sah uns an und drehte den Kopf wieder zur Seite.

„Ist der da der Grund, warum Heinrich im Gefängnis sitzt?“, fragte sie tonlos.

„Nein, Mutter. Vater sitzt dort, weil er mich erschlagen wollte.“

„Du bist so undankbar, nach allem, was wir dir ermöglicht haben.“ Ich wurde sauer und Fabian griff nach meiner Hand.

„Undankbar? Er hat mich ständig geschlagen und du hast dich besinnungslos gesoffen und es ignoriert. Du warst mir nie eine gute Mutter.“

Sie lachte wehmütig auf. „Du bist nicht mein Sohn.“

„Warum, weil ich einen Mann liebe? Du bist nicht besser als Vater.“

„Du bist nicht unser Sohn!“ Sie schrie mir die Worte entgegen und sie taten weh. Trotz allem, es war meine einzige Familie. Auch Fabian sah irritiert zwischen uns hin und her.

„Pat, sie meint das ernst. Ich hab doch das alte Foto der beiden gesehen. Es macht Sinn.“

„Was meinst du?“

„Ihr seht euch nicht ähnlich.“

„Schlauer Bursche, dein Freund.“

Ich verstand die Welt nicht mehr. „Ich bin nicht euer Kind?“

„Ich bin schon mein Leben lang unfruchtbar.“

„Oh mein Gott“, stöhnte ich. „Wo sind denn meine richtigen Eltern?“

„Das weiß ich nicht. Heinrich hat sich damals darum gekümmert. Wir hatten Freunde, die uns geholfen haben.“

„Aber meine Geburtsurkunde? Da steht doch ...“ Ich glaubte das alles nicht.

„Sie ist nicht echt, Heinrich hat dafür gesorgt. Frag ihn.“ Die Umgebung flimmerte vor meinen Augen. Fabian ahnte etwas und stützte mich, bevor meine Beine den Dienst versagten. Er zog einen Stuhl vom Besuchertisch und ließ mich hinsetzen.

„Wir finden es raus, keine Angst. Die Adoption muss ja irgendwo festgehalten worden sein.“ Seine Worte beruhigten mich, doch meine Mutter sah das anders.

„Nein, ihr werdet keine Aufzeichnungen finden. Es gab keine Adoption. Ich wollte damit nie etwas zu tu haben, sprich mit Heinrich.“

Allmählich kehrte die Kraft in meine Beine zurück und ich erhob mich wortlos. Fabian half mir zur Tür.

„Patrick, es tut mir leid. Ich hätte es dir schon vor langer Zeit sagen sollen.“

Mit Tränen in den Augen verließ ich das Zimmer. Mein Leben löste sich zusehends auf. Nichts war mehr so wie es schien, meine Vergangenheit war eine Lüge. Ich hatte andere Eltern. Wie wären die wohl gewesen? Sie waren noch schlimmer, sonst hätten sie mich nicht weggegeben.

„Ich bin bei dir, Patrick, hörst du? Ich helfe dir.“ Fabian weinte ebenfalls, er hielt mein Leid nicht aus. Dafür war ich ihm dankbar. Es war kaum vorstellbar, was ich ohne ihn getan hätte.

Zusammen verließen wir die Klinik. Billmeier begegnete uns noch einmal und warf mir einen höhnischen Blick zu. Er musste davon gewusst haben und es hätte mich nicht gewundert, wenn er in die Sache verwickelt gewesen wäre. Besonders dann, wenn sie wirklich unfruchtbar war.

Fabian hielt mich fest im Arm und gab mir ein notwendiges Gefühl von Stabilität. Er schien gerade meine einzige Verbindung zur Realität zu sein. Leise öffnete er die Beifahrertür und drückte mich auf den Sitz.

„Was soll das!“, protestierte ich.

„Na was wohl? Dich mit dem Arm fahren zu lassen gefiel mir schon nicht und in dem Zustand fährst du nicht. Ich hab vielleicht kein Auto, aber einen Führerschein.“ Er warf die Tür zu und setzte sich neben mich.

„Danke.“ Ein Gefühl von Bewunderung stieg in mir auf. Ich hatte ihm das Leben schwer gemacht und trotzdem blieb er tapfer. Wo nahm er nur diese Kraft her?

„Gern geschehen“, antwortete er leise. „Möchtest du nach Hause? Oder ...“

„Nein, nach Hause. Ich habe gerade weder Kraft für ein Treffen mit Tini, noch mit ... Vater.“

Es war fraglich, ob Heinrich mir überhaupt antworten würde. Wenn die Geschichte meiner Mutter stimmte, wovon auszugehen war. Dann war die Geburtsurkunde eine Fälschung und das war mit Sicherheit strafbar. Damit würde er Mutter und noch jemanden hineinreiten.

„Gut.“ Er startete den Wagen und fuhr etwas ruckelig an, das Auto war ihm fremd.

Die Fahrt verlief schweigend, ein Zustand, an den ich mich langsam gewöhnte. Jeder hing still seinen Gedanken nach. Wenigstens seine Hand legte sich tröstend auf meinen Unterarm.

In der Wohnung ging ich gleich ins Schlafzimmer und legte mich hin. Fabian wollte erst noch etwas nachschauen und bald darauf zu mir kommen. Ich hörte, wie der Computer hochfuhr, und döste weg.

Knappe zwei Stunden später weckten mich seine vorsichtigen Bemühungen, sich unauffällig an mich zu kuscheln.

„Hey“, sagte ich leise.

„Hey. Ich wollte dich nicht wecken.“

„Ist okay. Und, was hast du gemacht?“

Sein Gesicht verriet mir, dass er mich damit eigentlich nicht behelligen wollte. „Ich hab im Internet nachgeforscht. Natürlich gab es nichts Konkretes zu dir, aber wenigstens weiß ich jetzt, dass eine Fälschung der Geburtsurkunde nicht schwer ist, wenn man die richtigen Leute kennt. Billmeier zum Beispiel hätte eine Meldung an die Ämter machen können.“

Es war schon interessant, dass Fabi auch gleich Billmeier bedachte.

„Schön und gut, aber dann müsste im Gegenzug ein anderes Kind verschwunden sein. Kann ein Arzt eine ganze Geburt vertuschen?“

„Vielleicht eine unbekannte Hausgeburt. Es ist möglich, aber über das Wie weiß ich nichts.“

Wenn mein Freund Recht hatte, dann dürfte es ziemlich unmöglich sein, etwas über meine Wurzeln herauszufinden, außer mein sogenannter Vater würde mit der Wahrheit rausrücken. „Also wissen nur meine Eltern und ihr Komplize wirklich Bescheid. Oder die, die mich einfach weggegeben haben.“

Egal was meine Zieheltern getan hatten, die Frage nach dem Warum, warum meine leiblichen Eltern so gehandelt hatten, nagte noch stärker an mir. Fabians warmer Körper drängte sich dichter an mich heran und seine Nähe gab meinen Gedanken etwas Frieden. Meine Hand schob sich unter sein Shirt und kam auf dem Rücken zum liegen, was ihm ein wohliges Schnurren entlockte.

„Wenn du es wirklich herausfinden willst, dann versuche ich dir zu helfen“, nuschelte er an meinem Hals.

Wollte ich das wirklich? Es wäre besser, mit der Sache endlich abzuschließen, als noch eine Enttäuschung zu erleben. Sonst hätte ich am Ende zwei Elternpaare, die mit mir nichts zu tun haben wollten. „Ich denk drüber nach.“

Der Tag war noch relativ jung und wir blieben noch eine kleine Weile liegen. Fabian fühlte sich nicht besonders wohl und machte sich auf den Weg zu einer entspannenden Dusche, während ich mich um ein spätes Mittagessen kümmerte. Wir wollten am Abend noch mal ins Studio, damit Fabian etwas trainieren und ich mit Jochen reden konnte. Sport kam für mich derzeit kaum in Frage, vom Ausdauertraining mal abgesehen und das hatte ich an diesem Tag schon hinter mir.

Das Gemüse war schnell geschnitten und ich wollte eben den Herd einschalten, als ein unwillkommenes Schellen die Ruhe störte. Ich stiefelte genervt zur Tür, da Fabian eben erst das Duschwasser abgestellt hatte. Die Überraschung hätte nicht unangenehmer sein können.

„Was willst du, Christine?“

„Wir müssen reden.“ Ihre gesamte Haltung drückte Kampfeslust aus und mich störte ihre Anwesenheit gewaltig.

„Das hätten wir auch am Telefon machen können.“

„Natürlich, wenn du nie zuhause bist und nicht an dein Handy gehst. Ich war gerade in der Gegend und hab dein Auto stehen sehen.“

„Natürlich rein zufällig, oder? Wie ich sehe, bist du auch ohne meine Hilfe vom Revier nach Hause gekommen.“

„Ich bin mit dem Taxi heim und hab dann Geld aus der Wohnung geholt. Immerhin, dein Schwuchtelchen hat davon erzählt.“

Für den Hausflur war sie mir etwas zu laut und ich trat einen Schritt zur Seite, damit sie in die Wohnung konnte. „Nenn ihn nicht so.“

„Was meinst du?“ Fabian trat gerade aus dem Bad, mit einem Handtuch um die Hüfte und mit einem anderen rubbelte er sich die Haare trocken.

„Der ist ja immer noch hier!“ Tini kreischte beinahe schon hysterisch und durchbohrte seinen schlanken Körper mit giftigen Blicken. Fabian eilte ins Schlafzimmer und meine Ex wollte gleich hinterher, doch ich hielt sie am Arm fest.

„Lass mich los, verdammt noch mal! Ich hab ein Hühnchen mit dem zu rupfen.“

„Das hast du nicht. Er bleibt und du lässt ihn in Ruhe!“

„Was willst du denn mit dem? Warum erlaubst du ihm ständig in deiner Nähe zu sein?“ Ein verletzter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

„Ich bin mit ihm zusammen und ... ich liebe ihn.“ Gerne hätte ich es ihr anders beigebracht, aber es war an der Zeit für klärende Worte. Endlich wusste sie es.

„Du spinnst doch! Du willst dich nur an mir rächen, wegen dem Bild.“

„Blödsinn. Tini, es ist aus, endgültig. Und ich habe mich aus freien Stücken für ihn entschieden.“

Christine sah mich ungläubig an und der Blick wandelte sich in Verachtung. „Weißt du, was du deiner Familie damit antust?“

Ich lachte etwas schrill auf. „Familie? Oh, du weißt es ja gar nicht. Überraschung: Ich bin nicht ihr leiblicher Sohn.“ Ihr Gesicht entgleiste. „Die Urkunden sind gefälscht, sagt ‚Mutter’. Ich weiß es aber auch erst seit heute.“

„Das kann doch nicht sein.“

„Mutter ist unfruchtbar, sagt sie. Ich war nur eine gesellschaftliche Investition. Und deswegen fiel es Vater auch nicht besonders schwer, mich ausschalten zu wollen.“

„Oh mein Gott.“ Sie kam auf mich zu und versuchte ihre Arme tröstend um mich zu legen.

Fabian

Kaum war ich aus dem Bad, da traf mich beinahe der Schlag. Tinis Stimme war hasserfüllt und ich stürmte ins Schlafzimmer, um mir schnell ein paar Klamotten überzustreifen. Gönnte man uns denn überhaupt keine Ruhe?

Als ich mich etwas gesammelt hatte, betrat ich die Höhle des Löwen.

„Verdammt bleib mir vom Hals!“ Patrick schob Tini nachdrücklich von sich weg, welche im Moment traurig aussah. „Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass ich nicht ihr Sohn bin. Spar dir den Trost.“

Das Geräusch der schließenden Schlafzimmertür ließ beide herumfahren.

„Er soll verschwinden.“ Tinis Blick war eisig.

Mein Freund kam direkt auf mich zu. „Fabian bleibt.“ Er sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid, Kleiner, ich hab mit ihr nicht gerechnet.“

Fast schon erwartete ich eine neue verbale Attacke gegen mich, doch die blieb aus.

„Wieso nimmst du ihn mir weg?“ Ihre wütende Fassade brach zusammen und ihre Augen wurden feucht. Ich sah Patrick hilfesuchend an.

„Das tut er nicht.“ Er zog mich zu seinem Sessel und wir setzten uns dicht nebeneinander. „Fabian ist unschuldig. Ich habe ihn ein gutes halbes Jahr wie ein Spielzeug benutzt und seine Gefühle mit Füßen getreten, nur um mir nicht einzugestehen, dass ich etwas mehr für ihn empfand.“

„Ein halbes Jahr schon?“ Ihre Augen weiteten sich.

Sein Körper zitterte leicht. „Ja, ich hab ihn ein halbes Jahr durch die Hölle gehen lassen. Er wollte gestern verschwinden, für immer.“

Innerlich musste ich ihm zustimmen, es war die Hölle. Aber er hatte sich verändert und auch Tini wirkte verändert. Der offensichtliche Hass auf mich verschwand aus ihren Augen und sie musterte mich eher mitleidig. „Und was wird jetzt aus unserem Kind?“

Ich traf eine Entscheidung. „Patrick würde sich gerne um euer Kind kümmern und ich würde gerne mithelfen. Christine, es tut mir leid, aber man kann Gefühle nicht beeinflussen.“

Fragend sah sie zu Patrick. „Also war es das wirklich mit uns?“

Er nickte. „Sieht so aus. Es tut mir leid, Tini, aber es gibt keinen Weg zurück. Ich habe mich wirklich in ihn verliebt.“

„Ich melde mich. Das ... muss ich erstmal verdauen.“ Sie stand auf und verschwand ohne weitere Kommentare zur Tür.

Neben mir hörte ich Patrick verzweifelt ausatmen. „Oh Gott, ich muss hier raus.“ Seufzend vergrub er seinen Kopf in meiner Schulter.

„Mein Angebot steht noch. Ich müsste nur mit meinen Eltern reden und es ihnen erklären.“

„Das geht nicht, nach allem, was passiert ist.“ Er hatte richtig Angst vor einer Begegnung, das war deutlich.

„Sie werden es verstehen, glaub mir.“

„Fabi, was ist mit der Uni?“

Offenbar klammerte er sich an jeden noch so kleinen Vorwand und ich seufzte. „Es wird schon, ich bin eigentlich ganz gut im Stoff, müsste aber kurz mit ein paar Kommilitonen und meinem Prof sprechen.“

„Also gut. Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden.“ Resignierend sank er tiefer in den Sessel.

Mein Herz machte vor Freude einen Hüpfer. „Ich bin gleich bei dir.“

Das Telefon war schnell zur Hand ich und wählte die Nummer meiner Eltern.

„Fabian, ist alles okay bei dir?“ Meine Mutter schien neben dem Telefon gewartet zu haben, so schnell, wie sie dran ging.

„Hallo Mama, ja, es geht soweit. Deswegen rufe ich auch an. Hier sind einige Dinge passiert. Patrick und ich brauchen eine kleine Auszeit und ... hättet ihr etwas dagegen, wenn wir euch besuchen würden?“

Patrick sah erwartungsvoll zu mir rüber und ich wartete angespannt auf ihre Antwort.

„Mama, bitte. Wir erzählen euch auch alles ganz genau. Gebt ihm bitte eine Chance“, flehte ich sie an.

„Also gut. Wann kommt ihr her?“ Im Hintergrund hörte ich Paps leise reden.

„Eventuell morgen Abend?“ Die Frage galt eher Patrick und er nickte.

„Morgen ist okay. Das Gästezimmer muss ich wohl nicht vorbereiten, oder?“

„Nein, Mama. Und danke.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Seid bitte nett zu ihm, er hat es gerade nicht leicht.“

„Wir geben uns Mühe. Bis morgen, Schatz.“ Sie klang nicht wirklich glücklich darüber.

„Bis morgen, Mama. Hab dich lieb und grüß Papa.“

Wir beendeten das Gespräch. Patrick starrte mutlos vor sich hin und ich setzte mich auf seinen Schoß. Er brauchte dringend eine Ablenkung.

„Es wird schon, glaub mir. Wir sollten das Studio heute ausfallen lassen und uns mit Jochen auf ein Bier treffen.“

Er lächelte leicht. „Eine gute Idee. Seit unserem Auftritt in der Firma hatten wir noch keine Gelegenheit zum Quatschen.“

Patrick schob mich sanft von seinem Schoß und ging in die Küche, um die Anfänge des Essens in den Kühlschrank zu stellen. Dann rief er unseren Kollegen an, der dieser Planänderung zustimmte. Wir verabredeten uns in einem Restaurant und machten uns ausgehfertig.


„Da kommt ja unser Tagesgespräch!“ Jochen wartete bereits am Tisch und erhob sich grinsend.

„Wie ist die Stimmung in der Firma?“ Patrick und ich reichten ihm nacheinander die Hand.

„Gut. Ein paar sind überrascht, aber es scheint niemand ein ernsthaftes Problem damit zu haben. Es wird natürlich viel über euch geredet.“

Das war zu erwarten, aber Patrick nahm es recht locker auf.

„Und dich hat es nicht überrascht?“

„Nicht richtig. Ich kenne dich schon lang genug und du warst in den letzten Tagen ziemlich verändert. Du erinnerst dich an meine Umarmung im Studio? Seitdem hatte ich den Verdacht.“

„Oh. Du Hund.“ Patrick lachte und ich verstand nur Bahnhof.

„Welche Umarmung?“, fragte ich.

Mein Freund erzählte von dem Tag, an dem er die Trennung von Tini verkündete. Jochen hatte ihn abends getestet, nachdem Patrick meine Umarmung in der Küche zugelassen hatte.

Ein Kellner notierte unsere Wünsche und brachte bald darauf unsere Bestellungen. Ausnahmsweise griff ich auch zu einem einzelnen Bier.

„Und wie geht es dir jetzt dabei?“ Forschend legte Jochen seinen Blick auf mich, als Patrick kurz in Richtung Toiletten verschwunden war. Während des Essens hatte mein Freund die letzten Neuigkeiten knapp zusammengefasst.

„Die Frage meinst du nicht ernst, oder?“

Seine Augen funkelten kurz amüsiert auf. „Dass du glücklich bist, ist mir klar. Aber im Moment geht doch so einiges drunter und drüber.“

„Na ja, ich hätte es mir schon irgendwie einfacher gewünscht, aber er bemüht sich sehr um mich und es tut verdammt gut.“

Alles konnte ich meinem Kollegen nicht erzählen, für die letzten Monate hätte er wohl kaum Verständnis gehabt. Und Patrick sollte nicht mit noch mehr Vorwürfen konfrontiert werden. Sein Zustand bereitete mir auch so schon genügend Sorgen.

„Seine krankhafte Ablehnung dir gegenüber hätte mir eigentlich schon viel früher zu denken geben sollen.“

„Lass uns bitte nicht darüber reden. Diesen Teil möchte ich ganz schnell vergessen. Wir müssen all unsere Energie auf die nächsten Wochen konzentrieren.“

„Verstehe schon. Ich war ja selber auch ziemlich sauer auf ihn. Und ihr wollt morgen wirklich fahren?“

„Ja, er muss unbedingt für ein paar Tage hier weg, sonst dreht er noch völlig durch.“

Nickend stimmte Jochen mir zu und schien die Sorge zu teilen. „Wenn das alles stimmt, dann haben seine Eltern echt ein mieses Spiel mit ihm getrieben.“

„Er schafft das, egal wie es ausgeht und ich werde alles tun, um ihm zu helfen.“

„Wobei helfen?“ Patrick legte seine Hand auf meine Schulter, als er mir einen schnellen Kuss auf die Wange gab.

„Dir dabei helfen, ein anständiger Mensch zu werden“, lachte Jochen.

„Wenn das einer schaffen kann, dann Fabian.“ Das Grinsen meines Freundes wirkte etwas gequält, für solche Scherze hatte er momentan nicht viel übrig.

Viel länger hielten wir es auch nicht mehr aus. Patrick und Jochen tranken noch ein paar wenige Biere, während ich mich, nach der einen Ausnahme, an Wasser klammerte, damit wir noch sicher heimkamen.

„Ich werde euch Kramer vom Hals halten, auch wenn es Überstunden bedeutet. Nicht das er am Ende doch noch Arbeit für euch hat.“ Jochen zeigte sich großzügig und schwankte beim Aufstehen leicht, so wie mein Freund auch.

„Danke, du hast was gut.“ Wir verabschiedeten uns vor dem Lokal und unser Kollege ließ sich schwer in ein wartendes Taxi fallen.

„Das Essen war eine gute Idee, ich fühl mich etwas besser.“ Patrick beugte sich zu mir rüber und gab mir einen sanften Kuss auf die Lippen, kaum dass wir im Auto saßen. Sein Atem roch nur leicht nach Alkohol. Für eine kurze Zeit befürchtete ich, er würde sich betrinken, aber der neue Pat mied den Rausch. Seit dem Tag, an dem ich ihn völlig betrunken in seiner Wohnung fand, hatte er nicht eine Flasche von dem Malt mehr im Haus.

„Gern geschehen. Und ab Morgen ist Entspannung pur angesagt, dann liegen wir den ganzen Tag am Strand.“ Ich freute mich wahnsinnig darauf, aber die Erinnerung, an das Treffen mit meinen Eltern, ließ seine verbesserte Stimmung wieder abflauen.

„Vertrau mir, Pat, das wird gut gehen.“

Er seufzte nur.

Patrick

Schweigsam verbrachten wir die restliche Fahrt zu mir. Ein kurzer Urlaub wäre zwar das Richtige gewesen, doch mit unserem geplanten Ziel konnte ich mich nicht anfreunden. Fabians Zuversicht wollte nicht so recht überspringen.

Beinahe schon routiniert stellte er meinen Wagen vor dem Haus ab und öffnete mir galant die Tür. Seine ausgestreckte Hand beachtete ich nicht und kämpfte mich mühsam aus dem Sitz heraus.

Enttäuscht ließ er die Hand wieder sinken. „Wenn du nicht willst, dann sag es mir, aber ignorier mich nicht schon wieder. Ich meine es doch nur gut, du Dickkopf!"

Nachdenklich sah ich zu seinen Augen auf, die mich mit einem undefinierbaren Blick musterten. Er wirkte verletzt und sauer.

„Nein, lass uns fahren. Es tut mir leid.“ Ich hielt ihm meinen rechten Arm entgegen und er griff sofort nach der Hand, zog mich in seine Umarmung.

In der Wohnung hielten wir uns nicht lange im Bad auf und gingen gleich ins Bett. Er kuschelte seinen nackten Körper fest an mich heran und das Gefühl seiner Nähe machte mich, wider Erwarten, auf eine angenehme Art schläfrig. Ich spürte das gleichmäßige Klopfen seines Herzens an meiner Seite.

„Ich bin froh, dass du bei mir bist“, flüsterte ich ihn sein Ohr.

Mit müden Augen sah er auf und seine Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln. „Du wirst mich auch nicht mehr los“, kam es flüsternd von ihm.

„Ich nehme dich beim Wort“, antwortete ich leise, doch er hörte es nicht mehr. Zaghaft streichelte ich über seinen schlafenden Körper und hatte plötzlich ein sehnsüchtiges Verlangen nach mehr, wollte mit ihm schlafen und ihn dicht an mir fühlen. Wie sein bestes Stück wohl schmecken würde? In dieser Richtung fehlte mir jede Erfahrung. Aber ich erinnerte mich, mit welcher lustvollen Leidenschaft er mich immer verwöhnt hatte.

Fabian bewegte sich, seine Hand rutschte tiefer und kam auf meinem Becken zur Ruhe.

‚Na perfekt’, murmelte ich und hielt den Atem an, als er seinen Kopf unter meiner Achsel vergrub und mich sein Atem auf der empfindlichen Haut kitzelte. Die kurzen blonden Bartstoppeln, welche man bei Licht kaum erkennen konnte, taten ihr übriges, als sein Kinn mich berührte. All diese kleinen Reize lösten unglaubliche Gefühle in mir aus, in einer Intensität, die ich bei Tini vorher nicht empfunden hatte. Der Sex mit ihr war toll, aber es gab keinen Vergleich zu dem, was Fabian hier unbewusst mit mir anstellte.

Wieder bewegte sich seine Hand, nur wenige Millimeter tiefer und ein Kribbeln zog durch meinen Körper. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, schob sich sein oberes Bein über meinen Oberschenkel. Sein schlankes Knie kam kurz vor meinem Lendenbereich zum Liegen. Schlief er wirklich? Ich lauschte in die Dunkelheit und hörte seinen gleichmäßigen Atem. Außerdem lag seine Männlichkeit schlapp an meiner Hüfte.

Dann setzte sein Atem kurz aus und er schmatze leise, die feuchten Lippen berührten einen der oberen Rippenbögen und eine prickelnde Gänsehaut breitete sich wellenförmig über meinem Körper aus.

Mein Verstand schaltete sich langsam aus und ich genoss die totale Reizüberflutung, während sich mein Atem beschleunigte. Der Daumen seiner Hand strich hauchzart über den äußeren Rand meiner gekürzten Schambehaarung und legte damit endgültig den letzten Schalter um: Ich unterdrückte ein Stöhnen und kam, ohne das eine einzige Hand mein bestes Stück berührt hatte.

Nur langsam beruhigte sich mein Herz und ich fühlte mich auf eine glückliche Art befreit. Entspannt konnte ich nun seine Nähe genießen und schlief bald darauf ein.


Der Morgen begann, wie der Abend zuvor geendet hatte, in entspanntem Glück. Fabian war nicht einen Zentimeter von mir abgewichen, lag aber mit dem Kopf nun auf meiner Schulter, die sich ein wenig taub anfühlte.

Ich kroch langsam unter ihm hervor und bettete seinen Arm vorsichtig unter seinen Kopf, damit er nicht aufwachte. Mit einem Bündel frischer Klamotten ging ich unter die Dusche, um die getrockneten Spuren unseres ‚Nicht-treibens’ zu beseitigen. Bei dem Gedanken daran musste ich lächeln, so etwas hatte ich definitiv noch nie erlebt.

In der Küche heizte ich den Kaffeeautomaten ein und beobachtete den anbrechenden Tag durch das Fenster. Gerade wurde es 7 Uhr und es herrschte bereits geschäftiges Treiben auf der Straße. All zu lange würde ich meinen Kleinen nicht mehr schlafen lassen können, da er früh zur Uni wollte, um seine Abwesenheit zu regeln. Doch darüber musste ich mir keine Gedanken machen, denn kaum war die erste Tasse Kaffee durchgelaufen, hörte ich leise Schritte im Flur. Mein Freund tauchte nackt und völlig verpennt in der Küche auf.

„Guten Morgen, Schlafmütze.“ Ich ging auf ihn zu und schlang meine Arme um den warmen Körper. „Magst du auch einen Kaffee?“ Verschlafen nickte er an meiner Schulter. Noch nie hatte ich ihn direkt nach dem Aufstehen erlebt und fand das irgendwie süß.

Mit meinem Mund neckte ich seine Lippen und entlockte ihm ein Lächeln.

„Guten Morgen“, nuschelte er.

Zärtlich strich ich mit der Hand über den knackigen Läuferpo und genoss das samtig-weiche Gefühl seiner Haut, was er mit einem Seufzen quittierte. Ich verstand mein altes Verhalten immer weniger, jetzt, wo ich meine Finger kaum noch von ihm lassen konnte. Doch dafür blieb jetzt keine Zeit und ich gab ihm einen sanften Klaps auf den Hintern, bevor ich mich von ihm löste. Er reagierte mit einem unwilligen Murren.

„Später, Schlafmütze“, vertröstete ich ihn und reichte ihm eine Tasse mit dampfendem Koffein. Ich betrachtete weiterhin seinen nackten Körper, den er mir ohne Scheu zur Schau stellte.

„Ich mag deine Blicke“, lächelte er. „Es kommt mir immer noch wie ein Traum vor.“

Schweren Herzens riss ich mich von seinem Anblick los. „Ich würde ja auch gerne noch mit dir weiter träumen, aber dafür haben wir kaum noch Zeit.“

„Du hast Recht.“ Er nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. „Ich verschwinde mal schnell ins Bad.“

Die kurze Wartezeit verbrachte ich am Fenster, nachdem er sich in die Dusche verabschiedet hatte. Erneut dachte ich an die bevorstehende Reise und die Nervosität kehrte zurück. Auch Tini und meine Zieheltern spukten mir durch den Kopf. Die Vergangenheit brach mir unter den Füßen weg und ich hatte nur den einen Halt, den Fabian mir geben konnte. Doch dazu gehörten auch seine Eltern.

Derartig versunken bemerkte ich nicht, wie er die Küche wieder betrat, bis sich sein Arm um mich legte. Ich schrak kurz zusammen.

„Ich bin es nur. Denkst du wieder an heute Abend?“ Sein Kehlkopf vibrierte an meiner Schulter, nachdem er sich an mich geschmiegt hatte.

„Ja, auch. Sag mal, trinken deine Eltern Wein?“

Er dachte einen Moment nach. „Irgendeinen Rotwein, aber ich weiß nicht welchen. Trockener Rotwein.“

„Dann lass mich bitte in der Stadt raus, du kannst das Auto haben.“

Ich bekam einen dankbaren Kuss auf den Hals. „Das ist super. Ich hatte mir schon überlegt, wie ich an mein Fahrrad komme.“

Fabian ließ mich in der Stadt aus dem Auto und fuhr weiter zur Uni. Ich besorgte derweil einen guten Wein und zusätzlich einen schönen Strauß frischer Blumen, den ich seiner Mutter geben wollte.

In einem Café wartete ich dann auf seinen Anruf und gönnte mir ein kleines Frühstück.

Die Sonne genießend schloss ich die Augen und lauschte auf die Geräusche in der Straße. Kreischende Kinder und sich unterhaltende Menschen mischten sich unter das Geklapper von Schuhen.

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ Der junge Kellner riss mich aus der Geräuschwelt.

„Einen Kaffee, bitte.“

Er nickte kurz und räumte mein leeres Geschirr ab. Nachdenklich sah ich ihm hinterher, als er im Laden verschwand. Eigentlich war er ganz nett anzusehen und ich fragte mich, ob mir auch andere Männer gefallen würden. Doch der Gedanke ihn anzufassen ließ mich schaudern. Nein, ich wollte Fabian.

Meine Augen richteten sich wieder auf das hektische Treiben und ich zuckte zusammen. Aus der Menschenmenge schälte sich Tini heraus, in einem knappen roten Kostüm und hochhakigen Schuhen gleicher Farbe. Sie hatte ihr Handy zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, während sie in der schwarzen Handtasche etwas suchte.

Offensichtlich hatte sie den Vormittag bei einem Frisör verbracht und die neue Frisur stand ihr gut. Das ehemals rot-blonde Haar leuchtete in einem hellen Braunton und war etwas kürzer als vorher.

Dann sah sie mich und ließ die Tasche unschlüssig sinken. „Ich rufe später zurück.“

Meine Ex beendete das Gespräch und kam langsam auf mich zu.

„Patrick, was machst du hier?“

„Frühstücken.“ Die Antwort kam ziemlich aggressiv und ich wollte sie schnell wieder loswerden. Tini sah gut aus und genau dieses Empfinden störte mich.

„Allein?“ Hoffnung klang in der Stimme mit.

Ich zeigte auf meine Einkäufe. „Das sind Mitbringsel für Fabians Eltern. Er ist gerade in der Uni und regelt seine Abwesenheit.“

Sie setzte sich ungefragt auf den freien Stuhl an meinem Tisch. „Patrick, ich habe mich falsch verhalten. Diese eine Nacht hätte nicht passieren dürfen. Aber ich war so wütend auf dich. Ich bin einfach zu weit gegangen.“ Ihre Hand griff nach meiner und ich zog sie hastig weg. Ihr sanfter Blick passte nicht mehr zu dem Bild der Furie, die mich nur wenige Tage zuvor zum Sex erpresst hatte.

„Zu weit gegangen? Mehr fällt dir nicht dazu ein? Tini, ohne Fabian wäre ich am Tag drauf vermutlich an meiner eigenen Kotze erstickt. Mir wäre es an dem Tag egal gewesen, die Demütigungen waren zu viel. Er hat mich ins Leben zurückgeholt!“

Die Art, wie sie die Aktion herunterspielen wollte, machte mich sauer. „Es ist alles gesagt. Uns verbindet nur noch das Kind, aber mit dir will ich ansonsten keinen Kontakt mehr.“

„Du liebst ihn wirklich?“ Eine Träne stahl sich in ihr Auge.

„Ja, sieh es endlich ein.“ Der Kellner brachte meinen Kaffee und ich bezahlte.

„Hier, trink den Kaffee, ich muss weg.“ Mit diesen Worten schob ich ihr die Tasse rüber, raffte meine Sachen zusammen und ging. Kurz darauf klingelte auch endlich das Telefon.

Fabian

Erleichtert verließ ich das Sprechzimmer von meinem Professor. Ein paar befreundete Kommilitonen würden ihre Unterlagen für mich kopieren.

Voller Vorfreude griff ich nach dem Handy. „Ich bin fertig. Wo steckst du?“

„Auf der Flucht“, brummte er mir entgegen. „Tini hat mein Frühstück gestört. Komm bitte zur Haltestelle vor der Passage, ich bin gleich da.“

„Okay, ich beeil mich!“ Als er nichts mehr sagte, drückte ich das Gespräch weg. Hoffentlich war seine Stimmung nicht zu weit unten.

Kaum zehn Minuten später hielt ich am Treffpunkt an. Patrick wartete bereits ungeduldig und winkte mir zu. Schnell sprang ich aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum, wo er seine Einkäufe verstaute.

Unschlüssig sah ich ihn an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Er bemerkte den Blick, sah sich kurz um und legte seine gesunde Hand auf meine Wange, bevor er mich zu einem flüchtigen Kuss heranzog.

„Alles okay, Kleiner. Mir geht es gut.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen.


Mittlerweile war es dunkel und die letzten Kilometer lagen vor uns. Patrick wurde auf der Fahrt immer stiller. In der Wohnung wirkte er noch ganz normal, als wir unsere Klamotten in Rekordtempo zusammenpackten. Von Staus blieben wir weitestgehend verschont und lauschten ein paar CD’s. Doch die Nervosität nahm stetig zu.

Pünktlich zu den Nachrichten um 22:00 Uhr erreichten wir die Einfahrt zum Haus meiner Eltern und ich parkte unter dem Carport neben der Eingangstür.

Ich schnappte mir die Reisetaschen aus dem Kofferraum und machte mich auf den Weg zur Tür, während Patrick zögerlich die Geschenke betrachtete. Auf dem Hof blieb es dunkel, eine der Glühbirnen war durchgebrannt.

Meine Mutter stand im Eingang und wartete bereits. Schummriges Licht drang aus dem Haus.

„Hallo mein Schatz“, begrüßte sie mich. Ihr misstrauischer Blick ging an mir vorbei in die Dunkelheit.

„Hi, Mama.“ Ich drehte mich nach der Umarmung ebenfalls um und erkannte Patricks schemenhafte Silhouette. „Bitte denk an dein Versprechen“, flüsterte ich.

„Ja, ist schon gut, wir werden versuchen nett zu sein.“

Ich warf ihr einen flehenden Blick zu. „Nicht versuchen. Es war schon schwer genug ihn hierher zu bekommen. Er hat seine Fehler eingesehen.“

Sie seufzte auf. „Ist ja gut, guck mich nicht so treudoof an.“

Leise näherten sich die Schritte meines Freundes. „Guten Abend, Frau Westerkamp. Ich bin Patrick, Patrick Reder.“ Seine Stimme klang unsicher und zitterte.

Er trat in das schwache Licht des Hauses und meine Mutter riss überrascht die Augen auf, als sie ihn ansah.

Mechanisch streckte sie ihm die Hand entgegen. „Heidemarie Westerkamp, hallo.“

Das Verhalten meiner Mutter und der starrende Blick irritierte Patrick zusehends. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein, Sie erinnern mich nur an jemanden.“ Ich hatte eine starke Vorahnung, auf wen sie anspielte.

„Sie meinen bestimmt Thomas. Fabian hat mir erzählt, ich sähe ihm ähnlich.“ Bei der Erwähnung des Namens sah er mich liebevoll an und legte seine Hand auf meine Schulter.

„Ich habe ihm alles von Thomas erzählt, Mama.“

Sie riss sich von seinem Anblick los und bat uns ins Haus. „Anton ist noch schnell in die Stadt gefahren, er kommt sicher gleich, der Supermarkt hat ja jetzt geschlossen.“ Ihr Tonfall wirkte nervös, von Ablehnung keine Spur.

Patrick ging wieder zum Auto, um seine Mitbringsel zu holen.

„Du hast gesagt, er sähe ihm ähnlich. Aber er sieht aus wie er.“ Sie flüsterte, damit mein Freund es nicht hören konnte.

„Ich weiß. Ein unglaublicher Zufall, oder? Man könnte sie für Brüder halten. Und sein Verhalten ist dem von Thomas auch ganz ähnlich geworden. Ich fühle mich genau so wohl in Patricks Nähe.“

Sie sagte nichts sondern blickte wieder zur Tür, wo mein Großer mit dem Strauß Blumen stand und schüchtern lächelte. „Der ist für Sie, Frau Westerkamp.“

Mama lächelte zurück. „Heidi reicht völlig, Patrick. Ein hübscher Strauß, danke.“ Sie ließ uns ins Wohnzimmer und suchte nach einer Vase, während ich die Taschen neben die Tür stellte. „Geht es dir gut?“

Patrick stand etwas verloren vor dem Sofa. „Ich glaube ja. Die Begrüßung war etwas unheimlich.“

Ich ging auf ihn zu und er schloss mich sofort in seine Arme. Er vergrub sein Gesicht in meiner Schulter und atmete tief ein, bis ein Räusperer von der Tür ihn zurückfahren ließ.

„Lasst euch nicht stören. Ich wollte nur etwas zum Trinken bringen. Was möchtet ihr?“

„Kaffee!“, riefen Pat und ich gleichzeitig.

Wir setzten uns auf die Couch und warteten. Er legte seine Hand in meine und bettete seinen Kopf auf meiner Schulter. Der Tag und die Fahrt steckten uns beiden in den Knochen und ich unterdrückte ein Gähnen.

Mama brachte den Kaffee und ich bemerkte ihre heimlichen Blicke, mit denen sie Patrick unauffällig musterte. Scheinwerferlicht drang durch die Fenster und der Kombi meines Vaters fuhr auf den Hof.

Meine Mutter verschwand zur Tür und kehrte kurz darauf zurück. „Anton braucht Hilfe, er hat eine neue Festzeltgarnitur gekauft.“

Patrick stand sofort auf und wir gingen beide nach draußen.

„Hallo Papa“, mein Vater nahm mich herzlich in den Arm.

„Schön, dass du hier bist, Fabian. Na, wo ist dein Freund?“

Ich zeigte auf die Haustür, wo mein Großer schüchtern wartete und mit seinen Fingern spielte. So zurückhaltend sah man ihn selten und er wirkte um Jahre jünger. In solchen Momenten wurde die Ähnlichkeit zu Tommy noch größer. Und mein Vater reagierte beinahe genau so seltsam, wie es Mama auch schon getan hatte.

Langsam schritt er auf die Tür zu und Patrick fühlte sich sichtbar unwohler unter den forschenden Augen meines Vaters.

„Hallo, Herr Westerkamp. Patrick Reder.“ Er hielt meinem Vater die Hand entgegen, die dieser auch gleich ergriff.

„Anton. Habt ihr die Fahrt gut überstanden?“ Der lässige Plauderton sorgte wieder für Entspannung.

„Ja, danke, Fabian fährt wirklich gut.“

„Das will ich meinen“, lachte Paps. „Er hatte auch den besten Fahrlehrer im Rostocker Umland.“

Patrick schaltete schnell. „Sie ... du bist Fahrlehrer?“

„Fahrschule Westerkamp, ganz genau.“ Mein Vater klopfte meinem Freund wohlwollend auf den linken Oberarm, was Patrick ein schmerzvolles Stöhnen entlockte. Die Prellung war noch zu frisch und er hatte auch einen ziemlich Bluterguss.

„Alles in Ordnung?“

„Papa, lass uns später darüber reden“, schritt ich helfend ein. Das Thema war gewiss nichts für einen nächtlichen Hofplausch. Patrick sah das ähnlich und lächelte mich dankbar und mit leicht schmerzverzehrter Miene an.

Paps klemmte sich die Bänke unter die Arme und wir trugen gemeinsam den Tisch hinter das Haus auf die Terrasse. Mama ließ uns über die Glastür zum Esszimmer herein.

Geschlossen gingen wir ins Wohnzimmer zurück und setzten uns. Die Stimmung war angespannt und meine Eltern musterten Patrick ständig mit kurzen Blicken.

Mir wurde das zu viel. „Ja, er sieht Thomas ähnlich.“ Mein Freund schien im Sofa versinken zu wollen.

„Es tut mir leid, dass ich euch so mit dem Besuch überfallen habe, aber wir mussten einfach mal raus aus Heidelberg. Die Situation ist ziemlich angespannt.“

Meine Eltern schwiegen taktvoll, aber die fragenden Gesichter machten deutlich, dass sie mehr hören wollte.

„Meine Ex-Freundin ist schwanger und nicht glücklich darüber, dass ich mich für Fabian entschieden habe. Sie hat einigen Ärger provoziert. Ich gebe zu, ich wollte nicht herkommen, wegen allem, was vorher zwischen Fabian und mir passiert ist. Das war ganz großer Mist.“

„Das war es allerdings. Aber wenn ich mir unseren Sohn so anschaue, dann scheint ihr eure Probleme im Griff zu haben.“

Patrick nickte und unterdrückte ein Gähnen. „Ja, ich weiß nicht, wo ich jetzt ohne ihn wäre.“

Mein Vater schien mit der Antwort noch nicht ganz zufrieden. „Das war vermutlich noch nicht alles, oder? Es geht uns zwar nichts an, aber wir würden gerne mehr darüber erfahren, wie es bei euch zu dieser Wende kam.“

Pat verspannte ein wenig und Mama lenkte ein. „Wir sollten morgen in aller Frische weiterreden. Ich glaube die Jungs sind müde, Anton.“

Sie erntete ein zustimmendes Nicken und wir wünschten uns eine gute Nacht, bevor sich alle in ihre Räume verteilten.

„Hast du ein Bild von ihm?“ Patrick sah sich aufmerksam in meinem alten Zimmer um. „Ich würde gerne verstehen, warum deine Eltern so seltsam auf mich reagieren.“

Wortlos ging ich auf eins der Regale über meinem Schreibtisch zu und zog ein Fotoalbum hervor. Ich blätterte durch die Seiten, bis ich zu einem Schnappschuss von uns kam, den meine Eltern, ungefähr ein halbes Jahr vor Tommies Tod, in einem Rostocker Café gemacht hatten. Thomas und ich unterhielten uns damals über einen Surfwettbewerb und er strahlte richtig dabei. Das Foto hatte es unglaublich gut eingefangen.

„Ach du Scheiße!“ Patrick stand hinter mir und starrte fassungslos auf das Bild. „Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte das ein Bild von uns sein.“

Er sah mich nachdenklich an und ich ahnte, was ihm wohl durch den Kopf ging. Es war bestimmt wieder eine Frage, die er mir schon vor ein paar Tagen gestellt hatte und er sah sich hier aufs Neue bestätigt.

„Nein, Patrick, ich habe mich vielleicht wegen der Optik in dich verknallt, aber ich liebe dich. Den Menschen Patrick Reder. Du bist nicht Thomas Maler. Ich hab mich ja auch schon gefragt, ob du nicht sein Bruder gewesen sein könntest, nach der Offenbahrung deiner Mutter, aber es ist unmöglich. Seine Eltern sind in deinem Geburtsjahr geflohen und wurden geschnappt. Er kam vier Jahre ins Gefängnis und sie musste in einer Fabrik arbeiten. Von einem Kind haben sie nie etwas erzählt. Marlies hat damals auf Robert gewartet und sie wurden gleich wieder ein Paar, kurz nach seiner Entlassung. In der Nacht wurde dann auch Thomas gezeugt. Er kam einen Tag vor mir im gleichen Krankenhaus zur Welt.“

„Und wenn sie bei der Flucht ein Kind gehabt hätten, was wäre damit passiert?“

„Der Staat hätte es sicher einbehalten und unter anderem Namen in ein Heim und zu Pflegeeltern gegeben. So was war früher normal, um die Kinder zu staatstreuen Menschen zu erziehen. Doch dann hätten die beiden ihr Kind, nach Öffnung der Stasiakten bzw. nach dem Mauerfall gesucht.“

„Sie hatten ein Kind bei der Flucht dabei und es wurde ihnen weggenommen. Sie fanden Holger, ihren ersten Sohn. Er ist bei den Pflegeeltern verstorben, nur eine Woche nach der Übergabe.“

Wir hatten Mama nicht bemerkt, die wartend in meiner offenen Zimmertür stand. „Verstorben, zwei Monate nach seiner Geburt im Februar 82. Der Totenschein war, glaube ich, auf den dritten April ausgestellt. Marlies hat mir davon erzählt. Erfahren haben sie davon 93, als ihnen endlich jemand Auskunft geben konnte.“

Patrick wurde blass. Ich erinnerte mich, dass er einen Tag später Geburtstag hatte. Konnte das alles Zufall sein? „Mama, warum habt ihr nie etwas gesagt?“

„Marlies und Robert wollten es nicht. Die Beiden haben damals sehr darunter gelitten und wollten euch damit nicht belasten. Und nach Thomas Tod ging es überhaupt nicht mehr. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es wäre nur einen Sohn zu verlieren, aber gleich zwei ... das ist unmenschlich.“

„Frau We... Heidi, wir sollten uns morgen wirklich über ein paar Dinge unterhalten. Aber ich muss erst noch einiges sortieren.“

„Selbstverständlich, Patrick. Schlaft gut.“

Mein Freund zitterte. „Fabi, was hältst du davon? Es sind alles ein paar Zufälle zuviel, oder nicht?“

„Ich weiß nicht. Möglich wäre es schon. Die Geschichte deiner Ziehmutter und das jetzt ... und dann frag ich mich wieder, wie wahrscheinlich es ist, dass ausgerechnet wir uns treffen, so weit von meiner Heimat entfernt.“

Patrick sah schlecht aus und seine Hand legte sich verkrampft auf seinen Bauch. „Wo ist die Toilette?“, fragte er gehetzt und ich deutete auf die Tür neben dem Schreibtisch, auf mein kleines Privatbad.

Patrick stürmte los und ich hörte nur noch, wie der Klodeckel gegen die Wand fiel und wie er sich röchelnd übergeben musste. Eine gewisse Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Die Idee hinter dem Urlaub war schließlich eine Ablenkung von dem ganzen Stress in Heidelberg und nun kam es noch dicker. Ich hoffte, dass er deswegen nicht sauer auf mich war.

Nach einigen Minuten kehrte er aus dem Bad zurück und sah furchtbar aus. Wortlos legte er sich auf mein Bett und schloss die Augen. Der Brustkorb hob und senkte sich schneller als üblich und die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Vorsichtig ließ ich mich auf der Bettkante nieder. „Bist du böse auf mich?“

Seine kalte Hand suchte nach meiner und fand sie. „Du bist ein Idiot, wenn du das wirklich denkst.“

„An deiner Art, wie du mir etwas Nettes sagen kannst, sollten wir noch arbeiten“, lächelte ich unwillkürlich.

„Du könntest damit anfangen und dich an mich kuscheln.“ Er rückte ein Stück zur Seite, kam aber nicht sonderlich weit, da mein Bett nur einen Meter breit war.

„Und wie soll das deiner Ausdrucksweise helfen?“, gab ich skeptisch zurück.

Er warf mir einen genervten Blick zu und klopfte ungeduldig auf die Matratze. Also fügte ich mich und kuschelte mich an seinen zittrigen Körper. Mit der Hand auf seiner Brust spürte ich den wummernden Herzschlag.

„Schön, dass du bei mir bist“, sagte er leise. „Besser?“

„Viel besser. Aber ich habe vorhin etwas gesagt und du hast nicht darauf reagiert.“

„Was meinst du?“

„Ich hab gesagt, dass ich dich liebe.“

„Ach das meinst du! Ja, ich weiß.“ Er grinste mich unverschämt an und aus Rache kniff ich ihm in die Hüfte.

„Aua!“, jammerte er übertrieben theatralisch. „Ich liebe dich auch, mehr als jemals jemanden zuvor.“

So einen Satz hatte ich nicht erwartet und war mehr als positiv überrascht. „Wow, danke.“

„War das jetzt gut genug?“ Seine Hand spielte an meiner Jeans herum und öffnete den obersten Knopf. Dann folgte der Reißverschluss. Ein wohliges Stöhnen entrann meiner Kehle. Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte er meinen Schwanz aus dem Gefängnis befreit und ich schloss die Augen, bis ich seine warme, feuchte Hand ...

‚Gestern hatte seine Hand noch keine Zähne’, dachte ich.

Ungläubig riss ich die Augen auf und sah eindeutig seine Zunge, die sich an dem rapide verhärtenden Schaft bemerkbar machte.

„Was tust du da?“, stöhnte ich.

„Etwas, dass ich erst vor Kurzem gerne getan hätte. Aber jetzt bist du ja wach.“

War er wirklich schon so weit? Das intensive Gefühl in meinen Lenden wischte die vorsichtigen Bedenken hinfort, denn ein Paar warmer Lippen schloss sich fordernd um meine blanke Spitze und fing an zu saugen, während eine, nun deutlich wärmere Hand, zärtlich meine Hoden knetete. Mit der Zunge stahl er den ersten Lusttropfen von meiner Eichel und er leckte sich vorsichtig über die Lippen.

„So schmeckt das also. Lecker“, grinste er.

Zu einer klaren Antwort war ich längst nicht mehr fähig. Meine Zweifel, ob er sich wirklich jemals auf mich einlassen könnte, waren wie ‚weggeblasen’, im wahrsten Sinne des Wortes. Es war kaum zu glauben, dass er es heute zum ersten Mal machte. Die Art und Weise, wie er seine Zähne vorsichtig an der empfindlichen Haut spielen ließ, war mehr als gekonnt.

Kaum stülpte sich sein Rachen wieder über die gesamte Länge, da setzte auch mein Kopf wieder ein. Ich stand kurz vor dem Höhepunkt und gab ein warnendes Knurren von mir. Meine Hände wollten seinen Kopf wegziehen, doch er wischte sie zur Seite. Hilflos gab ich mich dem unaufhaltsamen Höhepunkt hin. Zum einen genoss ich das irre Gefühl in mir, welches befreiender als alles andere zuvor war und zum anderen bekam ich Angst, dass er sich an der Stelle maßlos überforderte.

Seine starken Hände hielten meine Hüfte umklammert und er zog mich immer näher an sich heran. Während es in Wellen aus mir heraus floss, sah er mir tief in die Augen und ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel nahm mir die Angst. Es gefiel ihm.

Er leckte sich erneut über die Lippen und sah mich reumütig an.

„Was ist mit dir? Bereust du es?“ Ein Teil meiner Furcht kehrte zurück.

„Ja, ich bereue einiges, aber nicht dieses hier.“

Die Wärme in seiner Stimme bereitete mir eine wohlige Gänsehaut. „Und was bereust du im Moment?“

„Dass wir ...“ Er stand auf und legte sich halb auf mich, bevor unsere Lippen zu einem innigen Kuss verschmolzen. „Dass wir uns danach nie geküsst haben“, beendete er seinen Satz, nachdem er sich wieder von mir gelöst hatte.

Er streifte sich das Shirt ab und legte sich seitlich neben mich. Die Schwellung seines Armes war zurückgegangen und hatte ein Muster bunter Flecken zurückgelassen. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger über den Erguss und er stöhnte leicht auf. Es tat immer noch weh. Dennoch löste er die Knöpfe meines leichten gelben Sommerhemdes und streifte es über meine Schultern. Ich half ihm dabei und kurz darauf lag auch dieses am Boden.

„Fabi, ich möchte mit dir schlafen, richtig mit dir schlafen. Wäre das okay für dich?“

Als Antwort nickte ich ihm lächelnd zu und reichte ihm das Gleitgel aus der Schublade neben dem Bett. Er nahm die kühle Tube an sich und rieb sie einen Moment zwischen seinen Händen, bis er einen ordentlichen Klacks auf seine Finger lud, um es dort weiter anzuwärmen. Mit seinem Finger platzierte er das angewärmte Zeug auf und in meinem Po, bevor er sich auch seine eigene Erektion einrieb. Ich schmiegte meinen Rücken an seine Brust, damit der beeinträchtigte Arm locker über mir liegen konnte. Mit der anderen Hand dirigierte ich ihn näher an sein Ziel.

Da dieses nicht mein erster Analverkehr war, es gab ja auch Kerle vor Patrick, ging ich mit der nötigen Entspannung an die Sache heran. Allerdings war er der Erste, der ohne Gummi ran durfte. Patrick drang nahezu problemlos ein, blieb aber übervorsichtig.

„Mach ruhig weiter, ich melde mich schon, wenn es zu heftig wird.“

Er schob sich ein Stück tiefer hinein und ein lustvolles Stöhnen entfuhr mir, als die breite Spitze über meine Prostata schrammte.

„Tut das weh?“ Er hielt unsicher inne.

„Um Gottes Willen, mach weiter!“

Er überwand die letzten fehlenden Zentimeter und setzte zu gleichmäßigen Stößen an. Es dauerte auch nicht sehr lang, bis sein Körper hinter mir zu zucken anfing und ein unterdrücktes Stöhnen an mein Ohr drang. Patrick sagte nichts und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Ich kuschelte mich etwas dichter heran und genoss das ausgefüllte Gefühl.

„Willst du ... noch fertig machen?“

Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihm und betrachtete das, vor Verlegenheit, gerötete Gesicht.

„Ich glaube, du würdest lieber reden?“, fragte ich ihn lächelnd.

Ein leichtes Nicken war die Antwort. „Hab ich dir wirklich nicht wehgetan?“

„Ganz im Gegenteil. Du warst wirklich toll, beide Male.“

Ein weiteres, unerwartet scheues, Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Es war so anders als alles zuvor, viel schöner.“ Mühsam unterdrückte er ein Gähnen.

„Wollen wir noch schnell duschen und dann schlafen?“

Er machte ein zustimmendes Geräusch und wir huschten ins Bad.

Patrick

Fabian lag bereits schlafend an meiner Seite, geschafft von der langen Fahrt und unserem ersten Mal. Meine Gedanken kreisten ausnahmslos um die letzten zwei Stunden, die seither vergangen waren. Sex mit ihm war mit nichts anderem zu vergleichen und er hatte die trüben Erinnerungen an die Diskussion davor restlos verdrängt.

Doch nun waren diese Gedanken wieder da. Die Möglichkeit, der Bruder von diesem Thomas zu sein, war so absurd, dass es schon beinahe wieder einleuchtend war. Dann wäre auch diese nagende Frage, warum meine wirklichen Eltern mich weggaben, plausibel beantwortet. Aber all dies konnte auch weiterhin ein gewaltiger Zufall sein. Es gab ein totes Kind, wenn auch nur die Sterbeurkunde. Und Urkunden mussten nicht zwangsweise echt sein.

Ich drängte all diese Gedanken aus meinem Kopf und lauschte den ruhigen Atemzügen meines Freundes, dessen Lippen, vom roten Licht des Weckers beschienen, zu einem Lächeln verzogen waren. Mit diesem Bild vor Augen schlief ich dann ebenfalls ein.


Gegen neun Uhr kitzelte mich das Sonnenlicht wach und ich erlebte eine ungewohnte Situation: Fabian war nicht mehr bei mir und ich knurrte frustriert. Sein kuschelig-warmer Körper fehlte mir und ich verstand, wie er sich in den letzten Tagen gefühlt haben musste, wenn ich morgens weg war. Ein Punkt, der sich zukünftig ändern würde.

Der Duft von Brötchen und Kaffee lag in der Luft und ich zog mich vorsichtshalber an, bevor ich am Ende seinen Eltern begegnete.

In eine Zeitung vertieft saß Fabian am Küchentisch. Auf der Arbeitsplatte stand ein Tablett mit Brötchen, zwei Kaffeetassen und frischem Orangensaft. Ich räusperte mich und er sah auf.

„Guten Morgen, du bist ja schon wach!“

„Ja, es war so einsam im Bett“, entgegnete ich mit einem gespielten Vorwurf.

Sein Blick glitt zu einer kleinen Küchenuhr. „In zwei Minuten sind die Eier fertig, dann hätte ich dich mit Frühstück geweckt. Wie geht es dir?“

„Viel besser. Und dir?“

Er lächelte. „Es war noch nie besser. Von so einer Nacht konnte ich bisher nur träumen. Tut mir übrigens leid, dass ich nach der Dusche so schnell eingeschlafen bin, aber es ging nicht mehr anders.“

„Kein Problem.“ Ich nahm mir eine Tasse vom Tablett, der Kaffee war noch heiß. „Wo sind deine Eltern?“

„Papa ist arbeiten und Mama hat eine Nachricht hinterlassen, sie müsse noch etwas erledigen und dass es spät werden könnte. Der Tag gehört also nur uns allein. Wir könnten zum Strand, das Wetter ist vielversprechend.“

„In der Sonne brutzeln und im Wasser planschen?“

„Nur wenn du willst. Wir können natürlich auch was anderes machen“, lenkte er ein, weil er mich scheinbar falsch verstanden hatte.

„Nein, Sonne und Meer ist perfekt. Dafür sind wir ja eigentlich auch hergekommen.“ Fabian strahlte gleich noch ein Stück mehr.

Das Frühstück ließen wir uns in der Küche schmecken und mein Kleiner räumte blitzschnell die Reste weg, bevor er sich einen gepackten Rucksack schnappte. „Ich hab schon Handtücher und Badesachen eingepackt, wir können also gleich los.“

Gesagt, getan, keine zwanzig Minuten später erreichten wir den Strand. Fabian räumte den Rucksack aus und legte die Badehosen auf die Tücher, zwei rote Hosen im Retrolook.

„Und wo ziehen wir uns um?“ Zur Antwort streifte mein Kleiner seine Klamotten ab und saß kurz nackt, für alle sichtbar, am Strand, bis die neue Hose ihren angestammten Platz fand.

„Ganz einfach, macht hier fast jeder.“

Ich ließ mein Shirt an und zog es über den Schritt, bevor ich mich meiner Hose entledigte und etwas verkrampft die Badeshort überzog, die die richtigen Stellen auffällig betonte.

„Nicht so schüchtern, nackt steht dir echt gut“, grinste er mich an. „Oder duschst du nach dem Training mit Klamotten?“

„Blödmann“, gab ich zurück und streifte mir das Shirt ab. Mein verkrampfter Versuch, mich umzuziehen, hatte tatsächlich mehr Aufmerksamkeit erregt als Fabians Klamottentausch.

„Entspann dich ein wenig, genieße die Sonne und lausche dem Meer, das hilft wirklich.“

Leicht verstimmt legte ich mich auf die Decke und schloss die Augen, aber wirkliche Entspannung wollte nicht aufkommen. Fabian ließ sich neben mir auf das Tuch fallen und ich spürte sein Bein leicht an meinem.

„Hörst du wie die Wellen leicht gegen den Strand laufen? Gleichmäßig, wie ein Pulsschlag. Wenn du genau aufpasst, dann hörst du, wie sich der Kamm kräuselt und in das leise Rauschen übergeht, wenn sie gekippt ist. Das Wasser läuft leise am Sand hinauf, und noch bevor es zurückfließt, legt sich die nächste Welle darüber. Für einen kurzen Moment berühren sie sich, wälzen sich über den Strand und liebkosen sich, wie flüchtige Liebhaber.“

Seine Stimme hatte beinahe einen hypnotischen Klang und seine Worte entspannten mich tatsächlich. Mein Kopf befreite sich von den Problemen der letzten Woche und ich hörte nur noch die rauschenden Wellen und seine sanfte Stimme, während seine Hände mir sanft Sonnencreme in die Haut massierten.

Nach einigen Minuten hatte ich das Gefühl, den leichten Aufprall der Wellen spüren zu können und Fabians Liebe zu dieser Urgewalt schwappte herüber. Ich hätte ewig hier bleiben können. Irgendwann schlief ich ein.


Mein Hals fühlte sich völlig ausgetrocknet an und ich wachte auf. Ich musste wohl eine ganze Weile geschlafen haben und lag in meinem eigenen Saft. Mir war wahnsinnig heiß.

„Heidelberg ist wirklich sehr schön, aber mit der Heimat ist es nicht vergleichbar.“ Fabians leise Stimme hob sich nur leicht vom Meeresrauschen ab. „Aber ich habe ihn und den gibt es eben nur dort.“

„Ist es ihm auch wirklich so ernst wie dir?“ Die Stimme war männlich und mir völlig unbekannt.

„Da bin ich mir sicher“, kam es sehr zuversichtlich von meinem Freund.

Langsam richtete ich mich auf und öffnete die Augen. Neben Fabian saß ein Typ in meinem Alter, ziemlich attraktiv, wie ich mir eingestehen musste.

„Hey, du bist ja wach“, lächelte Fabian mich an. „Stefan, das ist Patrick.“

Dieser Stefan ließ seine Zähne aufblitzen und hielt mir die Hand hin. „Hi, schön dich kennen zu lernen.“

„Er arbeitet für meinen Vater, einer seiner Fahrlehrer“, erklärte mein Kleiner.

„Ich muss dann auch mal wieder weiter, meine Frau ist mit unserem Knirps ganz allein und der ist gerade in einer anstrengenden Phase. Ich wünsch euch was. Und Fabian, melde dich ruhig mal zwischendurch.“

„Geht klar, Gruß an Carmen und Pascal.“

Stefan verschwand in Richtung Promenade.

„Hast du eigentlich was zum Trinken dabei?“

Fabian nickte und gab mir eine erwärmte Flasche Wasser. „Wir sollten uns abkühlen gehen.“

Er stand auf und sein schweißnasser Körper glänzte in der Sonne. Auffordernd streckte er mir seine Hand entgegen. Wir alberten eine ganze Weile im kalten Wasser herum, trugen wilde Wasserschlachten aus und übten uns im Ringkampf. Selten hatte ich soviel Spaß gehabt. Fabian bereicherte mein Leben in unglaublich vielen Punkten.

Nach der anstrengenden Schlacht, die wegen des engen Körperkontakts glücklicherweise im eiskalten Meer stattfand, legten wir uns zum Trocknen wieder auf unseren Platz. Überglücklich zog ich seinen kalten Körper heran und küsste ihn spontan, ohne mir Gedanken über mögliche Zuschauer zu machen.

Gegen 16:00 Uhr rafften wir unsere Klamotten zusammen, denn der Hunger zog uns in sein Elternhaus. Auf ein weiteres Umziehen am Strand verzichteten wir.

„Und was hast du jetzt vor?“ Fabian hatte meine Hand genommen und sah mich ernst an, während wir zu ihm Heim liefen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht sollten wir uns einfach mal mit Thomas Eltern treffen, auch wenn ich nicht glaube, dass es was hilft.“ Es war immerhin eine kleine Spur auf dem Weg zu meiner Vergangenheit. Ich versprach mir nicht allzu viel davon, allein schon, um nicht enttäuscht zu werden.

„Gute Idee, ich hab da auch schon dran gedacht. Wenn Marlies und Robert das überhaupt möchten, dann können wir ja morgen nach Lübeck fahren.“

„Gerne, es kommt auf einen Versuch an.“

Wir erreichten das Haus nur kurze Zeit später. Ein kleiner roter Mazda parkte vor dem Haus.

„Mama ist zurück.“ Heidi war durch das offene Küchenfenster zu sehen und huschte geschäftig hin und her. Wie auf Kommando knurrte mein Magen und Fabian lachte.

„Die Seeluft macht ganz schön hungrig, was?“

„Das Toben im Wasser mit überdrehten Studenten aber auch“, konterte ich.

Plötzlich war sein Mund ganz nah an meinem Ohr. „Ich würde auch ganz gerne wieder in meinem Zimmer mit dir toben, ohne Zuschauer und ohne Badehose“, flüsterte er.

„Kleiner Nimmersatt“, raunte ich zurück und spürte die aufkommende Lust. „Aber die Idee ist sehr gut.“ Wir küssten uns leidenschaftlich, ein Stück abseits vom Sichtbereich der Küche.

Im Haus begaben wir uns gleich in die Kochstube, wo Heidi erschrocken zusammenzuckte, da sie von unserer Rückkehr nichts mitbekommen hatte.

„Hallo Mama. Was hast du denn vor? Das sind ja Unmengen.“

„Das ist eine Überraschung, Schatz. Hallo Patrick.“ Sie lächelte mich an und es wirkte deutlich weniger verkrampft als am Vortag.

„Hallo Heidi.“

Sie rührte weiter im Topf herum.

„Mama, wir wollen morgen eventuell nach Lübeck.“

Heidi hielt inne. „Was wollt ihr denn da?“

„Marlies und Rob besuchen. Es ist nur eine kleine Spur, aber wir sollten ihr nachgehen.“

„Spur?“ Fabians Mutter war sichtbar irritiert. Es wurde Zeit für eine Erklärung.

„Heidi, das Gespräch gestern hatte einen bestimmten Hintergrund. Es geht nicht nur um diese Ähnlichkeit. Wir haben erst diese Woche erfahren, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind. Meine Mutter behauptet, dass meine Geburtsurkunde gefälscht ist. Meinen Vater kann ich dazu im Moment nicht befragen, er sitzt in Untersuchungshaft.“

Heidemarie wurde blass. „Im Gefängnis?“

„Ja“, antwortete ich zögerlich. „Er wollte mich umbringen. Meine Ex hatte ein Foto geschossen, wo ich Fabian im Arm hielt. Das war noch bevor wir wirklich zusammen waren. Und das hat ihm gereicht.“ Bei dem Gedanken, wie knapp ich davongekommen war, bildete sich ein dicker Kloß im Hals.

Heidi sah mich aus schreckensgeweiteten Augen an und Fabian sprach weiter. „Patricks Geburtstag ist ein Tag nach Holgers Tod. Es mag ein Zufall sein, aber wir wollen dem nachgehen.“

„Oh mein Gott.“ Heidi war durch die Informationsflut überfordert. Bei der Mordattacke von Heinrich schien es ihr schon zuviel zu werden, aber die Anhäufung der Zufälle war zuviel.

„Mama, alles okay?“ Fabian war besorgt.

„Ich glaube das alles nicht. Was für ein Dreckskerl! Deswegen einen Menschen zu töten und dann aus einem Verdacht heraus? Wie kann ...“, sie seufzte. „Du wurdest also am vierten April ‚geboren’? Ein ziemlich großer Zufall.“ Sie rührte gedankenverloren im Topf. „Den Weg nach Lübeck könnt ihr euch sparen, die beiden machen Urlaub auf dem Campingplatz. Wir haben sie für heute zum Essen eingeladen. Das ist die Überraschung. Ich muss Marlies anrufen.“ Schnurstracks eilte sie aus der Küche.

Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl sinken, mein Herz klopfte bis zum Hals. Fabian setzte sich auf meinen Schoß und schlang seine Arme um meinen Hals. „Hey, ganz ruhig, ich bin bei dir.“ Seine Lippen lagen an meinem Hals und ich spürte die sanften Küsse auf meiner Haut. Langsam normalisierte sich mein Puls wieder.

Heidi kam mit dem Telefon am Ohr zurück. „Gut, dann bis gleich. Ja, mache ich. Tschüß.“ Sie legte das Gerät auf dem Küchentisch ab und sah uns unschlüssig an. „Ich habe sie vorgewarnt und ich soll euch beide ganz lieb grüßen. Marlies ist ziemlich aufgeregt, auch wenn es ein Fehlalarm sein sollte. Normalerweise bleiben Tote tot, aber wer weiß, was unsere feine Regierung damals für Schweinereien abgezogen hat.“

In dem Punkt musste ich ihr Recht geben. Über die DDR hatte man schon einiges gehört. Und genau dieser Gedanke weckte wieder etwas mehr Hoffnung und gleichzeitig die Angst, dass diese Spur eine Sackgasse war. Fabian musste das gespürt haben und schmiegte sich gleich wieder fester an mich heran.

Fabian

Die Stimmung war gespannt und Patrick war ein nervöses Wrack. Sein Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Also blieb ich auf seinem Schoß sitzen und streichelte seinen Nacken. Zum Dank erntete ich ein liebevolles Lächeln, doch seine Augen starrten auf einen Punkt an der Wand.

Minute um Minute verstrich und plötzlich hörten wir ein Auto im Hof. Patrick wurde unruhig und Mama stürmte zum Fenster.

„Es ist Anton“, gab sie Entwarnung und mein Schatz sackte wieder in sich zusammen.

„Möchtet ihr ihm das erzählen, oder soll ich?“ Mama sah uns fragend an, aber Patrick sagte nichts.

„Soll sie es ihm sagen, Großer?“ Er nickte leicht und meine Mutter verschwand aus der Küche. Nach weiteren fünf Minuten betraten beide den Raum. Paps schaute betreten aus der Wäsche.

Kurz darauf ertönte wieder das knirschende Geräusch von Reifen auf Kies. Mama führte uns ins Wohnzimmer und Papa wartete an der Tür. Aus dem Flur drang leises Gemurmel zu uns herein, während Patrick weiterhin apathisch auf den Boden starrte. Es war eigenartig, ihn so zu sehen. Ich hatte ihn als willensstark und selbstbewusst kennengelernt, er war groß und wirklich sehr athletisch gebaut. Doch nun saß er hier wie ein verängstigtes Kind und von seiner körperlichen Kraft war nichts zu sehen.

Mama erhob sich und ging zur Zimmertür. Im Flur stand Marlies und klammerte sich an Robert fest. Ihre Blicke suchten nach Patrick und sie musterte ihn nervös aus der Entfernung. Viel war von seiner gekrümmten Gestalt bestimmt nicht zu sehen. Dann betraten sie endlich den Raum.

„Hi“, rief ich leise und Robert nickte mir zu, den Blick aber gebannt auf Patrick gerichtet.

„Großer, sie sind da.“ Als ich nach seiner Hand griff, blickte er auf. Seine Miene war schwer zu deuten. Im direkten Vergleich fiel mir die Ähnlichkeit zu Robert auf.

Marlies sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht und ihre Augen weiteten sich. „Oh mein Gott“, flüsterte sie.

„Rob, Marlies, das ist Patrick“, machte ich sie bekannt.

Der Vater meines Jugendfreundes machte ein paar Schritte auf uns zu und streckte seine Hand aus. „Freut mich dich kennen zu lernen, Patrick“, sagte er mit wackeliger Stimme.

Mein Freund griff unsicher nach der Hand. „Gleichfalls.“

„Heidi hat uns schon alles erzählt. Ich ... ich weiß nicht was ich sagen soll, aber ich könnte schwören ... aber wie kann das möglich sein?“ Robert war nicht weniger nervös als wir alle.

Patrick klammerte sich an der Hand fest, ihm standen Tränen in den Augen. Er schluckte schwer und wollte offenbar etwas sagen, doch er blieb stumm.

Mir kam eine Idee, wie wir vielleicht die Spur noch erweitern konnten. „Kann die Sterbeurkunde gefälscht sein? Habt ihr mit dem damaligen Arzt gesprochen?“

„Nein, wir hatten keinen Zweifel an der Urkunde. Wir wussten ja, dass die Kinder in Heime oder Pflegefamilien gesteckt wurden. Aber viele Familien wurden nach der Wende wieder vereint und es gab keinen Grund der Urkunde nicht zu glauben.“

Zwischenzeitlich hatte Patrick seine Hand wieder sinken lassen und er sah Robert an. „Dann müssen wir diesen Arzt finden und fragen. Kennen ... erinnerst du dich an den Namen?“

Marlies trat einen Schritt vor. „Den Namen werde ich nie vergessen. Die Urkunde wurde von Dr. Franz Billmeier unterzeichnet.“

Ich zuckte vor Schreck zusammen und Erkenntnis glomm in Patricks Augen auf. „Billmeier?“, flüsterte er.

„Ihr kennt ihn?“ Robert hielt seine Frau fest im Arm und Patrick nickte.

„Besser als mir lieb ist.“ Mein Freund stand auf. „Aber in diesem Fall ... ich glaube nicht, das euer Sohn gestorben ist. Er wurde nach Heidelberg geschleust und“, Patrick kämpfte schwer mit seiner Fassung, die ich schon längst verloren hatte. Als der Name des Arztes fiel, da war mir bereits alles klar. „Und steht jetzt vor euch.“

Die folgenden Minuten waren kaum zu beschreiben. Patrick und seine leiblichen Eltern standen im Wohnzimmer, hielten sich in den Armen und weinten hemmungslos.

Meine Eltern hatten sich in die Küche zurückgezogen, aber auch in ihren Augen stand das Wasser. Die Malers hatten so lange unter dem Verlust ihrer beiden Söhne leiden müssen, doch nun hatten sie einen zurück. Und ich war überglücklich, hatte ich mich doch tatsächlich in Tommies Bruder verliebt.


In den folgenden Monaten normalisierte sich unser Leben stetig. Patrick und ich lebten unsere Liebe in jeder Beziehung aus. Seine körperliche Scheu gehörte sehr bald der Vergangenheit an. Marlies und Robert konnten sich nach längerer Suche beruflich im Heidelberger Umland neu orientieren.

Dadurch konnten wir uns, sehr zur Freude von Herr Kramer, auch wieder ganz auf unsere Arbeit in der Agentur und ich auf mein Studium konzentrieren.

Mein Freund fand in den beiden eine wertvolle Unterstützung und es entwickelte sich eine harmonische Familienbeziehung. Gemeinsam brachten wir auch Billmeier ins Gefängnis, der mit Heinrich Reder zusammen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und seine Zulassung verlor. Seine Ziehmutter wurde in ein Pflegeheim verlegt.

Im Laufe der Zeit freundete ich mich sogar mit Tini an, die keine weiteren Versuche mehr unternahm, um Patrick zurückzugewinnen. Sie hatte sich damit abgefunden und verstand sich auch mit den Malers sehr gut.

Etwa sieben Monate später (Patrick)

„Gut, dann haben wir alles. Legt los!“ Ich beendete das Meeting und wir machten uns an unser neues Projekt. Fabian wartete, bis alle anderen verschwunden waren, und gab mir einen Kuss. Sofort erwachte in mir die Lust auf mehr, aber dazu blieb am Abend noch ausreichend Zeit.

Plötzlich stürmte Moni in den Besprechungsraum. „Patrick, deine Eltern haben angerufen, ihr sollt sofort ins Krankenhaus kommen. Es ist soweit!“

„Ach du Schande. Okay, Fabi, geh ans Auto, ich sag Kramer Bescheid!“

„Schon erledigt, ihr habt grünes Licht“, antwortete meine Kollegin sofort.

„Danke, bis später!“ Eilig stürmten wir zum Auto und steuerten auf das Krankenhaus zu.

„Bist du sehr aufgeregt?“ Fabians Hand glitt, wie schon so oft, in meine eigene und nahm mir die Anspannung. Natürlich war ich aufgeregt, mein erstes und definitiv einziges Kind kam zur Welt.

Mein Vater, Robert, wartete bereits im Eingangsbereich und rauchte eine Zigarette. Als Erstes nahm er mich in den Arm, eine Geste, die mir anfangs sehr fremd war. Aber ich gewöhnte mich schnell daran. „Herzlichen Glückwunsch, du hast einen Sohn!“ In seiner Stimme schwang großväterlicher Stolz mit.

Er führte uns in das Krankenzimmer, wo meine Mutter alleine wartete. Auch hier wiederholte sich die Umarmung mit den Glückwünschen. „Christine wird gleich gebracht, die Geburt ist aber gut verlaufen, sehr schnell.“

Wenige Minuten später wurde Tini samt Bett ins Zimmer gebracht, gefolgt von einer Schwester mit einem rollenden Kinderbett.

„Hi“, begrüßte sie uns müde.

„Hallo, du Mama.“

Fabian beugte sich über das kleine Bettchen und lächelte selig. „Süß, der Kleine. Hast du dich eigentlich schon für einen Namen entschieden?“

„Ja, habe ich.“ Sie musterte meine Eltern auffällig lange, bevor sie uns antwortete. „Wenn ihr nichts dagegen habt, dann soll euer Enkel Thomas heißen.“

Die beiden nickten, zu Tränen gerührt. Tini sah nun auch zu Fabian und mir. „Und was denkt ihr?“

Ich nickte ihr sprachlos zu. Thomas war perfekt. Mein Freund streichelte über den kleinen Kopf. „Hi Tommy, willkommen auf der Erde.“

Ende

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