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Ich springe

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

Der Junge

Ich springe.

Ich habe es tatsächlich getan, schießt es mir durch den Kopf.

Plötzlich nehme ich alles nur noch wie in Zeitlupe wahr.

Ich spüre, wie ich für einen Moment schier schwerelos in der Luft schwebe, ein unglaubliches Gefühl von Freiheit. Genau so habe ich es mir vorgestellt. Endlich frei sein.

Während ich so schwebe, nehme ich um mich herum alles ganz klar wahr. Die Klippe, von der ich mich abgestoßen habe, wie sie in dem Sonnenaufgang liegt, den ich vor noch wenigen Sekundenbruchteilen genossen habe. Mein Blick wendet sich dem offenen Meer zu, das noch immer vor und, wie ich weiß, nun auch unter mir liegt. Das Farbenspiel raubte mir immer den Atem, wenn ich hier her gekommen bin. Wie oft habe ich genau an dieser Stelle gesessen, fernab von all dem Trubel in den Städten und den Touristen, habe den Wellen gelauscht, die unten gegen die Klippen schlugen.

Langsam spüre ich mit jeder Faser in meinem Körper, wie mich plötzlich eine unendliche Kraft nach unten zieht, ihre Fänge nach mir ausstreckt und mich langsam packt. Mir wird bewusst, jetzt ist jede Umkehr unmöglich. Mein Blick schnellt zurück zu der Kante, an der ich soeben noch stand. Sie verschwindet soeben langsam aus meinem Blickfeld und ich blicke auf den nackten Felsen, der wunderschön in der Abendsonne glänzt. Jedes einzelne Sandkorn scheint bunt zu leuchten. Ich erkenne die jahrtausendealten Strukturen, die sich Schicht für Schicht angelagert haben. Was für eine Zeitspanne - was ist dagegen so ein kleines menschliches Leben.

Ich falle - ist das Nächste, was in meine Gedanken tritt. Adrenalin schießt so plötzlich in meine Adern, bringt mein Herz zum Rasen, dass ich glaube hier und jetzt zu zerspringen. Mein Körper zieht sich krampfhaft zusammen und dehnt sich gleichzeitig aus, ich ringe nach Luft, die brennend meine Lungen füllt. Erst jetzt merke ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Wieder so ein Ding von uns Menschen, die Luft, die wir zum Atmen brauchen. Offenbar verfügt auch mein Körper, selbst im freien Fall, noch über Schutzmechanismen, die das Erhalten der eigenen Art sicherstellen sollen.

Das Erhalten der eigenen Art … Pffff … ja genau.

Ist das bei mir nicht eh verlorene Mühe?

Schmerzlich zieht sich mein Innerstes bei diesen Gedanken zusammen und ich weiß wieder, warum ich gesprungen bin. Ich habe keine Kraft mehr. Keine Kraft mehr, mich auf die Welt und die Menschen darin einzulassen. Eine Enttäuschung jagt die nächste. Wie in einem Staffellauf geht der Stab nahtlos an das nächste Ereignis über. Nicht einmal eine Verschnaufpause wird mir gegönnt, die Ereignisse schlagen ein wie Donnerschläge und erdrücken mich.

Dabei ist mein Leben nach außen hin nicht einmal schlecht. Ich habe Eltern, die mich mit Sicherheit lieben, aber nicht die Sensibilität für mich aufbringen, die sie bräuchten, um mich und meine Reaktionen zu lesen. In der Schule läuft es super, gute Noten, bei allen beliebt und einige richtig gute Freunde. Freunde, ja … ja bis …

Wieder bricht die Realität auf mich ein, ich spüre den kalten Wind, der mich umgibt und die endlose Kraft, die mich immer weiter nach unten reißt. So wie ich schneller und immer schneller falle, so beginnen auch meine Gedanken immer schneller zu rasen.

Freunde … Lukas … Das Bild des Jungen erscheint vor meinen Augen. Wir kennen uns schon ziemlich lange. Von Anfang an fiel mir auf, dass irgendetwas mit der Freundschaft anders war. Irgendwie mochte ich ihn mehr als andere. Dieses Gefühl wurde mit der Zeit immer intensiver. Ich kämpfte dagegen an, versuchte mich abzulenken, nicht an ihn zu denken. So etwas darf nicht sein, sagte ich mir immer wieder. Ein Junge darf einen anderen Jungen nicht so mögen.

Schmerzhaft riss ich mich von diesem Gedanken los und war mir plötzlich meines Fallens wieder bewusst. Ich erkannte das schäumende Wasser unter mir, sah die Wellen, die mit großer Wucht gegen die Felsen schlugen. Nicht mehr lange und dann würde auch ich auf die Wasseroberfläche aufprallen.

Wieder setzte mein Überlebensinstinkt ein, mein Körper, der nicht sterben wollte. Alles in mir schrie plötzlich umzukehren und zu flüchten. Aber wohin? Ich war am Fallen.

Eine Flucht war unmöglich. Sowohl hier und jetzt, als auch in meinen Gedanken. Wenn jemand mein Geheimnis erfahren hätte, wäre die Welt für mich untergegangen. Es hätte doch keiner verstanden, erst recht, wo ich es doch selbst nicht verstehe.

Plötzlich umgibt mich eine tiefe Schwärze und alles wird still.

So unverhofft diese Empfindung über mich herein bricht, ist sie bereits wieder zu Ende. Ich spüre, wie ich von starken Kräften erfasst werde, mein Körper von der Strömung hin und her gerissen wird, wie ein Stück Holz, welches in die Wellen geraten ist und mitgerissen wird. Ich versuche gegen den Sog, der mich nach unten zu ziehen droht, anzukämpfen, versuche plötzlich mit aller Kraft wieder die Oberfläche zu erreichen, kämpfe dem Urinstinkt folgend um mein bisschen Leben.

Ein stechender Schmerz raubt mir für einen kurzen Moment jeglichen Gedanken. Als nächstes fühle ich den harten Fels unter meinen Händen und werde mit den Wellen an ihm hoch und runter geschoben. Verzweifelt versuche ich von der Wand weg zu kommen, aber immer wieder brechen neue Wogen über mir zusammen.

Ich bin gefangen.

Meine Gedanken wandern wieder zurück zu Lukas. Er lächelt mich an und streckt seine Hand nach meinem Gesicht aus, berührt damit meine Wange. Ich merke, wie mir langsam Tränen in die Augen treten. Er ist so unglaublich schön anzusehen.

„Ich liebe dich“, flüstere ich leise.

Der Friede in mir und die Stille um mich herum nehmen zu. Eine große Wärme breitet sich in mir aus und mit diesem schönen Bild in meinem Herzen lasse ich los. Ich liebe ihn, nun ist es raus und es gibt kein zurück mehr.

Jesse

Das, was sich da gerade vor seinen Augen abgespielt hat, konnte er noch immer nicht glauben. Er saß in seinem kleinen Motorboot und starrte noch immer auf die Felswand, auf der soeben noch ein junger Mann gestanden hatte. Doch nun war er weg, gesprungen. Plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz und seine Starre war aufgehoben. Mit schneller Hand drehte er sein Boot und schoss in Richtung der Felsen.

Du musst wahnsinnig sein, dein Boot wird einfach an den Felsen zerschellen. Die Strömung ist viel zu stark, geschweige denn, dass du den jungen Mann noch finden wirst. Als er den gefährlichen Klippen näher kam, reduzierte er die Geschwindigkeit, versuchte nicht quer von den Wellen getroffen oder gar mitgerissen zu werden. Dies war gar kein einfaches Unterfangen und er fluchte mehrmals, als er fast kenterte. Von dem Jungen war allerdings nichts zu sehen, so sehr er sich auch bemühte. Scheiße, die Zeit wird langsam knapp, wenn er noch eine Chance haben wollte.

Wieder traf ihn eine Welle sehr hart und brachte das Boot massiv zum Schwanken. Nass, wie er mittlerweile war, versuchte er sich mit einer Hand am Bootsrand abzufangen, griff durch eine erneute Wellenbewegung daneben und schlug hart auf dem Schiffsboden auf. Seine Hand rutschte auf dem nassen Boden einfach weg und mit einem schweren Keuchen entwich ihm die Luft aus den Lungen. Benommen blieb er kurz liegen und rappelte sich mühsam hoch. Seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug.

Als er seinen Blick wieder auf das Wasser richtete, traute er seinen Augen kaum. Nur wenige Meter von seinem Boot entfernt trieb der Körper des Jungen im Wasser. Seinen Schmerz vergessend, sprang er auf, wendete mit wenigen Zügen das Boot und war in kürzester Zeit bei ihm. Der Junge trieb mit dem Kopf im Wasser in den Wellen und er bewegte sich nicht. Weiteres Adrenalin schoss Jesse in die Adern und er griff nun, die Wellen fast komplett ignorierend, über den Rand des Bootes und dem Körper des Jungen unter die Achseln. Der Junge war schwerer als er erwartet hatte und es war weitaus schwieriger, ihn in das Boot zu ziehen als erwartet. Nach einer schier unmenschlichen Kraftanstrengung hatte er es geschafft. Allerdings war er durch diese Aktion den Klippen bedrohlich nahe gekommen und drohte nun selbst ein Opfer des Meeres zu werden. Hin und her gerissen dachte er kurz angestrengt nach, ob er nun zuerst versuchen soll, den Jungen wiederzubeleben oder sich selbst in Sicherheit zu bringen. Schließlich siegte die Vernunft und er brachte das Boot in einen sicheren Abstand zu den Klippen. Mit einem Satz war er wieder bei dem Jungen, der sich noch immer nicht rührte. Die Lippen waren bereits ganz blau angelaufen und sein Atmen spürte er auch nicht. Kurz überprüfte er den Puls, schon wissend, dass er keinen finden würde.

Er legte den Jungen auf den Rücken, die Arme parallel zum Körper und begann mit der Wiederbelebung. Nicht wissend, ob er gerade mehr Schaden anrichtet oder hilft, drückte er weiter auf den Brustkorb des Jungen und versuchte, sein Herz zum Schlagen zu bewegen. Nach ein paar Stößen griff er unter das Kinn des Jungen, schob seinen Kopf in den Nacken, öffnete seinen Mund und drückte seine Lippen darauf um ihn zu beatmen.

„Atme“, rief er dem Jungen zu. „Komm, bitte atme.“

Wieder begann er mit der Herzmassage und beatmete den Jungen immer wieder. Aber der Junge regte sich nicht. Langsam stieg Panik in Jesse auf, der Junge vor ihm kann doch nicht wirklich tot sein!

„Atme“, schrie er den Jungen an, doch dieser bewegte sich noch immer nicht. War er tatsächlich zu spät gekommen? „Atme, atme, atme“, schrie er und schlug mit der Faust auf die Brust des Jungen ein. Wieder beugte er sich über den Jungen und blies ihm in die mit Wasser gefüllten Lungen.

Plötzlich kam in den Körper unter ihn Bewegung und der Junge begann zu husten. Sofort nahm er seinen Kopf in die Hände und drehte ihn zu Seite, dass das Wasser aus ihm heraus fließen konnte.

„So ist es gut! Huste, huste das Wasser raus!“, versuchte er ihm Mut zuzusprechen. Und dies tat der Junge auch, er hustete was er konnte und japste immer wieder nach Luft. „Keine Panik, ich bin bei dir“, redete Jesse wieder auf den Jungen ein und rutschte um den sich immer wieder verkrampfenden Körper herum, um ihn besser stützen zu können.

Der Junge

Ein brennender Schmerz durchzieht meinen ganzen Körper. Ich bekomme keine Luft und beginne zu husten. Ich habe einen unglaublichen Druck auf meinem Oberkörper und das Gefühl von einem Zug gerammt worden zu sein. Aber das Brennen in meiner Lunge ist noch schlimmer und das Gefühl keine Luft zu bekommen. Panik steigt in mir auf! Ich versuche zwischen den Hustern zu atmen und bekomme keinen Sauerstoff in die Lunge! Plötzlich spüre ich das Wasser, welches ich am Aushusten bin und der Schock kommt mit einem Mal zurück. Mein gesamter Körper verkrampft sich urplötzlich, doch das Husten geht weiter. Ein unglaublicher Schmerz durchzieht meinen ganzen Körper! Langsam merke ich aber, dass ich wieder mehr Luft bekomme.

„So ist es gut! Huste, huste das Wasser raus!“, dringt plötzlich in mein Unterbewusstsein. „Keine Panik, ich bin bei dir“, höre ich die Stimme erneut. Dann fühle ich stützende und haltende Hände unter mir und mein Körper verkrampft schlagartig wieder, was von einem noch schwereren Hustenanfall begleitet wird.

Die Hände umfassen mich fester und immer wieder dringt die Stimme in mein Bewusstsein, versucht mich offenbar zu beruhigen.

„Nicht aufhören, hörst du mich? Das ganze Wasser muss raus“, nehme ich seitlich neben mir wahr. Langsam beruhigt sich mein Husten wieder, das Wasser scheint raus zu sein, nur das Brennen ist geblieben und fühlt sich bei jedem Atemzug an wie Feuer. Ich spüre meinen Hintermann näher rücken und mich gänzlich in die Arme schließen. Zu erschöpft, um irgendetwas zu sagen oder mich gar dagegen zu wehren, lasse ich mich in seine Arme sinken und versuche weiter zu atmen.

„Du hast mich so unglaublich erschreckt und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du am Leben bist“, drangen seine Worte wieder in mein Bewusstsein. Aber was redet er denn da? Was ist denn überhaupt passiert?

Jesse

Gott sei Dank er lebt, ging es ihm durch den Kopf. Noch immer hustete er in seinen Armen, doch er spürte, dass er sich langsam entspannt. „Du hast mich so unglaublich erschreckt und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du am Leben bist“, flüsterte er in sein Ohr. Er war unglaublich erleichtert, dass er es geschafft hat.

„Bekommst du langsam wieder Luft?“, fragte er den Jungen. Ein leichtes Nicken signalisierte ihm Bestätigung.

„Gut, dann lass ich dich langsam los und bringe dich in ein Krankenhaus, aber keine Panik, ich bin immer in deiner Nähe, verstanden?“ Wieder ein leichtes Nicken, aber anstatt loszulassen, schlang der Junge seine Arme um die von Jesse und hielt ihn fest.

„Keine Bange, ich bin hier. Aber wir sind noch immer auf dem Wasser und ich muss das Boot steuern“, versuchte es Jesse erneut. Da keine Reaktion kam, drückte er den Jungen etwas fester und flüsterte ihm ins Ohr: „Können wir dich bewegen? Dann lehnst du dich weiter an mich, während ich das Boot steure?“ Dieses Mal bekam er ein leichtes Nicken und gemeinsam bewegten sie sich zum Steuer des Bootes.

Die Fahrt zum Ufer war schnell bewerkstelligt und auch das Aussteigen war kein Problem. Da Jesses Wagen nur wenige Meter vom Bootssteg entfernt stand, ist der Junge schnell auf den Beifahrersitz verfrachtet, dass er diesen hierbei völlig durchnässte, war Jesse völlig egal. Auf dem Weg zum Krankenhaus fiel Jesse auf, dass er den Namen des Jungen gar nicht kannte. Entsprechend stellte er ihm die Frage.

Der Junge

„Wie heißt du eigentlich?“, höre ich die Frage von meinem Fahrer. Ich wende ihm mein Gesicht zu und bemerke hierbei, dass es das erste Mal ist, dass ich meinem Retter offen ins Gesicht schaue. Zwei aufgeweckte Augen schauen mich erwartungsvoll an. Braun und leuchtend. Dunkelbraune Haare, die Seiten kurz und in der Mitte ein wenig aufgestellt, durch das viele Wasser und meine Rettung ein wenig durcheinander gekommen. Sein Mund ist zu einem leichten Lächeln geformt, die Lippen schön geformt. Da ich nur starre und nicht antworte, wiederholt er seine Frage. Ich setze zu einer Antwort an, doch plötzlich ist mein Name weg. Überrascht schaue ich meinen Fahrer an, welcher meine Veränderung bemerkt. Wie heiße ich? Das ist eine gute Frage, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Panik steigt in mir auf, ich weiß nicht mehr, wie ich heiße. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wie alt bin ich? All diese Fragen kommen mir in den Sinn, doch ich finde die Antwort nicht.

Plötzlich spüre ich wieder eine Berührung und werde aus meinen Gedanken gerissen.

„Hey, alles gut. Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht möchtest“, höre ich ihn wieder. „Das ist es nicht“, höre ich meine Stimme sagen, „ich weiß ihn nicht mehr“, spreche ich einfach weiter. Dies sind die ersten Worte, die ich seit meiner Rettung gesagt habe und entsprechend überrascht schaut mich mein Gegenüber an.

Jesse

Er weiß nicht mehr, wie er heißt, sickerte es langsam in seine Gedanken. Hoffentlich hat er keinen weiteren Schaden genommen, bei seinem verdammten Sprung von der Klippe. Wie konnte er denn überhaupt so etwas tun? Wieder traten ihm die Bilder des springenden Jungen vor die Augen, welchen er nun neben sich sitzen hatte. Die Frage des „Warum“ sprach er nicht aus, hierfür wäre später noch Zeit genug.

Zwischenzeitlich kamen sie im Krankenhaus an. Er fuhr direkt zur Notaufnahme und parkte den Wagen vorm Eingang. Bevor der Junge aussteigen konnte, war Jesse bereits um den Wagen herum gerannt und öffnete die Tür. Durch die Hektik am Eingang aufmerksam geworden, kam die Empfangsdame bereits durch die Tür und fragte, was los sei. Mit knappen Worten beschrieb Jesse das Geschehene. Die Dame legte ihm die Hand auf die Schulter und beruhigte ihn ein wenig, das Schlimmste sei überstanden und sie würden sich um den Jungen kümmern. Gemeinsam brachten sie ihn in die Notaufnahme, wo sich direkt die ersten Ärzte um ihn kümmerten.

Damit Jesse nicht im Weg herumstand und auch um die Einfahrt zur Notaufnahme wieder zu räumen, wurde er gebeten, seinen Wagen auf einen anderen Platz zu stellen. Er zögerte kurz, wollte er doch den Jungen nicht alleine lassen, der ihn über die gesamte Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Ich bin gleich zurück, nicht weglaufen, ja?“, sagte er dem Jungen. Dieser nickte und Jesse verließ den Untersuchungsraum.

Kaum hatte er einen Parkplatz gefunden, war er schon wieder auf dem Weg in die Notaufnahme. Er fragte nach dem Jungen und wurde, anstatt zu ihm gebracht zu werden, von der Empfangsdame nach den Daten des Jungen gefragt. Da ihm nichts Besseres einfiel, gab er ihn als seinen Bruder aus und hoffte, dass er mit dieser Notlüge durchkommen würde. Somit war er sich auch sicher, dass er wieder zu ihm durfte, schließlich waren sie nicht verwandt.

Nachdem die Daten aufgenommen waren, brachte ihn die Empfangsdame ins Wartezimmer. Trotz seines Drängens durfte er erst mal nicht zu ihm. So saß er nun im Warteraum und starrte auf den Fußboden. Wieder kam die Erinnerung hoch, wie der Junge von den Felsen gesprungen war und auf dem Wasser aufschlug. So langsam realisierte er, welches Glück der Junge hatte, aber auch er, da das Manöver mit seinem Boot alles andere als ungefährlich gewesen war und auch er sein Leben hätte verlieren können. Als er so vor sich hin grübelte und sich immer wieder fragte, warum der Junge gesprungen war, kam ein Arzt auf ihn zu. Erst als dieser sich räusperte und ihn kurz an der Schulter berührte, blickte er zu ihm auf.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Mein Name ist Dr. Walter, ich habe deinen Bruder untersucht.“ Jesse nickte kurz. „Es geht ihm soweit gut, er hatte großes Glück. Hättest du ihn nicht so schnell aus dem Wasser gezogen, wäre es übel für ihn ausgegangen. Er hat eine Gehirnerschütterung und einige Schürfwunden. Deine Wiederbelebung hat er sehr gut überstanden und keine weiteren Schäden davon getragen. Wir geben ihm dennoch ein Antibiotikum, um auf Nummer sicher zu gehen wegen des Wassers in seinen Lungen.“ Jesse hörte Dr. Walter aufmerksam zu und entspannte sich langsam, denn offenbar hatte der Junge mehr Glück als Verstand.

„Wie kam es überhaupt zu dem Sturz?“, hörte er Dr. Walter fragen. „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht genau. Mein Bruder steht gern oben an den Klippen und beobachtet mich, wenn ich unten am Fischen bin“, log er. „Dieses Mal muss er unachtsam gewesen sein und zu dicht an den Rand gegangen sein, so dass er ins Wasser stürzte“, fantasierte er weiter. Der Arzt sah ihn misstrauisch an.

„Du weißt, dass sich dein Bruder an nichts erinnern kann. Wir vermuten, dass dies die Folge des Sturzes ist. Wie lange dieser Zustand andauert, können wir nicht abschätzen. Somit können wir nur deinen Worten vertrauen. Eine Rangelei oder einen Streit mit Freunden hat es nicht gegeben, so dass wir ein Verbrechen ausschließen können?“

„Ja, dergleichen habe ich nichts gesehen. Er war alleine.“

„Und dass er von sich aus gesprungen ist?“, fragte Dr. Walter nach.

„Nein, so etwas würde er nie tun! Dafür liebt er sein Leben viel zu sehr. Dies würde er unseren Eltern und mir nie antun!“ Jesse war über die Heftigkeit seiner Worte selbst überrascht, aber sie klangen überzeugend.

„Nun gut, ausschließen können wir diese Möglichkeit aber leider nicht gänzlich. Ich möchte gern mit euren Eltern sprechen, wenn sie bitte später hier vorbei kommen können.“

Mist, soweit hatte Jesse nicht gedacht. Überrascht schaute er den Arzt an und überlegte verzweifelt, wie er aus der Situation wieder herauskam, ohne dass er seine Eltern informieren oder seine Lüge auflösen müsste.

„Sie wohnen nicht bei uns, sie sind vor Jahren ins Ausland gezogen. Madeira.“ Hörte er sich plötzlich sagen. Dr. Walter sah ihn überrascht an und zog eine Augenbraue nach oben.

„Ich bin für ihn verantwortlich. Wir wohnen gemeinsam im Haus unserer Eltern und nein, wir haben hier keine weiteren Verwandten mehr, welche sie kontaktieren könnten“, schloss er schnell seinen Bericht. Dr. Walter schaute immer ungläubiger. Irgendetwas stimmte hier nicht, nur konnte er nicht genau sagen was. Die Antworten des Jungen vor ihm kamen ruhig und gerade heraus, konnten somit also durchaus stimmen, doch etwas ungewöhnlich waren sie schon. Aber warum sollte Jesse lügen, er hatte den Jungen hierher gebracht, die gesamte Zeit auf ihn gewartet und sich auch sonst nicht weiter auffällig verhalten. „Nun gut, dann lassen wir diesmal so stehen. Wir behalten deinen Bruder noch eine Nacht hier, zur Beobachtung. Sollte es keine Komplikationen geben, so kannst du ihn morgen schon wieder mit nach Hause nehmen.“

Erleichtert atmete Jesse aus. „Danke“, sagte er und der Arzt reichte ihm zur Verabschiedung die Hand. „Kann ich nun zu ihm?“, fragte er noch schnell. „Sicher, Zimmer 247. Zweites Stockwerk und vom Aufzug aus links den Gang hinunter.“ Bei den Worten drehte sich der Arzt bereits um und ging zum nächsten Patienten. Jesse beeilte sich, das besagte Zimmer zu finden.

Als er vor der Tür stand, wurde ihm plötzlich ganz mulmig. Zögerlich klopfte er an. „Ja“, war leise von drinnen zu hören. Er öffnete langsam die Tür und betrat dann den Raum. Krankenhäuser mochte er nicht, dies wurde ihm hier wieder sehr deutlich. Alleine der Geruch, aber auch diese sterile Umgebung, das Hallen der eigenen Schritte in den Korridoren und das sich Sorgen um die lieben Menschen, welche man hier besuchte. Man fühlte sich immer ausgeliefert und hilflos, ein Gefühl, welches er immer zu verdrängen versuchte.

Am anderen Ende des Zimmers erblickte er den Jungen in seinem Bett. Das andere Bett im Zimmer war leer, fiel ihm aus dem Augenwinkel heraus auf. Der Junge richtete sich bei seinem Anblick im Bett auf und lächelte ihn schüchtern an. Unwillkürlich lächelte er zurück und kam näher.

Der Junge

Da steht er nun, mein Retter. „Danke“, sage ich leise, denn ich glaube, dass ich dies die gesamte Zeit noch nicht gesagt hatte. Er zuckt kurz mit den Schultern, so als ob es nichts gewesen wäre. „Du bist also mein Bruder“, stelle ich fest, auch um etwas zu sagen.

Überrascht sieht er mich an. Als er nicht antwortet, setze ich nach: „Dies haben mir die Ärzte erzählt, auch dass ich sehr viel Glück hatte und froh sein kann, einen solchen Bruder zu haben. Du hast mich aus dem Wasser gezogen, reanimiert und mich hierher gebracht.“

Ein leichter roter Schatten bildet sich auf seinem Gesicht, als ich dies sage. Süß sieht er damit aus, schießt es mir durch den Kopf.

„Naja“, sagt er zögerlich, „du hättest für mich das Gleiche getan, nehme ich mal an.“

Beide schauen wir uns in die Augen, können unseren Blick nicht voneinander lösen. Irgendetwas ist zwischen uns, ich kann allerdings nicht sagen was. Offenbar habe ich ein sehr enges Verhältnis mit meinem Bruder.

Plötzlich geht die Tür auf und die Schwester kommt mit dem Essen herein. Wir lösen abrupt unseren Blick und mein Bruder beeilt sich, sich an den kleinen Krankenhaustisch zu setzen und auch ich schaue mit einem schnellen Lächeln die Schwester an.

„Oh entschuldigt Jungs, habe ich euch gestört? Bin gleich wieder weg“, sagt sie und verschwindet schon wieder aus dem Zimmer, allerdings nicht ohne uns ein verschmitztes Grinsen zuzuwerfen.

Als die Tür ins Schloss fällt, herrscht eine merkwürdige Ruhe. Ich suche seinen Blick, doch er schaut auf seine Hände, welche er im Schoß gefaltet hält. „Alles okay mit dir?“, frage ich ihn. „Ja, klar“, antwortet er schnell und sieht mich wieder an. Genauso rasch wendet er seinen Blick auch wieder ab, zurück auf seine Hände.

„Okay, was ist los?“, frage ich erneut nach. Dieses Mal bekomme ich keine Antwort. „Ich meine“, beginne ich stotternd …, “ja, es tut mir leid, was ich da getan habe. Es war dumm von mir und du hast dir sicherlich wahnsinnige Sorgen um mich gemacht.“ Langsam steigen mir die Tränen in die Augen. „Es tut mir so leid.“ Mit diesen letzten Worten gibt es kein Halten mehr und ich beginne gänzlich zu heulen. Verzweiflung macht sich in mir breit, da sich langsam die Tatsache in meinem Gehirn breit macht, was ich da vorhin getan hatte und die Erkenntnis, was ich meinem Bruder beinahe angetan hätte.

Ich spüre eine Hand an meinem Arm, der vorsichtig auf und ab streicht. Ich lasse mich zur Seite fallen und lehne mich an seine Brust, da er nun ganz dicht neben mir steht. Er nimmt mich in den Arm und hält mich fest. „Alles wird gut, wirst du schon sehen. Ich bin doch bei dir“, höre ich seine feste Stimme. Dieser Satz löst nun gänzlich alle Schleusen und ich heule noch mehr. Verzweifelt klammere ich mich an ihm fest und fühle mich gleichzeitig so geborgen wie schon lange nicht mehr. Auch sein Griff verstärkt sich und er drückt mich fester an sich.

Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhige ich mich und lasse ihn langsam los. Auch er macht einen Schritt zurück und schaut mich besorgt an.

„Wieder besser?“, fragt er mich.

„Ja“, sage ich noch immer mit etwas gebrochener Stimme. „Danke.“

Er setzt sich zu mir aufs Bett und schaut mich durchdringend an. „Soll ich fragen, ob ich heute Nacht hier bleiben kann?“ Überrascht sehe ich ihn an. „Geht das denn? Was sagen unsere Eltern dazu?“

Tausend Fragen kommen mir in den Kopf, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen und sagt: „Lass mich mal machen, ruhe dich weiter aus, okay?“

Was soll ich da noch tun, ich lehne mich zurück in die Kissen, atme tief durch und schließe kurz die Augen. Ich spüre noch, dass er aufsteht, kurz Bescheid gibt, dass er gleich wieder da ist und schon schlafe ich ein.

Jesse

Jesse ging aus dem Zimmer und musste erst einmal tief Luft holen. Was war da drinnen gerade passiert? Er hatte nicht nur die Ärzte angelogen, sondern auch den jungen Mann. Dann dieser Blick, als er in das Zimmer gekommen war, in diesem Moment war er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Die Welt um ihn herum war verschwunden, so etwas hatte er noch nie erlebt. Auch als der Junge anfing zu weinen, er fühlte sich so hilflos und wollte doch für ihn da sein. Daher nahm er ihn in den Arm und hielt ihn fest. Etwas was er bisher mit einem seiner Kumpel noch nie getan hatte. Männer untereinander machen so etwas auch nicht, aber in einer solchen Situation wird das schon Okay gewesen sein. Es fühlte sich ja auch nicht schlecht an, ertappte er sich bei dem Gedanken. Erst recht nicht, als der Junge die Umarmung verstärkte und sich ganz fest an ihn drückte. Um nichts in der Welt hätte er ihn da loslassen wollen. Stopp, was machte er sich denn gerade für Gedanken? Und wie kommt er dazu, einem wildfremden Jungen anzubieten, bei ihm über Nacht zu bleiben, noch dazu im Krankenhaus? Dies wurde ihm gerade alles zu viel. Schwer atmend lehnte er sich an die Wand und musste die Augen für einen Moment schließen.

„Alles in Ordnung mit dir, Junge?“, hörte er die Schwester, die kurz zuvor das Essen gebracht hatte, fragen. „Ja, alles Okay. Ein bisschen viel gerade“, versuchte er ihr lächelnd zu entgegnen. „Das kann ich mir vorstellen, ich habe gehört, was passiert war und dass du für ihn verantwortlich bist. Das war mit Sicherheit ein großer Schock für dich“, fügte sie hinzu. „Ja, dass auf jeden Fall.“

In diesem Moment fiel ihm wieder ein, dass er jemanden fragen musste, ob er über Nacht bleiben könnte und stellte die entsprechende Frage an die Schwester, welche noch immer neben ihm stand. Sie lächelte.

„Eigentlich ist dies nicht erlaubt, aber ich werde mit dem Arzt sprechen und sehen, was ich für euch beide tun kann“, sagte sie freundlich lächelnd. „Warte einen kurzen Moment, ich bin sofort zurück.“

Mit diesen Worten verschwand sie und ließ Jesse, noch immer an die Wand gelehnt, zurück.

Keine fünf Minuten später stand sie wieder neben ihm und lächelte noch breiter. „Kein Problem, der Arzt hat unter diesen Umständen zugestimmt. Vielleicht hilft es ja auch dem Gedächtnis deines Bruders weiter, wenn du bei ihm bist und des Weiteren kannst du ihn morgen nach der Visite direkt mit nach Hause nehmen.“ „Danke“, entgegnete Jesse und ihm fiel eine große Last vom Herzen.

Dennoch ging er erst einmal in die Cafeteria und holte sich einen Kaffee. Er musste darüber nachdenken, was das heutige Erlebnis mit ihm machte und warum er sich selbst für einen fremden Jungen so in Schwierigkeiten brachte. Denn dies tat er gerade mit seiner Lügengeschichte. Es war nicht seine Art so etwas zu tun, warum gerade jetzt? War es wirklich nur dieses Ereignis, was ihn dazu brachte, dies alles zu tun? Nein, definitiv nicht. Irgendetwas hatte ihn berührt, als er diesen Jungen das erste Mal im Arm hielt. Er hatte richtig Angst um ihn und wollte nicht, dass er unter seinen Händen stirbt. Das ist normal, sagte er sich. Aber da war noch mehr … noch nie hatte er sich so zu einem Jungen hingezogen gefühlt, wie zu ihm. Aber dieser Gedanke ist doch absurd.

Er schüttelte den Kopf um diese wirren Gedanken loszuwerden und machte sich auf den Weg zurück zum Zimmer.

„Ich darf bleiben“, sagte er schon, als er die Tür gerade hinter sich schloss. Der Junge strahlte bei den Worten über das gesamte Gesicht und auch ihm wurde plötzlich wieder warm, als er sah, wie sehr sich der Junge darüber freute. Wie selbstverständlich rückte der Junge ein Stück zur Seite und Jesse setzte sich neben ihm aufs Bett. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Dann hörte Jesse den Jungen fragen:

„Wie heiße ich eigentlich?“

Das war eine gute Frage, schoss es daraufhin Jesse durch den Kopf und er verkrampfte sich ein wenig. Diese Veränderung bemerkte natürlich auch der Junge und sah ihn aufmerksam an.

„Lukas“, sagte Jesse ein klein wenig zu langsam, als dass er es sich selbst glaubte, geschweige denn den Jungen davon überzeugen konnte.

„Lukas?“, fragte dieser unsicher zurück. Lukas, wiederholte er in Gedanken. Irgendwie passte dieser Name nicht zu ihm, sagte ihm sein Gefühl. Aber irgendwie war dieser Name auch vertraut. Irgendetwas war mit dem Namen, er kam nur nicht drauf.

„Ja, Lukas“, wiederholte Jesse und versuchte damit seine Aussage zu bekräftigen.

„Lukas“, wiederholte nun auch der Junge langsam den Namen. „Irgendwie fühlt sich der Name nicht an wie meiner“, sagte er. „Ich spüre nichts dabei, keine Erinnerung, kein Nichts.“

Unsicher wand er seinen Blick zu Jesse, welcher ihn nicht ansehen konnte und seinen Blick stur auf seine Hände gerichtet hatte. Er fühlte sich nicht wohl dabei, den Jungen anzulügen. Aber was sollte er nun tun? Die Wahrheit sagen? Was würde dann der Junge von ihm denken? Er würde ihn doch sofort hinauswerfen und er würde ihn mit Sicherheit nie wieder sehen. Aber Moment – nie wieder sehen? – Was dachte er denn hier schon wieder?

Er spürte einen Schubs an seinem Arm und wurde damit aus seinen Gedanken gerissen.

„Wie heißt du eigentlich?“, wurde er gefragt. Offenbar hatte der Junge ihn dies bereits einmal gefragt, denn er schaute ihn noch immer aufmerksam an.

„Jesse“, sagte Jesse. Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Jungen und er wiederholte „Jesse“.

Der Junge

„Jesse“, wiederhole ich den Namen des Jungen neben mir. In meinen Gedanken wiederhole ich ihn noch einmal „Jesse“. Der Name passt zu ihm, rundet den Menschen wunderbar ab, so als wäre er ein Kunstwerk.

Lukas, wiederholte ich meinen Namen im Kopf. Dieses abrundende Gefühl wie bei Jesse stellt sich aber bei mir einfach nicht ein. Wieso mag ich meinen Namen nicht? Was ist so schlimm daran? Wieder spüre ich etwas in einer Ecke meines Gehirns aufblitzen, kann aber den Gedanken oder die Erinnerung daran nicht fassen. So langsam ist dieser Gedächtnisverlust echt anstrengend.

Ich muss kurz eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist es draußen bereits dunkel. Jesse liegt noch immer neben mir. Er hatte es sich ein wenig gemütlicher gemacht und sich neben mir zusammengerollt, dabei den Kopf an meine Schulter gekuschelt und einen Arm um mich herum gelegt. Ich mustere den schlafenden Jungen neben mir eine Weile. Was für ein Anblick, schießt es mir durch den Kopf. Und wie er mich so festhält, das fühlt sich echt gut an.

Langsam hebe ich meine Hand und streiche Jesse eine Strähne aus dem Gesicht. Ganz zärtlich und liebevoll. Wie weich seine Haut ist. Jesse scheint die Berührung auch zu registrieren, aber anstatt wach zu werden, kuschelt er sich noch enger an mich. Was für ein tolles Gefühl.

Plötzlich wird mir ganz warm ums Herz und leichte Schmetterlinge bilden sich in meinem Bauch. Dieses leichte Kribbeln der Verliebtheit. Ich genieße dieses Gefühl, streiche ihm weiter über seine Wange und langsam den Hals hinab.

Durch meine Berührungen wird Jesse langsam wach und hebt, der Bewegung folgend sein Kinn ein wenig an, um mein Streicheln vollends zu genießen. Ein leises Schnurren ist zu hören und ich muss unwillkürlich lächeln.

Er öffnet seine Augen und schaut mich direkt an. Lange blicken wir uns so an. Durch den leichten Schimmer, den das Licht von draußen in mein Krankenzimmer wirft, können wir uns recht gut sehen. Wir mustern einander, gehen jeden Millimeter unserer Gesichter ab, fast so als hätten wir uns noch nie so genau gesehen, dennoch finden wir immer wieder unseren Blick.

Schließlich verharren wir darin. Ich hebe meine Hand und fahre mit dem Finger die schön geschwungene Kontur seiner Lippen nach. Fasziniert beobachtet er mich dabei. Wir versuchen aus dem Blick des anderen zu lesen.

Schließlich kann ich nicht länger an mir halten und mein Gesicht nähert sich dem seinem. Aber anstatt auszuweichen hebt auch er langsam seinen Kopf und kommt mir entgegen. Wie in Zeitlupe treffen sich unsere Lippen und wir verschmelzen in einem ersten vorsichtigen Kuss.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns voneinander und sehen uns weiter in die Augen. Ein zweiter Kuss folgt, dieses Mal fordernder und leidenschaftlicher. Er stößt vorsichtig mit seiner Zunge an meinen Mund, ich öffne ihn leicht und lasse ihn eintreten. Es zieht mir förmlich den Boden unter den Füßen weg. Völlig atemlos halten wir kurz inne, nur um mit noch größerer Leidenschaft wieder ineinander zu versinken. Unsere Hände wandern wie automatisch über unsere Körper, fühlen jeden Zentimeter ab und suchen sich ihren Weg unter unsere Shirts. Ein Schauer durchfährt meinen Körper, als er mir sanft über meine Brust streichelt und seine Hand weiter Richtung Bauch nach unten gleiten lässt. Kurz hält er inne um mich wieder beruhigen zu lassen und setzt dann seine Abwärtsbewegung weiter fort. Am Bund meiner Shorts stoppt er kurz ab.

Ich nutze die Gelegenheit, in der er mich prüfend ansieht, und ziehe ihn in einen weiteren Kuss. Langsam spüre ich seine Hand an meinem Hosenbund entlangfahren und dann hinabgleiten. Ich japse nach Luft und explodiere innerlich. Das Gefühl ist unglaublich und ich möchte gar nicht aufhören. Erst recht will ich nicht, dass er aufhört. Somit gehe auch ich weiter und folge seinem Beispiel. Auch ihm stockt der Atem, als ich meine Hand über seine Shorts fahren lasse. Ich gehe sogar weiter und lasse meine Hand hineingleiten. Bewegungslos liegt er auf dem Rücken, sichtlich Spaß an der Sache habend, und lässt mich ohne Scheu gewähren.

Er hebt seinen Hintern an, so dass ich ihm die Shorts ausziehen kann. Sein Glied schnellt heraus und wippt aufgeregt. Langsam fahre ich mit meinen Fingern an seinen Beinen nach oben, wohlbedacht nicht gleich mein Ziel zu erreichen. Mit den Fingerspitzen ziehe ich leichte Kreise um sein bestes Stück und komme ihm immer näher. Sein Blick hält mich gefesselt und sein Atem geht schnell. Als ich leicht über seinen steifen Schwanz streiche, schließt er die Augen und drückt sich mir weiter entgegen. Ich gebe seinem Begehren nach und umfasse ihn, beginne ihn leicht zu massieren. Das Gefühl ist auch für mich schier unbeschreiblich. Das erste Mal bin ich einem anderen Jungen so nahe und kann man Glück kaum fassen! Sebastian, sage ich mir, so etwas Geiles hast du in deinem ganzen Leben noch nicht erlebt.

Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, so bricht meine Erinnerung über mich herein. Mit einem Schlag ist alles wieder da und ich springe entsetzt aus dem Bett. Durch meine plötzliche Unterbrechung aufgeschreckt, schaut mich Jesse irritiert und verängstigt an.

„Was ist los mit dir?“, fragt er mich.

Jesse

Shit, was ist denn jetzt passiert? Ging es Jesse durch den Kopf. Soeben waren sie noch mit sich beschäftigt und schon hatte der Junge sprunghaft das Bett verlassen.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er noch einmal nach.

Noch immer erhielt er keine Antwort. Der Junge stand nur vor dem Bett und starrte ihn fassungslos an. So langsam dämmerte Jesse, was gerade passiert sein könnte. Panik überkam ihn und auch er flüchtete aus dem Bett. Nackt stand er nun dem Jungen gegenüber, der noch immer zu keiner Regung fähig war.

„Ich … es …“, begann er stockend und brach ab, ohne den Satz zu beenden.

Noch einmal holte er tief Luft und setzte erneut an. „Es tut mir leid“, kam es nun ganz leise von ihm.

Noch immer stand der Junge ihm gegenüber und starrte ihn an. Langsam kam wieder Bewegung in ihn, denn sein Blick wanderte über Jesse. Dieser fühlte sich unter der Beobachtung mehr als unwohl und versuchte wenigstens mit seinen Händen das Wichtigste so gut es ging zu bedecken. Dennoch musterte der Junge ihn weiter. Gerade als er sich umwenden und seine Klamotten zusammensuchen wollte, sprach der Junge ihn an.

„Warum?“, war das einzige Wort.

In seiner Stimme lag kein Vorwurf, kein Anklagen, keine Aggression. Es war ein einfaches „Warum“, auf welches er nur eine Antwort kannte, die allerdings schwer zu erklären war.

In kurzen Worten versuchte er dem Jungen zu erklären, was passiert war, wie er ihn gesehen und gerettet hatte, mit ihm hier ins Krankenhaus fuhr und, um Ärger zu vermeiden, einfach als seinen Bruder ausgegeben hatte.

„Was danach zwischen uns beiden passierte, kann ich mir nicht erklären. Ich hatte noch nie einen Gedanken an einen Jungen gehabt, geschweige denn Gefühle für einen. Aber als ich dich heute gerettet habe, da hat sich meine Welt verändert. Von Minute zu Minute, von Situation zu Situation, wollte und konnte ich dich nicht mehr alleine lassen - wollte nicht mehr von dir getrennt sein. Ich kann dir nicht genau erklären, was es ist, ich bin selbst hierüber völlig verwirrt, aber so ist es nun mal.“ Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sortieren. „Ich kann verstehen, wenn du mich nun rauswirfst und nichts mehr mit mir zu tun haben möchtest. Ein Wort von dir und ich bin weg“, fügte er noch schnell hinter.

Noch immer kam keine Reaktion von dem Jungen, der seiner Ausführung allerdings sehr aufmerksam zugehört hatte. Tief holte dieser Luft und Jesse machte sich innerlich schon auf das Schlimmste gefasst.

„So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt“, brach es aus dem Jungen heraus. „Es ist einfach unglaublich, was du da getan hast”, fuhr er weiter fort und hielt dabei Jesse fest im Blick.

Dieser zuckte unter seinen Worten regelrecht zusammen, als wäre er von einer Peitsche getroffen worden. Langsam stiegen beiden die Tränen in die Augen.

Der Junge ging langsam auf Jesse zu, welcher versuchte vor ihm zurückzuweichen. Er streckte seine Hand nach ihm aus und ergriff seinen Arm. Jesse hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet, noch immer das Schlimmste befürchtend. Als er eine leichte Berührung auf seiner Wange spürte, blickte er erschrocken auf. Sein Blick fand den des Jungen. Zu seiner Überraschung lächelte ihn dieser an. Völlig perplex stand er nun vor ihm, nicht fähig sich zu bewegen.

„Es ist einfach unglaublich, was du da getan hast“, wiederholte der Junge viel sanfter als das erste Mal. Langsam bewegte er sich weiter auf Jesse zu, zog ihn an sich heran und küsste ihn zärtlich. Nun machte es auch bei Jesse „Klick“ und er konnte den Kuss des Jungen endlich erwidern.

Als sie sich wieder voneinander lösten, war es an Jesse das „Warum?“ zu erfragen.

„Das fragst du noch, nach all dem, was du heute für mich getan hast?“, fragte ihn der Junge lächelnd. „Einen besseren Freund als dich kann ich mir doch nicht wünschen, geschweige denn einen besseren finden. Du bist einfach unglaublich, unglaublich in allem, was du heute getan hast.“

Der Junge

Das war es in der Tat, dachte sich Sebastian, nachdem sie sich wieder hingelegt hatten. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie bis zum Morgen abwarten und dann seine Eltern informieren würden. Diese würden sich mit Sicherheit schon Sorgen um ihn machen, da sie es nicht gewohnt waren, dass er so lange ohne sich zu melden von zu Hause fern bleibt. Dann würden sie auch den Notschwindel bei den Ärzten aufklären und hoffen, dass dies ohne böse Folgen für sie bliebe.

Nun lag er neben seinem Freund, dachte Sebastian. Er konnte es selbst noch nicht fassen. Gestern sprang er noch völlig verzweifelt von einer Klippe und rang wenig später um sein Leben, welches er nur mit Hilfe von Jesse wiedererlangt hatte. Sein Leben war so aussichtslos gewesen.

Lukas, dieser kam ihm plötzlich bei dem Gedanken wieder in den Sinn. Er war der Hauptgrund, warum er gesprungen war. Um ein Haar hätten ihn die verzweifelten Gefühle für seinen Freund ums Leben gebracht. Über ihn musste er mit Jesse noch sprechen, das wusste er, denn er wollte keine Geheimnisse vor ihm haben. Jesse würde verstehen, das wusste er. Sein Leben hatte sich mit ihm schlagartig geändert. Er wusste nun, so unsicher die neue Zukunft auch war, gemeinsam werden sie diese meistern, denn nun war er nicht mehr alleine.

Mit diesem wunderbaren Gedanken trat ein Lächeln in sein Gesicht, er kuschelte sich an den bereits schlafenden Jesse an und glitt langsam in das Land der Träume hinüber.

Nachwort

Wie es weiter geht mit den beiden? Wer weiß, vielleicht gibt es ja eine Fortsetzung.

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