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Jan - Jan oder anders anders
Teil 4
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Informationen
- Story: Jan - Jan oder anders anders
- Autor: Hajo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Diverses
Inhaltsverzeichnis
- Max
- Beziehungsformen
- Zwillingsgeschichten
- Wie funktioniert das mit dem Sex?
- Ole
- Eine fesselnde Wiederbegegnung
- Eine Party mit Folgen
- Lektionen über Nähe und Distanz
- Len
- Eiszeit
Max
Seit Niklas wieder aus Australien zurückgekehrt war, hatte sich Jans Leben ziemlich verändert. Niklas und er verbrachten mindestens jeden zweiten Tag miteinander, zumindest die Zeit des Tages, die Niklas nicht an der Uni war. Die anderen Tage verbrachte Jan damit, zu arbeiten, spazieren zu gehen oder einfach nur darauf zu warten, dass Niklas wieder Zeit für ihn hatte. Jan fühlte sich richtig gut in dieser neuen Beziehung; es gab keinen Zweifel, dass er in Niklas verliebt war. Besonders, dass Niklas so gerne mit ihm kuschelte und dabei auf diese ganz spezielle Weise lächelte, fand er schöner als alles andere, woran er sich erinnern konnte. Das Len-Jan-Nik-Lächeln; es war wirklich etwas ganz Besonderes.
Dennoch war Niklas aber anders als Len, der Junge mit der Fellkapuze, dem er ein einziges Mal nur begegnet war, als Kind, und auch anders als Jan, seiner ersten wirklichen Liebe. Dass er überhaupt eindeutig aus einer anderen Welt kam, fiel dabei Eigenartigerweise nicht sehr ins Gewicht. Jan dachte oft darüber nach, ob Niklas zwar in einer anderen Welt lebte als er selbst, Len oder Jan, aber trotzdem nicht in der „normalen“ Welt. Das war die „Viele-Welten-Hypothese“, die mit der „Zwei-Welten-Hypothese“ konkurrierte und die passendere zu sein schien.
Vielleicht war das Problem damals mit seiner ersten Liebe, Jan, dass er dem Trugschluss unterlag, Jan und er hätten die Welt, in der sie lebten, tatsächlich gemeinsam. Das würde ja aus der „Zwei-Welten-Hypothese“ folgen. In Wirklichkeit aber lebten sie in zwei verschiedenen Welten, die beide nicht die „normale“ Welt waren; sie waren jeweils anders anders.
„Anders anders“ ging es Jan mehrmals durch den Kopf. Er erinnerte sich dabei genau daran, wie Jan auf seinem Bett saß, damals als er noch bei seinen Eltern wohnte, und es sagte: „Anders anders“. Niklas war ganz bestimmt anders anders. Aber das war eigentlich egal; auch dass Niklas ihn nicht fesseln mochte, war egal.
Die Handschellen waren seit dem Tag, an dem Jan sie ihm geschenkt hatte, nicht mehr zum Einsatz gekommen. Aber das verminderte Jans euphorische Gefühle Niklas gegenüber nicht; wenn auch das Kuscheln gefesselt bestimmt wesentlich spannender gewesen wäre - und vermutlich wäre auch das mit dem „steifen Schwanz“ einfacher. Dafür hatten Niklas und er das Training für den schwulen Sex wieder aufgenommen und Jan zeichnete seine entsprechende Fieberkurve immer weiter. Ab und zu kam es vor, dass Niklas seine Hände festhielt, nachdem sie miteinander gerangelt hatten.
Diese Begebenheiten markierten dann die Spitzen von Jans Kurve.
Jan fühlte sich in Niklas Gegenwart wirklich geborgen. Er hatte in Niklas darüber hinaus einen angenehmen und anregenden Gesprächspartner gefunden, einen Lehrer, der ihm so viele Dinge beibringen konnte. Niklas war jemand, der es vermochte, Jan Dinge nahe zu bringen, die ihm bis dahin verschlossen gewesen waren; er war der einzige, der so etwas konnte.
Vor allen Dingen ließ ihn Niklas auch an seiner sozialen Welt teilhaben, seinen Freunden, Bekannten und manchmal auch Mitstudenten. Jan fühlte sich lange nicht mehr so einsam wie noch ein paar Wochen zuvor, bevor Niklas aus Australien zurückgekommen war. Es fühlte sich gut an, wie diese Beziehung Jans Leben schon nach kurzer Zeit verändert hatte. Es war wirklich die Erfüllung seiner Sehnsüchte, auf die er ein Leben lang gewartet hatte. Und seine Sehnsüchte und Träume wurden sogar weit übertroffen; so fühlte er sich.
Beziehungsformen
Er hatte eine ganze Zeit lang nicht mehr an ihn gedacht, als ihm an einem Abend Max plötzlich wieder in den Sinn kam. Jan war ein wenig überrascht, denn es kam einfach so, ohne dass es dafür einen Anlass gegeben hatte. Dabei war er nicht weniger darüber überrascht, dass er ein paar Wochen lang überhaupt nicht an ihn gedacht hatte.
Er fühlte sich deswegen richtig schlecht; Max einfach so zu vergessen, das war wirklich nicht in Ordnung. Es entsprach ganz und gar nicht den Gefühlen, die er ihm, Max, gegenüber verspürte; ganz im Gegenteil, er hatte ihn wirklich ganz schön lieb gewonnen.
„Max und Mats“, kam Jan in den Sinn und er musste lachen. Gleich darauf spürte er eine starke Sehnsucht in sich aufkommen, Max wieder zu treffen. Es war eigenartig, eine Sehnsucht zu spüren, die wie aus dem Nichts auftauchte und dann gleich so stark war.
Während er über Max nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass seine Gefühle Max und Niklas gegenüber einen Konflikt darstellten, den er irgendwie lösen musste.
Es war völlig klar, dass Niklas auf Max eifersüchtig wäre, wenn er erfahren würde, was er Jan bedeutete. Sie hatten seit dem Tag, als Niklas aus Australien zurückkam und Max in Jans Bett vorgefunden hatte, nicht mehr darüber gesprochen und Jan spürte, dass das besser so war. Wie Max darauf reagieren würde, wenn er ihm erzählen würde, dass er einen Beziehungspartner hatte, konnte Jan sich überhaupt nicht vorstellen. Bei diesem Gedanken war ihm ziemlich unwohl.
Es war zweifellos ein konfliktträchtiges Thema, sowohl Niklas als auch Max gegenüber. Aber Max hatte ein Recht, es zu erfahren, fand Jan. Die Beziehung mit Niklas zu verheimlichen, wäre irgendwie unfair gewesen, dachte er, auch wenn er nicht genau wusste warum.
Jan hatte die Idee, sich gleich am nächsten Morgen bei Max zum Frühstück einzuladen. Das passte ganz gut, da Niklas schon früh zur Uni musste und dort bis zum späten Nachmittag beschäftigt war.
Als Jan vor dem Haus stand, in dem Max wohnte, zögerte er: Es war das erste Mal, dass er Max bei ihm zu Hause besuchen würde. Nachdem er das zweite Mal geklingelt hatte, fiel ihm ein, dass Max inzwischen umgezogen sein musste. Ganz sicher wohnte er nicht mehr hier, sondern in dieser WG, von der er erzählt hatte. Jan ging zu dem Haus, das Max ihm gezeigt hatte; hier sollte die schwule WG sein, in die er ziehen wollte. Es gab an dem Haus nur eine Klingel mit mehreren Namen, und Jan ging davon aus, dass sie die richtige sein musste. Dabei fiel ihm auf, dass er Max Nachnamen gar nicht kannte.
Ihm öffnete jemand, der ungefähr in Max Alter war und wie ein typischer Student aussah.
„Ich möchte zu Max, ist er hier?“, fragte Jan.
Max kam gleich aus seinem Zimmer und war sichtlich erstaunt, als er Jan sah.
„Damit habe ich ja nicht gerechnet“, sagte er. „dass du der Erste bist, der mich in meiner neuen WG besucht.“
Als Jan fragte, ob er ungelegen kam, antwortete er aber, dass es eigentlich ganz gut passte.
„Ich finde es schön, dass du gekommen bist; ich habe mich nur gewundert“, sagte er. „Ich bin allerdings heute mit dem WG-Einkauf dran. Vielleicht mache ich ihn am Besten gleich; wenn du Lust hast, kannst du ja mitkommen und mir dabei helfen.“
Jan fiel erst nach einiger Zeit auf, dass Max keinen Kapuzenpullover an hatte. Stattdessen trug er einen grauen Rollkragenpullover aus Wolle; und seine weiße Hose. Jan dachte daran, dass er vorhatte, Max von Niklas zu erzählen, und überlegte, ob er das gleich ankündigen sollte. Es fiel ihm aber schwer, dafür geeignete Formulierungen zu finden; in Max Gegenwart wirkte es sehr unwirklich, von Niklas zu erzählen. Es war, als wenn es zwei völlig verschiedene Welten wären. Wenn sie zuerst einkaufen gingen, dachte Jan, hätte er auch noch Zeit, darüber nachzudenken und nach passenden Worten zu suchen.
„Ok, dann lass uns jetzt den Einkauf erledigen“, sagte er schließlich.
Er hatte seinen Pullover ohnehin noch nicht ausgezogen.
Max stand auf und ging aus dem Zimmer. Von der Garderobe im Flur nahm er seine weiße Jacke mit dem grauen Fell und zog sie sich über. Jan beobachte gebannt, wie ihm dabei die Kapuze auf den Kopf fiel und er den Reißverschluss der Jacke einfädelte und hochzog.
Dann schob er sich die Kapuze wieder herunter, zog seine Mütze mit dem Norweger-Muster aus der Jackentasche und setzte sie sich auf. Jan hatte seine Mütze noch in der Hand. Als sie nach draußen gingen, setzte er sie sich auf und gleich danach die Kapuze darüber.
Heute war er ganz in Schwarz: Hose, Kapuzenpullover und Mütze. Max dagegen war ganz in weiß gekleidet - fast zumindest. Die Mütze war zwar schwarz-weiß gemustert und die Jacke hatte dünne hellgraue Streifen und ein hellgraues Fell. Aber die Streifen fielen kaum auf und die Mütze verschwand fast vollständig unter der Kapuze, als Max sie sich über die Mütze zog. Von dem grauen Fell war dann auch nichts mehr zu sehen.
Jan war fasziniert; so, mit Kapuze auf, war Max völlig in weiß. Es fiel ihm schwer, ihn nicht unentwegt anzustarren. Jan fand, dass dieser Kontrast, er in schwarz und Max in weiß, ganz schön auffiel.
„Heute sind wir wirklich schwarz - weiß“, bemerkte er, wobei er „schwarz“ und „weiß“ betont auseinander sprach.
„Ja, witzig, nicht? Ich finde ja, schwarz passt ganz gut zu dir. Aber ich würde mich so ganz in schwarzen Klamotten nicht wohl fühlen. Ich bin eher ein Typ für helle Farben“, sagte Max und lachte.
„Und ich bin wohl er einer für dunkle Farben“, antwortete Jan. „Selbst würde ich nie etwas weißes tragen, das käme eigentlich gar nicht in Frage. Aber trotzdem finde ich, dass du damit richtig gut aussiehst.“
Jan legte seinen Arm um Max Hüfte. „Das gefällt mir wirklich, ganz besonders mit dieser großen Kapuze.“
Er war erstaunt, wie vertraut es sich anfühlte, mit Max unterwegs zu sein. Der Supermarkt war nicht sehr weit entfernt von der Wohnung, aber der Einkauf war dafür recht beachtlich. So war es ganz gut, dass sie ihn nicht zu weit tragen mussten; Jan fragte sich, wie Max das alles alleine hatte besorgen wollen.
Auf dem Rückweg schlug Max vor, spazieren zu gehen, nachdem sie den Einkauf zurückgebracht hatten.
„Es ist ja lange nicht mehr so trüb, wie es vorhin noch ausgesehen hat“, bemerkte er und fügte hinzu: „Wer weiß, wie lange es noch kalt genug dafür ist, diese Jacke zu tragen. Die ist ganz schön warm mit dem Fell.“
Max hatte Recht. Es war schon Ende März und absehbar, dass die Tage nicht mehr so winterlich sein würden. Da war ein Parka, bei dem das Fell herausnehmbar ist, wirklich praktisch, dachte Jan.
Er sah sich dabei in Gedanken, wie er als Jugendlicher seinen Parka trug, wie er im Frühjahr, wenn es wärmer wurde, das Fell herausnahm und es im Herbst wieder einknöpfte. So konnte er ihn fast immer tragen, außer im Hochsommer natürlich.
Als sie in der WG angekommen waren, stellten sie lediglich die Tüten in die Küche und gingen gleich wieder. Max nahm seine Kapuze dabei nicht ab und Jan auch nicht.
„Ich hätte dich auch demnächst besucht, bestimmt“, sagte Max, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander her liefen.
Das mochte Jan an Max, dass es völlig selbstverständlich war, mit ihm spazieren zu gehen, ohne etwas reden zu müssen.
„Aber das mit dem Umzug und die neue WG hat mich schon ziemlich in Beschlag genommen.“
„Wenn du Bescheid gegeben hättest, hätte ich dir beim Umzug helfen können“, antwortete Jan.
„Ja, stimmt. Das Umziehen selbst war aber nicht so schlimm; ich habe ja nicht so viele Sachen.“
Wie wenn es abgesprochen gewesen wäre, gingen sie zum Spreeufer und standen schließlich an der Stelle, an der sie in der Silvesternacht auch gewesen waren. Jan sah in Max Gesicht, mit der weißen Kapuze und der Norwegermütze darunter, die er nur erahnen aber eigentlich nicht sehen konnte.
Dabei musste er an die Zugfahrt denken, während der sie sich kennen lernten, wie Max sich anzog, bevor er schließlich aus dem Zug ausstieg, seine blaue Mütze mit „Bommel“ und die blaue Daunenjacke; wie er sich die graue Kapuze über die Mütze zog.
„Ich muss dir was sagen“, begann Jan.
Er hatte schon viel zu lange gezögert, das zu sagen, weswegen er Max eigentlich aufgesucht hatte.
„Niklas“, fuhr er fort. „Du weißt, den ich neulich vom Flughafen abgeholt hatte.“
„Den du abholen wolltest“, sagte Max und lachte. „Das hatte ja wohl nicht so gut geklappt. Wo kam der noch mal her, aus Australien?“
„Aus Sydney; da hat er ein Jahr lang studiert.“
„Australien ist sicher interessant; nur gibt es da keinen Schnee, oder?“, bemerkte Max. „Komm, lass uns weiter gehen.“
„Niklas ist mein Freund“, setzte Jan fort, als sie gerade ein paar Schritte gegangen waren.
Max blieb stehen.
„Wie meinst du das, dein Freund?“
„Na ja, wir haben eine Beziehung.“
Max starrte in Jans Gesicht und hatte sichtlich Mühe, etwas zu sagen.
„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“, sagte er schließlich.
Nach einer Pause, die Jan endlos vorkam, setzte er fort,
„Ich meine, warum hast du das nicht gleich gesagt, dass du einen Freund hast?“
Jetzt war es ausgesprochen und Jan wusste nicht, wie er seine Erläuterungen fortsetzen sollte. Es war ihm wichtig, Max deutlich zu machen, dass er ihn nicht belogen hatte, zumindest nicht richtig. Ob er und Niklas eine Beziehung hatten oder nicht, war ja noch unklar, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
„Er ist eigentlich erst mein Freund, seit er wieder zurück ist; das war vorher nicht klar. Deswegen habe ich nichts von ihm erzählt.“
Max sah ihn ungläubig an.
„Er kommt aus Australien zurück, wird von dir versetzt, findet mich in deinem Bett und macht dir dann einen Heiratsantrag? Der muss dich ja wirklich sehr mögen“, bemerkte er.
Er hatte Recht, dachte Jan, Niklas musste ihn sehr mögen. Max starrte ihn immer noch an, allerdings ohne weiter etwas zu sagen. Jan fiel auch nichts mehr ein, was er sagen sollte.
„Ich dachte, es wäre unfair, wenn ich es dir nicht sagen würde“, erklärte er. „Ich hoffe, dass du mir deswegen nicht böse bist. Ich meine, ich mag dich trotzdem noch; daran hat sich jetzt nichts geändert.“
Max ging weiter und Jan lief schweigend neben ihm. Nach einer Weile sagte er. „Nein, böse bin ich dir nicht; wir haben ja keine Beziehung und du musst mir nicht treu sein. Ich habe dich nur eben anders eingeschätzt. Ich dachte, Na ja, ich dachte wirklich, du bist ein Einzelgänger.“
Dann stieß er Jan leicht in die Seite und sagte. „Du und Beziehung, das finde ich ja schon komisch; für mich passt das ja überhaupt nicht zusammen.“
Als sie schon fast bei Max neuer Wohnung angekommen waren, fragte Max. „Steht er auch auf Kapuzen, dein Niklas?“
„Niklas? Nein der steht nicht auf Kapuzen; leider.“
Max sah mit seiner weißen Kapuze auf dem Kopf wirklich gut aus, dachte Jan. Er hatte inzwischen den Reißverschluss ein wenig geöffnet, sodass die gemusterte Norwegermütze unter der Kapuze zu sehen war. Das gab dem Ganzen noch etwas sehr Besonderes, fand Jan.
Max sagte zum Abschied, dass er das mit Jans neuem Freund erst einmal verdauen müsse und dass er sich dann bei ihm melden würde.
Nachdem Max im Haus verschwunden war, stand Jan noch eine Weile vor der Haustür und überlegte, was er jetzt tun sollte. Es war noch recht früh am Nachmittag, aber er hatte noch nichts gegessen und war ein wenig hungrig. Eigentlich hatte er geplant, mit Max zu frühstücken, was ihm allerdings aus dem Blickfeld geraten war.
Während er vor Max Wohnung stand, spürte er, dass ihn diese Begegnung ziemlich unangenehm berührt hatte. Er konnte sich nicht erklären wieso, aber es fühlte sich an, als ob er sich gerade von Max getrennt hatte. Jan fand es ziemlich merkwürdig, sich so zu fühlen, da er weder mit Max eine Beziehung hatte, noch ihr Verhältnis sich geändert hatte. Im Grunde genommen hatte Max die Geschichte mit Niklas recht gelassen aufgenommen; von Trennung konnte wirklich keine Rede sein. Dennoch war dieses Gefühl nicht zu vertreiben.
Als ihm dann noch Max Gesicht in den Sinn kam, wie er sich die weiße Kapuze mit dem grauen Fell über seine Norwegermütze zog, fiel es ihm richtig schwer, seine Tränen zu unterdrücken. Seine Gefühle mündeten schließlich in eine richtig unangenehme Mischung von Verwunderung und Traurigkeit.
Jan fühlte sich an seine Glasglockenzeiten erinnert. Zurzeit lebte er nicht in einem solchen abgeschlossenen Zustand, aber er wusste, dass er jederzeit wieder hineingeraten konnte, in so eine Glasglocke.
Schließlich entschied er sich, in einer Bäckerei zwei Brötchen zu kaufen und dann noch einmal spazieren zu gehen. Dabei dachte er unentwegt an Max, daran, wie aufgeräumt sein Zimmer aussah und wie gut es zu ihm gepasst hatte, zu diesem Jungen in weißer Hose und Rollkragenpullover.
Als er aus seinen Gedanken wieder aufwachte, merkte Jan, dass er wieder an der Stelle am Spreeufer angekommen war, an dem er ein paar Stunden zuvor Max eröffnet hatte, in einer Beziehung zu leben. Das war eindeutig der Max-Platz. Jan ging zurück in seinen Bauwagen; die Trauer in ihm war inzwischen einer Nachdenklichkeit gewichen.
Insbesondere musste er darüber nachdenken, dass er sich sehr einsam fühlte, obwohl er es gar nicht war. Er hatte einen Freund, der ihn - wie Max bemerkt hatte - wirklich mochte, und er hatte auch noch Max, mit dem er seine Vorliebe für Kapuzen teilen konnte.
Max hatte in dieser Hinsicht recht: Er war kein Einzelgänger. In anderer Hinsicht war er es doch; man konnte einsam sein und dennoch viel mit Menschen zu tun haben, dachte er.
Auf dem Weg zu seinem Bauwagen konnte er es auch wieder genießen, die Kapuze seines Pullovers auf dem Kopf zu spüren, mit seiner schwarzen Mütze darunter. Das war ihm die ganze Zeit über entgangen, weil er zu sehr in Gedanken war. Er lief stundenlang mit Mütze und Kapuze durch die Stadt, ohne es zu bemerken; so sehr hatte ihn das Treffen mit Max in Beschlag genommen. Jetzt spürte er es wieder, dieses unsagbar gute, angenehme Gefühl.
Er war sich sicher, dass sich die schwarze Kapuze anders anfühlte als die anderen, die grüne und die braune. Nicht sehr anders, aber deutlich genug, um es zu bemerken. Und das obwohl sich seine Kapuzenpullover eigentlich nur in ihrer Farbe unterschieden. Jan war verwundert, dass ihm das bislang noch nicht aufgefallen war, aber die Farben fühlten sich tatsächlich anders an; zumindest schwarz, braun und grün.
Er überlegte sich, dass er auf jeden Fall Max blauen Kapuzenpullover anprobieren sollte, um herauszufinden, wie der sich anfühlte. Dabei war er sich allerdings sicher, dass er das Gefühl nicht mögen würde; blau war wirklich nicht seine Farbe.
Als Jan endlich in seinem Bauwagen saß, war er richtiggehend erschöpft. Er war einige Stunden unterwegs gewesen und hatte außer den beiden Brötchen den ganzen Tag nichts gegessen. Um den Abend noch ungestört verbringen zu können, rief er gleich darauf Niklas an, um ihm zu sagen, dass er ihn nicht mehr sehen wollte. „Es geht mir nicht gut“, erklärte er, was nicht notwendig gewesen war, da Niklas ohnehin nicht damit gerechnet hatte, ihn zu treffen.
Der Tag war alles in allem ziemlich verwirrend gewesen. Jan hatte nicht erwartet, dass es ihn derartig aufwühlen würde, Max das mit Niklas zu erzählen. Er hatte eher damit gerechnet, dass Max vielleicht traurig werden könnte, oder gar verärgert, nicht aber, dass stattdessen ihn selbst das alles so berührte.
Was er für diesen Jungen empfand, war wirklich sehr viel. Wahrscheinlich war es durchaus etwas wie Liebe; es musste Liebe sein. Obwohl es etwas ganz anderes war als das, was er für Niklas empfand, was aber für ihn auch Liebe war.
„Liebe“ schien tatsächlich ein Begriff zu sein, der extrem unterschiedliche Dinge bezeichnen konnte. So unterschiedliche Dinge etwa wie seine Gefühle zu Jan, Max oder Niklas. Jan wurde schnell müde und schlief schließlich mit diesen Gedanken ein.
Am nächsten Tag ging er zu Niklas, gleich nachdem er aufgestanden war. Als sie zusammen am Frühstückstisch saßen, fragte Niklas plötzlich: „Was ist mit dir? Stimmt etwas nicht?“
„Was soll mit mir sein?“, erwiderte Jan. Niklas sagte daraufhin. „Tu jetzt nicht so; irgendetwas ist im Busch. Ich spüre es genau.“
„Ich bin nur ein bisschen nachdenklich, das ist alles.“
„Du hast jemanden getroffen, stimmts?“, bohrte Niklas nach einer kurzen Pause weiter.
„Ja“, sagte Jan schließlich. „Ich habe gestern Max getroffen.“
„Und deswegen bist du jetzt so nachdenklich? Ihr habt zusammen übernachtet, stimmts?“
„Nein, wir waren nur spazieren und haben geredet; sonst war da nichts.“
„Du verlangst ja wirklich Einiges von mir, wenn du meinst, dass ich dir das glauben soll.“
„Niklas, da war wirklich nichts; es gibt überhaupt keinen Grund für dich, eifersüchtig zu sein.“
Das stimmte allerdings so nicht; es war eigentlich gelogen. Jan spürte die Lüge und war verwirrt darüber, wie leicht sie ihm über die Lippen gegangen war. Es stimmte zwar, dass Max und er nicht miteinander geschlafen hatten und auch nicht zusammen übernachteten; es war noch nicht einmal ansatzweise etwas in dieser Art geschehen. Es stimmte aber nicht, dass Niklas keinen Grund zur Eifersucht hatte. Ganz im Gegenteil; Jan hatte sich seit Niklas Rückkehr aus Australien nicht so sehr von Max angezogen gefühlt, wie an diesem Tag, als er ihm gestand, eine Beziehung mit Niklas zu haben.
Er überlegte sich, ob es ihm nicht erst dabei klar geworden war, wie sehr er Max tatsächlich mochte. Dass er ihn „liebte“, traute sich Jan selbst in Gedanken nicht zu sagen. Was für ein schwieriges Thema.
Niklas sagte nichts mehr und beschäftigte sich schweigend mit seinem Frühstück. Jan war in dieser Situation sehr verunsichert; gelinde ausgedrückt. Natürlich liebte er Niklas, da gab es überhaupt keine Zweifel. Dass er Max gegenüber so intensive Gefühle verspürte, änderte daran gar nichts; das war eindeutig etwas ganz anderes und stand mit seiner Beziehung zu Niklas in keinerlei Konkurrenz.
Jan stand auf, stellte sich hinter Niklas und fing an, ihm den Nacken zu massieren. Niklas Muskeln spannten sich dabei deutlich an und Niklas beeilte sich, das Brot, das er gerade kaute, herunter zu schlucken.
„Danach ist mir jetzt wirklich nicht zumute“, sagte er und schob Jans Hände von seiner Schulter.
Jan blieb hinter Niklas stehen; er spürte der Traurigkeit nach, die sich in ihm breit machte, ähnlich der Traurigkeit, die er verspürte, als sich am Tag zuvor von Max verabschiedet hatte. Irgendwie war diese Situation in eine Sackgasse geraten und er hatte keine Idee mehr, wie er damit umgehen sollte.
„Ich glaube, ich kann mich jetzt auf dich nicht einlassen“, sagte Niklas. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir heute nicht zusammen sind.“
Jan stand immer noch hinter Niklas und wusste nicht, was er tun sollte.
„Da war wirklich nichts“, stammelte er.
Mittlerweile musste er mit den Tränen kämpfen - wie bei Max fühlte er sich traurig, ohne genau zu wissen, wieso, was sein Gefühl der Hilflosigkeit nur noch verstärkte.
„Jetzt mach hier bloß keine Szene“, sagte Niklas und drehte sich dabei um.
„Ich muss jetzt einfach darüber nachdenken; nichts weiter. Vielleicht tut es dir auch ganz gut, darüber nachzudenken. Wie das ist mit mir und mit, wie heißt er noch mal?“
„Max.“
„Max, na gut.“
Jan konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten und sagte nach kurzem Zögern. „Ich gehe jetzt.“
Niklas brachte ihn zur Tür und sagte noch. „Ich ruf dich an, ok?“
Was für merkwürdige Gefühle tauchten da in seinem Leben auf, dachte Jan, als er zu seinem Bauwagen ging.
Als er dort angekommen war, war dieses Gefühl tiefer Traurigkeit, gepaart mit einer ziemlichen Verwirrung, immer noch sehr präsent. Den Tag mit Nachdenken zu verbringen, war eigentlich keine schlechte Idee, dachte Jan, und das konnte er am Besten, während er spazieren ging.
Es war vor allen Dingen noch einmal eine Gelegenheit, einen Mütze-und-Kapuze-Tag zu verbringen. Immerhin war schon Ende März und es hatte bereits einige Tage gegeben, die für Mütze und Kapuze zu warm waren. An diesem Tag war die Temperatur zwar deutlich im Plusbereich, aber es war bewölkt und ziemlich windig, sodass es durchaus gerechtfertigt war, Mütze und Kapuze auf zu haben.
Jan entschied sich für den grünen Kapuzenpullover, den er schon seit einiger Zeit nicht mehr getragen hatte. In letzter Zeit trug er immer nur einen der beiden Schwarzen. Es kam ihm die Idee, seine erste Mütze, die hellbraune Len-Mütze, darunter zu ziehen; dazu noch die grüne Armeehose - so gefiel er sich.
Sie fühlte sich ausgesprochen gut an, die Len-Mütze mit der grünen Kapuze darüber, auch wenn es ein wenig kratzte. Jan bemerkte nach kurzer Zeit, dass die Traurigkeit verflogen und diesen angenehmen, warmen und zugleich prickelnden Gefühlen gewichen war. Mit dieser Mütze war ein unergründlicher, geheimnisvoller Zauber verbunden, dachte er; genau genommen bestand der Zauber darin, eine Kapuze darüber zu spüren.
„Der Len-Zauber“, kam ihm in den Sinn, der Parka mit der Fellkapuze, überhaupt Kapuzen auf dem Kopf zu spüren.
Während Jan darüber nachdachte, blitzte in ihm das Bild auf, wie Len, mit Mütze und Kapuze, ihn ansah und sagte,
„Es ist wirklich kalt, willst du dir nicht die Kapuze überziehen?“
Dann sah er sich selbst, wie er die Kapuze seines Parkas über seine Len-Mütze zog. Er sah sich als Jugendlicher, so wie er ausgesehen hatte, kurz nachdem er seinen Parka bekommen hatte.
Nachdem das Bild verblasst war, kam es ihm vor, als würde er wirklich seinen Parka tragen und eine Kapuze mit Fell auf seinem Kopf spüren. Er sah an sich herunter, um es sich zu bestätigen, dass er seinen grünen Kapuzenpullover an hatte und nicht seinen Parka mit Fellkapuze.
Nach einiger Zeit fand er sich an der Stelle wieder, an der er am Tag zuvor mit Max eröffnet hatte, in einer Beziehung mit Niklas zu leben, dem Max-Platz.
Er verbrachte den ganzen restlichen Tag draußen, in seinen Gedanken. Als er abends zurück in seinen Bauwagen kam, fühlte er sich durch und durch gut und zufrieden.
Niklas rief am nächsten Tag nachmittags an, um sich zu verabreden. Jan ging gleich darauf zu ihm, wo Niklas gleich sein Bedürfnis äußerte, mit ihm zu kuscheln. Niklas wirkte dabei sehr entspannt; seine Eifersucht schien sich wieder gelegt zu haben.
Jedenfalls erwähnte er nichts mehr davon und vermittelte auch sonst nicht den Eindruck, dass irgendetwas nicht in Ordnung gewesen wäre.
Zwillingsgeschichten
Ein paar Tage später fand Jan an seiner Wagentür einen Zettel, dass „ein Max“ angerufen hatte. Weiter stand nichts darauf. Da es schon Abend war, zögerte Jan kurz, bis er sich entschied, zu Max zu gehen; er hatte immer noch keine Telefonnummer von ihm.
Er klingelte und fand eine offene Wohnungstür vor, als er in das Stockwerk gekommen war, in dem Max wohnte. Als er an seiner Zimmertür klopfte, hörte er ihn sagen. „Komm rein.“
Er öffnete die Tür und erschrak derartig über das, was er sah, dass er wie gelähmt in der halb geöffneten Tür stehen blieb.
Er sah zwei Max; das heisst, er sah natürlich einen Max und jemand anderes, der ihm aber zum Verwechseln ähnlich sah. Nicht nur ähnlich, sondern fast gleich; hätte Max Double nicht längere Haare, wäre es selbst für Jan schwierig gewesen, beide auseinander zu halten.
„Was ist?“, fragte Max und grinste dabei. „Komm rein.“
Das muss sein Bruder sein, dachte Jan, Mathias, Mats. Max sagte ja, dass sein Bruder ein Zwillingsbruder war; aber die Ähnlichkeit war dennoch verblüffend.
„Komm doch rein und setz dich“, wiederholte Max. „Das ist Ingve, Heikos Freund.“
Heiko war einer von Max neuen Mitbewohnern.
„Hi“, sagte Ingve und Max ergänzte. „Ingve ist noch nicht lange hier und spricht auch nicht so gut deutsch. Er kommt aus Norwegen. Aber Englisch kann er sehr gut.“
Jan setzte sich zu den beiden, war aber immer noch kaum fähig, irgendetwas zu sagen. Immerhin reichte es, das „Hi“ zu erwidern. Es war also nicht Max Zwillingsbruder; Jan war wirklich verwirrt. Er konnte es gar nicht fassen, dass sich zwei Menschen so ähnlich sehen, obendrein noch, ohne miteinander verwandt zu sein.
„That’s Jan“, sagte Max. „His real name is Hannes, but he prefers to be called Jan.“
„Oh, that’s nice, Honnes“, antwortete Ingve, wobei er das a wie ein o aussprach. „It sounds like a real German name.“
Jan ärgerte sich ein wenig, dass Max das mit seinem „wirklichen“ Namen ansprach. Vor allen Dingen ärgerte er sich darüber, dass er wie paralysiert war und sich außer Stande fühlte, auf irgendetwas zu reagieren.
Plötzlich fragte Ingve: „Do you think its cold in here?“
Jan erschrak, weil er in diesem Moment bemerkte, dass er ihm die ganze Zeit ins Gesicht gestarrt hatte. Er hatte seine Pulloverschichten noch nicht ausgezogen und sogar noch seine Mütze auf.
„Germans like to bundle up even if it’s not so cold. In Norway its much colder but people don’t bundle up themselves like they do in Germany.“
Ingve hatte einen deutlichen skandinavischen Akzent, den Jan sehr sympathisch fand.
„Ich glaube, Ingve versteht das mit den Kapuzen nicht“, erklärte Max und Jan zog sich die Mütze und die Pullover aus.
„What are you studying?“, fragte Ingve.
Jan saß immer noch starr da und fühlte sich unfähig, irgendetwas etwas zu sagen. Als er anfing, etwas zu stammeln, antwortete Max bereits und erklärte, dass Jan „aus politischen Gründen“ nicht studiere.
Ingve war darüber sichtlich erstaunt, während Max vor sich hin grinste. Ihm schien es zu gefallen, Jan so verunsichert zu erleben. Er ließ es sich auch nicht nehmen, Ingve zu erzählen, dass ein „echter Punk“ wie Jan es grundsätzlich ablehnte, einen Beruf zu lernen, sondern lieber von Sozialhilfe leben will. Ingve antwortete, dass er eine solche Haltung für nicht sehr verantwortungsvoll hielt, und bat Jan, seine Gründe dafür zu erklären.
Jan kam sich vor wie in einem Traum, in dem er von zwei Max ins Kreuzverhör genommen wurde. Seine Unfähigkeit, mit dieser Situation umzugehen, ärgerte ihn immer mehr. Schließlich entschied er sich zu gehen und fing an, sich wieder anzuziehen. Dabei fiel ihm auf, dass Max aufgehört hatte zu grinsen.
„Das war doch nur Spaß; sei nicht sauer.“
„Ich gehe jetzt trotzdem“, stammelte Jan.
Er hatte sich wirklich schon lange nicht mehr so unwohl und verunsichert gefühlt, wie in dieser Situation. Max brachte ihn zur Tür und sagte,
„Ich ruf dich an, ok?“
„Ok.“
Jan versuchte, nicht verärgert zu wirken, bemerkte aber, dass er völlig angespannt war. Er setzte seine Mütze auf und ging los, zurück zu seinem Bauwagen.
Die Mütze-und-Kapuzen-Zeit war vorbei; die Luft war mild und roch schon regelrecht nach Frühling. Als er vor die Tür trat, warf sich Jan fast wie in einem Reflex die Kapuze über die Mütze und zog sie sich gleich danach wieder herunter. Nach ein paar Schritten nahm er die Mütze von seinem Kopf und zog sich die Kapuze über, ohne Mütze.
Zurück im Bauwagen blieb er noch lange wach und dachte über Max und Ingve nach und darüber, wie zwei Menschen sich so ähneln können, ohne Zwillinge zu sein.
Max rief ihn schon am nächsten Tag an. Jan sah es, als er nach der Arbeit zu seinem Bauwagen zurück kam. Diesmal hatte Max eine Telefonnummer hinterlassen, sodass Jan ihn gleich zurückrufen konnte.
„Du warst ja ziemlich schweigsam gestern Abend“, bemerkte Max und fragte, ob er wirklich sauer gewesen war.
„Ja“, antwortete Jan. „Nein, eigentlich nicht. Es hat mich nur überfordert, dich gleich zweimal zu sehen.“
Max lachte. „Ja, das ist gut mit Ingve, nicht? Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie perplex ich war, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich dachte, ich sehe in einen Spiegel.“
„Zuerst glaubte ich, das wäre dein Bruder.“
„Mein Bruder? Nein, der sieht mir lange nicht so ähnlich, obwohl wir Zwillinge sind. Er hat noch nicht mal blonde Haare.“
Jan sagte, dass er Max gerne sehen würde und schlug vor, ihn zum Essen auf dem Bauwagenplatz einzuladen. Max war damit einverstanden und sie verabredeten sich für den kommenden Samstag.
Nach dem Telefongespräch ging Jan gleich zu Niklas, der gerade angefangen hatte, Nudeln zu kochen. Der Abend mit Niklas war sehr entspannt; nach dem Essen legten sie sich zusammen ins Bett und Niklas erzählte von seinem Studium. Er war ziemlich frustriert darüber, dass seine Mitstudenten größtenteils sehr anspruchslos waren, vor allem in politischer Hinsicht.
An dem Samstag der Verabredung erledigte Jan bereits vormittags die Einkäufe für das Essen. Es war noch nicht sehr spät, als es an seiner Bauwagentür klopfte. Max trug seinen leuchtend blauen Kapuzenpullover ohne eine Jacke darüber.
„Ich dachte, ich komme ein wenig früher, damit ich dir beim Kochen helfen kann.“
Max setzte sich neben Jan auf das Bett.
„Du siehst wirklich gut aus“, sagte Jan und war erstaunt, dass ihm das so über die Lippen kam.
„Ich meine mit dem blauen Kapuzenpullover.“
Max grinste und sagte. „Lass uns anfangen. Ich bin schon hungrig. Was hast du denn vor zu kochen?“
Jan hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: Mit Hackfleisch gefüllte scharfe Peperoni und Bratkartoffeln. Dazu sollte es einen grünen Salat geben - mit viel Zwiebeln.
Es war genau das zweite Mal, dass Jan im Küchenwagen auf dem Bauwagenplatz kochte. Das erste Mal kochte er für seine Mitbewohner, die von seinen Kochkünsten nur mäßig begeistert gewesen waren. Überhaupt wurde auf dem Platz nur zu bestimmten Anlässen gekocht, zu den Plenen beispielsweise, an denen Jan nie teilnahm.
Bevor sie anfangen konnten, musste der Küchenwagen erst gesäubert werden. „Ich könnte ja in so einem Dreck nicht leben“, sagte Max, während er zusah, wie Jan den Herd und den Tisch schrubbte.
Plötzlich kam einer von Jans Mitbewohnern in den Wagen und sagte: „Oh, kochst du heute? Das ist ja ganz was Neues, dass du zum Plenum kommst.“
„Zum Plenum?“, fragte Jan.
Damit, dass an diesem Abend ein Bauwagenplenum stattfand, hatte er überhaupt nicht gerechnet.
„Was für ein Plenum?“, fragte Max. „Davon hast du ja gar nichts gesagt.“
Jan wusste nicht, was er dazu sagen sollte und war froh, als sein Mitbewohner schließlich sagte,
„Schon gut. Ich mach das schon; ich bin auch regulär an der Reihe mit Kochen.“
Jan war etwas verwirrt darüber festzustellen, dass er fast ein Jahr schon auf dem Bauwagenplatz wohnte und noch nicht mitbekommen hatte, dass es scheinbar Vereinbarungen gibt für die Plena und das damit verbundene Kochen.
Als sie wieder alleine im Küchenwagen saßen, fragte Max: „Und jetzt? Sollen wir zu mir gehen?“
„Ja, lass uns zu dir gehen.“
Jan war die Situation einigermaßen peinlich. Er packte die Sachen ein, die er für das Essen gekauft hatte, und ging mit Max los.
Es war ein ausgesprochen milder Abend, aber er zog sich dennoch die Kapuze über den Kopf, einfach nur, um sie zu spüren und sich dabei gut zu fühlen. Insgeheim hoffte er, dass sich Max auch seine Kapuze überziehen würde, was er aber nicht tat.
„Die sind jetzt bestimmt sauer, dass du einfach gehst, obwohl das Plenum stattfindet“, bemerkte Max.
Jan schwieg dazu; er wusste nicht, ob die anderen Bauwagenplatzbewohner darüber verärgert waren oder ob es ihnen vielleicht doch egal war. Es fiel ihm lediglich auf, dass es wohl grundlegende Dinge gab, die auf dem Platz irgendwie selbstverständlich waren, von denen er aber bislang nichts mitbekommen hatte, obwohl er fast schon ein Jahr dort wohnte. Das fand er ziemlich befremdlich.
Ganz anders als auf dem Bauwagenplatz war die Küche in Max WG sehr sauber und aufgeräumt. Max Mitbewohner waren beide nicht zu Hause, auch Ingve nicht, Max Doppelgänger.
Während Jan das Essen zubereitete, sah ihm Max zu und erzählte von seinem Studium, das inzwischen begonnen hatte. Er schien damit sehr zufrieden zu sein, vor allen Dingen, weil er den Eindruck hatte, dass viele seiner Mitstudenten schwul waren.
Plötzlich sagte er. „Das mit deinem Freund, du weißt schon, der aus Australien, das hat mich ziemlich beschäftigt.“
Jan wusste nicht, was er antworten sollte, sodass sich beide schweigend ansahen, bis Max fortfuhr: „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“
Jan war zum Zerreißen gespannt, was er jetzt wohl sagen würde.
„Ich meine, ich mag dich wirklich gerne und muss zugeben, dass es schon mehr ist, dass ich eigentlich in dich verliebt bin. Aber ich war mir immer auch unsicher, ob wir wirklich zusammen passen. Wir haben ja schon sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie wir leben wollen zum Beispiel. Das lässt sich nur schwer in Einklang bringen.“
Jan fühlte wieder diese Traurigkeit in sich aufsteigen. Das geschah in letzter Zeit sehr oft, so oft, dass er zunehmend beunruhigt war, ob er diese Häufung als Zeichen deuten sollte. Als Zeichen dafür vielleicht, dass sich etwas sehr Ungutes in seinem Leben anbahnte.
„Max“, sagte er. „ich möchte dich nicht verlieren. Es ist vielleicht nicht leicht zu verstehen, aber,“ Jan machte eine kurze Pause, weil er sich unsicher war, ob er es wirklich so sagen sollte, „ich liebe dich - wirklich. Da ändert sich auch durch meine Beziehung zu Niklas nichts daran.“
„Doch“, erwiderte Max. „das ändert schon was. Es ist für uns beide nicht gut, wenn wir uns auf eine Liebesgeschichte miteinander einlassen. Das ist mir inzwischen einfach klar geworden.“
Jan stand wie gelähmt vor dem Topf, in dem das Hackfleisch briet. Er wollte etwas sagen, aber er brachte nur ein heiseres „Max“ hervor.
Das, was Max gesagt hatte, hatte ihn ziemlich getroffen, obwohl er dachte, dass es sehr vernünftig klang; vielleicht gerade deswegen. Es war in der Tat unrealistisch zu glauben, dass sie beide zusammen in einer Liebesbeziehung leben könnten; es war geradezu absurd. Max stand auf, stellte sich hinter Jan und hielt ihn an den Hüften.
„Tu jetzt nicht so, als wenn die Welt unterginge. Du hast schließlich einen anderen Beziehungspartner und nicht ich.“
Jan war fasziniert von der Klarheit, die Max ausstrahlte. Er empfand sie in einem deutlichen Kontrast zu der Unsicherheit, die ihn immer begleitete, vor allen Dingen, wenn es um solche Dinge wie Freundschaften und Liebe ging.
„Wir bleiben einfach nur Freunde“, sagte Max. „so, wie es bis jetzt gewesen ist. Das ist das Beste für uns beide. Warte mal, ich zeige dir was.“
Max ging aus der Küche und kam kurz darauf mit einem dunkelblauen Sweatshirt in der Hand wieder. Jan sah sofort, dass es ein Kapuzenpullover war.
„Das ist Ingves“, sagte Max und zog ihn sich über.
Der Pullover hatte vorne einen großen roten Aufdruck und auch die Kapuze war innen rot. Max setzte sie sich auch gleich auf und sagte: „Der gefällt mir richtig gut. Ich glaube, Ingve trägt ihn auch gar nicht; vielleicht gibt er ihn mir.“
Max mit Kapuze sah immer umwerfend gut aus, dachte Jan. Er vergaß bei diesem Anblick sogar die Traurigkeit, in die er eben noch getaucht war. Max zog den Pullover wieder aus und brachte ihn zurück.
Als das Essen fast fertig war, war zu hören, wie jemand zur Haustür herein kam. Max war sichtlich überrascht, als Ingve in die Küche schaute und „Hello“ sagte.
„Oh Honnes“, sagte Ingve gleich danach. „hi.“
„My name is Jan“, sagte Jan und Max erläuterte: „He doesn’t like to be called Hannes.“
Ingve erwiderte, dass er „Honnes“ sehr schön fand, dass er überhaupt deutsche Namen sehr schön fand.
„What I really like most is Mäxi-mili-on“,
„Maximilian“ schien ein echter Zungenbrecher für ihn zu sein.
Max lachte und sagte. „Just call me Max“, wobei er Max englisch aussprach.
Ingve erzählte, dass er mit Heiko, seinem Freund, auf einer Geburtstagsfeier war und sich ziemlich langweilte, weil dort niemand englisch reden wollte. Deswegen war er alleine zurückgekommen und froh, auf Max zu treffen.
Ingve aß auch ein wenig, sagte dann aber, dass ihm das Essen viel zu scharf war. Die Peperoni waren wirklich sehr scharf, aber Jan mochte scharfes Essen und Max schien auch nicht abgeneigt zu sein. Zumindest ließ er sich nichts anmerken.
Jan war wieder völlig eingenommen von seiner Faszination darüber, Max sozusagen zweimal zu sehen. Er war froh, dass Ingve ein richtig geselliger Typ war und an dem Abend für die Konversation sorgte.
Er erzählte davon, wie groß die Schwulenszene in Berlin war, vor allem im Vergleich zu Oslo, und dass er Deutschland möge, weil die Leute hier nicht so konservativ seien wie in Norwegen. Jan und Max lauschten interessiert seinen Geschichten.
Schließlich fragte er, ob sie nicht Fotos sehen wollten, aus Norwegen. Er holte mehrere Umschläge und zeigte ihnen Bilder aus Oslo und von Bergen und Fjorden. Jan war ganz fasziniert davon, wie schön es da aussah, sowohl in Oslo als auch in der Natur. Vor allen Dingen die Fjorde mit den Bergen gefielen ihm.
Es gab auch Bilder, die Ingve mit seinen norwegischen Freunden in tief verschneiter Landschaft zeigten. Ingve hatte nie etwas auf dem Kopf, genauso wie die meisten seiner Freunde. Manchmal war jemand mit Norweger-Mütze zu sehen, ähnlich wie Max eine hatte, aber nie mit Kapuze.
Jan erinnerte sich, wie Max ihm sagte, dass Ingve das mit den Kapuzen nicht so verstehen würde. Kapuzen schienen in Norwegen generell nicht üblich zu sein, obwohl es dort offensichtlich sehr kalt werden konnte. Schließlich hatte Jan das Gefühl, nach Hause gehen zu wollen.
„Ich bin auch schon ein bisschen müde“, sagte Max. „Irgendwie bin ich kein Nachtmensch.“
Es war gerade elf Uhr, also eigentlich nicht spät, aber dennoch fühlte sich Jan richtiggehend erschöpft. Auf dem Weg nach Hause ging ihm immer wieder durch den Kopf, wie Max ihm sagte, dass er es für besser hielt, einfach nur Freunde zu bleiben.
„Einfach nur Freunde“, dachte er immer wieder, bis ihm Jan einfiel, seine erste wirkliche Liebe. Er überlegte sich, ob Jan auch diese Redewendung verwendete: „Einfach nur Freunde“.
Bei diesen Gedanken stieg wieder dieses Gefühl von Trauer in ihm auf und nach kurzer Zeit entschied er sich, nicht nach Hause, in seinen Bauwagen, zu gehen, sondern zu Niklas. Er fühlte sich in seinem Bauwagen ohnehin nicht „zu Hause“; das Gefühl, zu Hause zu sein, war bei Niklas viel stärker. Selbst in Max WG, obwohl er erst zwei Mal dort gewesen war und erst einen von Max Mitbewohnern überhaupt einmal gesehen hatte, selbst da fühlte er sich eher zu Hause, als in seinem Bauwagen.
„Du kommst aber spät“, sagte Niklas, als er ihm die Tür öffnete.
Er hatte offenbar erwartet, dass Jan abends zu ihm kam, obwohl sie nicht konkret verabredet waren. Niklas war offenbar verärgert und verhielt sich betont distanziert. Erst nach einer Weile erzählte er, dass er am frühen Abend auf dem Bauwagenplatz war und dort erfuhr, dass Jan mit einem „Schickie“ unterwegs gewesen war.
„Ja, ich war bei Max“, sagte Jan und Niklas erklärte, dass er sich von Jan hintergangen fühlte.
„Wir müssen ja keine Beziehung haben“, sagte er. „Wenn du das Bedürfnis hast, dich ausleben zu wollen, kannst du das ja tun - aber ohne mich.“
Jan war sehr überrascht, dass Niklas so heftig wurde und gleich ihre Beziehung in Frage stellte.
„Ich geb ja zu, dass ich in Max verliebt gewesen bin, aber das ist vorbei. Außerdem ist da wirklich so gut wie nichts passiert. Und jetzt sind wir einfach nur Freunde.“
In diesem Moment fing er an zu heulen und schluchzte. „einfach nur Freunde“. Was für eine bösartige Redewendung, dachte er sich.
Er setzte sich auf das Bett und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Niklas schaute ihm hilflos zu und rang sich schließlich durch, sich neben Jan zu setzen und seinen Arm um ihn zu legen.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich dir glauben soll“, sagte er. „Du weißt, dass ich dich wirklich mag und dass es mir weh tut, wenn ich das Gefühl habe, du verheimlichst mir etwas.“
Jan war unfähig, etwas dazu zu sagen. Es schien, als ob sich die ganze Trauer, die sich seit Tagen, vielleicht schon seit Monaten und Jahren in ihm angesammelt hatte, in diesem Moment hervorbrechen wollte. Niklas saß schweigend neben ihm.
Jan sah sich in Gedanken, wie er Niklas den Vorschlag unterbreitete, ihn zu bestrafen: „Wenn ich dir wirklich weh getan habe, dann bestraf mich dafür.“
„Ich finde allerdings auch, dass du eine Strafe verdient hast“, antwortete Niklas und holte die Handschellen.
„Nimm die Hände auf den Rücken“, befahl er ihm. „Zur Strafe musst du heute gefesselt schlafen.“
Jan nahm seine Hände auf den Rücken und hörte die Handschellen klicken. Jetzt würde alles wieder gut werden, dachte er, die Strafe machte alles wieder ungeschehen.
„Jetzt beruhig dich doch wieder“, hörte er Niklas sagen und die Stimme klang wirklich ziemlich hilflos, fast schon verzweifelt.
Jan hatte immer noch sein Gesicht in seinen Händen vergraben und heulte. Nach kurzer Zeit gelang es ihm dann doch, sich wieder zu beruhigen. Er legte seinen Arm um Niklas und flüsterte ihm ein „Danke“ ins Ohr.
Am Liebsten hätte er tatsächlich das mit der Strafe vorgeschlagen, aber er traute sich nicht. Er fühlte sich außerdem richtig erschöpft; das war ein ganz schön anstrengender Tag.
„Zieh dich aus“, sagte Niklas mit einer sanften Stimme. „Dann kuscheln wir noch ein bisschen, ok?“
Jan sah in Niklas Gesicht dieses Lächeln, das in der Lage war, ihn wieder mit allem zu versöhnen. Er stand auf und während er sich auszog, sagte Niklas: „Ich möchte, dass du mir versprichst, ehrlich zu sein, egal, was passiert. Versprichst du mir das?“
Jan nickte und legte sich unter die Bettdecke. Niklas zog sich auch aus und legte sich neben Jan. Er streichelte ihm die Wangen und sagte: „Eigentlich hast du es verdient, bestraft zu werden.“
Jan war wirklich verblüfft, so etwas zu hören, und dachte angestrengt darüber nach, wie er Niklas in diesem Gedanken bestärken konnte. Aber er war einfach zu müde und zu erschöpft, um sich auf eine Bestrafung einzulassen. Stattdessen schlief er ein, während Niklas ihn streichelte.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sich Jan richtig verkatert. Und das, obwohl er keinen Alkohol getrunken hatte, was inzwischen nicht mehr die Regel war. Er trank meistens am Abend Bier oder Wein; nicht viel, aber dafür recht häufig.
Den Abend zuvor hatte er gar nichts getrunken, aber er fühlte sich, als wenn er richtig viel getrunken hätte. Niklas schlief noch, doch als Jan aufstehen wollte, hielt er ihn fest und sagte,
„Halt, hier geblieben. Gestern Abend bist du gleich eingeschlafen, bevor ich auf meine Kosten kommen konnte. Das müssen wir jetzt nachholen.“
„Ich muss pinkeln; ich komme aber gleich wieder, ok?“
„Ok.“
Als sich Jan wieder neben Niklas ins Bett legte, bemerkte er, dass Niklas Schwanz richtig erigiert war. „steif“.
„Wo waren wir gestern Abend stehen geblieben?“, fragte er.
„Du wolltest mich bestrafen“, antwortete Jan.
„Ja“, sagte Niklas. „Zur Strafe musst du dich jetzt auf Sex mit mir einlassen.“
Dabei grinste er. Dann fing er an, Jan durch zu kitzeln und saß gleich darauf auf ihm, wobei er ihm die Hände festhielt und über dem Kopf auf das Bett drückte. Jan spürte, wie sein Schwanz dabei steif wurde und an Niklas Pobacke drückte.
„Vielleicht sollte ich dir dabei auch die Handschellen anlegen“, flüsterte Niklas.
Der Druck, den Jan zwischen seinen Beinen spürte, wurde immer stärker. Doch Niklas beließ es bei der Ankündigung und legte Jan doch nicht die Handschellen an.
Dennoch war der Sex diesmal ausgesprochen schön und erhielt den höchsten Platz auf Jans Fieberkurve. Als er danach neben Niklas lag und vor sich hinträumte, fühlte sich Jan so gut wie schon lange nicht mehr. Niklas war wirklich sein Zuhause, dachte er sich, allen Schwierigkeiten zum Trotz.
In der folgenden Zeit versuchte Jan immer wieder vergeblich, Max anzutreffen. Doch er schien sehr oft unterwegs zu sein, nicht nur tagsüber an der Uni, sondern auch abends. Dass Max ihn auch nicht zurückrief, enttäuschte ihn und machte ihn auch traurig.
Schließlich hatte er ihn tatsächlich am Telefon, an einem Sonntagnachmittag. Max sagte, dass er auch ein paar Mal versucht hatte, Jan zu erreichen und den einen oder anderen Bauwagenplatzbewohner gebeten hatte, eine Nachricht zu hinterlassen. Bei Jan aber war nichts angekommen. Vielleicht waren seine Mitbewohner tatsächlich verärgert und schrieben deswegen auch keine Nachrichten mehr für ihn auf.
Es war ein ausgesprochen warmer Sonntag und Max schlug vor, zusammen zu einem Flohmarkt zu gehen.
„Das ist auch nicht weit von hier; da können wir hin laufen.“
Jan sollte ihn abholen.
Als er in die Wohnung kam, standen Max und Ingve im Flur.
„Ingve möchte mitkommen; das ist doch in Ordnung, oder?“, fragte Max.
Jan war nicht nur erstaunt, dass Ingve, der ja eigentlich nur zu Besuch war, immer noch da war. Viel mehr erstaunte ihn, dass Max und Ingve genau die gleiche Kleidung trugen, die gleiche Jeans und das gleiche T-Shirt; beide in blau. Obendrein hatte Max jetzt längere Haare und somit auch fast die gleiche Frisur wie Ingve.
Sie waren definitiv nicht mehr auseinander zu halten. Wenn Max nicht gesprochen hätte, wäre es Jan nicht möglich gewesen zu unterscheiden, wer von den beiden Max und wer Ingve war.
„Ja, natürlich kann Ingve mitkommen“, antwortete er.
Auf dem Weg zum Flohmarkt erzählte Max, dass ihm das Studium sehr gefiel.
„Es ist viel besser, etwas zu tun zu haben, als immer nur rumzuhängen“, sagte er.
Dabei übersetzte er alle zwei bis drei Sätze seine Berichte für Ingve.
Als er sagte, dass Ingve sich entschieden hätte, erst einmal in Deutschland zu bleiben, zuckte Jan zusammen. Irgendwie gefiel ihm das gar nicht, vor allen Dingen auch nicht die Aussicht, Max nur noch quasi doppelt mitzubekommen. Ingve ergänzte Max Erzählungen, indem er sagte, dass er vorhatte, Germanistik zu studieren.
Er demonstrierte auch, dass er inzwischen ein paar Worte deutsch gelernt hatte und sogar „Maximilian“ richtig aussprechen konnte. Jan war bereits aufgefallen, dass Ingve inzwischen Max wie „Max“ und nicht mehr wie „Mäx“ aussprach.
Er fühlte sich nach kurzer Zeit aus diesem Gespräch, in dem es nur ums Studieren ging, ziemlich ausgeschlossen. Es gefiel ihm mittlerweile überhaupt nicht, mit Max und Ingve unterwegs zu sein. Max hatte sich deutlich verändert; er war ganz anders als Jan ihn kennen gelernt hatte.
Jan versuchte, genau zu benennen, was anders war an Max; es war ihm aber nicht möglich. War es lediglich deswegen, weil er doppelt vorhanden war und sich Jan dadurch zu sehr irritieren ließ? Oder hatte es auch damit zu tun, dass es nicht mehr Winter war und Max T-Shirt statt Kapuze trug? Jan konnte sich diese Fragen nicht beantworten. Klar war nur, dass er sich in dieser Situation sehr unwohl fühlte, zusammen mit Ingve und Max.
Auf dem Flohmarkt unterhielten sich die beiden in einer Weise miteinander, dass Jan überhaupt nicht mehr mitreden konnte und sich endgültig ausgeschlossen fühlte. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass sie fast an jedem Stand, an dem sie stehen blieben, Bemerkungen über ihr identisches Aussehen zu hören bekamen.
Nachdem er einige Zeit lang schweigend neben den beiden her gegangen war, beschloss er, den Ausflug zu beenden und sagte,
„Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Jetzt schon?“, antwortete Max. „Nein, lass uns noch einen Kaffee trinken gehen.“
Er schlug ein Schwulencafe in der Nähe vor.
In dem Cafe fragte Ingve: „And you, what are you studying?“
Max antwortete an Jans Stelle: „Jan isn’t studying; you know that. We already talked about it.“
„Oh yes I remember. You don’t like schooling and working and stuff like that“, sagte Ingve und fing an zu lachen.
Max erklärte, dass er auch der Meinung war, dass Jan wenigstens eine Berufsausbildung machen sollte und dass er ja trotzdem Punk bleiben konnte. Jan mochte diese Diskussion nicht und antwortete nur ausweichend. Schließlich hatten sie ihren Kaffee ausgetrunken und brachen danach gleich auf.
Als sie sich verabschiedeten, sagte Max, dass er es sehr schön fand, mit Jan und Ingve etwas zu unternehmen. Jan sah den beiden noch einen Moment nach, bis er zu seinem Bauwagen ging. Dort legte er sich auf das Bett und dachte über die beiden Max nach, die sich mehr für sich als für ihn zu interessieren schienen.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Jan nahm im Halbschlaf den Hörer ab. „Hallo?“
„Hallo?“, klang es aus dem Telefonhörer. „Ist da Jan?“
„Ja.“
„Du wirst dich bestimmt nicht daran erinnern, aber wir haben uns mal getroffen, vor ziemlich langer Zeit.“
Jan fand, dass die Stimme sehr angenehm, vor allen Dingen auch so merkwürdig vertraut klang.
„Ah ja?“ fragte er. „Und wer bist du?“
„Jan.“
„Jan?“
War es der Jan, in den Jan während seiner Abiturzeit verliebt gewesen war? Nein, der war es bestimmt nicht, die Stimme passte nicht einmal annähernd. Aber um welchen Jan konnte es sich sonst handeln?
„Das hilft dir bestimmt nicht, dich an mich erinnern. Aber, wenn du mich siehst, dann weißt du sofort, wer ich bin. Vielleicht komme ich am Besten zu dir. Ich finde ohnehin, wir sollten uns unbedingt wieder treffen.“
Jan fühlte sich richtig verunsichert über diesen eigenartigen Anruf. Aber es war auch klar, dass er erfahren musste, was dahinter steckte. Er hatte sogar das Gefühl, dass es etwas sehr Bedeutsames auf sich hatte mit diesem Anrufer, der vorgab, Jan zu heißen, und so eine sympathische, ja vertraute Stimme hatte.
„Ja, in Ordnung. Wann kommst du?“
„In zehn Minuten kann ich bei dir sein; ist das ok?“
„Ja, ok.“
Jan legte den Hörer auf und sprang aus dem Bett. Es war sehr kalt in dem Bauwagen, sodass er sich einen weiteren Pullover unter seinen Kapuzenpullover zog und sich die Kapuze aufsetzte. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass der diesem Jan gar nicht gesagt hatte, wo er wohnte. Woher wusste er das?
Jan kam aber gar nicht dazu, sich viele Gedanken dazu zu machen, bevor es an der Tür klopfte, so schnell waren die zehn Minuten vergangen.
Als er öffnete blickte er in ein Gesicht, das ihm sehr vertraut war; es war sein eigenes Gesicht. Es war obendrein eingerahmt von einer Fellkapuze, unter der eine hellbraune Mütze zu sehen war.
Ja, das musste er sein, der, den er schon seit seiner Kindheit gesucht hatte. Da war er also, dachte er, sein Zwillingsbruder, jetzt endlich hatte er ihn gefunden. Er hatte es schon immer gewusst, dass es ihn geben musste, ihn, Jan.
Er hatte einen Parka an, genau so einen, wie er ihn früher hatte, mit einer Mütze unter der Kapuze, die aussah wie die, die er damals zusammen mit seinem Parka bekommen hatte.
„Darf ich reinkommen?“, fragte er und Jan ging einen Schritt zur Seite.
Nachdem Jan den Parka und die Mütze ausgezogen hatte, war es unübersehbar: Er sah genauso aus wie Jan; sie waren identisch.
„Du wusstest nicht, dass du einen Zwillingsbruder hast, nicht wahr? Ich habe es auch erst vor ein paar Wochen erfahren, und mich dann auf die Suche gemacht.“
„Nein, ich wusste es nicht“, antwortete Jan. „Aber geahnt habe ich es. Ich habe immer wieder davon geträumt, dich zu treffen.“
Plötzlich sagte Jans wiedergefundener Zwillingsbruder: „Johannes. So heißt du doch in Wirklichkeit, stimmts? Jan ist ja mein Name.“
„Ich mag Johannes als Namen aber nicht“, antwortete Jan. „Vielleicht können wir ja beide Jan heißen?“
„In Ordnung“, sagte der echte Jan, der nicht Jan war, nach einer Pause. „Aber, wenn ich mit dir meinen Namen teile, was teilst du dann mit mir?“
In diesem Moment schreckte Jan auf und saß schweißgebadet auf seinem Bett. Er schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass er gerade geträumt hatte und nicht etwa ein Zwillingsbruder von ihm im Bauwagen war. Er brauchte eine Weile, bis er wieder das Gefühl hatte, aus dem Traum erlöst und in der „realen“ Welt wieder angekommen zu sein.
Wie funktioniert das mit dem Sex?
Inzwischen war richtig Sommer geworden. Jan hatte sich seit der Flohmarkt-Verabredung nicht mehr mit Max getroffen. Sie hatten allerdings ein paar Mal telefoniert; zwei Mal, um genau zu sein. Max erzählte im Wesentlichen von seinen Erlebnissen mit Ingve und davon, wie glücklich er war; die Semesterferien hatten begonnen, sodass die beiden viel Zeit miteinander verbringen konnten.
Jan schlug dabei keine Treffen vor, aber er hoffte, dass Max den Wunsch äußerte, ihn zu sehen. Doch Max machte keine Vorschläge und so blieb es bei den Telefonaten. Jan war hin- und hergerissen, auf der einen Seite Max gerne wieder sehen zu wollen, auf der anderen aber nicht noch einmal so ein Erlebnis mit den zwei Max zu haben, wie zuletzt, als sie zusammen auf dem Flohmarkt waren.
Obendrein fühlte er sich gerade mit Niklas sehr gut; wirklich gut. Er war nur noch selten in seinem Bauwagen, weil er sich fast nur noch in Niklas WG aufhielt. Sie war inzwischen gänzlich sein neues Zuhause geworden.
Dass er dort kein eigenes Zimmer hatte, störte ihn nicht. Zum einen waren Niklas und er viel unterwegs und zum anderen waren auch Niklas Mitbewohner wirklich nett und umgänglich.
Sie wohnten zu viert in der Wohnung, das heißt mit Jan eigentlich zu fünft; näheren Kontakt hatten Jan und Niklas allerdings nur zu einem der Mitbewohner, zu Peter. Oft unternahmen sie zu dritt etwas, gingen etwa zusammen ins Freibad oder zu einer Demonstration, bastelten Transparente oder diskutierten einfach nur über politische und philosophische Themen.
Am schönsten aber waren die Tage, an denen Jan nur mit Niklas zusammen war. Dann kuschelten sie oft ausgiebig, was jedes Mal in Jans „Fieberkurve“ durch eine hohe Bewertung festgehalten wurde.
Am spannendsten war es, wenn Niklas ihn festhielt oder zum Spaß androhte, ihn festzubinden, was er allerdings nie getan hatte. Niklas Lächeln, seine Stimme, wenn er sagte: „Ich mag dich so wie du bist“, meistens nachdem er gesagt hatte, dass er ihn ziemlich verrückt fand. Das vermochte Jan wie nichts anderes mit der Welt zu versöhnen.
Er war überzeugt, dass es ein Glücksfall war, Niklas kennen gelernt zu haben. Auch wenn Niklas weder mit Kapuzen noch mit Fesselungen etwas anfangen konnte; das war wirklich zweitrangig.
Einer der wenigen Anlässe, zu denen Jan sich noch in seinem Bauwagen aufhielt, waren seine Fesselungsexperimente. Er hatte sich damit abgefunden, dass Niklas wohl keinen Gefallen daran finden konnte, ihn zu fesseln.
Um dennoch ab und zu in den Genuss dieser angenehmen und entspannenden Gefühle zu kommen, schloss er sich in seinem Bauwagen ein und fesselte sich mit seinen Handschellen selbst. Damit hatte Jan erst vor einigen Wochen begonnen und er tat es seitdem vielleicht einmal in ein bis zwei Wochen. Es tat ihm sehr gut.
Bei ersten Mal hatte er sich einfach nur die Handschellen auf dem Rücken angelegt und verbrachte so, mit den Händen auf dem Rücken, gut drei Stunden im Bauwagen. Anschließend übernachtete er auch im Bauwagen, damit Niklas nicht die Abdrücke an seinen Handgelenken sah.
Bereits für das nächste Mal hatte er sich Ketten und Karabinerhaken besorgt, damit er sich noch mehr fesseln konnte. Er kettete sich seine Beine zusammen und auch noch an einem Stuhl fest, damit er nicht mehr aufstehen konnte. Und dann wieder die Hände auf den Rücken, wobei die Handschellen zusätzlich mit einem Karabinerhaken am Stuhl befestigt waren. Es fühlte sich wirklich gut an.
Jan dachte, dass Fesselungen und Sex vielleicht doch so unterschiedliche Dinge waren, dass es gar nicht passte, beides miteinander zu vermischen. Sehr wahrscheinlich war diese Form der Selbstfesselung die angemessenste Art und Weise, sich die ersehnten Gefühle zu verschaffen.
Als er sich - wiederum nach längerer Zeit - wieder befreien wollte, merkte er, dass es deutlich schwieriger war, als sich nur aus den Handschellen zu befreien. Die Handschellen zu öffnen, auch mit den Händen auf dem Rücken, darin war er routiniert. Aber so, auf dem Stuhl fest gekettet, war es etwas anderes, obwohl er mit seinen Händen kaum weniger Bewegungsspielraum hatte als sonst. Irgendwie machte sich dabei bemerkbar, dass in seinem Körper viel mehr Spannung war als sonst.
Er brauchte etliche Anläufe, bis es ihm gelang, seine Hände zu befreien. Bis dahin hatte er dabei zwei Mal ejakuliert und sich die Handgelenke richtig wund gescheuert.
Üblicherweise kam es aber bei den Fesselungen nicht zu einem Samenerguss. Es war vielmehr so, dass Jan einfach nur die Gefühle beobachtete und genoss, die durch seinen Körper fluteten, während er gefesselt war. Danach empfand er eine unglaublich tiefe Entspannung, die meistens noch mehrere Tage spürbar anhielt.
Was dabei aber ein besonderer Reiz war, war das Risiko, sich nicht mehr selbst befreien zu können. Jan plante seine Fesselungen immer so, dass es gerade noch möglich war; dass sein Bewegungsspielraum es gerade noch zuließ, den Schlüssel zu greifen und die Handschellen zu öffnen.
Die Befreiung aus der Fesselung war daher ein sehr spannender Teil der Übung. Manchmal sogar ein richtig aufregender, wenn Jan mehrere Versuche benötigte und befürchten musste, sich gar nicht mehr befreien zu können. Dann entlud sich die Spannung in der Regel in einer Ejakulation.
Jan mochte das Wort „ejakulieren“ immer noch; viel lieber als „abspritzen“ beispielsweise.
Diesmal hatte er die Idee gehabt, Niklas Handschellen mitzunehmen. Er hatte noch keinen genauen Plan, wie er sich fesseln wollte, aber es gab die Entscheidung, diesmal etwas anderes auszuprobieren, als die Hände auf dem Rücken zu haben.
Auf dem Weg zum Bauwagen fiel ihm ein, wie er - da war er noch ein Kind - von seinem Freund Kay an den Pfosten in der Grotte gestellt wurde, wie ihm dabei die Hände rechts und links neben seinem Kopf an einem Balken festgebunden waren. Und wie er sich fühlte, als Kay ihn einmal fast einen halben Tag lang so stehen ließ.
Es war, wie wenn es erst vor ein paar Tagen geschehen war; bis auf Kays Gesicht, an das konnte er sich nicht erinnern. Das war doch eine gute Idee, dachte er sich, und als er ankam, hatte bereits einen Plan im Kopf, wie er so eine Fesselung in seinem Bauwagen realisieren konnte.
Der hatte, wie sich schnell herausstellte, die optimale Breite dafür, sodass Jan nur noch zwei Haken an die Wände schrauben musste, um die Handschellen daran zu befestigen.
Entscheidend war dabei, dass er den Schlüssel so deponierte, dass er ihn mit dem Mund erreichen konnte, während seine Hände an die jeweils gegenüberliegenden Wände gefesselt waren. Dann musste er natürlich noch eine der beiden Handschellen mit dem Schlüssel im Mund öffnen können.
Er bemaß alles so, dass dies gerade noch möglich war und übte vorher, die Handschellen mit dem Mund zu öffnen; das war gar nicht so einfach. Dann schloss er zuerst seine linke Hand an die dafür vorgesehenen Handschellen und legte seine Rechte in die andere, um sie dann an der Wand zuzudrücken.
Gleich darauf machte sich ein wohliges, beruhigendes Gefühl in seinem Körper breit. Jan schloss die Augen und sah Kay vor ihm stehen, der sagte. „Wenn dir langweilig ist, kannst du dir ja einen runterholen“, bevor er sich umdrehte und ging.
Jan fiel auf, dass Kays Gesicht vollkommen unscharf war, während seine Stimme dagegen deutlich zu hören war. An die Stimme konnte er sich erstaunlich gut erinnern, obwohl diese Geschichte mit Kay wirklich sehr lange her gewesen war; Jan konnte sich noch nicht einmal erinnern, wie lange, es waren auf jeden Fall deutlich mehr als zehn Jahre.
Nachdem er einige Zeit lang vor sich hin geträumt hatte, wurden ihm zunehmend die Arme schwer.
Die Entfesselung stellte sich als ein fast unmögliches Unterfangen heraus. Jan war schon kurz davor, aufzugeben und um Hilfe zu rufen. Schließlich gelang es ihm, den Schlüssel mit dem Mund in das Handschellenschloss zu bugsieren und herum zu drehen.
Erschöpft von dieser Anspannung und einigen Samenergüssen, ließ er sich danach gleich auf sein Bett fallen. Bevor er einschlief, träumte er von dem kleinen Johannes, der in einem dunklen, unterirdischen Keller an einem Balken festgebunden war.
Jan war gerade auf dem Weg zu seinem Bauwagen und lief am Küchenwagen vorbei, als einer seiner Mitbewohner auf dem Platz ihn rief: „Jan, Telefon für dich.“
Jan dachte sofort, dass es Max sein musste, und wunderte sich aber auch über diesen Gedanken. Max hatte er schon lange nicht mehr gesehen oder gesprochen.
„Hi Jan“, sagte er. „Wir haben ja wirklich schon lange nichts mehr voneinander gehört.“
„Über zwei Monate“, antwortete Jan. „Und gesehen haben wir uns das letzte Mal im April oder Anfang Mai; da kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern.“
„Ja, tut mir leid.“
„Da braucht dir nichts leid tun“, entgegnete Jan.
Er fühlte sich gerade außergewöhnlich gut. Max sagte, dass er ihn gerne wieder einmal sehen wollte und lud Jan zum Essen ein.
„Aber ohne Ingve“, sagte Jan.
„Wieso? Hast du etwas gegen ihn?“
Jan erklärte, dass er gerne mit Max etwas alleine unternehmen wollte. Max schlug dann den kommenden Samstagabend vor. Da hatte ein Freund der WG eine Geburtstagsfeier, zu der alle gingen - auch Ingve.
Als Jan an diesem Samstag bei Max ankam, waren seine Mitbewohner noch alle da. Max sagte ihm aber gleich, dass sie demnächst aufbrechen würden.
Max Haare waren inzwischen genauso lang wie Ingves; sie sahen beide wieder völlig gleich aus und trugen die gleichen Sachen. Sie hatten beide ein Hemd an, das Jan an Max noch nie gesehen hatte.
Eigenartigerweise fand er, dass es gut zu Ingve passte, aber gar nicht zu Max; abgesehen davon, dass Jan generell Hemden eigentlich nicht mochte. Objektiv betrachtet sahen aber beide absolut gleich damit aus; es musste also auch gleich gut oder schlecht zu beiden passen.
Ingve sprach mittlerweile ein wenig deutsch und begrüßte Jan mit „Hi Jan, wie gehts dir?“
Der skandinavische Akzent machte ihn irgendwie sehr sympathisch, fand Jan. Vielleicht war Ingve sozusagen der bessere - oder besser passende - Max? Sollte Jan vielleicht eher Ingve kennen lernen als die Zeit mit Max zu verbringen? Jan war ziemlich irritiert darüber, dass ihm solche Gedanken in den Sinn kamen.
„Komm mit in mein Zimmer“, sagte Max. „Ich hab da was Leckeres, als Aperitif.“
Er schloss die Tür, nachdem ihm Jan in sein Zimmer gefolgt war. Jan setzte sich auf Max Bett und sah Max zu, wie er eine Flasche Sherry und zwei Gläser aus dem Schrank holte.
„Dry“, sagte er, bevor er die Flasche öffnete.
„Dry“, echote Max Stimme immer wieder in Jans Kopf, während Max den Sherry einschenkte und sich neben Jan auf das Bett setzte.
Sie saßen schweigend nebeneinander und tranken den Sherry, der wirklich sehr gut war. Nachdem sie lange Zeit auf dem Bett saßen und ihre Sherrygläser ansahen - Max hatte mittlerweile schon einmal nachgeschenkt - hörten sie, wie Max Mitbewohner endlich die Wohnung verließen.
Ingve klopfte, schaute in das Zimmer und sagte „Tsüß.“ Das hörte sich ausgesprochen komisch an. Dann hörten sie, wie die Wohnungstür sich schloss.
„Er ist wirklich süß, nicht?“, sagte Max und Jan fing an zu lachen, wobei er Ingve nachmachte. „Tsüß“.
Max lachte auch und mit einem Mal, ganz plötzlich fühlte es sich für Jan richtig vertraut an, neben Max zu sitzen. Jan legte seinen Arm um Max Hüfte und berührte mit seinem Gesicht Max Haare, die wirklich ungewöhnlich lang waren. Sie gingen Max bis über die Ohren und Jan fand, dass es nicht zu Max passte, genauso wenig wie das Hemd; kurze Haare und Kapuzenpullover standen ihm eindeutig besser.
„Gehen wir in die Küche“, sagte Max. „Ich habe schon Hunger.“
Auf dem Weg in die Küche spürte Jan schon deutlich die zwei Gläser Sherry, die er getrunken hatte. Max hatte die Flasche mitgenommen und in der Küche ein drittes Mal nachgeschenkt. Er hatte sich aus einem Rezeptbuch ein Fischgericht ausgesucht.
Jan mochte Fisch ja überhaupt nicht, aber er konnte ihn essen und entschied sich, nichts deswegen zu sagen. Der Fisch war glücklicherweise schon bratfertig zubereitet und hatte weder Kopf noch Flossen.
Zum Essen öffnete Max eine Flasche Weißwein. Er erzählte von seinem Studium und davon, dass er zwei Wochen lang bei seinen Eltern war. Jan erzählte, dass er den Job, den er seit fast zwei Jahren hatte, gekündigt hatte und demnächst seinen Zivildienst beginnen würde.
Plötzlich fragte Max. „Und dir geht es wirklich gut?“
Jan konnte das wirklich so sagen. Er verschwieg auch nicht, dass er sich gerade sehr gut mit Niklas verstand und in der Beziehung richtig gut fühlte.
„Das ist ja schön“, sagte Max. „Ich fühle mich mit Ingve auch richtig gut; das ist wie ein neues Leben, wirklich. Es ist doch schön, dass wir beide jeweils einen guten Weg für uns gefunden haben, nicht?“
Ja, Jan fand es eigentlich auch schön. Max hatte recht; für eine richtige Beziehung waren sie wirklich zu verschieden. Außerdem war auch völlig klar, dass Jan für ihn unmöglich den Zwillingsbruder spielen konnte. Da war Ingve eindeutig im Vorteil.
„Und der Sex?“, fragte Max.
„Der Sex? Was meinst du damit?“
„Na ja, so die Probleme, die du da hast; klappt das mit Niklas?“
„Ich habe keine Probleme mit Sex“, erwiderte Jan. „Das funktioniert bei mir halt ein bisschen anders. Das hat mit Problemen nichts zu tun.“
„Ach so“, sagte Max. „Na ja, ich meinte auch eher das mit dem schwulen Sex; mit dem richtigen Sex.“
„Niklas und ich kommen ganz gut damit klar.“
Das stimmte so uneingeschränkt zwar nicht, aber Jan wollte nicht, dass Max ihn als jemanden einordnete, der Probleme mit Sex hatte. Er fühlte sich auch nicht so; seine Sexualität funktionierte einfach nur anders als bei vielen anderen. Das war auch alles.
„Sex mit Ingve ist wirklich großartig“, sagte Max. „Es spielt doch eine wichtige Rolle, mit wem man es versucht. Ingve und ich haben so ein unglaublich gutes Gespür füreinander. Es ist faszinierend; es ist, wie wenn wir wirklich Zwillinge wären.“
Jan trank den Rest aus seinem Weinglas und fragte Max, ob er nicht noch eine Flasche hatte. Max hatte natürlich noch eine, die er auch gleich holte und öffnete.
„Ihr liebt euch wirklich, ihr beiden, nicht wahr?“, sagte Jan und Max antwortete „Ja. Ich kann es gar nicht beschreiben.“
„Nur mit den Kapuzen hat er es nicht so, habe ich den Eindruck“, entgegnete Jan.
Ihm fiel auf, dass er inzwischen so betrunken war, dass er Mühe hatte, sich deutlich zu artikulieren.
Max lachte. „Jetzt ist es ohnehin zu warm für Kapuzen. Und außerdem habe ich dafür ja dich.“
Jan trank noch einen Schluck von dem Wein und fühlte sich danach endgültig zu betrunken, um das Gespräch weiter zu führen. Es war höchste Zeit zu gehen.
„Ja, du hast recht“, sagte Max. „Ich muss jetzt auch dringend ins Bett.“
Als Jan aufstand, bemerkte er erst, wie betrunken er war. Er musste sich am Tisch festhalten, um nicht umzukippen und setzte sich dann lieber wieder.
„Bist du sicher, dass du jetzt noch nach Hause kommst?“, fragte Max.
„Nein, ich glaube nicht; ich habe doch zu viel getrunken.“
Max half Jan, in sein Zimmer zu kommen, und ließ ihn in sein Bett sinken. Jan blieb liegen, ohne sich auszuziehen; er bemerkte noch, dass Max sich auch nicht ausgezogen hatte, als er sich neben ihn legte, und schlief dann gleich ein.
Als Jan am nächsten Morgen aufwachte, lag er alleine in Max Bett. Er hatte ziemlich starke Kopfschmerzen und fühlte sich auch sonst richtig verkatert. Max öffnete vorsichtig die Tür und setzte sich zu ihm,
„Gehts dir gut?“
„Nein, überhaupt nicht.“
„Ich habe auch einen Kater“, sagte Max. „Aber jetzt geht das wieder. Ich bring dir eine Aspirin.“
Dann ging er und kam mit einem Glas Wasser wieder. Jan nahm gleich zwei Tabletten; dass Max seinen Kopf in die Hand nahm und abstützte, während er die Aspirin einnahm, tat ihm richtig gut.
„Wir frühstücken gleich“, sagte Max. „Meinst du, du bist in der Lage aufzustehen?“
Jan versuchte zu lachen und sagte. „Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht. Gib mir noch zehn Minuten, ok?“
Max war richtig bunt angezogen; er trug seine Designerjeans und ein rotes T-Shirt.
Als Jan in die Küche kam, saßen schon alle am Tisch. Es war das erste Mal, dass Jan alle Mitbewohner von Max auf einmal sah. Ingve saß zwischen Max und Heiko und hatte wie Max eine blaue Jeans und ein rotes T-Shirt an.
Jan fragte sich, ob Ingve und Heiko immer noch eine Beziehung miteinander hatten, oder ob Ingve schon ganz zu Max gewechselt war. Ingve schien sich auf jeden Fall wohl zu fühlen, seinen verliebten Zwilling auf der einen und seinen Partner, oder vielleicht auch ehemaligen Partner, auf der anderen Seite zu haben.
Nach dem Frühstück ging Jan zu seinem Bauwagen und legte sich dort noch einmal ins Bett. Die Kopfschmerzen waren dank der Aspirin einigermaßen abgeklungen, aber gut fühlte er sich dennoch nicht.
Während er auf dem Bett lag, überlegte er sich, was Max wohl unter „richtigem Sex“ verstand. Klar war auf jeden Fall, dass es weder mit Kapuzen noch mit Fesselungen zu tun haben konnte. Er fragte sich, ob Max und Ingve wohl das praktizierten, was er in der Schule als „Geschlechtsverkehr“ kennen gelernt hatte und wer von den beiden dabei wohl welche Rolle spielte.
Während er versuchte, sich Max und Ingve beim Sex vorzustellen, spürte er zwischen seinen Beinen den stechenden Schmerz, der immer dann auftrat, wenn seine Vorhaut zu sehr zurückgezogen wurde.
Obwohl so etwas erst zwei Mal passiert war, genügte es offenbar, bei Jan einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen; so nachhaltig, dass der Gedanke daran schon genügte, das Schmerzerlebnis mit aller Deutlichkeit in Erinnerung zu rufen.
Jan empfand den Umstand, dass Max im Gegensatz zu ihm durchaus in der Lage war. „richtigen“ schwulen Sex zu praktizieren, als etwas, was sich zwischen ihn und Max stellte. Dennoch ließ es sich nicht verbergen, dass Max in ihm einiges ansprach, was ansonsten nicht in Jans Leben aufgetaucht war.
Am Nachmittag fühlte er sich wieder deutlich besser und entschied sich, zu Niklas zu gehen. Die Geborgenheit, die er in Niklas Gegenwart spürte, bedeutete ihm wirklich viel, mehr als alles andere.
Die folgende Zeit musste Jan täglich an Max denken, und nach etwa zwei Wochen rief er ihn an, um sich mit ihm zu verabreden.
Max war alleine zu Hause und schlug vor, zusammen spazieren zu gehen. Er hatte Ingves blau-rotes Kapuzenshirt an.
„Den hat mir Ingve geschenkt“, sagte Max und zog dabei die Kapuze über seinen Kopf,
„Er trägt ihn sowieso nicht.“
Jan fand, dass Max darin gut aussah; vor allen Dingen mit der Kapuze auf dem Kopf. Im Vergleich zu ihrem letzten Treffen wirkte Max deutlich distanzierter. Er redete nicht sehr viel, was es schwierig machte, ein Gespräch aufkommen zu lassen.
„Und mit Ingve ist es immer noch gut?“, fragte Jan.
„Ja, super. Er ist wirklich ein großartiger Mensch, wirklich. Du solltest ihn eigentlich auch mal besser kennen lernen. Dann wirst du mich richtig beneiden.“
„Ich wäre ja mit einem Max schon zufrieden“, antwortete Jan.
Max schwieg dazu. Nach einer Weile erzählte er, dass sich Ingve in Deutschland inzwischen richtig heimisch fühlte und dass sie geplant hätten, zusammen nach Norwegen zu fahren noch bevor das Semester wieder losging.
„Und von deinem Mitbewohner hat sich Ingve getrennt?“, fragte Jan schließlich.
Das ging ihm ja immer wieder durch den Kopf, wie das funktionierte mit diesem Dreiecksverhältnis. Max reagierte ausweichend und sagte, dass er darüber nicht reden wollte.
„Das ist nicht so einfach“, sagte er dann.
Noch bevor sie den Platz am Spreeufer erreicht hatten, den Max-Platz, sagte Max, dass er sich nicht „gesellschaftsfähig“ fühlte, wie er sich ausdrückte.
„Es ist das Beste, wenn ich wieder nach Hause gehe. Ich hoffe, du bist mir deswegen nicht böse - es hat nichts mit dir zu tun.“
Zum Abschied gab Max Jan noch einen Kuss; das hatte er bis dahin noch nie getan.
Immer wieder musste Jan an das Thema Sex denken, daran, dass es scheinbar unmöglich war, so wie er keinen richtigen Sex zu können. Niklas und Max und auch seine frühere Liebe, Jan, hatten ja vergleichsweise viel Verständnis für die Art und Weise, wie seine Sexualität funktionierte.
Aber dennoch war deutlich zu spüren, dass sie es nur schwer nachvollziehen konnten. Sie ließen sich darauf ein, weil sie andere Gründe hatten, sich auf Jan einzulassen, und das mit dem Sex dafür in Kauf nahmen.
Zu „normalen“ Schwulen war dagegen die Distanz, die durch die unterschiedlichen Sexualitäten entstand, definitiv unüberbrückbar.
Jans Erfahrung war, dass es noch nicht einmal möglich war, sich darüber zu verständigen. Selbst, wenn es ihm gelungen war zu sagen, dass „das mit dem Sex“ bei ihm anders funktionierte, war dann dennoch die Überraschung groß, wie anders seine Sexualität war. Meistens gelang es nicht und es wurde gar nicht erst verstanden.
Dafür stand fast schon paradigmatisch das Wort „Phimose“, welches als eine der wenigen Brücken zur Verständigung in der Regel auch schon nicht verstanden wurde. Jan dachte auch oft darüber nach, dass er eigentlich gut auch auf Sex verzichten konnte. Zumindest auf das, was von scheinbar fast allen als Sexualität empfunden wurde.
Ihm würde es vollkommen genügen, ab und zu gefesselt zu sein, oder auch mit jemandem wie Max im Winter Spaziergänge zu unternehmen - mit Kapuze auf dem Kopf.
Der einzige Grund, warum er sich auf Sex einließ, war sein Wunsch, mit anderen Schwulen in Kontakt zu kommen. Folgerichtig war Niklas auch der einzige, mit dem er Sexualität praktizierte, seit sie eine Beziehung hatten.
Mit solchen Gedanken saß Jan schon eine ganze Weile auf dem Bett in seinem Bauwagen.
Er war eigentlich gekommen, sich selbst zu fesseln und dabei zu entspannen, so wie es inzwischen zu einer Routine geworden war. Doch seine Gedanken hinderten ihn gerade daran, sich auf Fesselungen einzulassen. Schließlich entschied er sich, sich wenigstens die Handschellen anzulegen - mit den Händen auf dem Rücken.
Während er in Handschellen auf dem Stuhl saß, kam ihm der Gedanke, dass er sich tatsächlich danach sehnte, jemanden zu treffen, der wie er war, genauso wie er. So wie Max und Ingve. Das war eine Sehnsucht, die ihn sein Leben lang verfolgte.
Er überlegte sich, wie es wohl mit so einem zweiten Jan, der natürlich anders als er selbst ein echter Jan war, sein würde, was den Sex anging. Er träumte, wie er sich selbst begegnete, wie sein zweites Ich zu ihm sagte,
„Hallo Jan; endlich habe ich dich gefunden, nach so langer Zeit. Jetzt werde ich dich nicht mehr gehen lassen.“
Dabei zog er die Handschellen aus seiner Jackentasche und fesselte damit Jans und sein Handgelenk aneinander.
„Damit wir uns nicht mehr verlieren“, sagte er. „Nie mehr.“
Als sie sich an einem Abend gerade zum Kuscheln ins Bett gelegt hatten, fragte Niklas plötzlich. „Bis du eigentlich zufrieden?“
Jan war etwas verwundert über diese Frage; ja, er war zufrieden, er fühlte sich in Niklas Gegenwart richtig wohl und war sogar sehr zufrieden.
„Ich meine, was unseren Sex angeht“, erläuterte Niklas. „Es ist halt jedes Mal ähnlich, das mit dem Kuscheln und so. Ich finde, es könnte durchaus auch etwas spannender sein, du nicht?“
Jan war etwas verunsichert. Natürlich fand er auch, dass es spannender sein konnte; dazu würde es ja schon genügen, wenn ihn Niklas ab und zu dabei fesseln würde. Konnte es sein, dass Niklas auch Lust hatte, Jan zu fesseln oder gar selbst gefesselt zu werden, aber sich nicht traute, es zu tun?
Da er sich unsicher fühlte, was er dazu sagen sollte, fragte er: „Was würde es denn für dich spannender machen?“
„Na ja“, antwortete Niklas. „Da gäbe es so einiges. Zum Beispiel hätte ich mal wirklich Lust, dich zu vögeln. Zumindest probieren können wir es mal. Und du, was fändest du spannend?“
Jan zögerte; sollte er das mit dem Fesseln bei dieser Gelegenheit noch einmal ansprechen? Schließlich entschied er sich, darauf zu verzichten.
„Vögeln ist ok“, sagte er. „Das können wir wirklich mal probieren.“
Jan überlegte sich, warum es „vögeln“ hieß, obwohl es mit den geflügelten Tieren eigentlich nichts zu tun haben konnte. Gerade in Hinblick auf Sexualität trieb die deutsche Sprache doch die eigenartigsten Stilblüten.
Niklas stand auf und holte eine Tube aus dem Badezimmer.
„Das ist Gleitcreme“, sagte er. „Damit sollte es auf jeden Fall funktionieren. Vielleicht probieren wir es im knien?“
Jan stand auf und kniete sich auf das Bett. Er spürte, wie Niklas zuerst seine Pobacken streichelte und dann die kalte Gleitcreme zwischen ihnen verteilte. Das fühlte sich zwar alles etwas ungewohnt an, aber eigentlich auch ganz gut. Jan fand, es war eine gute Idee, mal etwas anderes auszuprobieren.
Viel besser wäre es natürlich gewesen, dabei gefesselt zu sein, wobei allerdings die Hände auf dem Rücken im Weg gewesen wären. Niklas Schwanz war dabei spürbar steif; ihm schien es also auch zu gefallen.
Das eigentliche „Vögeln“ hatte aber nicht wirklich geklappt; dafür waren beide scheinbar zu sehr angespannt. Jan fand das aber nicht schlimm; es war auch so sehr schön, Niklas zwischen seinen Pobacken zu spüren. Allerdings war auch klar, dass er es so richtig spannend, so spannend etwa, wie gefesselt zu sein, nicht finden konnte.
Nach einigen Versuchen ließ sich Niklas auf das Bett fallen und sagte: „Ich kann nicht mehr.“
Jan legte sich auch wieder hin und drückte sich eng an Niklas. Das anschließende Kuscheln war wie immer sehr schön und erhielt von Jan eine Bewertung im oberen Drittel.
Jan hatte schon einige Male versucht, Max anzurufen, als einer von Max Mitbewohnern am Telefon sagte. „Ich geb dir mal Ingve; der will mit dir reden.“
„Hi Jan“, sagte Ingve. „Ich brauche deine Hilfe und möchte mich mit dir treffen.“
Er machte den Vorschlag, Jan in seinem Bauwagen aufzusuchen. Als Ingve vor seiner Tür stand, dachte Jan zuerst, es wäre Max. Aber schon sein „Hi“ machte klar, dass er Ingve war, Max unechter Zwilling.
„Max geht es nicht gut,“ sagte er gleich mit seinem skandinavischen Akzent, „deswegen musst du mir helfen.“
Er erzählte halb auf deutsch, halb auf englisch, dass Max für ihn nur eine Affäre gewesen war. Er fand es spannend, jemanden zu kennen, der genauso aussah wie er selbst, aber eigentlich wären Max und er doch sehr verschieden.
Für ihn war auch immer klar, dass er bei seinem Partner, der auch Max Mitbewohner war, bleiben würde.
„Ich liebe Heiko; I love him“, sagte er auf deutsch und auf englisch, um es zu bekräftigen.
Dem ging wohl Ingves Affäre mit Max zu weit, sodass er Ingve vor die Entscheidung zwischen beiden stellte, die keine richtige Entscheidung war. Ingve sagte, dass ihm erst da klar geworden war, dass sich Max richtig in ihn verliebt hatte.
„I made a really big mistake“, sagte er.
Jan hörte sich diese Geschichte fassungslos an; der arme Max. Ihm war regelrecht zum Heulen zumute, als er sich vorstellte, wie Ingve Max die Zwillingsbruderschaft aufkündigte.
Ingve bat Jan, mit ihm mitzukommen und sich um Max zu kümmern.
Jan begleitete Ingve nach Hause und klopfte an Max Zimmer. Nachdem nichts zu hören war, klopfte er noch einmal und ging schließlich ohne Aufforderung hinein.
Max lag auf dem Bett und vergrub sein Gesicht in das Kissen; er hatte Ingves Kapuzenpullover an. Jan setzte sich zu ihm auf das Bett und legte seine Hand auf seinen Rücken. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte er schließlich, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
Max drehte sich um und sah in mit verheulten Augen an.
„Schon gut“, sagte er mit leiser Stimme. „Ich komme schon klar.“
„Na ja“, sagte Jan. „Ingve hatte mir erzählt, dass du dich schon seit einer Woche in deinem Bett versteckst.“
Er dachte daran, dass er selbst mehr als zwei Jahre brauchte, um nach seiner Trennung von Jan damals wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Dabei wunderte er sich über diese Redewendung. „Boden unter den Füßen spüren“.
War es wirklich so, dass es sich wie im freien Fall fühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren? Musste es sich dann nicht frei anfühlen, frei von all den Kräften, die an einem zerrten?
Vielleicht war es ja gar nicht so gut, Boden unter den Füßen zu spüren; vielleicht war genau das die Ernüchterung, nachdem man in der Schwerelosigkeit einer Zwillingsschaft „auf dem Boden der Tatsachen“ angekommen war.
„Ich brauche jetzt einfach Zeit“, sagte Max. „Lass mich jetzt alleine. Ich mag nicht, dass du mich so mitbekommst.“
Jan hätte gerne noch etwas gesagt, was Max hätte aufmuntern können. Es fiel ihm aber nichts ein und er sagte ihm noch, dass er immer für ihn da wäre, wenn er ihn brauchte, bevor ihn Max zur Wohnungstür begleitete.
Zum Abschied zog ihm Jan die Kapuze über den Kopf und sagte: „Warte ab; der nächste Winter kommt bestimmt.“
Damit konnte er Max noch ein gequältes Lächeln abringen, bevor er ging.
Er sah die folgende Zeit immer wieder nach ihm und meistens waren die Besuche ähnlich kurz wie dieser. Max fing sich wieder zunehmend und sagte mal, dass er sich nie wieder auf jemanden einlassen würde, mal, dass er die Hoffnung hatte, Ingve könnte sich doch noch umentscheiden.
Jan spürte dabei immer eine unüberwindliche Distanz zu ihm. Nach ein paar Wochen hörte er auf, Max zu besuchen, nicht ohne ihm zu sagen, dass er sich jederzeit bei ihm melden konnte. Dafür gab er Max auch Niklas Telefonnummer.
Ole
Jan konnte sich gerade noch in den Bauwagen retten, als es anfing zu regnen. Es war kein gewöhnlicher Regen, der sich ankündigte. Es wurde richtig dunkel, obwohl es mitten am Tag war, und das einsetzende Gewitter war beängstigend nah.
Kaum dass Jan in seinem Wagen war, schüttete es auch schon wie aus Eimern; es war ohrenbetäubend laut in dem Bauwagen. Jetzt, als er im Trockenen saß, fand Jan an diesem Wolkenbruch durchaus Gefallen. Er verbreitete ein wenig eine Weltuntergangsstimmung - draußen hörte es sich an, als würde die Stadt in Schutt und Asche gelegt. In Wirklichkeit war kaum zu erwarten, dass mehr geschah, als dass der ein oder andere Keller überschwemmt wurde, dachte sich Jan.
Plötzlich bemerkte er, dass es von der Decke herabtropfte. Gerade als er die Stelle gefunden hatte, durch die der Regen in den Wagen sickerte, brach er sich gleich an mehreren Stellen durch das Dach.
Jan vermutete, dass die Dachpappe aufgeweicht und durchgerissen war und fing eilig an, seine Sachen vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen. Es half aber nicht viel, denn es ergoss sich immer mehr Regen in das Wageninnere und auf dem Boden hatte sich schon eine richtige Pfütze gebildet.
Jan musste verzweifelt ansehen, wie nicht nur sein Bett und seine Kleidung nass wurden, sondern auch seine Bilder und Texte.
Als der Regen endlich nachließ, war alles durchnässt, wirklich alles. Auch der Fußboden und die Wände - Jans Wohnung war innerhalb einer dreiviertel Stunde zu einer Ruine geworden.
Am Schlimmsten war das mit den Zeichnungen und den Texten; da war einiges nicht mehr zu reparieren. Jan rief Niklas an und erzählte ihm von seinem Unglück. Der kam gleich vorbei und half Jan, seine Sachen in Müllsäcke zu verpacken und zu ihm zu bringen.
„Hier wirst du so schnell nicht wieder einziehen können“, sagte er, während er die Schäden begutachtete.
Das Holz des Bauwagens hatte sich mit Wasser voll gesogen und war aufgequollen. Von außen war es zwar imprägniert, von innen aber nicht. Nicht umsonst hatte Jan den Wagen geschenkt bekommen.
Bei Niklas sortierte Jan die Sachen aus, die definitiv kaputt waren. Neben einigen Zeichnungen, die er allerdings nicht wegwarf, waren es seine alte Stereoanlage, ein Teil seiner Bettdecken und die Matratze.
Dabei achtete er darauf, dass Niklas nicht die Ketten und Handschellen auffielen, die er zwischen seine Kleidung gepackt hatte.
„Und was machst du jetzt?“, fragte Niklas.
Das war allerdings eher eine rhetorische Frage; Jan hatte kaum eine andere Wahl, als bei Niklas zu bleiben. Er wohnte ohnehin schon mehr bei Niklas als in seinem Bauwagen.
Eigentlich war er gar nicht so unglücklich darüber, dass seine Bauwagenzeit beendet war. Er hatte sich auf dem Platz zunehmend unwohler gefühlt und fand obendrein, dass es gut passte, bei Niklas zu wohnen. Niklas machte den Vorschlag, am Abend mit seinen Mitbewohnern zu besprechen, ob Jan vorübergehend in die WG einziehen konnte. Wie erwartet hatte auch keiner von ihnen etwas dagegen.
Niklas räumte in seinem Zimmer eine kleine Ecke frei, wo er seine Sachen stapeln konnte. Das Zimmer war nicht sehr groß; sie mussten daher eng zusammenrücken.
Es war in der letzte Septemberwoche, als Jan zu Niklas zog, und ab Oktober musste Jan seinen Zivildienst leisten. Zuerst in einer Tagesförderstätte für behinderte Jugendliche und dann, im November, für vier Wochen in einer Zivildienstschule. Während der Zeit in der Zivildienstschule würde er nur am Wochenende nach Hause gehen können.
Jan versuchte, den Zivildienst mit allen Mitteln abzuwehren, indem er sich immer wieder Atteste ausstellen ließ und Widerspruch gegen die Bescheide einlegte. Am Ende nutzte das alles nichts. Er konnte es sich überhaupt nicht vorstellen, fünf Tage die Woche zu arbeiten, und dann noch eine so anstrengende Arbeit.
Zunächst war Jan ein wenig verzweifelt darüber, dass es ihm nicht gelungen war, den Zivildienst abzuwehren. Inzwischen hatte er sich aber mit diesem Gedanken abgefunden.
Er spürte auch, dass es ihm nicht wirklich gut tat, gar keinen Job zu haben. Eine Zeit lang war das sicher in Ordnung, aber in letzter Zeit hatte Jan durchaus den Eindruck, dass er sich zu sehr mit sich selbst beschäftigte.
Witzigerweise rief Max an dem Tag nach Jans Umzug zu Niklas an; Jan hatte ihn bestimmt zwei Wochen nicht mehr gesehen.
Max wollte sich aber nicht mit Jan verabreden, sondern nur erzählen, wie schlecht es ihm ging. Vor allem, dass er mit Ingve und Heiko in einer Wohnung wohnte, machte ihm sehr zu schaffen. Er überlegte sich daher auch, auszuziehen und eine neue Wohnung zu suchen. Jan bekräftigte ihn bei dieser Überlegung.
„Sonst kommst du ja nie auf andere Gedanken“, sagte er und Max entgegnete, dass er jetzt Ingve wenigstens in Gedanken nahe sein konnte.
Jan fragte dann noch ein zweites Mal, ob sie sich nicht verabreden wollten, doch Max lehnte ab.
„Ich kann mich jetzt wirklich nicht auf dich einlassen“, sagte er und versprach, sich wieder zu melden, wenn er sich wieder mit ihm beschäftigen könne.
Jan hatte ihm nicht erzählt, dass er inzwischen ganz bei Niklas wohnte; das hätte Max wohl ohnehin nicht interessiert, dachte er.
Um zu seiner Zivildienststelle zu kommen, musste Jan ziemlich lange mit der U-Bahn fahren. Das war zwar eine gute Gelegenheit, viel zu lesen, die er auch nutzte, aber es bedeutete auch, dass er für seine neue Arbeit sehr früh aufstehen musste und recht spät und vollkommen erschöpft wieder nach Hause kam.
Seine Mitarbeiterinnen in der Tagesförderstelle, es waren fast ausschließlich Frauen, waren sehr nett, aber die Arbeit dafür auch sehr anstrengend. Er würde eine ganze Zeit dauern, bis sich Jan an seinen neuen Lebenswandel gewöhnen würde.
Dass ihn fast jeden Abend, wenn er nach Hause kam, Niklas erwartete, erleichterte es ihm am Anfang ungemein. Er freute sich in der Regel den ganzen Tag darauf, nach Hause zu kommen und mit Niklas zu kuscheln. In der zweiten Woche sagte Niklas allerdings, dass ihm das auf Dauer zu eng würde.
„Ich möchte abends auch mal was für mich machen oder mich verabreden“, sagte er.
Dagegen hatte Jan natürlich nichts einzuwenden.
An einem Tag, auf dem Weg zur Tagesförderstätte, las Jan in einem Schwulenmagazin. Er hatte schon lange keine Schwulenzeitschrift mehr in der Hand gehabt, doch jetzt sammelte er alles, was sich zum Lesen in der U-Bahn eignete.
Plötzlich las im Anzeigenteil. „Endzwanziger, mit einem Faible für Fesselungen, sucht Gleichgesinnten. Kein Sex.“
Jan las sich diese Anzeige mehrmals durch und hatte keinen Zweifel, das musste Malte sein. Das war schon einige Jahre her, als er die Begegnung mit Malte hatte, fast vier Jahre. Er dachte den ganzen Tag darüber nach, bis er fest entschlossen war, Malte noch am Abend einen Brief zu schreiben.
„Hallo Malte“, fing er an. „ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, dass wir uns vor einigen Jahren mal getroffen haben.“
Er schrieb auch, dass er das Treffen sehr spannend fand und Malte wieder sehen wollte.
„Inzwischen habe ich auch ein bisschen mehr Erfahrungen mit Fesselungen“, schrieb Jan, obwohl er sich unsicher war, ob das wirklich stimmte.
Er war die folgenden Tage sehr aufgeregt, bis schließlich ein Brief von Malte ankam. In dieser Zeit musste er oft daran denken, wie Malte ihn mit dem langen Seil Hände und Füße fesselte. Das Seil hatte Jan immer noch.
„Hallo Jan“, stand in dem Brief. „Ich erinnere mich noch genau an unser Treffen, aber ich muss ehrlich sagen, dass ich es nicht so spannend fand. Aber vielleicht sollten wir es noch einmal versuchen. Diesmal allerdings bei mir, damit wenigstens das nötige Equipment vorhanden ist. Ich schlage vor, dass du nächsten Sonntagnachmittag zu mir kommst, so um 14 Uhr. Ruf mich an, ob du damit einverstanden bist und kommen wirst.“
Jan rief gleich bei der Telefonnummer an, die Malte genannt hatte. Er war dabei so aufgeregt, dass er mehrere Anläufe benötigte, um „Hallo, hier ist Jan“ zu sagen.
„Oh hallo“, sagte Malte. „Und kommst du Sonntag?“
„Ja“, stammelte Jan und Malte sagte: „Ok, da können wir ja dann alles Weitere besprechen.“
So war das Gespräch auch schnell wieder beendet.
Am Sonntag war Jan schon gleich, nachdem er aufgewacht war, in helle Aufregung versetzt. Er konnte sich nur noch schemenhaft an Malte erinnern, dafür aber umso mehr an das unglaubliche Gefühl, so stark gefesselt zu sein, wie ihn Malte damals gefesselt hatte. Um Niklas keine komplizierten Erklärungen liefern zu müssen, sagte er, dass er einen Arbeitskollegen besuchen würde.
„Das glaube ich dir nicht“, sagte aber Niklas. „So wie du drauf bist, habe ich eher den Eindruck, dass du deinen Designerfuzzi besuchen wirst; wie heißt er noch mal, Max?“
„Max ist kein Designerfuzzi“, entgegnete Jan.
Er fand diesen Ausdruck richtig blöde.
„Und außerdem ist zwischen Max und mir seit einigen Wochen Funkstille.“
Niklas war wirklich eifersüchtig und die Diskussion eskalierte tatsächlich zu einem Streit, den Jan abbrach, indem er einfach ging.
Eine fesselnde Wiederbegegnung
Es war noch Zeit bis zur Verabredung mit Malte und Jan ging wieder einmal zum Spreeufer spazieren. Es war nicht sehr kalt, aber immerhin kalt genug, die Kapuze aufzusetzen. Bis es soweit war, zu Malte zu fahren, fühlte sich Jan wesentlich weniger angespannt. Malte wohnte im Wedding, einem Stadtteil, den Jan so gut wie gar nicht kannte.
Jan war überrascht, als er ihn sah; er sah wirklich gut aus, dachte Jan, ganz in schwarz gekleidet und mit kurzen roten Haaren.
„Du hast dich ja überhaupt nicht verändert“, sagte Malte zur Begrüßung. „Sogar die gleichen Klamotten hast du an.“
„Tatsächlich?“, fragte Jan. „Ich kann mich gar nicht mehr erinnern.“
Woran sich Jan allerdings sofort erinnern konnte, war Maltes Geruch, der sich über die Jahre hinweg ebenfalls nicht verändert hatte. Er fand diesen Geruch, wie schon Jahre zuvor, ziemlich irritierend, aber er gehörte zu Malte; das musste wohl so sein.
Die Wohnung war mit nur wenigen Möbeln eingerichtet und wirkte ähnlich sachlich wie Malte selbst.
Jan folgte ihm in ein Zimmer, das wohl sein Wohnzimmer war, und setzte sich mit ihm an einen Tisch. Malte bot ihm eine Tasse Tee an und schenkte sich auch welchen ein. Er sagte kaum etwas und sah Jan zu, wie er den Tee trank.
„Mache ich was falsch?“, fragte Jan, der sich durch sein Verhalten noch mehr verunsichert fühlte, als er ohnehin schon war.
„Nein, nein“, sagte Malte und grinste. „Ich überlege nur, wie ich dich am besten positioniere.“
Jan starrte auf die Teetasse und fragte dann. „Und woran dachtest du?“
„Das wirst du schon früh genug mitbekommen“, sagte Malte, und nach einer kurzen Pause „Komm mit.“
Er führte Jan in ein anderes Zimmer, in dem Ketten an der Decke und an der Wand hingen und eine ganze Sammlung von Handschellen und anderen Fesselungswerkzeugen auf einem Tisch lagen.
„Du wirkst ziemlich angespannt“, sagte Malte. „da beginnen wir wohl am besten mit einer Vorbehandlung.“
Dann nahm er eine von den Handschellen und zeigte sie Jan. „Die mag ich am Liebsten, hörst du“, sagte er und schloss sie, sodass deutlich das Klickgeräusch zu hören war.
Jan nickte; er war jetzt definitiv zu aufgeregt, um etwas sagen zu können. Malte nahm sein rechtes Handgelenk und legte es in die Handschellen, die er dann genüsslich schloss.
„Das fühlt sich doch gut an, oder?“ Sie saß wirklich sehr bequem. Dann nahm er Jans linkes Handgelenk und schloss es mit dem rechten zusammen. Er hielt Jans Hände an der kurzen Handschellenkette. Jan spürte deutlich einen zunehmenden Druck zwischen seinen Beinen.
„So,“ sagte Malte mit einer sanften Stimme, „jetzt entspann dich erstmal.“ Dann befestigte er die Handschellen an einem Karabinerhaken, der an einer Kette von der Decke hing. Jan musste dabei seine Arme fast ganz nach oben ausstrecken.
Malte sah ihm eine Zeit lang zu, wie er mit nach oben gestreckten Armen dastand, und ging schließlich aus dem Zimmer. Der Druck zwischen Jans Beinen nahm zu, je länger er angekettet in dem Zimmer stand. Aber es wurde nicht unangenehm; im Gegenteil: Jan fühlte sich wirklich gut, während er so gefesselt war.
Es fiel ihm vor allen Dingen auch auf, dass Maltes Handschellen wesentlich bequemer waren als seine. Wahrscheinlich waren sie auch wesentlich teurer gewesen.
Nach einer Weile kam Malte wieder in das Zimmer und kettete Jan los, ohne etwas zu sagen. Dann forderte er ihn auf, sich auszuziehen - bis auf die Unterhose, die sollte Jan anbehalten.
„Es ist wichtig, dass du entspannt bist“, erläuterte er, während Jan sich auszog.
„Sonst holst du dir noch irgendwelche Zerrungen dabei; das wollen wir doch beide nicht.“
Jan stand schließlich in Unterhose vor ihm und beobachtete, wie Malte Handschellen in der Hand hielt und klicken ließ.
„Die haben wirklich den besten Sound, finde ich,“ sagte er, „die guten Hiatt. Da, nimm mal; die liegen auch richtig gut in der Hand“, sagte er und reichte sie Jan.
Der nahm sie und ließ sie auch klicken. Sie ließen sich wirklich sehr leicht bedienen, ganz anders als die Handschellen, die Jan hatte. Malte nahm die Handschellen wieder und tauschte sie gegen ein anderes Paar, welches auf dem Tisch lag. Jan betrachtete die kleine Sammlung, die da zu sehen war; neben Handschellen auch Fußfesseln und Ketten.
„Die hier sind richtig klasse“, sagte Malte. „Die habe ich erst neulich erstanden; so was bekommt man nicht überall.“
Anders als die Hiatt-Handschellen waren die Besonderen nicht mit einer Kette sondern mit einem Scharnier miteinander verbunden.
„Die laufen so unglaublich leicht“, sagte er. „Pass mal auf; ich zeige es dir.“
Dann hielt er mit einer Hand Jans Arm und warf mit einem Schwung die Handschelle um das Handgelenk, dass sie sich gleich schloss. Jan war begeistert; sie saß auf Anhieb genau richtig - das war wirklich filmreif.
Malte hielt Jans Hand an den Handschellen fest und sagte plötzlich. „Und jetzt pass auf“.
Dabei verdrehte er Jans Arm so, dass sich Jan mit dem Rücken zu ihm drehen musste, packte seinen anderen Arm und warf die Handschellen auch um dieses Handgelenk, so dass Jans Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Jan fiel dabei auf, dass Malte richtig kräftig war.
„Gut, nicht? Das geht wirklich nur mit diesen Handschellen. Die kommen irgendwoher aus dem Osten; die gibt es hier eigentlich gar nicht.“
Auch diese Handschellen saßen gleichzeitig sehr fest, aber auch bequem. Jan hatte bis dahin nie darüber nachgedacht, dass es natürlich auch bei Handschellen Qualitätsunterschiede gab. Dadurch, dass sie ein Scharnier statt einer Kette hatten, fühlte sich die Fesselung stärker an als Jan es von seinen kannte.
Er testete den Bewegungsspielraum seiner Hände aus und bemerkte, dass er sich aus diesen Handschellen wohl nicht selbst befreien konnte, auch mit Schlüssel nicht. Als Jan seine Fesselung erspürte, fragte Malte. „Und wonach ist dir?“
Jan fühlte sich immer noch kaum in der Lage, etwas zu sagen. Er musste vor allen Dingen daran denken, dass nur mit Unterhose bekleidet überdeutlich zu sehen war, dass er einen steifen Schwanz hatte.
„Zur Auswahl gibt es Ketten, Riemen oder Seile“, hakte Malte nach, als er keine Antwort erhielt. „Mir würden ja Ketten am besten gefallen, wenn du es ok findest. Damit haben wir ja schon angefangen.“
Jan nickte.
Malte setzte sich an den Tisch und beobachte ihn, wie er mit den Händen auf dem Rücken und der ausgebeulten Unterhose dastand.
„In Handschellen siehst du richtig gut aus“, sagte er. „Das solltest du vielleicht öfter tragen.“
Jan musste grinsen, als er das hörte. Er sah, wie Malte eine Kette nahm und aufstand.
„Dreh dich um“, forderte Malte ihn auf. „Mit dem Gesicht zur Wand.“
Er legte ihm die Kette um den Nacken und führte beide Enden unter seinen Achseln durch und verband sie auf dem Rücken miteinander. Danach nahm er die Handschellen am Gelenk und drückte Jans Hände nach oben. Er drückte sie so weit, bis es nicht mehr weiter ging, und schloss sie dann an der Kette fest, sodass Jans Arme richtig gespannt waren.
„Ist das zu fest?“, fragte Malte und lockerte die Kette ein wenig, nachdem Jan genickt hatte.
„Aber ein bisschen was kannst du noch vertragen?“
Es war etwas ganz anderes, so gefesselt zu sein, wie ihn Malte fesselte, als beispielsweise einfach nur Handschellen zu tragen. Die Spannung in Jans Armen übertrug sich nach und nach in seinen ganzen Körper und versetzte ihn regelrecht in einen rauschähnlichen Zustand.
Malte forderte ihn auf, die Arme zu bewegen, was fast nicht mehr möglich war.
„Da ist noch zu viel Spielraum“, sagte er und befestigte Jans Hände noch mit einer Kette, die um seinen Bauch ging. Danach forderte er Jan auf, sich wieder umzudrehen, und setzte sich an den Tisch.
„Fesseln ist wirklich eine Kunst“, sagte er. „Wenn es richtig gemacht ist, sieht es richtig gut aus, wenn jemand gefesselt ist; aber dafür muss alles stimmen. Zu dir passt das wirklich gut, gefesselt zu sein, vor allem mit den Ketten; du siehst wirklich gut aus in Ketten.“
Jan fiel auf, dass er, ohne es zu wollen, ab und zu leise stöhnte. Er hatte obendrein den Eindruck, sich richtig konzentrieren zu müssen, damit seine Arme nicht verkrampften.
Schließlich forderte ihn Malte auf sich hinzuknien und legte ihm Fußfesseln an, die er mit der Kette, die um Jans Bauch ging, verband. So wurde Jan in einer Position gehalten, in der er auf seinen Unterschenkeln saß.
Er war so eingenommen von den heftigen Gefühlen, die ihn durchfluteten, dass er kaum noch etwas anderes mitbekam. Zudem hatte er nach wie vor das Gefühl, mit aller Konzentration vermeiden zu müssen, dass er verkrampfte.
Er bekam nur noch am Rande mit, dass Malte das Zimmer wieder verließ; dass es ganz und gar Maltes Wohlwollen überlassen blieb, ihn wieder aus dieser Fesselung zu befreien, fand Jan extrem spannend.
Erst nach einer Weile traute er sich, auszuprobieren, wieviel Bewegungsspielraum er überhaupt noch hatte - er war wirklich minimal. Bei jedem Versuch, sich zu bewegen, bemerkte Jan, wie er unwillkürlich ejakulierte. Es vergingen so Ewigkeiten, bis Malte wieder kam und die Fesselung überprüfte.
„Du musst nur locker bleiben,“ sagte er, „dann kann dabei auch nichts passieren.“
Danach setzte er sich wieder und betrachtete ausgiebig Jans gefesselten Körper.
Die Erleichterung, die Jan verspürte, als Malte anfing, ihn Stück für Stück wieder loszuketten, war enorm. Am Ende hatte er nur noch die Handschellen um. Malte meinte: „Die solltest du wirklich anbehalten“, und grinste dabei.
Schließlich nahm er ihm auch die ab und sagte. „Dir hat es wohl auch gefallen. Da muss ich dich wohl nicht fragen.“
Die Fesselung hatte in der Tat auch nicht zu übersehende Spuren in Jans Unterhose hinterlassen. Malte gab ihm ein Taschentuch und forderte ihn auf, sich wieder anzuziehen. Jan brauchte eine Weile, bis er seine Bewegungen richtig koordinieren konnte. Malte sagte auch, dass es ihm besser gefallen hatte, als beim ersten Mal.
„Irgendwie gefällst du mir, obwohl du wirklich nicht mein Typ bist. Vor allen Dingen kannst du auch was vertragen, das können nicht alle.“
Als er Jan zur Tür brachte sagte er noch: „Wenn du wieder Lust hast, kannst du dich gerne wieder melden. Meine Nummer hast du ja.“
Jan fühlte sich wie benommen, als er nach Hause ging. Erst nach einiger Zeit spürte er die Abdrücke, die die Handschellen an seinen Handgelenken hinterlassen hatten. Bis er zu Hause ankam, taten ihm zusätzlich Arme und Beine weh; sie fühlten sich wie verkatert an.
Er war froh, dass Niklas nicht da war, und er sich einfach ins Bett legen konnte. In Gedanken spürte den Gefühlen nach, die Maltes Fesselung in ihm ausgelöst hatten, was sogleich auch den Druck zwischen seinen Beinen erhöhte.
Nach kurzer Zeit hörte er, wie Niklas kam.
„Du bist ja schon im Bett“, bemerkte er, als er in das Zimmer kam. „War das nicht so gut, dein Date heute?“
Jan fühlte sich zu erschöpft, um sich noch mit Niklas Eifersucht auseinander zu setzen, und sagte, dass er sich nicht mit ihm streiten wollte.
„Ja, entschuldige; das geht manchmal ein bisschen mit mir durch“, antwortete Niklas. „Aber du musst mir versprechen, ehrlich zu sein und mir zu sagen, wenn du was am Laufen hast.“
„Am Laufen?“
„Du weißt genau, was ich meine.“
Jan dachte kurz nach und sagte dann. „Ok. Also ich habe mich heute nicht mit Max getroffen und Sex mit anderen habe ich auch nicht. Zufrieden?“
Niklas sagte nichts und setzte sich neben Jan auf das Bett.
Dann nahm er plötzlich Jans Arm in die Hand und fragte. „Was ist denn das?“
Die Abdrücke der Handschellen um das Handgelenk waren immer noch deutlich zu sehen.
„Was meinst du“, fragte Jan, obwohl er es genau wusste.
„Na das hier; das ist ja ganz rot.“
Niklas begutachtete auch die Abdrücke an Jans anderem Handgelenk und sagte schließlich: „Ich denke, ich werde jetzt besser was kochen. Ich habe heute außer dem Frühstück noch nichts gegessen.“
Jan dachte, dass sich Niklas sicher belogen fühlte und stand nach einer Weile auf, um auch in die Küche zu gehen. Er zog sich vorher noch einen Kapuzenpullover an, dessen Ärmel die Male an seinen Handgelenken verdeckten.
„Vor mir brauchst du es nicht verstecken“, sagte Niklas. „So blöd bin ich auch wieder nicht.“
Sie verbrachten den restlichen Abend miteinander, ohne viel zu reden. Jan versuchte mehrmals, Erklärungen für alles zu finden und zu bekräftigen, dass es für Niklas keinen Grund gäbe, eifersüchtig zu sein. Dabei erzählte er auch, dass er bei jemandem war, der ihn einfach nur gefesselt hatte und bei dem auch weiter nichts geschehen war. Niklas fiel es offensichtlich schwer, Jan zu glauben.
Als sie zusammen im Bett lagen, sagte er, dass er sich nicht darauf einlassen konnte, mit Jan zu kuscheln.
„Das finde ich ganz schön schwierig, die Situation, in die du mich gebracht hast“, sagte er. „Ich habe gerade überhaupt nicht das Gefühl, dir vertrauen zu können.“
Jan fand Niklas Reaktion fast schon ärgerlich. Während Niklas gleich einschlief, lag Jan noch eine ganze Weile wach und dachte darüber nach, welche Unterschiede es bei Handschellen gab und dass sich Maltes Handschellen wesentlich besser anfühlten als seine; ganz besonders gefielen ihm die mit dem Gelenk. Aber seine Handschellen waren eben auch ganz einfache und keine Spezialanfertigungen aus Osteuropa.
Niklas war schon aufgestanden, als Jan am nächsten Morgen aufwachte. Seine Arme fühlten sich immer noch verkatert an und die Abdrücke an den Handgelenken waren auch noch zu sehen. Bevor er in die Küche ging, zog er sich den Pullover an, um diese Spuren zu verdecken.
Niklas war am frühstücken und beachtete Jan, der sich einen Kaffee kochte, demonstrativ nicht. Als Jan mit einer Tasse Kaffee am Tisch saß, hatte Niklas noch kein Wort gesagt, noch nicht einmal „Guten Morgen“.
„Ich finde du übertreibst jetzt wirklich“, sagte Jan. „Ich habe dir doch gesagt, dass du keinen Grund hast eifersüchtig zu sein.“
Niklas reagierte nicht darauf und frühstückte einfach weiter.
„Und wenn du es genau wissen willst,“ fuhr Jan fort. „es ist halt so, dass ich es mag, gefesselt zu werden und dass ich gestern bei jemanden war, der es mag, mich zu fesseln. Fesseln, nichts weiter; der fasst mich noch nicht einmal an.“
Niklas schaute auf und blickte Jan ins Gesicht. Dann schaute er wieder auf seinen Teller, ohne etwas zu sagen. Jan war verzweifelt, was konnte er sonst noch tun, um diesen absurden Streit mit Niklas zu beenden.
„Wenn du es in Ordnung findest, wie du dich jetzt mir gegenüber verhältst, ich nicht“, sagte Jan nur noch, und ging zurück ins Bett.
Vor lauter Hilflosigkeit darüber, dass er keine Idee mehr hatte, wie er das mit Niklas wieder einrenken sollte, fing er an zu weinen. Kurze Zeit später kam tatsächlich Niklas hinterher und setzte sich zu ihm auf das Bett.
„Entschuldigung“, sagte er und streichelte Jan über den Rücken,
„Du weißt doch, dass ich dich mag; so wie du bist. Manchmal ist es halt nicht ganz einfach für mich.“
Dann legte er sich zu ihm ins Bett und sagte, dass er kuscheln wollte.
„Wenn es dir gefällt, kann ich dir auch Handschellen anlegen.“
Jan nickte und Niklas stand auf, um die Handschellen aus seinem Schrank zu holen.
„Nanu, hier sind die ja gar nicht; wo habe ich die bloß hingetan?“
Jan fiel ein, dass er sie natürlich nicht finden konnte, weil er sie sich ja heimlich ausgeliehen hatte, als er noch im Bauwagen wohnte.
„Warte“, sagte er. „Ich habe auch noch welche.“
Er stand auf und kramte aus seiner Ecke in dem Zimmer die Handschellen hervor. Als er sie Niklas reichte, nahm er sie und sagte: „Ich glaube, das irritiert mich jetzt doch zu sehr. Lass uns das ein anderes Mal probieren, ok?“
„Ja, in Ordnung“, sagte Jan und legte sich zu Niklas.
Eigentlich war er ganz froh, dass ihn Niklas nicht gefesselt hatte, weil es ihn in dieser Situation wahrscheinlich auch überfordert hätte. Es war nicht einfach, sich von diesem Wechsel von Nähe und ignoriert zu werden nicht verwirren zu lassen. Niklas war sehr zärtlich und Jan konnte es nach einiger Zeit auch genießen, mit ihm zu kuscheln.
„Vielleicht sollte ich dich hier einfach anketten, wenn du das nächste Mal vorhast, Abenteuer mit anderen zu erleben.“
„Ja“, sagte Jan. „das solltest du vielleicht tun.“
Er stellte sich vor, wie ihm Niklas die Handschellen anlegte, um zu verhindern, dass er zu Malte oder zu Max ging. Wie er in Handschellen in Niklas Zimmer auf dem Stuhl saß, die Hände auf dem Rücken, und stundenlang warten musste, bis Niklas wieder kam. Als er in Gedanken sich selbst gefesselt sah, spürte er, wie sein Schwanz augenblicklich steif wurde.
„Ja, das sollte ich wirklich tun“, antwortete Niklas und drückte Jan fest an sich.
Dabei hatte er wieder sein Jan-Nik-Lächeln. Jan war glücklich, dass sich das mit Niklas Eifersucht wieder einrenken ließ und bewertete das Kuscheln mit der höchsten Punktzahl.
Die Handschellen blieben neben dem Bett liegen.
Dennoch war es auch die folgende Zeit nicht dazu gekommen, dass Niklas sie Jan anlegte; anders als Malte fand er wohl nicht, dass Jan gut darin aussah. Aber es war auch in Ordnung. Es passte auch nicht zu Niklas, Jan zu fesseln, schon gar nicht mit Handschellen.
Jan konnte sich damit eigentlich auch abfinden und erwähnte dieses Thema nicht mehr. Er dachte sich, dass Niklas ja wusste, dass er es mochte, und daher gut auch von sich aus etwas sagen konnte, wenn er Lust hatte, mit Fesselungen zu experimentieren.
Anders als für Jan spielten für Niklas Emotionen eine wichtige Rolle; Jan fand Emotionen eher verwirrend, sowohl seine eigenen als auch die anderer Menschen. Er war sich sicher, dass Niklas überhaupt nichts mit Maltes nüchterner und rationaler Art anfangen, während er sich dabei richtig wohl und vor allem sehr sicher fühlte.
Deswegen konnte Niklas vermutlich auch nichts mit Fesselungen anfangen, weil Fesselungen eher ein rationales Herangehen erforderten und zu viele Emotionen wahrscheinlich störend wären.
Jan kam dabei auch der Gedanke, dass es Niklas wahrscheinlich eher als beängstigend empfand, gefesselt zu sein, als beruhigend und anregend. Er überlegte sich, dass es daher besser war, sein „Faible für Fesselungen“ mit Leuten wie Malte auszuleben, als etwa in der Beziehung mit Niklas.
Insgesamt fand er das Konzept plausibel, nachdem er seine unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorlieben jeweils andere, eben jeweils geeignete Partner hatte. Niklas für sein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit, Malte für die Fesselungen und schließlich Max für sein Kapuzen-Faible.
Niklas wäre obendrein natürlich sein wirklicher Beziehungspartner, weil er ihm erst die Grundlage für sein Leben bildete. Er war der Schlüssel zu einer Welt, die ihm grundsätzlich fremd und tendenziell feindlich gegenüberstand; in der er aber zurecht kommen musste, weil sie die wirkliche Welt war.
Dass das mit Malte dauerhaft funktionierte, fand Jan noch ziemlich unsicher, obgleich ihm Maltes Herangehensweise extrem gut gefiel.
Und das mit Max war auch sehr schwierig, da er nicht aufhörte, sich mit Ingve zu beschäftigen und dem verlorenen Zwilling nachzutrauern. Sie sahen sich nicht sehr oft und dann auch eher kurz. Max konnte sich dabei auch überhaupt nicht auf ihn einlassen.
Er erzählte stattdessen nur, wie sehr er unter Ingves Verlust litt oder dass er gerade wieder Hoffnung hatte, sein Zwillingsbruder könnte sich umentscheiden. Einen Zwilling zu haben, der sich weigerte, der Zwilling zu sein, war sicher nicht einfach. Aber Jan tat es weh, dass er mit Max über nichts anderes mehr reden konnte und Max sich obendrein auch sehr distanziert verhielt.
Max trug immer Ingves Kapuzenpullover, als sie sich trafen, und hatte auch oft die Kapuze auf. An kalten Tagen hatte er seine blaue Bommel-Mütze unter der Kapuze an, die er auch hatte, als sie sich kennen gelernt hatten, bei dieser Zugfahrt.
Die Norwegermütze erinnerte ihn zu sehr an Ingve, als dass er sie noch tragen konnte, sagte er. Das fand Jan etwas eigenartig, da ja Ingve scheinbar weder Mützen noch Kapuzen trug.
Die Bommel-Mütze unter der Kapuze passte irgendwie zu Max, fand Jan, auch wenn es manchmal etwas merkwürdig aussah. Nicht nur, weil der Bommel die Kapuze leicht ausbeulte, sondern auch weil sie wie der Kapuzenpullover blau war. Wenn Max dazu noch eine Jeans und seine blaue Daunenjacke trug, war er ganz in blau; und blau war eindeutig Max Farbe.
Jan dachte oft an Max und sah ihn dann in Gedanken, wie er ein Jahr zuvor im Zug saß, mit der grauen Kapuze über der Mütze. Mit der Kapuze von Ingves Pullover darüber, die innen rot und außen dunkelblau war, sah er gut aus, fand Jan; er dachte nach wie vor gerne an Max.
Mit der Zeit zeigte sich immer mehr, dass das Zusammenleben mit Niklas anstrengend war. Nicht nur weil Niklas eifersüchtig wurde, wenn er mitbekam, dass Jan zu Max ging. Daran änderten auch Jans Beteuerungen nichts, dass mit Max ohnehin nichts mehr war.
Er hatte sogar die Idee, Max einmal einzuladen, damit Niklas ihn kennen lernen würde und sich dadurch seine Befürchtungen verflüchtigten. Niklas wies diesen Gedanken allerdings entschieden zurück. „Der kommt hier nicht in die Wohnung; nicht wenn ich hier bin“, sagte er dazu.
Aber Jan und Niklas rieben sich auch an alltäglichen Dingen auf. So konnte es Niklas nicht ertragen, Jan beim Geschirrspülen zuzusehen, weil er der Meinung war, dass Jan sich dabei sehr unpraktisch anstellte. Er war auch regelmäßig darüber verärgert, dass Jan nicht von alleine daran dachte zu putzen sondern immer wieder daran erinnert werden musste. Auch das mit dem Einkaufen klappte nicht so richtig; überhaupt klappte das Zusammenleben mit Niklas eigentlich gar nicht.
Jan war darüber richtig gehend verzweifelt; er bemühte sich wirklich, alles richtig zu machen, aber es wollte nicht gelingen. Allerdings lenkte Niklas bei diesen Auseinandersetzungen immer wieder ein und sagte, dass er Jan so mochte, wie er war; und danach kuschelten sie meistens.
Es hatte sich in dieser Hinsicht eine gewisse Routine herausgebildet. Niklas erklärte Jan auch, dass er eher emotional auf die Dinge reagierte und nicht wie Jan alles nur über den Verstand regeln konnte.
So anstrengend das Zusammenwohnen auch war, mochten sie sich dennoch sehr gerne. Als Niklas schließlich sagte, dass es besser sei, wenn Jan wieder woanders wohnen würde, dachte Jan spontan, dass er damit Recht hatte.
Es ging beiden so, dass ihnen die Partnerschaft zu eng geworden war, seit sie zusammen wohnten. Sie besprachen dieses Thema noch ein weiteres Mal, ein paar Tage später, und entschieden sich schließlich definitiv dafür, dass Jan ausziehen sollte.
Niklas sagte dabei auch. „Glaube aber nur nicht, dass ich deswegen die Beziehung mit dir kündigen will. Das kommt überhaupt nicht in Frage“, und nahm Jan in den Arm.
Es war ein Moment, in dem Jan deutlich wurde, dass Niklas ihn wirklich sehr gerne mochte. Das war wohl Liebe, dachte sich Jan, dass sie sich mochten, obwohl es ihnen so schwer fiel, miteinander umzugehen. Das mit dem Ausziehen war allerdings nicht ganz einfach, zumal Jan sehr viel arbeitete und eigentlich keine Zeit hatte, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Niklas und auch seine Mitbewohner wollten sich daher auch nach einem WG Zimmer für Jan umhören.
Eine Party mit Folgen
Jan war schon eine Weile nicht mehr auf einer Party gewesen und fand die Idee, zu einer Hausbesetzerparty zu gehen, daher ganz gut. Es war eine Party, die auch von vielen Schwulen besucht wurde.
Leider war der Weg dorthin nur kurz, sodass Jan das Gefühl, Mütze und Kapuze aufzuhaben, auch nur kurz genießen konnte.
Die Party war sehr laut und wuselig; Jan suchte sich eine halbwegs ruhige Ecke und trank Bier. Nach ein paar Bieren konnte er die Musik und auch das Getümmel einigermaßen genießen, zumindest so lange er es aus der Ferne betrachten konnte. Niklas schien recht viele Leute auf der Party zu kennen; Jan war ziemlich beeindruckt.
Es war fast schon wieder früher Morgen, als sich Jan entschied, nach Hause zu gehen. Er war ziemlich betrunken, glaubte aber dennoch, dass er den Weg nach Hause noch schaffen sollte.
Als er die Haustür erreicht hatte, stellte sich ihm ein Punk entgegen, mit buntem Iro und komplett zerrissenen Klamotten.
„Du wirst doch wohl nicht schon gehen wollen“, sagte er.
Jan konnte sich nicht erinnern, ihn jemals bewusst wahrgenommen zu haben.
„Doch, eigentlich schon“, stammelte er.
„Da weiß ich was besseres für dich“, erwiderte der Punk. „Komm mit.“
Das klang wie ein Befehl und Jan dachte keinen Moment daran, ihm nicht zu folgen.
Der Punk führte ihn zu einem Zimmer, an das er anklopfte, und rief: „Hier ist Ole.“ Die Tür wurde von innen aufgeschlossen; das Zimmer war nur spärlich beleuchtet, sodass Jan zuerst kaum etwas erkennen konnte. Es saßen vielleicht drei oder vier Leute auf dem Boden, die Jan alle nicht kannte. Zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch mit einer Steinplatte darauf. Ole, der Punk, schloss das Zimmer hinter Jan wieder ab. „Nicht, dass die Party auch hierher kommt.“
„Ja, kein Bock auf den Scheiß da draußen“, sagte einer Anwesenden aus dem Dunkeln.
„Setz dich“, sagte Ole und kramte eine kleine Papiertüte unter dem Tisch hervor. In dieser Tüte war ein weißes Pulver, das er vorsichtig in vier parallelen Linien auf den Stein schüttete. Jan dachte sofort, das musste Kokain sein. Er hatte es bislang zwar nur einmal in einem Film gesehen, aber es sah genau so aus, wie er es erwartet hatte.
Der Punk nahm ein zu einem kleinen Rohr gerolltes Papier und zog mit einem kräftigen Zug eine der Linien durch sein linkes und dann die andere durch sein rechtes Nasenloch ein. Dann reichte er Jan das Röhrchen.
„Da nimm, es wird dir gefallen“, sagte er.
Jan zog ein wenig zögerlich die beiden weißen Linien in je ein Nasenloch, so wie es Ole getan hatte. Dabei ging so viel daneben, dass sich damit noch eine weitere Linie zusammenschieben ließ, die Jan auch noch nehmen sollte.
Zuerst spürte er ein merkwürdiges Kribbeln in der Nase und musste sich zusammenreißen, um nicht zu niesen. Dann war er über die Wirkung verblüfft: Er fühlte sich mit einem Schlag wach und nüchtern, als wenn er gar nichts getrunken hätte. Der Punk, Ole, sagte mehrmals, dass er Jan schon länger beobachtet und spannend gefunden hatte.
Er studierte wohl etwas mit Literatur, vielleicht auch Philosophie - Jan hatte es nicht richtig verstanden. Auf jeden Fall schien er sich in diesen Dingen sehr gut auszukennen. Nach einer weiteren Runde weißer Linien - an der Jan nicht mehr teilnahm - fing er an, Gedichte vorzulesen. Es waren Gedichte, die für Jan alle einen Klang hatten, so wie manche Namen einen Klang hatten.
Jan genoss es, den Klängen der vorgetragenen Lyrik zu lauschen; dabei hörte er auch einen Klang, den er schon lange nicht mehr gehört hatte, der ihm aber nach wie vor sehr vertraut vorkam: „Lennart Adrian“. „Len-Jan“. „Jan-Jan“.
Als er am nächsten Tag aufwachte, lag er mit ein paar anderen Leuten auf dem Fußboden. Der Punk lag genau neben ihm. Jan brauchte eine Weile, bis ihm einfiel, dass er Ole hieß. Die Zimmertür war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte.
„Hey“, sagte Ole, als Jan gerade aufstehen wollte. „Was machst du?“
„Ich gehe nach Hause“, antwortete Jan.
„Nein, du bleibst hier.“
Jan war verunsichert. „Wieso? Nein, ich gehe jetzt, ok?“
„Ja, ok. Gib mir deine Nummer, dann ruf ich dich an“, sagte Ole.
Nachdem ihm Jan Niklas Telefonnummer auf einen Zettel geschrieben hatte, suchte er seine Pullover, Mütze und Halstuch, die im Zimmer verstreut herumlagen, und ging. Es schienen alle noch zu schlafen; Jan aber fühlte sich ausgesprochen wach und fit. Er ging auch nicht direkt nach Hause, sondern lief noch bestimmt zwei Stunden mit Mütze und Kapuze durch die Stadt.
Jan fühlte sich den restlichen Tag auch noch bemerkenswert gut; er war regelrecht in Hochstimmung. Das musste noch eine Nachwirkung des Kokains gewesen sein. Niklas dagegen fühlte sich den Tag über verkatert und war eher schlecht gelaunt. Er konnte Partys auch nur begrenzt ertragen und das am Abend zuvor war wohl zuviel gewesen.
Am Abend rief Ole an und sagte, dass er Jan treffen wollte.
„Wir kochen hier gleich“, sagte Jan. „Komm doch zum Essen.“
Ole fand die Idee auch gut und stand auch schon kurze Zeit später vor der Tür. Er setzte sich an den Küchentisch, an dem mittlerweile Jan und Peter, einer von Niklas Mitbewohnern saßen und fing gleich an, Gedichte aus einem Buch vorzulesen, das er, schon als er kam, in der Hand hatte.
„Wohnst du auch in dem besetzten Haus?“, unterbrach ihn Jan nach einigen Gedichten.
„Besetzten Haus? In welchem besetzten Haus?“, fragte Ole.
„Na in dem, wo diese Party gestern war.“
„Ach da. Nein, das ist nichts für mich. Und du? Wo wohnst du?“
„Hier in dieser WG hier“, antwortete Jan; irgendwie kam ihm Oles Reaktionen eigenartig vor.
„Bist du liiert?“, fragte Ole gleich darauf.
„Was meinst du mit liiert?“
Jan fiel auf, dass Peter unentwegt vor sich hin grinste.
„Ob du einen Partner hast; du bist doch schwul oder?“
„Ja, ja natürlich.“
„Aha, und was jetzt?“
„Beides; schwul und liiert.“
„Ok, macht nichts; ich bin da nicht so zimperlich“, sagte Ole.
Dann wandte er sich an Peter. „Das ist doch kein Problem, dass ich ihn mir mal ausleihe, oder?“
Jan sagte. „Das ist nicht mein Partner, das ist Peter.“
„Peter“, sagte Peter, ohne dabei mit Grinsen aufzuhören.
„Und wer dann?“, fragte Ole.
„Niklas; der wohnt auch hier. Eigentlich wollte er auch zum Essen kommen.“
„Oh Gott, ihr wohnt wirklich zusammen?“
„Na ja, vorübergehend. Ich bin gerade dabei, mir irgendwo ein WG-Zimmer zu suchen.“
Nach einer kurzen Pause sagte Ole. „Du suchst also ein Zimmer? Ich glaube, da kann ich dir helfen; bei mir ist nämlich noch Platz und ich hatte mir überlegt, es mal mit einem Mitbewohner zu versuchen.“
Jan war wirklich überrascht; damit hatte er nicht gerechnet, dass ihm Ole anbieten würde, in seiner Wohnung zu wohnen. Er wusste auch nicht, was er dazu sagen sollte; dass ein Zusammenwohnen mit Ole klappen würde, fand er eher fragwürdig. Nicht nur seine merkwürdige Art und die eigenartigen Fragen irritierten ihn. Vor allen Dingen fragte er sich, ob Oles Lebenswandel mit Drogen und allem sich damit vertragen würde, dass er gerade seinen Zivildienst absolvierte und mehr als 40 Stunden die Woche arbeitete.
„Dann ist wohl alles gesagt“, setzte Ole fort und blätterte in seinem Gedichtband. Als er gerade angefangen hatte vorzulesen kam Niklas.
„Das ist Niklas“, stellte Jan ihn vor.
Ole aber überfiel ihn gleich.
„Jan hat gesagt, dass er hier ausziehen will und ich habe ein freies Zimmer“, sagte er und Niklas schaute ihn erstaunt an,
„Oh tatsächlich.“
„Ich habe mir überlegt, dass ich ihn gleich heute Abend mitnehme“, setzte Ole fort. „Was hältst davon. Dann kann ich ihn gleich ausprobieren und du bist ihn los.“
Niklas wirkte ziemlich verunsichert und sagte dann: „Da musst du schon ihn selbst fragen.“ Jan fand die Situation ein wenig heikel, weil er befürchtete, dass Niklas eifersüchtig werden könnte, wenn er Ole zu ernst nahm.
„Das ist ein Scherz“, sagte er. „Bei mir gibt es nichts auszuprobieren.“
Ole grinste und sagte. „Du wirst hier gar nicht gefragt; das mache ich mit deinem Stecher aus.“
Dabei zeigte er auf Niklas. Dann brach er aber diese Diskussion ab und fing an, weiter Gedichte zu lesen.
„Meint er das ernst?“, fragte Niklas und Jan sagte, dass er vielleicht wirklich ein Zimmer frei hatte.
Während des Essens unterhielt Ole die WG mit seinen philosophischen Überlegungen, die immer wieder durch eine Lesung von Gedichten unterbrochen wurden. Schließlich sagte er, dass er nach Hause gehen wollte.
Als er ging, sagte Niklas. „Also das mit dem Zimmer für Jan könnte für uns tatsächlich interessant sein. Vielleicht können wir es uns mal ansehen?“
„Du brauchst ihn nur abliefern“, sagte Ole. „Hier, ich schreib dir meine Adresse auf.“
Er kramte einen Stift und einen Zettel aus seiner Jackentasche und schrieb seine Adresse auf. Zu Abschied gab er Jan einen Kuss auf die Backe, wobei er Jans Kopf fest in seinen Händen hielt. Jan fand das reichlich unangenehm.
„Wo hast du denn den aufgegabelt?“, fragte Niklas. „Auf der Party gestern Abend.“
Jan war zu müde, um dazu weitere Erklärungen abgeben zu können; es war schon spät und er betrunken. Er ließ sich gleich ins Bett fallen, um den doch recht anstrengenden Abend zu beenden.
Am nächsten Tag war es bereits Nachmittag, als Jan aufwachte. Er konnte sich nicht erinnern, dass er überhaupt einmal so lange am Stück geschlafen hatte. Noch als er am Küchentisch vor seiner Tasse Kaffee saß, rief ihn Ole an.
„Na, hast du es dir überlegt?“
„Was meinst du?“
„Dass du zu mir ziehst natürlich. Dein Niklas kann es doch gar nicht erwarten dich los zu werden, das war doch deutlich zu merken.“
Jan war von Oles Anruf eindeutig überfordert, auf jeden Fall zu sehr, um darauf antworten zu können. Nach der Party und dem darauf folgenden Tag hatte er das Gefühl, sein Kopf wäre leer, wie nach einer Gehirnwäsche.
„Komm doch einfach vorbei. Dieses ständige Nachdenken ist doch Müll; am Ende zählt doch nur, was du tust.“
Jan willigte ein und ging zu Ole, nachdem er den Kaffee ausgetrunken hatte.
Erst als er auf dem Weg war fiel ihm auf, dass Niklas gar nicht zu Hause gewesen war. Ole stand schon an der Tür, als Jan zu seinem Haus kam.
„Wow, Mütze und Kapuze; du machst wohl einen auf jugendlich“, bemerkte er. „Es gibt hier keine Klingel, deshalb musste ich dich abpassen.“
Ole bot ihm einen grünen Tee an und sagte. „Ist doch ganz gut hier, oder?“
Die Wohnung war wirklich eine Bruchbude, was Jan sehr vertraut vorkam, weil es ihn an das besetzte Haus erinnerte, in dem er wohnte, bevor er in den Bauwagen gezogen war; und an den Bauwagen natürlich auch. Die Fenster waren mit dicken Decken verhangen, die kaum Licht durchließen, und die Wohnung war fast ausschließlich mit Kerzen beleuchtet.
„Gibt es auch Strom“, fragte Jan als Scherz.
„Ja, natürlich und sogar ein Waschbecken mit fließend Wasser und Boiler.“
„Das ist ja richtig Luxus“, lachte Jan; der Gedanke, hierher zu ziehen, kam ihm irgendwie ziemlich absurd vor. Ole zeigte ihm auch das Zimmer, in das er einziehen konnte. Er nutzte es als eine Art Abstellkammer.
„Die Politfritzen reden die ganze Zeit nur von Revolution und so, ohne irgendetwas zu tun, und die Schwulen reden auch nur vom Sex, ohne wirklich welchen zu praktizieren. Wirkliche Revolution und wirklichen Sex, verstehst du, frei von dem ganzen bürgerlichen Mist“, sagte er.
Er erläuterte, dass es entscheidend wäre, das eigene Leben radikal zu ändern, die bürgerlichen Ketten abzuwerfen und das zu tun, was das Richtige und das Wahre war.
„Und was ist das Richtige und Wahre?“, fragte Jan.
„Das, was erscheint, wenn du frei bist, vollkommen frei. In Wirklichkeit ist es nichts, gar nichts; es gibt weder das Richtige noch das Wahre, das ist die Wahrheit.“
Das Gespräch mündete in eine philosophische Diskussion, die Jan sehr anregend fand.
Nach einer Weile sagte Ole. „Und du, hast du den Mumm, deine Ketten abzuwerfen oder bist du auch so eine Memme wie die anderen?“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, du gehst jetzt nach Hause, holst deine Sachen und kommst hierher. So meine ich das, ganz einfach.“
Jan fühlte sich ziemlich überrumpelt und antwortete. „Ich muss mir das erst noch mal überlegen.“
„Wenn du dich jetzt nicht entscheidest, dann wirst du es nie tun. Ich habe doch gewusst, dass du auch nur so ein Schwätzer bist.“
„Das ist aber unfair.“
„Aber es stimmt; wenn es nicht stimmt, dann machst du es - jetzt.“
Jan war unschlüssig, ob er tatsächlich gehen sollte und ob er sich vor allen Dingen auch wirklich gleich entscheiden sollte, zu Ole zu ziehen oder nicht. Es war auf jeden Fall eine sehr gute Gelegenheit, das Zusammenwohnen mit Niklas zu beenden.
Jan gefiel auch Oles konsequentes Herangehen; die These, dass wichtige Entscheidungen sofort umgesetzt werden mussten, konnte er gut nachvollziehen. Sein Leben litt eindeutig darunter, dass seine Entscheidungsprozesse meistens nur dann zu einem Ende kamen, wenn sie von anderen beendet wurden. Er hatte ein Problem, Entscheidungen zu treffen, das war ihm klar, und das hatte auch damit zu tun, dass er nie wusste, wann genau die Zeit dafür war. Zu sagen, die Zeit wäre jetzt, machte das Entscheiden eigentlich sehr einfach.
„Ok“, sagte Jan. „dann gehe ich jetzt.“
„Ich brauche dich nicht zu fragen“, antwortete Ole. „Ich weiß, dass du wieder kommst.“
Jan zog sich seine Pullover an, setzte sich Mütze und Kapuze auf und ging nach Hause.
Unterwegs überlegte er sich, was es mit „jugendlich“ zu tun hatte, Mütze und Kapuze zu tragen. Er fühlte sich tatsächlich irgendwie jugendlich, dachte er, allerdings war er auch erst 27 Jahre alt. Es war ihm bis dahin noch nie aufgefallen, dass es in seinem Leben keinen Übergang zwischen Kindheit oder Jugend und Erwachsensein gegeben hatte. Aber es war so, es gab tatsächlich keinen solchen Übergang; er fühlte sich in dieser Beziehung mit 27 nicht anders als mit 17. In keiner Weise fühlte er sich erwachsener.
Als Jan in der WG eintraf, war Niklas zu Hause. Jan erzählte ihm von Ole; Niklas war skeptisch, ob es wirklich eine gute Idee war, zu Ole zu ziehen.
„Der ist ja ganz schön verrückt“, sagte er, und dass er es sich überhaupt nicht vorstellen konnte, mit jemandem wie Ole in einer WG zu wohnen. Aber er fand, dass es zu Jan irgendwie passte, und auch, dass es eine gute Gelegenheit war, ihr Wohnproblem zu lösen.
Auch Jan wollte von seiner Entscheidung nicht abrücken; er würde es einfach tun, ganz einfach. So einfach konnten Entscheidungen sein, dachte er und spürte dabei die Veränderung, die mit Macht in sein Leben trat. Niklas schien seine neu gefundene Entscheidungsfreude zu akzeptieren und beendete das Abwägen, indem er sagte, dass er Kuscheln wollte.
Am nächsten Morgen fing Jan gleich nach dem Frühstück an, seine Sachen zusammen zu packen. Es waren glücklicherweise nicht viele, außerdem half Niklas ihm dabei. Sie transportierten die Sachen in Kartons, die sie auf einem Fahrrad zu Ole schoben und nach zwei solcher Touren war der Umzug im Wesentlichen durchgeführt.
Als sie mit der ersten Tour bei Ole ankamen, schlief er noch. Er stand aber gleich auf und fing an, Jans neues Zimmer leer zu räumen.
„So könnte ich wirklich nicht wohnen“, sagte Niklas, als er die neue Wohnung sah. „Aber zu dir passt das schon, finde ich, dir macht sowas eher nichts aus.“
Jan fand es eigentlich in Ordnung. Die Wohnung war zwar dunkel und auch nicht aufgeräumt und hatte keine Dusche; es war aber auch nicht schlechter als der Bauwagen.
Nach der zweiten Tour hatte Ole Kaffee gekocht und etwas zu Essen gerichtet.
„Das sage ich euch aber gleich“, sagte er. „Wenn ihr mich mit so einem komischen Beziehungsgetue nervt, dann werde ich ungemütlich. Ihr solltet euch lieber überlegen, ob sowas überhaupt zeitgemäß ist, und ob ihr nicht lieber aufhört, mit diesem bürgerlichen Blödsinn. Ihr lügt euch doch ohnehin nur gegenseitig etwas vor, oder?“
Niklas regte sich ziemlich auf über das, was Ole sagte. Vor allem den Vorwurf, in bürgerlichen Konzepten von Beziehung und Liebe gefangen zu sein, konnte er nicht gelten lassen. Als er schließlich ging, wirkte er tatsächlich verärgert.
„Von dir brauche ich mir wirklich nicht erklären lassen, was revolutionär ist und was nicht“, sagte er noch, bevor er die Wohnung verließ.
Es dauerte noch ein paar Tage, bis Jan ganz bei Ole wohnte. Er hatte sich krankschreiben lassen, um die Zeit zu haben, sich in seiner neuen Wohnung einzurichten.
Bei Niklas fiel es nicht so ins Gewicht, dass Jan fast gar nichts mehr hatte, weil dort alles vorhanden war, was er brauchte. Doch hier bei Ole war er in einem leeren Zimmer ohne Bett, ohne Regale und überhaupt ohne Möbel. Lediglich seine Klamotten, ein paar Bücher und die Handschellen hatte er; seine Bilder und Aufzeichnungen waren bei Niklas geblieben.
Niklas kam nur selten zu Ole und wenn, dann immer nur für kurze Zeit, sodass Jan sich recht häufig bei Niklas aufhielt. Niklas und Ole hatten ein schwieriges Verhältnis; meistens gerieten sie in kontroverse Diskussionen miteinander, wenn sie aufeinander trafen. So pendelte Jan zwischen zwei doch recht unterschiedlichen Welten, die in den beiden Wohnungen repräsentiert waren.
Oles Welt hatte überhaupt nichts von der Nüchternheit und Pragmatik, die Niklas in seiner WG pflegte. Sie wirkte eher wie eine Art Unterwelt, eine Halbwelt, die überraschend zum Vorschein kam, wenn alle Konventionen - soweit möglich - abgelegt wurden. Sie repräsentierte das Nichts, das sich als Wahrheit zeigte, wenn alle Konventionen und Vorurteile abgelegt waren; ein ziemlich volles Nichts allerdings.
Jan fand es interessant, in so einer Halbwelt zu wohnen; Niklas hatte schon Recht, wenn er sagte, dass es zu ihm passte.
Jan war gerade mit Niklas ins Bett gegangen, zum Kuscheln, als das Telefon klingelte und gleich darauf einer von Niklas Mitbewohnern anklopfte. Es war Max am Telefon.
„Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen“, sagte er.
Für Jan klang es fast wie ein Vorwurf; aber schließlich war es Max gewesen, der sagte, dass er sich nicht mehr auf ihn einlassen konnte. Sie verabredeten sich für den kommenden Sonntag. Da Max nicht wollte, dass Jan zu ihm kam, gab ihm Jan Oles Adresse.
Als Max an dem Sonntag kam, hatte ihm Ole die Tür geöffnet und gleich versucht ihn abzuwimmeln.
„Ich glaube nicht, dass Jan mit Leuten wie dir etwas zu tun hat“, sagte er, bevor ihm Jan bremsen konnte.
„Mit wem ich Umgang habe, bestimme ich immer noch selbst.“
Max war ziemlich irritiert, aber Jan zog sich schnell seine Pullover über und ging mit ihm aus der Wohnung. Ihm fiel auf, dass unter der blauen Kapuze, die Max aufhatte, die Norwegermütze zu sehen war. Hatte er die nicht Ingve geschenkt?
Max wirkte distanziert und abwesend; er redete nicht viel und Jan hatte Schwierigkeiten, wenigstens ab und zu ein Gespräch zu Stande zu bringen. Er erfuhr auf Nachfragen, dass Ingve nicht mehr in Max WG wohnte, weil er sich von Heiko getrennt hatte. Max schien auch nicht zu wissen, wo Ingve inzwischen wohnte.
Nachdem sie einige Zeit durch die Stadt spazierten, lud ihn Jan auf einen Kaffee zu sich ein. Ole war zum Glück nicht mehr da, als sie dort angekommen waren. Max sagte, dass er Jans neue Wohnung und neuen Mitbewohner ziemlich abschreckend fand.
„Das ist ja noch schlimmer als der Bauwagen“, sagte er.
Sonst hatten sie sich scheinbar nicht sehr viel zu sagen. Sie saßen in Jans Zimmer auf dem Bett, das Jan selbst gebastelt hatte, und tranken Kaffee. Als Jan fragte, ob er einmal Max blauen Kapuzenpullover anprobieren dürfe, war er selbst darüber erstaunt, dass ihm diese Frage über die Lippen gekommen war. Er hatte sich schon oft gefragt, wie er sich wohl anfühlen würde, aber Max jetzt auf das Kapuzenthema anzusprechen, wirkte ziemlich merkwürdig.
„Ja, klar“, sagte Max und zog ihn sich gleich aus.
Es war während des Treffens das erste Mal, dass er grinste. Jan zog sich den Pullover über und sagte,
„Fühlt sich ja schon komisch an; blau ist wirklich nicht meine Farbe.“
„Du musst auch die Kapuze aufsetzen“, sagte Max. „das fühlt sich dann bestimmt gut an.“
Jan zog sich die Kapuze über den Kopf; es fühlte sich aber wirklich nur merkwürdig an, sonst nichts. In Gedanken dachte er daran, sich noch Max Norwegermütze darunter zu ziehen, aber selbst dieser Gedanke, sich selbst mit der gemusterten Mütze und der blauen Kapuze darüber zu sehen, fühlte sich nach nichts an. Vor einiger Zeit hätte ihn das mit Sicherheit noch hochgradig erregt, jetzt war es lediglich eigenartig und fremd. Jan war davon sehr irritiert und zog Max Pullover wieder aus.
Als Max gerade gehen wollte, kam Ole nach Hause, der es sich nicht nehmen ließ, eine Bemerkung zu Max los zu werden. Nachdem Max gegangen war, äußerte Ole sein Befremden darüber, dass Jan „hinter so einem Schickimicki her“ war, wie er sich ausdrückte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es dir nur um das Äußerliche geht“, sagte er.
Es dauerte einige Wochen, bis sich Jan daran gewöhnt hatte, mit Ole zusammen zu wohnen. Ole war in seiner Art sehr direkt und undiplomatisch, aber Jan mochte ihn. Vor allen Dingen Oles philosophische Einsichten und seine Vorlieben für Literatur fand er sehr interessant. Sie verbrachten manchmal eine ganze Nacht mit anregenden Gesprächen oder Literaturlesungen.
Niklas kam mit Ole allerdings nicht gut zurecht; jedes Mal, wenn er bei Jan war, kam es zu kontroversen Diskussionen und Ole konnte es auch nicht lassen, Niklas zu provozieren. Daher stellte es sich so ein, dass Jan meistens bei Niklas war, was auch funktionierte.
Ole nahm auch gerne die unterschiedlichsten Drogen, was Jan zugleich befremdete und auch faszinierte. Es gehörte eben zu Oles Programm, jede Form von Bürgerlichkeit zu vermeiden und ein Höchstmaß an Selbstbestimmung zu leben; scheinbar hatte das auch etwas mit Drogen zu tun.
Als an einem Freitagabend Jan von der Arbeit zurückkam, war die Wohnung sehr aufgeräumt und mit Kerzen und Tüchern ganz besonders eingerichtet.
„Heute ist ein ganz besonderer Abend“, sagte Ole, als sich Jan irritiert in der Wohnung umsah. Am meisten irritierte ihn, dass Ole auch sein Zimmer in die Umgestaltung miteinbezogen hatte.
Ole forderte Jan auf, sich zu ihm an den kleinen, niedrigen Tisch zu setzen, den er mitten im Zimmer aufgebaut hatte.
„Und was ist an diesem Abend so besonders?“, fragte Jan.
„Wir werden eine Reise unternehmen“, antwortete Ole. „Wir werden an einen Ort reisen, an dem du noch nie gewesen bist.“
Jan war zunehmend beunruhigt und überlegte sich, wie er am Besten dieser Situation entkommen konnte. Schließlich sagte er, dass er eigentlich mit Niklas verabredet gewesen war, was allerdings nicht stimmte.
Ole ging darauf aber überhaupt nicht ein und zeigte auf ein winziges Stück Plastik, das auf dem Tisch lag.
„Da, nimm“, sagte er und nahm ein zweites Stück, das ebenfalls auf dem Tisch lag und schluckte es.
„Was ist das?“, fragte Jan, doch Ole meinte, es wäre nicht die Zeit, solche Fragen zu stellen.
Als es Jan geschluckt hatte, sagte Ole. „Das ist LSD; sehr hoch dosiert. Es ist das Beste, was zu bekommen ist. Wir werden jetzt zusammen etwas erleben, was jenseits deiner Vorstellungen liegt.“
Jan spürte in sich eine leichte Panik aufkommen, dachte aber, dass ihm jetzt ohnehin nichts anderes mehr übrig blieb, als Ole zu vertrauen.
„Ich habe noch nie so etwas genommen“, sagte er und Ole erwiderte,
„Es wird dir gefallen; vertrau mir.“ Dann stand er auf und holte einen Gedichtband.
Nachdem Ole eine Zeit lang Gedichte vorgelesen hatte, spürte Jan, wie er plötzlich aus dieser Wirklichkeit herauskatapultiert wurde, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Kurze Zeit später fand er sich ganz woanders wieder, in einer Welt voller Farben und Formen, Klängen und Gerüchen, die er tatsächlich nie zuvor wahrgenommen hatte. Das Eigenartigste daran war, dass es sich sehr gut und geborgen anfühlte, in dieser anderen Welt zu sein.
Oles Worte visualisierten sich umgehend, während er Gedichte las. Jan meinte, Oles Gedanken sehen zu können, und Ole verhielt sich so, als wenn er Jans Gedanken kannte. Die Welt, in die sie gereist waren, war eine komplett andere Welt, ganz anders als die wirkliche, aber sie war dennoch sehr vertraut. Vertrauter eigentlich als alles andere, was Jan bis dahin kennen gelernt hatte; es war eine überaus philosophische und zugleich sinnliche Welt.
Sie verbrachten die ganze Nacht zusammen mit Gedichten oder damit, jeweils ihre Gedanken zu lesen und sich auf diese, geistige Weise zu spüren.
Am noch sehr frühen Morgen gingen sie zusammen spazieren; Jan wie gewohnt mit Mütze und Kapuze. So deutlich wie bei diesem Spaziergang hatte er noch nie seine Mütze und die Kapuze auf dem Kopf gespürt, wirklich noch nie.
Allerdings fühlte sich das, was er spürte, weder erregend noch geborgen an, sondern merkwürdig, ähnlich wie es ein paar Tage zuvor war, als er Max blauen Kapuzenpullover anprobiert hatte. War sein neues Leben bei Ole mit seinen Kapuzenvorlieben unvereinbar geworden?
Lektionen über Nähe und Distanz
Seit dieser Nacht, in der sie zusammen mittels LSD verreist waren, waren sich Jan und Ole sehr nahe. Jan spürte eine enge Geistesverwandtschaft, die sich vor allem darin äußerte, dass sie sich viel zusammen mit Philosophie und Literatur beschäftigten.
Was sie allerdings voneinander unterschied, war, dass Ole ein sehr emotional geleiteter Mensch war, viel mehr noch als Niklas, während für Jan Emotionen eine nur untergeordnete Rolle spielten. So sehr, dass Jan mitunter dachte, er hätte gar keine Gefühle, was er allerdings nicht schlimm fand, da er sie auch nicht vermisste. Im Gegenteil fand er Emotionen, wenn er sie bei anderen Menschen beobachtete, eher merkwürdig und war froh, davon im Wesentlichen frei zu sein.
Das hatte er in der Tat Ole voraus: Ole war frei von fast allen gesellschaftlichen Fesseln, frei von Emotionen war er aber nicht.
So intensiv das Leben auch war, das Jan jetzt lebte, so anstrengend war es auch. Neben der Arbeit an seiner Zivildienststelle führte er im Grunde genommen zwei intensive Beziehungen, eine mit Ole und eine mit Niklas.
Zwei Beziehungen, die obendrein noch sehr unterschiedlich waren. Die Beziehung mit Ole hatte allerdings keine körperliche Ebene; sie kuschelten nicht und von Sex war auch nie die Rede. Das war wahrscheinlich der Grund, warum Niklas nie auf Ole eifersüchtig war, obwohl Jan Ole geistig sehr viel näher kam als Niklas; zumindest empfand er es so. Jan fand es sehr eigenartig, denn auf Max war Niklas eifersüchtig gewesen, obwohl mit ihm auch nicht viel geschehen war, was das Körperliche anging.
Immer wieder verreiste Jan mit Ole in die faszinierenden und skurrilen Welten, die sich durch Einnahme von LSD auftaten. Manchmal waren auch Freunde von Ole mit dabei. Jan war von diesen Reisen deswegen so fasziniert, weil sie in Wirklichkeit Reisen in seine und Oles Innenwelten waren; LSD war scheinbar ein Mittel, das auf geheimnisvolle Weise das Innen nach außen stülpte.
Anders als scheinbar viele andere Menschen fühlten sich Ole und Jan in ihren Innenwelten sehr wohl und hatten auch keine Ängste, mit LSD zu verreisen.
Ole nahm noch viel mehr Drogen; Jan hatte manchmal den Eindruck, er konnte gar nicht genug davon bekommen. Doch Jan begnügte sich mit der Einnahme von LSD alle zwei bis drei Wochen; alles Weitere war ihm dann doch zu unheimlich.
So verging der Winter, die Mütze-und-Kapuze-Zeit, die Jan kaum mehr als solche wahrnahm. Ab und zu traf er noch Max, aber die Treffen blieben sehr distanziert und wohl für beide nicht wirklich befriedigend.
Inzwischen war es nicht nur Max, der sich nicht mehr auf Jan einlassen konnte. Auch Jan konnte immer weniger mit Max anfangen; sie entwickelten sich eindeutig in sehr unterschiedliche Richtungen.
Überhaupt beschäftigte sich Jan so sehr mit sich selbst und seinen Reisen ins Innere, dass er sich immer weniger auf andere Dinge, wie Menschen, einlassen wollte oder auch konnte.
Darunter litt auch ein wenig die Beziehung mit Niklas. Aber das gemeinsame Kuscheln hielt sie zusammen und ihre Versuche sich dem anzunähern, was unter Schwulen gemeinhin als Sex praktiziert wurde. Niklas sah auch ein, dass Jan durch den Zivildienst einer besonderen Belastung ausgesetzt war und sich daher auch nur eingeschränkt dem Beziehungsleben widmen konnte.
Er nutzte die Zeit, sich verstärkt seinem Studium zu widmen.
Ole nahm nicht nur gerne und oft die unterschiedlichsten Drogen, er widmete sich auch einem Sexualleben, das Jan als ausgesprochen ausschweifend empfand. Für ihn war es unerlässlich, sozusagen als Akt schwuler Befreiung mit vielen Männern unterschiedlichste Formen sexueller Kontakte zu pflegen.
Eigenartigerweise war das aber nie Thema zwischen ihm und Jan gewesen. Ole schien es stillschweigend hinzunehmen, dass Jan an solchen Dingen weitgehend desinteressiert war.
Bis er ihn einmal fragte, ob er es denn befriedigend fand, ausschließlich Sex in der Beziehung zu leben. Jan gab darauf wohl keine zufrieden stellenden Antworten, sodass Ole immer weiter nachbohrte. Bis Jan endlich sagte, dass ihn Sex nicht so interessierte.
„Das glaube ich nicht“, sagte Ole. „Ein Schwuler, der sich nicht für Sex interessiert, sowas gibt es nicht.“
Jan antwortete, dass es vielleicht nicht viele gab, aber er ein Beweis dafür war, dass tatsächlich nicht alle Schwulen an Sex interessiert waren.
„Dann bist du verklemmt oder hast ein Problem mit deiner Männlichkeit“, schloss Ole, was Jan als beleidigend empfand.
Die Diskussion endete damit, dass Jan erklärte, dass ihm andere Formen der Sexualität näher lagen als das Übliche. Ole wollte natürlich wissen, um welche anderen Formen es sich dabei handelte.
„Zum Beispiel gefesselt zu werden“, erläuterte Jan.
„Oh, S/M“, sagte Ole. „Das hätte ich wirklich nicht gedacht. Das finde ich wirklich spannend; vielleicht sollten wir da etwas ausprobieren.“
Das ging Jan eindeutig zu weit, obschon er die Aussicht, von Ole gefesselt zu werden, nicht reizlos fand.
„Jetzt sei nur nicht feige“, sagte Ole, der inzwischen eine Pferdepeitsche in der Hand hatte. „Ich kann damit umgehen, glaub mir.“
Jan spürte, dass er keine Chance mehr hatte, Oles Ansinnen abzuwehren, und ließ sich schließlich an den Küchentisch schieben.
„Beug dich da rüber“, herrschte ihn Ole schließlich an.
„Du musst mich aber festbinden“, sagte Jan, aber Ole entgegnete, dass Jan nicht in der Position wäre, ihm etwas vorzuschreiben.
„Als richtiger Mann wirst du wohl etwas ertragen können“, sagte Ole. Er hatte offenbar überhaupt nicht verstanden, worauf es Jan ankam.
Jan beugte sich über den Tisch und ließ sich die Hose herunterziehen. Schon der erste Peitschenhieb war so schmerzhaft, dass er befürchtete, er könnte seine Besinnung verlieren. Er hatte nicht ansatzweise vermutet, dass es derartig schmerzhaft war, ausgepeitscht zu werden.
Drei Hiebe hielt er aus, bis er aufsprang und in sein Zimmer rannte. Es dauerte Weile, bis Ole hinterher kam und sagte, dass er es wohl ein bisschen übertrieben hatte. Jan schwieg dazu. Immerhin hatte er die Erfahrung gemacht, dass er mit S/M genauso wenig anfangen konnte wie mit gewöhnlichem Sex.
Er dachte darüber nach, warum es so schwer zu vermitteln war, dass es ihm am Besten gefiel, einfach nur gefesselt zu sein. Sonst nichts, kein Sex, keine Peitschenhiebe, keine sonstigen Inszenierungen, einfach nur gefesselt.
Jan beschloss, sich demnächst wieder mit Malte zu verabreden. Eigentlich hatte er vorgehabt, an diesem Abend Niklas zu treffen. Aber er befürchtete, dass Niklas die Striemen sehen würde und er in die Verlegenheit kommen konnte, darüber Erklärungen abgeben zu müssen. So deutlich wie er sie spürte, waren sie auch zu sehen, da war er sich sicher.
Ole aber schien nach dieser Begebenheit auf den Geschmack gekommen zu sein. Er hatte seitdem immer wieder Begegnungen mit anderen Männern, bei denen auch seine Peitsche zum Einsatz kam.
Am nächsten Morgen ging Jan zu Niklas, zum Frühstücken; es war ein Samstag. Niklas eröffnete ihm, dass er nachmittags ein Seminar hatte.
Eigentlich wollte Jan das Wochenende komplett mit Niklas verbringen; es war gerade eine Zeit, in der er ein starkes Bedürfnis nach Geborgenheit verspürte, und Niklas war der einzige, der ihm das vermitteln konnte. Er entschied sich, bei Niklas zu bleiben, bis er wieder von dem Seminar zurückkam.
Als er auf Niklas Bett lag und über den misslungenen S/M-Versuch mit Ole nachdachte, klopfte es an der Zimmertür.
Es war Peter, Niklas Mitbewohner. Er setzte sich zu Jan auf das Bett und sagte,
„Weißt du, ich bin ja zwar hetero, aber ich dachte, es wäre durchaus angebracht, es auch mal mit einem Mann zu versuchen.“
„Wie meinst du das?“
Jan war wirklich nicht klar, worauf Peter hinaus wollte.
„Na ja, du weißt doch, das mit der Zwangsheterosexualität. Es ist ja schon wichtig, solche Strukturen zu durchbrechen und ich finde du und auch dieser Freund von dir, du weißt schon.“
„Ole?“
Das war nicht schwer zu erraten; Jan hatte ja schließlich nicht so viele Freunde.
„Ja, Ole. Ihr seid da ja wirklich frei und ich denke, es wird für mich auch mal Zeit, den Horizont zu erweitern.“
Dann fing er an, sich auszuziehen, und legte sich zu Jan ins Bett. Jan fühlte sich ziemlich überrumpelt und wusste überhaupt nicht, wie er reagieren sollte. Eigentlich war er unfähig zu reagieren; er fühlte sich, als wenn er gelähmt gewesen wäre.
„Ziehst du dich auch aus?“, fragte Peter.
„Ich weiß nicht“, versuchte Jan ihn abzuwehren. „Das mit dem Sex ist ja nicht so einfach.“
„Was ist da das Problem? Ich meine, wir sind doch frei zu tun, was wir wollen. Es gibt da keine Zwänge, wenn wir den bürgerlichen Scheiß ablegen, oder?“
„Na ja“, entgegnete Jan. „Ich habe halt eine Phimose.“
Er wusste aber, dass er mit diesem Argument nicht weit kommen würde. Er hasste es, wenn man ihn zwingen wollte, frei zu sein; er wollte gar nicht frei sein. Aber er kam argumentativ dagegen nicht an; er lebte nun mal in einem Umfeld, in dem es dazu gehörte, frei zu sein, oder zumindest, frei sein zu wollen.
Er stand auf und fing an, sich auszuziehen. Als er sich die Unterhose herunterzog, fragte Peter. „Was ist das?“, und berührte mit dem Zeigefinger Jans Po.
„Was meinst du?“
„Die Striemen, wo hast du denn diese Striemen her?“
„Da sind keine Striemen. Ich weiß auch nicht, wo die herkommen sollen.“
Wieder war Jan argumentativ eindeutig in der Defensive.
„Also ich würde nie jemanden zum Spaß verletzen“, bemerkte Peter. „Auch beim Sex nicht; das finde ich nicht in Ordnung.“
Jan legte sich neben Peter, der ihn dann fragte, wie das jetzt weitergehen sollte.
„Ich kenne mich ja mit schwulem Sex nicht so aus“, sagte er.
Jan kannte sich aber auch nicht damit aus und gab daher keine Antwort.
Dann fing Peter an, Jan zu küssen und fasste kurz darauf seinen Schwanz an. In diesem Moment fing Jan an, heftig zu zucken, sodass Peter ihn erschrocken losließ.
„Habe ich dir wehgetan?“, fragte er. Jan schüttelte den Kopf.
„Das mit dem Sex geht halt nicht“, sagte er.
Er machte den Vorschlag, einfach nur zusammen im Bett zu liegen. Doch Peter hielt es nicht lange aus, neben Jan im Bett zu liegen.
„Ich wollte dir nicht wehtun“, sagte er, als er schließlich aufstand.
Jan hätte gerne etwas Erklärendes gesagt, weil er Peter eigentlich mochte, aber es fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können. Als Peter gerade das Zimmer verlassen wollte, sagte Jan. „Peter“, ohne zu wissen, was er weiter sagen sollte.
„Ist alles ok?“, fragte Peter darauf hin und Jan nickte.
Jan fühlte sich richtig schlecht, nachdem Peter gegangen war. Dass er gerade wieder derartig mit seiner Sexualität konfrontiert wurde, den Tag zuvor schon mit Ole und jetzt mit Peter, war mehr als unangenehm.
Wieder zu erfahren, dass für ihn Sex in erster Linie mit Schmerz verbunden war und mit dieser Lähmung, die ihn unfähig machte, adäquat auf solche Situationen zu reagieren, war für ihn nur schwer erträglich. Am Liebsten wäre ihm gewesen, man würde Sexualität komplett abschaffen; er dachte, er wäre wohl der einzige, der solche Gedanken hatte.
Zum Glück kam irgendwann Niklas wieder und erlöste Jan von seinen Grübeleien.
„Du liegst ja schon im Bett“, sagte er mit seinem Len-Jan-Nik-Grinsen und zog sich auch gleich aus.
Jan fühlte sich erleichtert und geborgen, als er mit Niklas kuschelte; dafür gab es die höchste Punktzahl auf der Fieberkurve, obwohl ihn Niklas noch nicht einmal festgehalten hatte. Überhaupt war das Wochenende mit Niklas so entspannend und aufbauend, wie es Jan schon länger nicht mehr erlebt hatte.
„Ich bin froh, dass ich dich habe“, sagte Niklas und es tat sehr gut, so etwas zu hören.
Mit Ole gab es in der folgenden Zeit immer wieder Diskussionen um Jans Sexualität. Ole war der Meinung, dass Jan verklemmt war und unbedingt Maßnahmen ergreifen musste, das zu ändern. Doch Jan wehrte alle seine Vorschläge, wie er „so richtig rangenommen“ werden müsste, erfolgreich ab.
Stattdessen verabredete er sich einige Zeit später wieder mit Malte. Der konfrontierte ihn aber gleich auch mit einem Ansinnen, das Jan ziemlich verunsicherte.
„Ich denke, diesmal bist du dran mich zu fesseln, ok?“, sagte er.
„Mit Seilen ist mir das zu heikel; da lasse ich mich nicht gerne von einem Anfänger fesseln. Aber mit Handschellen und Ketten geht das bestimmt.“
Malte zeigte ihm seine Handschellen, Fußfesseln und Verbindungsketten. Dabei erklärte er genau, wie sie funktionierten, wie man die Handschellen so verriegelte, dass sie sich nicht weiter schließen konnten, und was es beim Anlegen zu beachten gab. Er demonstrierte seine Erläuterungen an Jans Handgelenken und ließ dann Jan an seinem Handgelenk üben. Jan fand diesen Lehrgang ziemlich erregend. Ihm kamen dabei die Bilder in den Sinn, wie er mit Kay auf dem Pfadfinder-Zeltlager das Fesseln geübt hatte.
Schließlich sagte Malte. „Dann fangen wir mal an, oder?“
Er stand auf und setzte sich auf den Boden.
„Du musst mich jetzt führen“, sagte er. „Du überlegst dir jetzt, was du mit mir vorhast und führst mich in die Positionen, in denen du mich haben willst, ok?“
Jan nickte.
Allerdings hatte er keine Idee, was er tun sollte, und hielt unentschlossen ein Paar Handschellen in der Hand.
„Ist es so ok, wie ich hier sitze?“, fragte Malte und Jan nickte wieder, weil ihm nichts anderes einfiel.
Dann kam ihm plötzlich diese Geschichte in den Sinn, die Kay ihm damals erzählt hatte, wie in früheren Zeiten die Kinder in der Schule bestraft wurden. In Gedanken sah er sich, wie er so gefesselt war, die Arme um die Beine geschlungen mit dem Lineal zwischen Armen und Knien. Es kam ihm eigenartig vor, sich selbst so zu sehen, wo er doch nie so gefesselt wurde.
Nach und nach kamen ihm auch die Auseinandersetzungen in den Sinn, die er mit Kay wegen dem zerbrochenen Flugzeug hatte, und wie er sich wünschte, von Kay bestraft zu werden.
„Lass dir ruhig Zeit“, unterbrach ihn Malte in seinen Gedanken. „Es gibt überhaupt keinen Grund zur Eile.“
Jan ging zu ihm und forderte ihn auf, ihm die Hände entgegenzustrecken, indem er die Handschellen in seine Richtung hielt. Nachdem er sie ihm angelegt hatte, nahm Jan ein Paar Fußfesseln und legte sie Malte ebenfalls an. Dann verkürzte er die Kette und verband sie mit den Handschellen; Malte war jetzt gezwungen, mit seinen Armen seine angewinkelten Beine zu umfassen.
Jan war erstaunt, wie sehr es ihm gefiel, Malte in Ketten zu legen. Er setzte sich an den Tisch und sah zu, wie Malte den Bewegungsspielraum testete, den er noch hatte. Und der war noch einigermaßen groß, weil die Verbindungskette von Hand- und Fußfesseln einige Glieder lang war.
Es gefiel Jan, ihm zuzusehen, wie er versuchte, sich gegen seine Fesseln zu bewegen.
„Alles ok?“, fragte er und Malte nickte.
Jan ging in die Küche, um einen Tee zu kochen. Er merkte sich die Uhrzeit, die er auf der Uhr am Herd ablesen konnte und beschloss, Malte nach genau zwei Stunden und zweiundzwanzig Minuten wieder zu befreien.
Nachdem er den Tee gekocht hatte und wieder zurück in das Zimmer kam, in dem Malte saß, beschloss er, dass es Zeit für die Stange war. In der Küche hatte er einen Staubsauger entdeckt, bei dem sich ein Stück von dem Saugrohr abnehmen ließ. Jan sah sich in dem Zimmer um, um sich zu vergewissern, dass es wirklich nichts Geeigneteres gab, um Maltes Fesselung zu intensivieren. Dann ging er in die Küche und nahm das Rohr; es war aus Metall und passte daher auch ganz gut zu den anderen Fesseln.
Er ging damit zu Malte und positionierte, ohne etwas dabei zu sagen, seine Arme und Beine so, dass er das Staubsaugerrohr zwischen Arme und Knie durchstecken konnte. Die Fesselung, die vorher noch recht locker war, wurde durch diese Maßnahme ziemlich eng; zu eng, als dass Malte seine Arme oder Beine noch bewegen konnte.
Als er sich an den Tisch setzte und Malte beobachtete, fand Jan, dass er wirklich gut aussah, so wie er auf dem Boden saß, mit dem Rohr zwischen Armen und Knien.
Was allerdings irritierte, war sein Geruch, an den sich Jan wohl nie gewöhnen konnte. Dadurch, dass es ziemlich warm und Malte daher auch verschwitzt war, wurde der noch deutlich verstärkt; Jan überlegte sich, ob es wirklich eine Mischung aus Deo und Schweiß war oder vielleicht doch Maltes eigener Körpergeruch.
„Ich hab mal einen Film gesehen“, sagte er. „Da wurden die Kinder in einem Internat auf diese Weise bestraft, wenn sie sich nicht benahmen.“
Malte nahm die Erläuterung wortlos zur Kenntnis. Jan nahm sich ein Buch über Bondage, das er gefunden hatte, und las darin, während er wartete, bis die 2 Stunden und 22 Minuten vorüber waren. Er schaute immer wieder auf Malte und beobachtete ihn von Zeit zu Zeit sehr aufmerksam, wie er seine Hände oder seine Füße versuchte zu bewegen.
Als die Zeit vorüber war, zog er das Rohr wieder heraus und ließ Malte etwa eine weitere Viertelstunde sitzen, bis er anfing, ihn loszuketten. Die Handschellen hatten deutliche Spuren an seinen Handgelenken hinterlassen.
„Das war ne gute Idee mit dem Rohr“, sagte Malte, als sie zusammen am Tisch saßen. „Aber das mit der Schule glaube ich dir nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Film gibt, in dem Kinder so bestraft werden.“
Jan kommentierte diese Einschätzung nicht weiter. Nach dem gemeinsamen Tee begleitete ihn Malte zur Wohnungstür.
„Kann ich dich auch mal anrufen?“, fragte er, als Jan seine Schuhe anzog.
Jan bejahte und gab ihm Niklas Telefonnummer. Bei Ole gab es kein Telefon, da Ole der Meinung war, dass man Telefone als staatliche Zugriffsinstrumente vermeiden sollte. Er sagte, dass Malte einfach eine Nachricht hinterlassen konnte, wenn er nicht da war.
Dabei verschwieg er, dass in dieser Wohnung auch sein Beziehungspartner wohnte. Malte wusste nichts von Niklas; er hatte allerdings auch nie danach gefragt.
Seit er zu Ole gezogen war, hatte sich Jans Leben ziemlich geändert. Er verbrachte oft die ganze Nacht damit, mit Ole zu diskutieren oder Gedichte zu lesen; regelmäßig nahm er mit Ole LSD. Ansonsten verbrachte er die Zeit mit Niklas - wenn er nicht gerade arbeitete.
Er hatte so gut keine mehr Zeit für sich, obwohl ihm das immer sehr wichtig gewesen war. Die Abende, an denen er alleine war und über die unterschiedlichsten Dinge nachdachte, die langen Spaziergänge, das gab es alles nicht mehr. Dafür war die Zeit mit Ole sehr intensiv. Jan hatte das Gefühl, innerhalb von einigen Monaten mehr gelernt und erfahren zu haben, als in seinem ganzen Leben zuvor. Vor allen Dingen brachten die chemisch veranlassten Reisen in sein Inneres Erfahrungen mit sich, die spannender und aufregender nicht sein konnten.
Zugleich entwickelte sich seine Beziehung mit Niklas zunehmend zu einer Konstante in seinem Leben, die ihm sehr viel Sicherheit gab. Das Leben in dieser Konstellation jetzt, mit Ole und mit Niklas, war überhaupt nicht zu vergleichen mit dem, was er lebte, bevor er Niklas kennen gelernt hatte. Auch wenn es sehr anstrengend war, fühlte sich Jan wirklich gut in der Situation, in der er lebte.
Einige Wochen nach dem Treffen rief Malte tatsächlich bei Niklas an. Jan rief ihn zurück und traf mit ihm eine Verabredung, wie immer bei ihm, im Wedding.
Diesmal war er wieder dran, gefesselt zu werden. Malte fragte ihn, wie er es am Liebsten mochte und Jan bat ihn, ihn in etwa so zu fesseln, wie er es zuvor auch schon getan hatte, mit Handschellen und Ketten.
„Ja, das war gut, nicht?“, sagte Malte.
Diesmal musste Jan mit den Händen auf dem Rücken mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben. Als Variation hatte er nicht die Gelenkhandschellen, sondern welche mit Kette, und dafür, was Jan besonders spannend fand, zusätzlich Daumenschellen. Die hatten den Effekt, dass seine Handgelenke wie fixiert waren; geringer konnte der Bewegungsspielraum seiner Hände hinter dem Rücken gar nicht sein.
Er musste eine ziemlich lange Zeit so gefesselt mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben.
Nachdem Malte ihn wieder losgekettet hatte, sagte er plötzlich: „Ich bin in dich verliebt.“
Er stand dabei auf, stellte sich hinter Jan und fing an Jans Schulter zu massieren. Jan war unfähig etwas zu sagen; das war wirklich eine unangenehme Überraschung.
„Du brauchst jetzt nichts dazu zu sagen“, sagte Malte. „Denk einfach darüber nach, wie du zu mir stehst, und gib mir Bescheid, wenn du soweit bist.“
Irgendwie war Jan fasziniert, mit welcher Sachlichkeit es Malte verstand, auch dieses Thema abzuhandeln. Aber es war vollkommen klar, dass er sich nicht auf Maltes Verliebtsein einlassen konnte.
Nachdem er gegangen war, ärgerte er sich darüber, dass er nichts dazu gesagt hatte, noch nicht einmal, dass er bereits in einer Beziehung lebte. Das war wieder typisch, dachte er, sich von so einer Situation so sehr überrumpelt zu fühlen, dass er unfähig war, darauf angemessen zu reagieren.
Ein paar Tage später entschloss sich Jan, sich mit Malte zu verabreden und ihm zu sagen, dass er in einer Beziehung lebte. Er holte Malte zu einem Spaziergang ab, der schon nach kurzer Zeit beendet war.
Nachdem Jan erzählt hatte, dass er seit fast drei Jahren schon mit Niklas in einer Beziehung lebte, sagte Malte nur, dass er unter dieser Voraussetzung den Kontakt mit Jan abbrechen wollte. Er wollte noch nicht einmal mehr von Jan nach Hause begleitet werden.
Jan fühlte sich anschließend richtig schlecht, aber er hatte keine andere Möglichkeit gesehen, mit Maltes Anliegen umzugehen. Auch wenn er ihn attraktiv fand und seine nüchterne Art gerne mochte, eine Beziehung mit Malte konnte er sich wirklich nicht vorstellen. Selbst wenn er nicht mit Niklas schon einen Partner gehabt hätte.
Überhaupt war dieser Herbst eine Zeit der Trennung. Auch Max sagte, dass er den Kontakt mit Jan endgültig beenden wollte, nachdem immer deutlicher wurde, dass sie nichts miteinander anfangen konnten. Das Ende des Verhältnisses mit Max empfand Jan fast schon als Erleichterung. Dass ihm dieser Junge, den er ja wirklich einmal sehr gemocht hatte, so gleichgültig geworden war, machte ihn jedes Mal traurig, nachdem sie sich getroffen hatten.
Immerhin hatte Jan den Eindruck, dass Max inzwischen die Trennung von Ingve überwunden hatte und nicht mehr diese depressive Stimmung verbreitete, die ihn zusätzlich befremdet hatte.
So war nicht nur das Ende der spannenden Treffen mit Fesselungen erreicht, sondern auch definitiv das Ende des Kapuzenzaubers.
Eigentlich war es schon die Zeit, in der Jan üblicherweise fast nur noch mit Kapuze auf dem Kopf draußen war; es war immerhin Oktober. Aber diesen Herbst verzichtete er darauf; er hatte die Idee, dass er sich daran gewöhnen sollte, Kälte auszuhalten, zumindest die mäßige Kälte des Herbstes.
Es konnte kein Zufall sein, dass genau an dem ersten Tag nach Beendigung des Zivildienstes Jans Ohren anfingen zu schmerzen. Er hatte noch über drei Wochen Urlaub über und daher bereits Anfang November seinen letzten Arbeitstag an seiner Zivildienststelle.
Am dritten Tag danach waren die Schmerzen so stark, dass er einen Arzt aufsuchte, der ihm Antibiotika verschrieb und Bettruhe verordnete. Selbst die hohen Dosen an Schmerzmittel, die Jan nahm, reduzierten kaum die Schmerzen auf ein erträgliches Maß.
Er schlief nicht mehr, aß nichts mehr und versuchte nur eine Stunde nach der anderen zu überstehen und nicht seinem Wunsch zu sterben nachzugeben.
Ole und Niklas beobachteten das Ganze mit zunehmender Hilflosigkeit. An einem Tag bugsierten sie ihn in ein Krankenhaus, weil sie dachten, er würde ihnen tatsächlich wegsterben. Doch dort schickte man sie wieder weg; wahrscheinlich, weil sie Jan für einen Drogenabhängigen hielten.
Nach etwa eineinhalb Wochen ließen die Schmerzen innerhalb von wenigen Stunden deutlich nach. Jan fiel vor Erschöpfung in einen tiefen und lang anhaltenden Schlaf, bevor er etwa zwei Tage später aufwachte und entkräftet zu den Lebenden zurückkehrte. Es war mit Abstand das schlimmste Kranksein, das er bis dahin erlebt hatte.
Es war aber auch deswegen sehr typisch: Wieder kündigte sich ein Wandel in seinem Leben an; das Ende des Zivildienstes, die Trennung von Malte und Max. Und wer wusste schon, was sonst noch kommen sollte.
Auf jeden Fall hatte es die Wirkung, dass er seitdem genau darauf achtete, seine Ohren nicht mehr kalt werden zu lassen.
Es gab noch eine Veränderung, die sich erst einige Wochen nach der Ohrenentzündung ankündigte. Bei der ersten LSD-Nacht mit Ole, die er danach verbrachte, hatte er keine gedankliche Verbindung mehr zu ihm. Ole war das auch aufgefallen. Sonst lasen sie in solchen Nächten ihre Gedanken, die ihnen vollkommen offen lagen, doch diesmal gab es nichts zu lesen; für beide nicht.
Jan war stattdessen dabei, die Innereien seiner Ohren und sonstigen Schädelöffnungen zu erforschen und auch den Schaden zu untersuchen, den die Entzündung hinterlassen hatte.
Er fragte sich, ob das der Grund für die fehlende Verbindung mit Ole war, oder vielleicht der Umstand, dass er nicht mehr arbeitete und er und Ole daher viel mehr Zeit miteinander verbrachten als vorher.
Es blieb auch nicht bei dieser Veränderung; das Verhältnis mit Ole gestaltete sich insgesamt zunehmend schwieriger. Immer häufiger traten Missverständnisse auf und vor allen Dingen sah sich Jan auch zunehmend unverständlichen Beschimpfungen und Anschuldigungen ausgesetzt.
Insbesondere bemängelte Ole, dass sie kein körperliches Verhältnis miteinander pflegten und sich Jan seinen S/M-Versuchen „systematisch“ entzog, wie er sich ausdrückte. Aber für Jan gab es dazu keine Alternative; ein körperliches Verhältnis mit Ole konnte er sich nicht vorstellen, es passte einfach nicht, und schon gar nicht S/M. Selbst wenn ihn Ole gefesselt hätte, es hätte nicht funktioniert, da war sich Jan sehr sicher.
Nach ein paar weiteren Wochen war es ihnen unmöglich, zusammen LSD zu nehmen, ohne sich dabei beide extrem unwohl zu fühlen. Jan hatte obendrein den Eindruck, dass ihm das LSD generell nicht mehr gut tat und er besser keines mehr nehmen sollte; zumindest für einige Zeit nicht mehr.
Er hatte sich obendrein entschieden, wieder ein Studium zu beginnen, nicht zuletzt weil er sonst keine Idee hatte, was er nach der Zivildienstzeit tun sollte. Auch das empfand Ole fast schon als Vertrauensbruch.
Jan war immer öfter bei Niklas und begann auch seine Bewerbung für ein Kunststudium vorzubereiten. Niklas fand sein Vorhaben gut, auch wenn er nicht verstanden hatte, warum Jan ausgerechnet Kunst studieren wollte.
Schließlich eröffnete ihm Ole, dass er nicht mehr mit ihm zusammenleben konnte, und zog auch zwei Wochen später aus. Das war kurz nach Jans Geburtstag, im Februar.
Peter aus Niklas WG vermittelte Jan einen neuen Mitbewohner, der viel arbeitete und selten zu Hause war. Auch wenn er oft alleine da war, fühlte sich Jan dennoch fremd in seiner Wohnung, ohne Ole, die eigentlich Oles Wohnung war.
Er hielt sich daher die meiste Zeit bei Niklas auf, da konnte er sich zu Hause fühlen. Bei all diesen Veränderungen, die ja im Wesentlichen Trennungen waren, tat es gut, mit Niklas etwas zu haben, was ihm so etwas wie eine Kontinuität vermitteln konnte.
Das mit dem Kunststudium klappte nicht, das war schon in einem frühen Stadium der Bewerbung absehbar. Die Professoren, die er zur Beratung aufsuchte, klappten seine Mappe zu, nachdem sie zwei, drei Bilder gesehen hatten und sagten, dass er sich mit so etwas gar nicht erst bewerben sollte. „Aquarelle macht man heutzutage nicht mehr“, erfuhr er.
Jan entschied sich dann, stattdessen Mathematik zu studieren; das war eine ziemlich spontane Entscheidung, die ihn selbst auch ein wenig überrascht hatte. Er wusste nicht genau warum, aber es war auch nach längerem Nachdenken eine Entscheidung, bei der er ein gutes Gefühl entwickeln konnte. Der Gedanke an ein Mathematikstudium fühlte sich einfach gut an.
Obendrein gab es auch keine Probleme, selbst kurzfristig einen Studienplatz in Mathematik zu erhalten.
Jan hatte einen Winter hinter sich, den er kaum genossen hatte. Er war sehr wenig draußen, und meist auch nur kurz, weil er befürchtete, wieder eine solche schmerzhafte Entzündung zu bekommen. Überhaupt hatte er das Bedürfnis, sich zurück zu ziehen, so stark wie schon lange nicht mehr.
Dass er dabei auch die Mütze-und-Kapuzen-Zeit fast vollständig verpasste, wurde ihm erst klar, als es schon Frühjahr und damit zu spät war.
Erst nach und nach bemerkte er, dass ihn die Trennungen, von Malte, von Max und von Ole, ziemlich traurig machten. Sie ließen ihn seine Einsamkeit und Isolation wieder sehr deutlich spüren; da half es auch nicht, dass er sich mit Niklas recht gut verstand.
Über eine Zeit von mehreren Monaten hinweg hatte Jan das Gefühl, dass sich die Welt immer weiter von ihm entfernte. Oder, dass sich etwas zwischen ihn und die Welt schob, was sie voneinander immer mehr trennte, wie eine Glasscheibe, die sich zunehmend eintrübte.
Er verlor seine Gefühle zu den Dingen, selbst Kapuzen und Fesselungen bedeuteten immer weniger und irgendwann nichts mehr. Alles sah zunehmend so aus, als wenn es sehr weit, unerreichbar weit, entfernt wäre; die Geräusche kamen von weit her. Jan spürte, dass von ihm umgekehrt auch immer weniger nach außen drang; er wurde unsichtbar und unhörbar.
Am schlimmsten war, dass auch Niklas nicht mehr durchdringen konnte und Jan nicht mehr zu ihm.
Im Sommer schließlich gab es den Moment, in dem Jan feststellen musste, dass er komplett von außen isoliert war; das vermittelte ihm wenigstens seine Wahrnehmung.
Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einem solchen Zustand wiederfand, daher wusste er, dass es wieder vorüber gehen würde. Dass er zumindest hoffen könnte, dass es wieder vorüber ginge und die Glasglocke, unter der er jetzt gefangen war, sich wieder heben würde.
Es blieb natürlich auch die Befürchtung, dass sich nichts mehr hob und er so den Rest seines Lebens verbringen musste. Aber auch diese Befürchtung verlor sich in diesem Meer aus Gleichgültigkeit, in dem sich alles andere auch auflöste.
Es stellte sich immerhin als eine gute Entscheidung heraus, Mathematik zu studieren. Das Studium passte gut zu Jan und die Thematik war auch sehr interessant, wenn auch ein wenig trivial am Anfang. Jan fand ziemlich schnell in der Algebra und der Zahlentheorie seine Lieblingsbereiche. Die waren deutlich spannender als Analysis und Lineare Algebra, die im Grundstudium üblich waren.
Len
Jan nahm seine Jacke und zog sie sich über. Er hatte vor, zum Spreeufer zu gehen, zu jenem Max-Platz, an dem er schon seit fast drei Jahren nicht mehr war. Es kam ihm unheimlich vor, daran zu denken, wie die Zeit verging.
Max hatte er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, und Malte noch länger nicht; Ole war vor fast zwei Jahren ausgezogen. Die Trennungen waren mit der Zeit zu unveränderlichen Tatsachen geworden und zu einem Teil seiner Biographie geronnen.
Seine Jacke hatte Jan seit etwas mehr als zwei Monaten. Sie zu kaufen war ein spontaner Entschluss gewesen, an jenem Tag Ende November als es in der Nacht den ersten Frost gegeben hatte.
Er hatte lange Zeit keine Jacken mehr getragen, seit seinem Parka nicht mehr, den er seit dem Ende der Beziehung mit Jan nicht mehr getragen hatte, seiner ersten wirklichen Liebe.
Witzigerweise lagen genau neun Jahre dazwischen, zwischen jenem Novembertag, an dem Jan beschloss, seinen Parka nicht mehr zu tragen und dem Novembertag vor zwei Monaten, an dem er sich die Jacke kaufte. Das fiel ihm erst hinterher ein; es waren genau neun Jahre, auf den Tag genau.
Sein Parka hatte schwer gelitten, als sein Bauwagen überschwemmt wurde. Jan hatte ihn zwar immer noch, aber in einem Zustand, in dem er ihn nicht mehr anziehen wollte.
Die neue Jacke hatte natürlich auch eine warme Kapuze, das war schließlich das Wichtigste daran. Jan war mit seinen Ohren sehr vorsichtig geworden; noch einmal wollte er sich nicht mehr diesen unsagbaren Schmerzen aussetzen, die er bei der letzten schweren Entzündung hatte; das war nun auch schon recht lange her, aber dennoch in deutlicher Erinnerung geblieben.
Jan zog sich seine Schuhe an, setzte sich seine schwarze Mütze auf und warf die Kapuze darüber. Sie hatte innen zwar kein Fell, war aber dennoch warm gefüttert und fühlte sich ausgesprochen gut an, vor allem über der Mütze.
Während Jan an diesem Morgen durch die Stadt lief und das warme, geborgene Gefühl genoss, das ihm die neue Jacke vermittelte, dachte er darüber nach, wie sie zu ihm gefunden hatte. Die letzten beiden Winter, nach seiner schweren Ohrenentzündung, hatte er es weitgehend vermieden, sich längere Zeit in der Kälte aufzuhalten. Aber jedes Mal, wenn es im Frühjahr wieder wärmer wurde, merkte er, dass er die Spaziergänge durch die kalte, winterliche Atmosphäre wirklich vermisst hatte.
Es war ein Stück Zuhause, was ihm abhanden gekommen war. Auf der anderen Seite war aber auch klar, dass er nie wieder eine solch heftige Entzündung durchmachen wollte, wie er sie vor zwei Jahren im November hatte.
Letzten Herbst hatte er beschlossen, sich den Winter, seinen Winter, wieder in sein Leben zurück zu holen. Im Grunde genommen musste er ja nur darauf achten, immer warm genug angezogen zu sein; vor allen Dingen am Kopf. Dann sollte es kein Problem sein, auch längere Zeit im Winter draußen zu verbringen, dachte er.
Jan kam der Traum in den Sinn, der den Kauf der Jacke letzten Endes ausgelöst hatte. Er hatte von Len geträumt. Er hatte geträumt, wie er sich vor Schmerzen die Ohren hielt und plötzlich Len erschien, dieser Junge mit Mütze und Fellkapuze darüber, der ihm ein einziges Mal nur in seiner Kindheit begegnet war.
Er hatte bestimmt schon einige Jahre nicht mehr an Len gedacht, aber dennoch konnte er im Traum sein Gesicht so klar und deutlich sehen, als wenn sie sich erst kurz zuvor gesehen hätten. Viel klarer sogar; Lens Gesicht war so deutlich zu erkennen, wie sonst kein Gesicht zu erkennen war.
Jan war fasziniert; jetzt, wo er darüber nachdachte, über diesen Traum, fiel ihm auf, dass sich über Gesichter immer ein leichter Nebel legte, der verhinderte, dass er sie genau erkennen konnte; nur nicht über Lens Traumgesicht. Lens Gesicht war von einer fast unheimlichen Deutlichkeit geprägt.
Was wohl aus diesem Jungen geworden war?
„Hast du keine Mütze?“, fragte Len im Traum und Jan, der sich immer noch die Ohren hielt, schüttelte den Kopf.
„Dann zieh dir doch die Kapuze über, das fühlt sich richtig gut an“, forderte Len ihn auf.
In diesem Moment bemerkte Jan, dass er seinen Parka anhatte, und zog sich die mit Fell gefütterte Kapuze über den Kopf. Das fühlte sich in der Tat gut an, richtig gut. An dieser Stelle verschwand Len wieder und Jan wachte auf. Auch nach dem Aufwachen konnte er genau spüren, wie sich die Fellkapuze auf seinem Kopf anfühlte.
Als wenn er etwas geahnt hatte, stand er gleich auf und sah aus dem Fenster. Überall war Raureif zu sehen; es war in diesem Winter das erste Mal kalt geworden.
Was dann geschah, fand Jan umso eigenartiger, je mehr er darüber nachdachte. Ohne dass er davor daran gedacht hatte, war plötzlich klar, dass er eine Jacke haben wollte; eine mit Kapuze natürlich.
Damit wären auch seine Ohren wesentlich besser geschützt als mit den Kapuzen seiner Kapuzenpullover. Es war eine durch und durch gute und passende Entscheidung.
Er ging gleich nach dem Frühstück los, in irgendeine Richtung, ohne darüber nachzudenken, wo er hinging. Schließlich hatte er schon von weitem in einem Schaufenster eine schwarz-graue Jacke gesehen. Sie war in einem Secondhandladen und daher auch nicht sehr teuer, was die Entscheidung zum Kauf sicherlich vereinfacht hatte.
Jan zögerte kurz, als er sah, dass sie kein Fell hatte, aber dennoch war klar: Das war die Jacke, die er haben wollte. Und er fühlte sich richtig gut in dieser Jacke.
Während er darüber nachdachte, hörte er wieder Len in Gedanken, wie er seinen Namen ausgesprochen hatte. „Lennart Adrian“, und wie er fragte. „Hast du keine Mütze?“
Dann sah Jan sich selbst, wie er seine schwarze Mütze aus der Tasche seiner neuen Jacke zog, wie er sie sich aufsetzte und die Kapuze seiner neuen Jacke darüber warf.
Eiszeit
Als Jan am Spreeufer ankam, erschrak er kurz. Von weitem sah er jemanden mit einer blauen Kapuze auf dem Kopf. Aber schon schnell war klar, dass es nicht Max sein konnte; weder der Farbton der Kapuze passte, noch die Körpergröße. Max war eindeutig größer als der Träger der blauen Kapuze.
Jan suchte sich einen etwas abgelegenen Platz und setzte sich auf einen Stein.
Er hatte eine schwierige Zeit hinter sich. Nach Oles Auszug zwei Jahre zuvor schloss sich seine Welt wieder ab, langsam, so langsam, dass er erst nach einigen Wochen bemerkte, wie sich die Dinge immer mehr distanzierten und er immer mehr in dieses Lebensgefühl gekommen war, in dem er lebte, bevor er Niklas kennen gelernt hatte.
Eigentlich war es kein Leben, zumindest kein richtiges Leben; es fühlte sich eher wie ein Dahinvegetieren an. Irgendwann im frühen Sommer war alles unerreichbar entfernt gewesen, wie wenn ihn eine Glasglocke umschlossen hielt.
Jans Überlebensstrategie in solchen Zuständen bestand darin, sie zu erforschen, herauszufinden, was dahinter steckte.
Es musste etwas dahinter stecken, da war sich Jan sicher, etwas, was ihn seit seiner Geburt wie ein Schatten begleitete. Er entwickelte die Vorstellung, dass es so sein musste, dass die Dinge und auch die Menschen normalerweise mit einem kommunizierten. Dass sie dadurch erst wirklich würden, dass sie einen ansprachen.
Nur bei ihm war es anders; einzig bei ihm, bei niemandem sonst. Bei ihm war es so, dass in seinen besten Zeiten aus der Kommunikation der Dinge und Menschen sich ständig Missverständnisse ergaben, die den Effekt hatten, dass er sich fremd fühlte.
Egal in welcher Umgebung er sich befand, er gehörte nicht dazu, es war nicht seine Welt, nicht ansatzweise.
In den anderen Zeiten kommunizierten sie gar nicht mehr, weder die Dinge noch die Menschen. Alles war dann völlig unwirklich, wie Träume, unendlich weit entfernt. Entfernt vom ihm, von seiner Welt, in der er lebte und zu Hause war, in seinem klaren, eisigen und unvorstellbar einsamen Zuhause.
Selbst Niklas war unerreichbar in dieser Zeit. Manchmal war es sogar so, dass Jan den Eindruck hatte, gar nichts zu spüren, während er mit Niklas kuschelte. Nichts, einfach nichts; und es tat noch nicht einmal weh.
In dieser Zeit ertappte sich Jan oft dabei, den Wunsch nach Schmerzen zu hegen, damit er überhaupt etwas spürte. Er ertappte sich auch oft bei dem Gedanken, sein Leben einfach beenden zu wollen - aber auch das bedeutete alles nichts. Es sprach nicht, nicht einmal die Schmerzen sprachen oder der Tod.
Glücklicherweise hob sich gegen Ende des Sommers die Glasglocke wieder und ließ sie ein in Jans Welt: Die Gefühle, die Worte, die Wirklichkeit. Zumindest ein wenig; aber immerhin verweigerten sie sich nicht mehr vollständig.
Das Wichtigste war, dass ihm Niklas wieder etwas vermitteln konnte, Geborgenheit vor allen Dingen.
Im Herbst vorletzten Jahres meldete sich Ole wieder bei ihm. Er eröffnete, dass er sich mit HIV infiziert hatte. Ole sprach es zwar nicht so aus, aber es stand der Vorwurf im Raum, dass er mit seinem Leben bezahlen würde, dass er eben auch in Bezug auf seine Sexualität alle bürgerlichen Barrieren überwunden hatte. Jan hatte sie dagegen nicht überwunden und daher auch nichts zu bezahlen.
Er traf sich seitdem immer wieder mit Ole; es stellte sich wieder so etwas wie eine Freundschaft ein. Und eine geistige Nähe, die zwar nicht mehr die der LSD-Zeit war, aber dennoch recht weit ging.
Auch wenn Jan der Abgeschlossenheit wieder entkommen war, zumindest dieser absoluten Abgeschlossenheit, blieb nicht nur eine gewisse Schwere danach. Es blieb auch ein Gefühl einer unüberwindlichen Distanz zu den Dingen. Auch zu Niklas und zu Ole.
Die Glasglocke war ein wenig durchlässiger geworden, aber bei Weitem nicht verschwunden.
Während Jan darüber nachdachte, kam ihm wieder dieses Wort in den Sinn, Autismus. Wie Niklas ihm einmal gesagt hatte, dass er ihm autistisch vorkommen würde.
Bei seiner Arbeit in der Tagesförderstätte hatte Jan zum ersten Mal Autisten kennen gelernt. Nicht aus seiner Tagesförderstätte - da gab es keine - aber aus anderen Einrichtungen, die mal besucht wurden. Sie waren sehr schwer und offensichtlich behindert, die Autisten, die Jan mitbekam, aber sie faszinierten ihn. Er fand, dass Autisten schöne Menschen waren, Menschen, bei denen das Wort „schön“ wirklich passte.
Vermutlich war das auch der Kern von Oles Vorwürfen, die er immer wieder zu hören bekam. Nicht nur, dass er - im Gegensatz zu Ole - überleben würde, weil er zu feige war, wie Ole sich gerne ausdrückte, sich auf Menschen einzulassen.
Sondern auch, weil die Nähe, die er herstellen konnte, auch immer diese abgründige, eigentlich unendliche Distanz aufzeigte, die ja tatsächlich bestand. Je näher ihm jemand kommen konnte, desto deutlicher und klarer zeigte sich der Graben, der Jan von allem anderen trennte.
Es waren die Auseinandersetzungen mit Ole, die Jan das alles klar machten. Sie machten ihm auch klar, dass er den Widerspruch niemals würde auflösen können.
Es war die Sehnsucht nach wirklich absoluter Nähe, durch die zugleich die absolute Isolation erschien, die er lebte, die sein Leben war. Absolute Nähe und absolute Isolation; das gehörte untrennbar zusammen.
Es war wirklich absolut, Autismus war absolut, dachte Jan.
Ihm kam in den Sinn, wie eine seiner Arbeitskolleginnen einmal sagte, und das ziemlich unvermittelt, dass Jan ihrer Meinung nach „autistische Macken“ hatte. Als Jan fragte, was sie damit meinte, konnte sie ihm nicht wirklich antworten. Sie sagte, dass das eben ihr Eindruck war, wie Jan sich verhielt, wie er kommunizierte, wie er sich bewegte; eben alles.
Auch wenn es nicht sehr konkret gewesen war, hatte es hatte Jan zu denken gegeben. Wie ein Schatten begann dieses Wort ihn zu verfolgen, dieses Wort mit dem eigenartig schönen Klang. „Autismus“, mit dem so eigenartig schöne Menschen beschrieben wurden.
Es schien kein Makel zu sein, zu dieser Art Menschen zu gehören. Dennoch fand Jan den Gedanken, Autist zu sein, befremdlich und auch eher abwegig; es war eine eigenartige Vorstellung.
In seinem Fall musste es - wenn überhaupt - eine Art von Autismus sein, die bislang niemand gekannt hatte. Etwas ganz eigenes. Jan war sich wenigstens darüber sicher: In seiner Welt, da war er absolut alleine; da gab es niemanden, der etwas mit ihm teilte, nichts, das ihn ansprach. Schon alleine deswegen war die Erklärung Autismus für das, was er lebte, eigentlich zu schwach.
Überhaupt war es Schlimmste daran, zu wissen, dass letztendlich nichts in der Lage war, zu Jan wirklich durchzudringen, kein Max, kein Niklas, und vermutlich noch nicht einmal Len, wenn es ihn gegeben hätte.
Er musste dabei an Max und Ingve denken. Das hatte er mit Max wohl tatsächlich gemeinsam, zur Zwillingslosigkeit verdammt zu sein. Seit dieser Geschichte mit Max war Jan froh, dass es bei ihm lediglich diese eine Kindheitsbegegnung gab, die sich seither in sein Gehirn eingebrannt hatte. Die Vorstellung, Len wirklich kennen gelernt zu haben, um dann festzustellen, dass er ihm auch nicht nahe kommen konnte, war unerträglich.
Die Wahrheit allerdings, die sich in Jans Leben offenbarte, die Unmöglichkeit, die eigene Isolation zu überwinden, war eigentlich ebenso wenig erträglich. Da waren die ganzen philosophischen Tiefen, die sich bei Jans Forschungen auftraten, nur ein schwacher Trost.
Auch die spannenden und interessanten Begegnungen, die es tatsächlich ja immer wieder gegeben hatte, und die Schönheit der Dinge, die sich auftaten, beispielsweise der Zahlen, machten es nicht gut.
Am Ende stand das alles unter einem Schatten. Es gab diesen Begleiter, der alle Versuche, dieser trostlosen und menschenleeren Heimat zu entkommen, systematisch hintertrieb.
Und es gab diesen Drang, diese Sehnsucht, die Jan immer weiter in die Fremde zog.
Jan überlegte sich, ob er als Kind wohl glücklich gewesen war, glücklich in einer abgeschlossenen Welt zu leben; unbehelligt von Sehnsüchten, Ängsten oder Anforderungen. Er wusste es nicht. Vielleicht war es auch die Hölle, seine Kindheit in der Isolation, er konnte es wirklich nicht sagen.
Dennoch war er sich sicher, dass diese abgeschlossene Welt, in die er mal mehr, mal weniger eintauchte, die Welt seiner Kindheit war. Dass es irgendetwas gab, was ihn in seiner frühen Jugend heraus gedrängt hatte aus dieser Welt; etwas, was vielleicht mit dieser Begegnung mit Len zu tun hatte.
Es war sehr schwer zu fassen, dieses Etwas, was sein Leben durchzog und auch bestimmte.
Nachdem seine frühere Arbeitskollegin meinte, dass er ihr autistisch vorkommen würde, dachte Jan über die Möglichkeit nach, dass er vielleicht als Kind wirklich autistisch gewesen war; so wie die autistischen und dadurch schwer behinderten Kinder, mit denen er schon zu tun gehabt hatte.
Und es sich nun irgendwie verflüchtigt hatte, der Autismus; im Wesentlichen, aber eben nicht ganz.
Dafür sprach auch, dass er vor der Regelschule in eine Sonderschule gegangen war und auch in der Grundschule deutliche Probleme hatte, vor allen Dingen mit anderen Kindern. Er konnte sich auch erinnern, dass er den Lärm von Staubsaugern nicht vertragen konnte, den Geruch von Marmelade oder den Friseur und jedes Mal schrie, wenn er solchen Dingen ausgesetzt wurde.
Das hatte sich alles mit der Zeit nicht gerade gelegt, aber deutlich entschärft. Dennoch fand Jan, dass es zwar sicherlich eine mögliche Erklärung war, aber keine wirklich befriedigende.
Solche Gedanken führten ihn regelmäßig auch zu der Frage, ob es vielleicht einen Zusammenhang gab zwischen dem Umstand, dass seine Welt eine ganz und gar innere und gedankliche Welt war und ihm spezielle Dinge, wie die Mathematik oder die Physik, so leicht fielen.
Überhaupt fielen ihm die Dinge besonders leicht, die von Regelmäßigkeiten bestimmt waren und berechnet werden konnten. Die Mathematik war einfacher als die Physik und die Physik einfacher als die Chemie oder die Biologie.
Als Jugendlicher war er davon überzeugt, mit Hilfe der Mathematik die Menschen und menschliche Beziehungen wie Freundschaften verstehen zu können. Aber letztendlich blieb beides weitgehend unverständlich.
Jan interessierte sich auch sehr für die Kunst, für die Malerei vor allen Dingen, aber auch für die Literatur. Hier waren seine Leistungen aber nicht so sehr von den Erfolgen gekrönt, wahrscheinlich, weil er seine Bilder und Texte ausschließlich für sich malte oder schrieb.
Er hatte anderen nichts mitzuteilen.
Wie auch immer er sein Leben zu erklären versuchte, es gab darin Dinge, die zweifelsfrei feststanden. Beispielsweise, dass er als Kind in einer weitgehend abgeschlossenen Welt lebte.
Nach den Hinweisen zu urteilen, die ihm seine Erinnerungen an seine Kindheit und die Schilderungen und Andeutungen seiner Eltern gaben, muss diese Kindheitswelt wirklich sehr abgeschlossen gewesen sein. Wahrscheinlich noch in ganz anderer und grundlegender Weise, als die Zustände, die Jan jetzt als „Glasglockenzeiten“ erlebte.
Es stand auch fest, dass sich das in einer Zeit geändert hatte, als er etwa elf oder zwölf Jahre alt war, vielleicht auch 13. In dieser Zeit muss es zu einer fast schon schicksalshaften Kontaktaufnahme mit dieser anderen Welt, der wirklichen Welt, gekommen sein.
Und seitdem lebte Jan zum Teil in der Isolation seiner eigenen Welt, zum Teil aber auch in der fremden äußeren Welt. Es schien unmöglich, die Welt seiner Kindheit ganz hinter sich zu lassen und ganz in die neue Welt zu gelangen; es gab aber auch keinen Weg zurück.
Dieses Dasein zwischen den Welten war eine äußerst ungünstige Voraussetzung für sein Leben, aber es gab kein Entkommen, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Niklas konnte das Dilemma, in dem sich Jan befand, nicht nachvollziehen. Es war überhaupt ein Kennzeichen dieses Dilemmas, dass es scheinbar niemand nachvollziehen konnte.
Es schien im Gegenteil sogar unmöglich zu sein, zu beschreiben, wie es wirklich war und wie es sich anfühlte, in solch zwei unterschiedlichen Welten zu leben, besser gesagt, in keiner dieser Welten richtig zu leben.
Niklas wirkte oft hilflos, wenn er mitbekam, wie Jan lautlos unter seiner Glasglocke litt. Aber selbst dieses gefühllose Leiden war nicht vermittelbar. Es gab keine Sprache, nichts, in dem es sich auch nur ansatzweise mitteilen konnte.
Deswegen empfand Jan seine Isolation als eine doppelte Isolation, als eine, die nicht nur durch die besondere Konstellation der Welten zustande kam, in denen er lebte.
Sondern auch als eine, die sich darin ausdrückte, dass es unmöglich war, diesen Umstand anderen mitzuteilen, der sein Leben prägte wie nichts anderes.
Vielleicht war Autismus etwas, was sich grundsätzlich nicht teilen und daher auch nicht mitteilen ließ, dachte Jan, vielleicht war genau das eine Definition dafür. Nicht teilen zu können; der Gedanke gefiel ihm.
Aber es gab zum Glück auch Dinge, die dieses Isoliertsein zu lindern in der Lage waren. An erster Stelle die Freude an den Erkenntnissen, die Jan immer wieder zuteil wurden, wenn er über seine Welten nachdachte.
Gleich danach Niklas, mit dem er kuscheln konnte; selbst dann, wenn er dabei nichts fühlte, gab es Jan doch so etwas wie Geborgenheit.
Und auch das Haschisch, von dem Jan zunehmend Gebrauch machte. Das hatte er bemerkt, während er mit Ole zusammenwohnte, dass ein Joint manchmal auf wundersame Weise helfen konnte, die Schatten zu vertreiben, die sich über ihn legten.
Was auch zunehmend Bedeutung erlangte, waren die Bilder, die Jan malte, und die Texte, die er schrieb. Auch wenn er es niemandem zu lesen gab; sie waren ein Weg, das Unbeschreibliche zu beschreiben, Botschaften aus der menschenleeren Welt ins Nichts zu senden. Ein zumindest virtueller Weg heraus aus der Isolation.
Jan betrachtete das Wasser. Es gab kein Schnee und auch kein Eis. Das war sehr schade, denn es war Jans Geburtstag, und meistens gab es zumindest Schnee an seinem Geburtstag. Eis und Schnee, das passte zu ihm und ein Geburtstag ohne Eis und Schnee war eigentlich kein richtiger Geburtstag.
Es war der 29. Geburtstag. 29 war nicht nur eine Primzahl, sondern passte obendrein in eine ganze Reihe von Primzahlen, die alle den Abstand 6 voneinander hatten: 5, 11, 17, 23, 29.
Es konnte nur 5 solcher Primzahlen geben und die erste davon musste die 5 sein. Jan vermutete, dass dies überhaupt die längste Kette von Primzahlen war, die den gleichen Abstand voneinander hatten. Aber er wusste es nicht; er hatte keinen Weg gefunden, diese Hypothese zu beweisen, und ein Gegenbeispiel hatte er auch nicht gefunden. Einzig ein Plausibilitätsargument gab es. Nämlich wurde mit wachsendem Abstand aufgrund der abnehmenden Primzahldichte die Existenz solcher Primzahlen immer weniger wahrscheinlich.
Jan war eigentlich sehr glücklich mit seinem Mathematikstudium, wenn auch die Einstiegsvorlesungen ziemlich trivial daherkamen. Aber seine Faszination für Zahlen wurde durch das Studium sehr beflügelt.
Immer mehr besondere Zahlen traten in sein Leben, um es zu bereichern. Seine neuste Errungenschaft war die Zahl 1615, die die 17 als Primzahl enthielt.
Plötzlich sah er in der Ferne wieder die blaue Kapuze, die ihm zuvor schon aufgefallen war.
In Gedanken sah er ihren Träger näher kommen, bis er direkt vor ihm stand. Er sah in ein feines, schönes und überdeutliches Gesicht; ein autistisch schönes Gesicht, dachte er. Der Träger der blauen Kapuze sah ihm in die Augen. Wie Jan trug er eine schwarze Mütze unter der Kapuze.
Er reichte Jan die Hand und zog ihn auf den Fluss, der dick zugefroren und mit Schnee und Eisschollen bedeckt war. Sie tauchten zusammen ein in eine Welt, die nur aus Eis bestand und in den schönsten und tiefsten Blautönen schimmerte.
In den meterhohen Eisschollen auf dem Fluss hatten sich lauter Gräben, Tunnels und Höhlen gebildet. Jans Gegenüber hielt Jan an beiden Händen fest, während sie in atemberaubender Geschwindigkeit durch das Eis glitten und eintauchten.
Das Eis formte Nadeln, die Jans Körper durchbohrten, ohne dass es die geringsten Schmerzen bereitete. Im Gegenteil fühlte es sich befreiend an, durchbohrt zu werden, durchlässig für das Andere zu sein und für das Eis.
Schließlich verschmolzen sie gänzlich mit ihrer eisigen Umgebung, verschmolzen mit ihrem eisigen Zuhause, um im nächsten Moment wieder daraus hervorzutreten.
Es fühlte sich gut an, dabei festgehalten zu werden, richtig gut.
Am Ende brachte er Jan wieder zurück ans Ufer und ließ ihn los. Jan erhaschte noch einen Blick in das eigenartig schöne und vertraute Gesicht, mit Mütze und blauer Kapuze, bevor es in der eisigen Landschaft verschwand.
Die blaue Kapuze war nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen. Genauso wenig wie das Eis, das in der Landschaft fehlte und nur im Traum eine Illusion von Heimat vermittelte.
Jan saß schon einige Zeit an dem Fluss und träumte vor sich hin. Er stand schließlich auf, um wieder zurück zu gehen, nach Hause, zu Niklas.
Er war schon früh losgegangen an diesem Morgen, zu einer Zeit, als Niklas noch schlief. Es war eine sehr unruhige Nacht, daher war er schon so früh aufgestanden und spazieren gegangen.
Inzwischen war Niklas bestimmt schon wach, dachte Jan, und wunderte sich wahrscheinlich, dass er nicht zu Hause war.
Jan fand den Gedanken erstaunlich, dass es schon drei Jahre her war, als Niklas aus Australien zurückgekommen war, und über vier Jahre, als sie sich kennen gelernt hatten. Ein Leben ohne ihn war inzwischen völlig unvorstellbar geworden. Erstaunlich war auch, wie sehr sich Jan an ihn gewöhnt hatte.
Auch daran hatte er sich gewöhnt, dass es ständig diese Auseinandersetzungen gab, meistens um alltägliche Dinge, dass Jan das Gefühl hatte, es Niklas nie wirklich recht machen zu können, so sehr er sich auch bemühte.
Wenn Niklas schlecht gelaunt war, konnte es auch vorkommen, dass er irgendwelche, völlig abstruse Vorwürfe vorbrachte. Aber dann konnte er auch sagen, wie sehr er Jan mochte, genau so mochte, wie er war.
Auch daran hatte sich Jan gewöhnt, an das regelmäßige Kuscheln, an Niklas Lächeln, das ihm so viel an Vertrautheit vermitteln konnte. Und eben auch daran, dass er das Gefühl nicht loswurde, Niklas sexuelle Bedürfnisse nicht wirklich befriedigen zu können.
Das war während der Glasglockenzeiten im vorletzten Sommer und im letzten Frühjahr ganz besonders schlimm. Die auf Jans „Fieberkurve“ aufgezeichneten Bewertungen waren schließlich so schlecht, dass Jan aufhörte, da weitere Eintragungen vorzunehmen.
Er konnte nur noch selten das Kuscheln genießen und es war auch schwer, das vor Niklas zu verbergen. Der gab sich wirklich Mühe, aber es half nichts. Auch nicht die Ringkämpfe, bei denen er schließlich Jan an den Händen festhielt.
Einmal hatte Niklas Jan sogar die Handschellen angelegt, ohne damit ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen.
Jan war froh, dass diese extremen Zeiten nach ein paar Monaten wieder vorüber gegangen waren und er sich am Ende wieder auf Niklas einlassen und seine Nähe genießen konnte. Leider hatte ihm Niklas nicht wieder Handschellen angelegt.
Auch sich selbst zu fesseln, hatte Jan nicht wieder angefangen, obwohl er nach wie vor in seiner Wohnung häufig alleine war; anders als er noch mit Ole zusammen gewohnt hatte.
Jan musste oft darüber nachdenken, dass das mit Niklas etwas ganz anderes war, als mit Max oder Malte, die ja beide etwas verkörperten, was ihn erregte.
Er wusste nicht, ob diese Erregungen, die von Fesselungen oder von Kapuzen ausgingen, überhaupt etwas mit Sexualität zu tun hatten. Auf jeden Fall aber hatten sie zu tun mit einer Art von Kontakt zu Menschen, die ihm nahe lag, die für ihn natürlich war - in gewisser Weise.
Der Kontakt zu Niklas war ein ganz anderer. Er war von Regeln bestimmt, die Jan als äußere Regeln empfand; Niklas kam aus der wirklichen Welt, nicht aus Jans Innenwelt, aus der Max oder Malte entsprungen zu sein schienen.
Dennoch, und das war das eigentlich Merkwürdige, war ihm Niklas wesentlich näher gekommen als Max oder Malte oder sonst irgendjemand. Auch nicht Jan, seine erste Liebe. Nur Niklas konnte ihm auch in einer Art und Weise Gefühle von Geborgenheit und Vertrautheit vermitteln, wie sonst niemand.
Auch wenn die Beziehung mit ihm reich an Auseinandersetzungen und alles andere als bequem war, war sie doch ein Wunder. Ein Geheimnis, das irgendwie mit dieser Kluft zwischen den Welten zu tun haben musste; Jan hatte keine Idee, was es damit genau auf sich hatte.
Aber er war froh, dass er es gefunden hatte, dass er Niklas gefunden hatte.
Auf dem Weg zu Niklas, konzentrierte sich Jan ganz darauf, die angenehmen, prickelnden und warmen Gefühle zu genießen, die ihm die Kapuze seiner neuen Jacke vermittelte. Sie fühlte sich ausgesprochen gut an; Jan mochte die Jacke wirklich sehr gerne.
Niklas empfing ihn gleich an der Wohnungstür, um ihm alles Gute zu seinem Geburtstag zu wünschen. Dabei nahm er ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest, noch während er die Kapuze auf hatte.
„Ich bin so glücklich, dass es dich gibt“, sagte er dabei.
Bei allen Schwierigkeiten, die es immer wieder gab, war Niklas ein wirklich guter Mensch, dachte Jan.
Niklas hatte den Frühstückstisch üppig gedeckt, an dem auch schon Peter saß. Auch er umarmte Jan und sagte, dass dies nun sein letzter Geburtstag in den Zwanzigern wäre.
Jan zog seine Jacke aus und setzte sich zu den beiden. Es hatte für Jan etwas wirklich Vertrautes, mit Niklas und Peter seinen Geburtstag zu feiern. Anders als in seiner Wohnung war Jan hier zu Hause; sein Mitbewohner wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, wann Jans Geburtstag war. Obwohl sie schon fast zwei Jahre zusammen wohnten, waren sie sich kaum näher gekommen.
Dagegen empfand Jan Peter trotz seines misslungenen Versuches, mit Jan seinen sexuellen Horizont zu erweitern, sehr angenehm.
Einige Zeit nach dieser Begebenheit, hatte Peter nachgefragt, was denn das mit der Phimose war. Daraus hatte sich ein recht interessantes Gespräch über Sexualität ergeben.
Jan fand, dass Peter dazu recht vernünftige Ansichten hatte. Zumindest fand er es nicht merkwürdig, dass Jan die Schwierigkeiten mit schwulem Sex hatte, die er schilderte. Von Kapuzen oder Fesselungen hatte Jan allerdings nichts erwähnt.
Peter hatte seine Versuche, Erfahrungen mit schwulem Sex zu sammeln, aufgegeben. Er hatte nach dem Erlebnis mit Jan Zweifel daran erhalten, dass diese Idee wirklich gut gewesen war.
Die anderen beiden Mitbewohner Niklas bekam Jan kaum mit; auch Niklas hatte mit ihnen wenig Kontakt. So passte es ganz gut, dass sie zu dritt Jans Geburtstag begingen.
Nach dem Frühstück nahm ihn Niklas an die Hand und zog ihn in sein Bett.
„Ich hatte schon befürchtet, du hättest dich heute morgen ganz aus dem Staub gemacht“, sagte er, als er sich auszog.
Das Kuscheln war ausgesprochen schön, ganz besonders weil Niklas dabei auch Jan die Hände festhielt und neben seinen Kopf drückte. Dabei hielt er sie so fest, dass Jan nach Kräften versuchen konnte, sich seinem Griff zu entwinden, ohne dass es ihm gelungen war. Niklas hielt ihn so kräftig, dass er keine Chance hatte, seinem Griff zu entkommen.
Das fühlte sich sehr spannend an, so festgehalten zu werden und dagegen anzukämpfen.
Niklas und Jan verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen im Bett. Überhaupt war es der schönste Geburtstag, an den sich Jan erinnern konnte.
Gegen Abend machte Niklas den Vorschlag einen Imbiss aufzusuchen. Als sie die Wohnung verließen, schob sich Jan die Kapuze seiner Jacke über die Mütze.
„Du und deine Kapuzen“, sagte Niklas. „Dabei ist es heute gar nicht so kalt.“
Er hatte Recht, an diesem Tag war es wirklich nicht so kalt. Aber Jan musste auf seine Ohren achten, das wusste Niklas, und außerdem fühlte er sich gut so, mit Kapuze, gut und geborgen.
Es dauerte noch etwa zwei Wochen, bis der Kälteeinbruch tatsächlich kam, den Jan an seinem Geburtstag vermisst hatte. Dafür wurde es dabei gleich richtig kalt, sodass Jan an manchen Tagen zwei Kapuzen über seiner Mütze trug, die Kapuze eines Kapuzenpullovers und darüber die der Jacke.
Es gab auch Schnee, wenn auch nicht sehr viel, und sogar ein wenig Eis auf der Spree. Alles in allem war es kein guter Winter, dafür war er lange nicht kalt genug. Aber wenigstens eine kurze Zeit lang war es genug, dass Jan sich darin heimisch fühlen konnte und in das Eis einer Landschaft eintauchen konnte, in der er sich wiederfand.
In diesem Winter hatte auch dieses „Es“ in ihm, diese menschenleere, klare und kalte Welt, in der er zu Hause war, seinen Namen gefunden. Es war das Eis. Ja, so sollte es heißen, dachte Jan. „das Eis“, das war es.
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