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Irrwege

Teil 2 - Ich sehe was, was du nicht siehst

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Es ist schon verdammt klasse, wenn man aufwacht und jemanden neben sich spürt. Jemanden, der seinen Arm um einen legt, dessen Atem einem das Gefühl vermittelt, man sei geborgen. Jemanden, den man mag. Natürlich wäre das am tollsten, wenn Lucas dieser Jemand wäre, aber Bellas Nähe tut es auch.

Bis spät in die Nacht hinein haben wir uns über alles Mögliche unterhalten: Schule, neue Bücher, aktuelle Kinofilme und ihren momentanen Lieblingssänger:

„Justin Nozuka! Wegen Criminal natürlich, der Song ist der geilste Ohrwurm seit Jahren!“

Mit Jahre meint sie Monate, denn es ist noch gar nicht so lange her, dass sie ‚Hey There Delilah‘ rauf- und runterdudelte. Zugegeben, das Lied ist nicht schlecht, aber nach einer Weile kann man es einfach nicht mehr hören!

Dann kamen ernstere Themen: die Vergangenheit, die Zukunft.

Die Vergangenheit oder mit anderen Worten: unsere Beziehung - wieso sie in die Brüche ging. Wir haben uns geeinigt, dass wir uns über den Grund uneins sind: ich nämlich bin davon überzeugt, es lag an Kevin, der ihr den Kopf verdreht hatte (allerdings brauchte sie ein gutes halbes Jahr, bis sie endlich den Mut aufbrachte, ihn zu einem Date einzuladen); sie hingegen versuchte mir weiszumachen, sie sei sich immer mehr wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen vorgekommen - überflüssig, weil Lucas (der sich gerade von seiner damaligen Freundin getrennt hatte) und ich ihrer Meinung nach perfekt zusammenpassten.

Womit wir in der Gegenwart beziehungsweise Zukunft angelangten. Ihre lässt sich kurz zusammenfassen: Kevin macht eine Ausbildung im Bereich Webdesign, sie studiert auf Grundschul-Lehramt, nimmt sich aber vor Ende des Grundstudiums ein Urlaubssemester, um ihr einziges Kind zur Welt zu bringen, das dann in die Obhut der Großeltern kommt. Hochzeit nach Ende des Studiums – Farben, Ort und Gästeliste stehen schon fest.

„Kleine Anpassungen werden sicher von Nöten sein, aber im Großen und Ganzen steht alles!“ Hätten wir nicht bereits das Licht ausgeschaltet, hätte ich sicher ein verträumtes, freudiges Glitzern in ihren Augen sehen können.

„Du und Lucas, ihr steht natürlich ganz oben auf der Liste,“ fügte sie begeistert hinzu.

Als ich darauf nichts erwiderte, weil ich den Tränen nahe war, legte sie ihren Arm um mich und sagte nichts mehr außer einem geflüsterten Gute Nacht.

Ich lasse sie schlafen und gebe mich der Vorstellung hin, Lucas hätte seinen Arm von hinten um meine Hüfte gelegt, sich ganz nah an mich geschmiegt und mir dann ein leises Ich dich auch ins Ohr geflüstert. Ich hätte mich mit dem Gesicht zu ihm gedreht, hätte ihn gestreichelt, ihn geküsst und wäre für immer in seinen Armen geblieben, nichts hätte mich je wieder von ihm trennen können.

Außer natürlich der Wecker! Acht Uhr zwölf, noch zu früh zum Aufstehen. Meine schlaffe Hand schlägt aus, der Wecker verstummt und ich drehe mich auf die andere Seite, lege meinen Arm um Bella und hoffe, den Weg zum Traum-Lucas schnell wiederzufinden.

Was offenbar leichter ist, als ich dachte.

„Hi!,“ höre ich seine Stimme und schrecke hoch, knalle mit dem Kopf gegen die Dachschräge und noch während ich meine wunde Stelle reibe und mir immer wieder meine Hand auf der Suche nach Blut angucke, wird mir eines klar: Ich träume nicht, ich bin wach!

„Verdammte Scheiße, Lucas! Was tust du hier?“

„Ich musste dich sehen,“ beginnt er, doch seine weiteren Worte werden in den Hintergrund gedrängt von meinen Gedanken, die mit meinen Emotionen um die Kontrolle meines Mundes kämpfen. Meine Gefühle wollen den Traum von vorhin Wirklichkeit werden lassen, mein Verstand wehrt sich dagegen.

Was tut er hier? Was will er? Es gibt doch sicher ein ungeschriebenes Gesetz, das einem verbietet, zu jemandem ins Bett zu steigen, dem man klipp und klar gesagt hat, dass man ihn nicht liebt. Ich liebe Jesse. Er hätte mir genau so gut ein Messer...

„... du okay bist.“

... ins Herz rammen können. Ist er jetzt hier, um das nachzuholen? Um in meine offene Wunde Salz zu streuen? Mit mir zu spielen? Mit meinen Gefühlen?

Oder ist er einfach nur deswegen gekommen, weil er mein bester Freund ist? Weil er es früher auch getan hat, als wir noch Jungs waren und alles noch so einfach schien?

„Markus!“

„Lucas!“

Er liegt in meinem Bett, neben mir, sieht zu mir hoch und wartet. Stille folgt, weil ich partout nicht weiß, was ich zu ihm sagen soll, dann stützt er sich auf einen Ellbogen und bricht das Schweigen.

„Hast du dich wieder beruhigt?“

Ich nicke.

„Gut, dann legen wir uns wieder hin und reden. Oder besser noch: ich rede, du hörst zu.“ Diesmal nicke ich nicht, ich folge seinem Beispiel. Wir liegen auf dem Rücken, dicht beieinander, ich unterdrücke den Impuls, nach ihm zu greifen, ihn zu berühren. Starre Löcher in die Luft und konzentriere mich auf seine Stimme.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du ausflippst. Ich hatte schon irgendwie damit gerechnet, aber nicht, dass du so heftig reagierst. Dass du hochjumpst und dir den Schädel anstößt.“

Er lacht – eine seiner vielen Eigenschaften, die ich so sehr liebe: egal, wie ernst oder absurd eine Situation ist, er findet stets eine Möglichkeit, sie aufzulockern. Ich höre, wie er den Kopf bewegt, also wende ich mein Gesicht ihm zu.

„Tut’s noch weh?,“ fragt er nun fürsorglich und ich schüttle den Kopf, unfähig, eine Antwort zu formulieren. Unsere Augen lassen nicht voneinander ab, als er weiterspricht:

„Ich weiß, nach dem, was gestern passiert ist, bin ich der letzte Mensch, den du sehen willst, aber ich musste herkommen.“

Der letzte Mensch? Wohl eher der einzige.

„Nein, bitte, unterbrich mich nicht. Ich muss ein paar Sachen herausfinden und dir einige Antworten geben und vor allem schulde ich dir eine Entschuldigung. Für gestern. Ich habe mich daneben benommen, der Kuss, deine Absicht, mich zu küssen, hat mich geschockt.

Schätze, das lag daran, wie ich uns beide, unsere Freundschaft, betrachtet habe. Bis zu jenem Zeitpunkt jedenfalls. Egal, was um uns herum passierte, solange wir unter uns waren, waren wir Peter – wir waren immer noch Jungs. Jungs, die nicht erwachsen werden wollten. Klar, wir haben uns früher schon geküsst, aber gestern war es anders. Kein Spiel mehr, kein Ausprobieren und Lernen, es war ernst. Das konnte ich dir ansehen und ich konnte es fühlen.

Das war der Schock. Die Erkenntnis, dass Peter Pan erwachsen geworden ist.

Und genau aus diesem Grund bin ich zu dir gekommen und habe mich zu dir gelegt - wie früher. Um herauszufinden, ob alles verloren ist.“

Der Moment der Wahrheit, jetzt wird er es mir sagen. Scher dich zum Teufel, ich will dich nie wieder sehen. Oder so ähnlich. Ich blicke ihn fragend an, er grinst und schüttelt den Kopf.

„Es fühlt sich immer noch richtig an, bei dir zu sein, mit dir zu reden - auch wenn es heute ziemlich einseitig war - und dich zu umarmen. Bleibt nur noch eine Frage offen, die Wichtigste: Wie stehst du dazu?“

Was soll ich jetzt dazu sagen? Dass ich unsere Freundschaft nicht aufgeben möchte? Dass ich es aber auch toll fände, wenn mehr drin wäre? Wenn er mich so sehen könnte, wie ich ihn sehe?

„Ich möchte dir eine kleine Entscheidungshilfe geben,“ unterbricht Lucas meinen Gedankengang. Er nimmt meine Hand, mit der anderen streicht er über mein Gesicht und bleibt am Kinn stehen. Langsam zieht er mich zu sich, unsere Lippen nähern sich einander, und diesmal taucht keine Hand aus dem Nichts auf, um sie aufzuhalten.

Ich schließe die Augen, genieße den Moment, der verspricht, der erste von vielen zu sein, und gebe mich Lucas’ Führung hin. Wohin er mich führt? Ganz weit weg. Wir heben ab, lassen die Erde unter uns, schweben durch Wolken, der Wolke Sieben entgegen, daran vorbei, weiter und weiter...

Die Gefühle, die dieser lang ersehnte Kuss in mir hervorruft, sind unbeschreiblich. Als wäre ich der erste Mensch, der so etwas fühlt, der Mensch, der den Kuss erfunden hat, das Großartigste, was mir je passiert ist.

Irgendwo ganz weit oben, im Himmel wahrscheinlich, halten wir an, lassen uns auf eine der flauschigen Wolken fallen und liegen da. Lucas in meinen Armen, ich in seinen. Ein Moment für die Ewigkeit. Und bedenkt man, wo wir sind, spricht nichts dagegen, dass es so bleibt. Lucas beugt sich über mich, küsst mich, liebkost mich, dann zieht er mich hoch und fängt an zu singen.

„Guten Morgen, mein Sonnenschein,“ trällert er zur bekannten Melodie von Serena Ryder, selbstverständlich mit eigenem Text, und tatsächlich schaffen es einige Sonnenstrahlen just in diesem Augenblick durch die Wolken zu uns herab. Er nimmt meine Hand und wirbelt mich herum, findet meine andere Hand und führt, ich folge, während seine Stimme mir sagt, dass ich mit der Sonne um die Wette strahle.

Gibt es eine schönere Art, jemandem zu sagen, was man für ihn empfindet?

Zum Ende des Songs hin wird seine Stimme leiser, bis sie schließlich ganz verstummt. Dann umarmt er mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Wir tanzen weiter, zu einer nicht hörbaren Melodie.

Nur einmal, für einen Sekundenbruchteil, zögere ich, mit ihm Schritt zu halten, als ich mir nämlich einbilde, auf einer weit entfernten Wolke die Silhouette einer Frau zu erkennen. Doch das ist nichts anderes als Einbildung, und so schließe ich wieder meine Augen und lasse mich in Lucas’ Arme fallen, getragen von der Musik, gehalten von der Liebe, die uns verbindet.

Das nächste Mal, als ich sie sehe, durch halboffene Lider, sitzt sie keine hundert Meter von uns entfernt auf einem Findling und zupft an einer Blume. Mit jeder Sekunde kommt sie uns näher; mit jedem feuriggelben Blütenblatt, das zu ihren Füßen landet, wird ihr Gesicht deutlicher. Auf einmal habe ich keine Lust mehr zu tanzen, meine Füße fühlen sich wie Blei an, mein Herz sinkt ins Unermessliche, meinen Blick kann ich nicht von ihr lösen.

„Er liebt mich,“ ein Blütenblatt weniger, „er liebt mich nicht.“ Und noch eines.

Auch Lucas hat jetzt aufgehört zu tanzen. Er schaut mich an, seine Augen immer noch voller Zärtlichkeit, dann, ganz allmählich, wandert sein Blick zu ihr. Wieder zu mir. Zurück zu ihr. Hin. Und her. Geht einen Schritt auf sie zu, dann wieder zurück. Sie? Oder ich? Er kann sich nicht entscheiden. Aber das muss er. Oder nicht?

Weiterhin meine Hand haltend, zieht es ihn immer mehr zu ihr, bis sich nur noch unsere Fingerspitzen berühren. Dann lässt er los, geht zu Jesse, nimmt ihr die Blume aus der Hand und sagt: „Er liebt dich!“

Diese drei Worte legen bei mir einen Schalter um, machen mir klar, dass ich es nicht dazu kommen lassen darf, dass sich Lucas zwischen uns beiden entscheiden muss. Auch wenn es momentan noch so sehr schmerzt, muss ich ihm die Freiheit gewähren, die er braucht. Gefühle kann man nicht erzwingen. Vielleicht wird er sich eines Tages für mich entscheiden, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall habe ich dann immer noch meinen besten Freund.

Und damit ist der Höhenflug nun wieder vorbei, so schön er auch war. Dennoch fühlt sich meine Hand in seiner gut an, seine Lippen auf meinen göttlich.

„Und?,“ erkundigt er sich, als sich unsere Lippen trennen, und ich gebe mein Bestes, ein möglichst echtes Grinsen zustande zu bringen.

„Nichts,“ sage ich voller (falscher) Überzeugung.

Die Erleichterung in seinem Gesicht setzt meinem Herzen einen kurzen, gezielten Stich zu.

„Dann ist es okay, wenn ich mit Jesse zusammenbleibe? Dass ich sie liebe?“

„Mehr als okay, solange sie dich glücklich macht.“

Wenn man für einen guten Zweck lügt, dann ist das keine richtige Lüge, nicht?

„Freunde?“

„Beste!“ Das, wenigstens, ist die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

„Na, wenn das so ist!“ Er springt aus dem Bett (ohne sich den Kopf zu stoßen), öffnet seinen Rucksack und wirft mir Hut und Haken zu. Der Hut ist entstaubt und hat eine neue, weiße Feder, der Haken ist blitzeblank poliert. Er selbst greift sich sein Schwert und kommt herausfordernd auf mich zu.

„Ay, James Hook!“

Der Kampf beginnt. Peter Pan springt mich an, sein Schwert kreuzt meinen Haken, doch er verfängt sich darin, der Schaft entgleitet Peter und ich schleudere das Schwert ans andere Ende des Schiffs. Peter ist entwaffnet, sein Ende absehbar. Mein endgültiger Sieg über den Ewigen Jungen rückt in greifbare Nähe. Ich eile auf ihn zu, will ihn zu Boden werfen, ihn erledigen, doch er lacht nur und fliegt davon.

„Ahhhhhh!“ Meine Wut auf ihn ist groß, größer denn je! Er hat sein Schwert wieder und fliegt mit ausgestrecktem Arm auf mich zu. Mir bleibt nur eines: Fliehen. Um mein Leben rennen. Ich rufe meine Männer zu Hilfe, aber keiner wagt auch nur einen Schritt nach vorn. Sie werden von Peters Verlorenen Jungs in Schach gehalten, sie sind eine Schande für jedes Piratenschiff. Ich muss mich also allein mit ihm herumschlagen. Er wird mir das Herz durchbohren.

Oder auch nicht! Ich bin ein Pirat! Der Beste im Nimmerland! Wär doch gelacht, wenn ich nicht mit nem kleinen Rotzlöffel fertig werde. Ich bleibe stehen, stelle mich der Gefahr.

Peter lässt sich auf das Deck fallen, steht auf und fuchtelt mit dem Schwert vor meinem Gesicht.

„Peter! Peter! Peter!“ Die Rufe der kleinen Biester werden immer lauter, Peters Grinsen immer breiter. Einmal mehr fuchtelt er mit seinem Schwert vor meinen Augen herum, ein Knopf von meinem Hemd geht zu Boden; die anderen folgen einer nach dem anderen. Es wird Zeit, dem kleinen Scheusal Einhalt zu gebieten!

Mein Haken trifft auf sein Schwert, die Funken sprühen, keiner von uns lässt locker. Ein Kampf der Willen entbrannt. Wer ist stärker? Wer tötet hier wen?!

Meine Augen blitzen vor Zorn, Schwert und Haken treffen immer wieder aufeinander, doch allmählich spüre ich meine Kraft schwinden. Die Jugend, die Jugend!

In einem Moment der Unachtsamkeit verliere ich meinen Haken, mein Hut fliegt über Bord, Peter wirft mich aufs Deck, als wär ich ein Blatt Papier. Die Spitze seines Schwertes piekst meine Piratenhaut, der Kampf ist vorbei.

„Gibst du dich geschlagen, Hook?“ Was bleibt mir schon anderes übrig?

Peter jubelt, seine Jungs stimmen mit ein. Der Lärm ist unerträglich, die Blamage noch mehr.

Wir sind wieder in meinem Zimmer, wieder wir selbst, Lucas und Markus. Lucas sitzt auf mir und startet sein Siegesritual. Er kitzelt mich, unter den Armen, an den Fußsohlen, am Bauch – so lange, bis ich lauthals lache. Er stimmt mit ein, ich wehre mich und das Ganze artet in einen neuerlichen Kampf aus, wieder spielerisch, nur ohne Waffen. Dass es bei solchen Spielen zu peinlichen Momenten kommen kann, fällt mir erst wieder ein, als es zu spät ist. Ich rolle mich von ihm weg, bleibe auf dem Bauch liegen.

Keine Sekunde später kniet Lucas neben mir. „Alles klar bei dir? Hab ich dir weh getan?“

Wie kann man so jemanden nicht lieben, der sich ständig um einen Sorgen macht? Ich schüttle den Kopf, weigere mich aber, ihn dabei anzusehen. Und was tut Lucas? Er prustet los!

„Oh Mann! Daran hat sich bei dir also auch nichts geändert,“ lacht er und führt meine Hand zu seinen Boxershorts, um mir zu zeigen, dass es ihm nicht anders geht.

Ich setze mich auf und hoffe, dass das Rot aus meinem Gesicht gewichen ist.

„Was erwartest du? Dass uns das alles kalt lässt? Mal im Ernst, Markus! Wir sind zwanzig, auf dem Höhepunkt unseres sexuellen Lebens, wir sind beide ziemlich nackt, wenn man mal die Boxer beiseite lässt und wir bedeuten einander was. Und nicht zu vergessen: Du hattest seit Monaten keinen Sex mehr! Wenn du dich das nächste Mal schämst, in meiner Gegenwart einen Ständer zu bekommen, nehme ich das persönlich, klar?“

Um das zu verdeutlichen, nimmt er mich in den Würgegriff, verpasst mir eine Kopfnuss (nicht zu doll, darauf achtet er schon) und drückt mich dann auf den Teppich, wo er sich neben mich legt, mit dem Kopf auf meine Brust.

Leise summt er wieder vor sich hin.

Dass unsere Zweisamkeit gestört wird, das kann sich wohl jeder denken! Nur wenige Minuten später platzt Bella ins Zimmer, sieht uns eine Weile an, grinst und fordert uns auf, frühstücken zu kommen, was Lucas zum Anlass nimmt, sich zu verabschieden – von Bella mit einem Winken, von mir mit einem Kuss auf die Wange.

Eine gute Stunde danach gehen Bella und ich am Ufer des Flusses, der durch unsere Stadt fließt, entlang. Sie scheint sich vorgenommen zu haben, über die letzten Stunden alles zu erfahren, so detailliert wie möglich. Dass ich sie währenddessen total vergessen hatte, stört sie nicht.

„Euer Sofa im Wohnzimmer ist ganz bequem, schlimmer fand ich es, mitten in der Nacht geweckt zu werden, aber ich habe es ja für einen guten Zweck getan. Wann willst du es denn deinen Eltern sagen?“

Darüber habe ich bislang gar nicht nachgedacht. Ich meine, der einzige Mann, den ich liebe, liebt jemand anderen, also wozu der ganze Stress?

„Es wird kein Coming-out geben. Wieso auch?“

„Auch wieder wahr. Übermorgen geht’s zur Uni und da wird sich keiner darum scheren, mit wem du im Bett liegst. Das ist das Tolle an Unis: Du kannst da machen, was du willst, sein wer du sein willst, dich neu definieren, die Freiheit genießen, die du in der Form wahrscheinlich nie wieder erleben wirst. Trotzdem: eines Tages musst du es ihnen sagen, sie werden Fragen stellen, sich wundern, dass ihr zusammenwohnt und beide keine Freundin habt.“

Oooooookay. Bin ich der Einzige, der hier auf dem Schlauch steht, oder gibt es noch andere, die nur Bahnhof verstehen? Nein, Gott sei Dank nicht. Sämtliche Zuschauer in der Arena haben die Hand gehoben, sogar die Fragezeichen starren Bella fragend an.

„Bella, ich ziehe ins Wohnheim, zu wildfremden Menschen. Nicht einmal ich kenne sie, aber du weißt schon, dass die alle keine Freundin haben?“

„Und was ist mit Lucas? Warum sucht ihr euch nicht gleich eine Wohnung, jetzt, da er zu seinen Gefühlen steht?“

Die Fragezeichen rücken Bella näher auf die Pelle, würde sie sie sehen können, würde sie es als unangenehm empfinden. Ich tue es nicht, ich frage mich nur, wovon sie überhaupt spricht.

„Wie soll ich denn mit Lucas zusammen wohnen? Er zieht morgen mit Jesse zusammen.“

Bella sieht mich mit offenem Mund an. „Was ist denn das für eine Beziehung? Lucas zieht mit seiner Ex zusammen und du, sein Freund, lebst allein?“

Dieses Mal bin ich an der Reihe, sie mit offenem Mund anzugaffen. „Was?“

„Deswegen ist er doch mitten in der Nacht hier aufgekreuzt, um dir seine Gefühle zu gestehen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich für dich freue.“

Ich komme mir vor, als würden wir ein Spiel spielen, in dem es gilt zu erraten, was der andere wohl meinen könnte.

„Wir reden absolut aneinander vorbei! Komm mit!“

Sie folgt mir zu einem kleinen Steg, der zu dieser Uhrzeit noch verlassen ist, wo wir uns hinsetzen, Schuhe und Socken ausziehen und die Füße ins Wasser baumeln lassen. Und dann erzähle ich ihr, was wirklich zwischen Lucas und mir abgelaufen ist. Ihre anfängliche Neugier ändert sich im Laufe der Zeit in Missfallen, das sich wiederum zu Missbilligung und schließlich grenzenloser Antipathie meinem besten Freund gegenüber steigert.

„Das kann er doch nicht machen!,“ schreit sie auf einmal so laut, dass ich das Gefühl habe, die langsam zahlreicher werdenden Passanten würden uns alle anstarren.

Ich kann ihre Reaktion nicht nachvollziehen. „Warum denn nicht? Das ist für uns im Moment das Beste. Ein Kompromiss.“

„Ein Kompromiss?,“ zischt sie leiser und steht auf.

„Ich hätte ihm die Wahrheit sagen können, dann hätte er Jesse vielleicht in die Wüste geschickt, aber trotzdem weiterhin an sie gedacht, weil er sie liebt, nicht mich. Ich kann ihn nicht dazu zwingen, mich zu lieben, aber ich kann auch nicht ohne ihn leben. Keinen Kontakt mehr mit ihm zu haben, würde mich verrückt machen. Aber so kehren wir zu unserer Art Freundschaft zurück, die wir als Jugendliche schon hatten. Da waren Berührungen und manchmal auch Küsse vollkommen in Ordnung. Unsere Freundschaft bleibt bestehen und ich bekomme zusätzlich noch einen Teil von dem, was ich mir von ihm wünsche – Zärtlichkeit.“

Für eine Weile steht sie einfach nur da und betrachtet mich mitleidig, dann schaut sie weg, dann wieder zu mir. Kommt auf mich zu, fixiert meine Augen und streicht mir durch die Haare, wie meine Mutter es immer tut, wenn ich ihr Leid tue.

„Ihr seid keine Kinder mehr, Markus! Und Gefühle sind kein Spiel. Dieses Abkommen, das ihr im Stillen eingegangen seid, wird dich emotional zermürben.“

„Wird es nicht, das hat früher auch prima geklappt.“

„Früher ja, da hast du dir auch nichts anderes gewünscht, als jemanden zu haben, mit dem du deine Zeit verbringst. Aber heute willst du mehr, weit mehr als Lucas dir geben wird. Was wirst du tun, wenn ihr das nächste Mal wie heute morgen rumkaspert? Du – unbewusst natürlich – so erregt wirst, dass du weitergehen möchtest, bis zum Äußersten. Lucas wird das aber nicht mitmachen. Halt, bis hierhin und nicht weiter!, das wird er dir sagen. Und dann stehst du da und alles, was dir bleibt, ist deine rechte Hand und der Traum, wie es hätte sein können.“

Irgendwie ist da schon was dran, ihre Worte ergeben durchaus Sinn. Trotzdem...

„Die Zärtlichkeit bekomme ich von ihm, den Sex hole ich mir woanders,“ kommt es von mir, ohne dass ich weiß, woher genau.

„Gerade du bist auch der Typ dafür, Markus! Du gehst freiwillig in eine Bar? Ausgerechnet du, Markus?“ Sie lacht. Verspottet mich. „Da sind Menschen drin, Menschen die du nicht kennst und die dich nicht kennen. Manche werden sich mit dir unterhalten wollen, du kannst ihnen nicht allen aus dem Weg gehen. Nicht in einer Bar, nicht wenn du etwas von ihnen willst. Abgesehen davon: Möchtest du allen Ernstes jemanden nur deshalb kennen lernen, um mit ihm oder mit ihr zu schlafen? Um das zu kompensieren, was dir dein bester Freund verweigert?“

Nein, natürlich nicht. Wäre ich so einer, würde man meine Freunde nicht an einer Hand abzählen können. An einer halben Hand!

„Mach Lucas klar, dass er sich entscheiden muss. Dass dir seine Freundschaft allein nicht mehr reicht.“

„Ich kann seine Liebe nicht erzwingen!“ Das habe ich ihr doch schon gesagt, wieso kapiert sie das nicht?

Sie lacht dieses unschöne Lachen, das man einem Kind entgegenbringt, das nicht verstehen will, dass man nur sein Bestes im Sinn hat.

„Es gibt da nichts zu erzwingen, Markus! Nicht nach dem, was ich heute Morgen gesehen habe.“

Wie meint sie das?

„Er hat dir gesagt, dass er Jesse liebt – und das mag auch stimmen –, aber du lässt ihn ganz sicher nicht kalt. Und das musst du mir nicht einfach so glauben, glaube dir selbst. Traue deinen eigenen Augen und deinem Verstand.“

Sie spielt sicher auf unsere immer noch gewölbten Boxershorts an, als sie hereinkam.

„Das ist nichts, Bella, glaub mir. Eine natürliche Reaktion auf den Körperkontakt.“

„Richtig, ihr seid Männer in voller sexueller Blüte, blabla, blabla. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Dann müsste jeder Ringkampf mit einer Knutschorgie und einem öffentlichen Fick enden, mein Lieber. Hier,“ fügt sie kopfschüttelnd hinzu, als sie ihr Handy rausholt und es mir hinhält, „ruf Kevin an, trefft euch, kämpft und turnt herum so lange ihr wollt, meinetwegen auch wie Gott euch schuf, aber ich garantiere dir, dass er dir nicht seinen Penis als Kleiderständer anbieten wird! Wenn keine Anziehung da ist, dann lässt sich nichts machen, egal wie männlich und jung und geil ihr seid.“

Eine Zeit lang guckt sie mich hoffnungsvoll an, dann steckt sie das Handy wieder weg. „Du weißt, ich bin kein religiöser Mensch, aber einen Satz aus der Bibel habe ich mir gemerkt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wie kannst du Lucas lieben und dich selbst dabei so erniedrigen und verachten?“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, bückt sie sich nach ihren Socken und Schuhen und entfernt sich allmählich von mir. Ich starre ihr noch eine ganze Zeit hinterher, unfähig zu sprechen, zu denken, zu fühlen…

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