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Irrwege

Teil 4 - (Un)Zertrennlich

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Ich hasse die Uni. Ich hasse diese gottverdammte Stadt. Ich hasse die Menschen, die hier leben. Ich hasse meine Kommilitonen. Ich hasse Jesse.

Aber am meisten hasse ich Lucas. Ich liebe ihn über alles, aber ich hasse ihn.

Dabei hat alles so unglaublich toll angefangen. Morgens und nachmittags gemeinsame Vorlesungen, die Zeit dazwischen haben wir auch zusammen verbracht, am Abend sind wir dann den Stoff noch mal durchgegangen - was Lucas nicht kapiert hatte, erklärte ich ihm – und umgekehrt. Wir haben uns perfekt ergänzt, nicht nur was die Uni betraf. Alles war wie zu Hause, nur besser. Weil wir endlich zusammen waren, nie länger als ein paar Minuten getrennt. Zwei Wochen lang waren wir wie Pech und Schwefel.

Dann kam das große Feuer. Der Tag der Wahrheit, der Tag der toten Ente – und die tote Ente war ich. Es war der Tag, an dem ich erfuhr, dass unsere jahrelange Freundschaft nichts anderes war als Mitleid. Lucas hatte nicht einmal den Schneid gehabt, es mir selbst zu sagen; stattdessen schickte er mich an jenem Morgen nach der ersten Vorlesung nach Hause, weil ich eingenickt war. Zugegeben, nicht zum ersten Mal, aber wenn man die Nächte damit verbringt, mit seinem besten Freund Netzwerkschlachten zu führen, kann das schon mal vorkommen.

Und dort wartete sie auf mich. Zwei Wochen lang hatten wir alle drei friedlich zusammengelebt - hätte ich geahnt, dass sie die Situation ausnutzen würde, um mich rauszuwerfen, hätte ich meinen Schlaf auf einer Parkbank nachgeholt.

Doch im Grunde war es ja nicht ihre Schuld. Sie war nur der Übermittler der schlechten Nachrichten. Dass sie mich aus ihrer und Lucas' Wohnung verjagt, hätte ich noch verkraften können, vielleicht hatte ich ihre Gastfreundschaft etwas überstrapaziert, hatte es mir auf der Wohnzimmercouch zu bequem gemacht. Es waren mehr die anderen Dinge, die dazu führten, dass sich zwischen Lucas und mir innerhalb weniger Stunden ein immer größer werdender Abgrund auftat, ohne dass er überhaupt etwas davon mitbekam.

Glaubst du allen Ernstes, dass jemand wie Lucas an dir interessiert sein könnte? Du bist das absolute Gegenteil von ihm! Er ist beliebt, du bist eine Null. Ein Außenseiter, langweilig, zu nichts zu gebrauchen. Dass er dein bester Freund ist, und dein einziger, liegt nur an seiner dummen Idee, dass er dir sein Leben schuldet. Er ist der Meinung, du hättest ihn als Kind gerettet – aber er hat Schlimmeres überlebt als eine Tracht Prügel. Trotzdem glaubt er, immer für dich da sein zu müssen, weil er es dir schuldig ist. Aus keinem anderen Grund. Und du, du lässt dir das gefallen. Du benutzt ihn! Wie einen Schoßhund! Du sagst was, er springt. Er ist dein Diener, dein Sklave. Du willst ihn lieben? Dann lass ihn frei!

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, sagt man. Und zuerst habe ich Jesses Worte als genau das empfunden – als ihr Versuch, ihren Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. Ihre Worte, ihre Gedanken, ihre Wut – nicht Lucas'!

Du glaubst, ich denke mir das alles aus, damit ich dich loswerde, aber das tue ich nicht. Denn im Gegenteil zu dir würde ich Lucas loslassen, wenn jemand anders ihn glücklicher machen würde. Natürlich meinst du, dass du auch sein bester Freund bist, so eingebildet wie ich dich kenne! Doch ich habe eine Neuigkeit für dich, Markus: Du bist es nicht! Ich bin nicht nur seine große Liebe, sondern auch Lucas' bester Freund. Nicht dir erzählt er alles, was in ihm vorgeht, sondern mir! Du glaubst mir nicht, stimmt's? Dann weißt du doch sicherlich, dass wir nicht erst bei unserem dritten Date miteinander geschlafen haben, sondern schon beim ersten. Oder dass er letzte Weihnachten, als wir mit meinen Eltern in Österreich waren, zwei Tage mit hohem Fieber im Bett lag. Oder dass er Peter Pan mittlerweile einfach nur kindisch findet. Wie, das wusstest du nicht? Aber... aber du bist doch die ganze Zeit schon sein bester Freund...

Der Hohn in ihrer Stimme war fast genauso unerträglich wie die Bedeutung ihrer Worte. Sicher, auch beste Freunde können ihre kleinen Geheimnisse voreinander haben, aber was ich von Jesse erfuhr, das waren keine Kleinigkeiten, es waren Dinge, von denen mir ein echter bester Freund erzählt hätte. Doch damit nicht genug, Jesse hatte sich erst warmgeredet... Nun begann sie mir Sachen zu verraten, von denen sie nichts wissen sollte. Es gibt Themen, Geheimnisse, die man mit seinem besten Freund, aber nicht mit seiner Freundin teilt. Details, die Teil der Freundschaft sind und außerhalb ihrer Grenzen das Gesicht des Verrats tragen.

Und weißt du, was ich noch von meinem besten Freund erfahren habe? Vieles über dich, lieber, netter, langweiliger Markus. Ich weiß von eurem nächtlichen Ausflug in die Höhle über der Stadt; davon, wie du den Peinigern deines heiß geliebten "besten Freundes" das zurückgezahlt hast, was sie ihm angetan haben – so süß, unser Markus. Und wie er geheult hat dabei, wie ein kleines Baby, während Lucas sich alle Mühe geben musste nicht loszulachen, weil du so dämlich warst, ihm seinen Rettungsversuch abzukaufen. Du hast gedacht, es wäre ein Akt der Zuneigung, aber es war nicht mehr als ein Spaß. Nein, du wärst nie auf so einen Gedanken gekommen, nicht? Zu fantasielos, zu unschuldig...

Oh, habe ich dich damit etwa verletzt? Wenigstens kriegst du jetzt keinen Ständer wie bei eurem letzten "Ich-bin-Peter-Pan-und-du-der-böse-Hook"-Spiel. Lucas, ich bin... Und dann küssen sie sich... nicht! Sag mir, ist Lucas der einzige Typ, der dich anmacht, oder stehst du auch auf andere Kerle? Unwichtig, nur ein bisschen Smalltalk.

Lass mich doch lieber wieder aus dem Nähkästchen plaudern, das mache ich so gern. Es waren einmal zwei Dreizehnjährige, die partout nicht wussten, was sie mit ihren Hormonen anfangen sollten... Na, erinnerst du dich daran, wie das Märchen weitergeht? Erinnerst du dich an den Nachmittag, den die beiden damit zugebracht haben, das Schlafzimmer der Eltern nach Playboy-Heften zu durchsuchen - damals hatte noch nicht jeder Internet, die Spielwiese hormongesteuerter Teenager. Und als sie schließlich eins gefunden haben, war es schon so spät, dass die Eltern bald nach Hause kommen würden und so mussten sie es verstecken.

Als sie das Heft ein paar Tage später wieder rausholten und sich in den Wald begaben, wo sie ungestört die Schönheit der Nacktheit – der abgebildeten Frauen genauso wie die eigene – kennen lernten, konnten sie nicht ahnen, dass sie dabei von einer dürren und von den Jahren gebeugten Alten unterbrochen würden. Die Alte, die die beiden nicht eines Blickes würdigte, erschreckte die Jungs so sehr, dass sie den Playboy wegwarfen und sich schworen, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren, so peinlich war ihnen das Ganze. Und sie lebten glücklich bis... Na ja, eigentlich gar nicht, wie sich jetzt rausstellt.

Jetzt rate mal, wer den Schwur nicht ernstgenommen hat. Kleiner Tipp: Du hast dich dran gehalten.

Nein, warte doch, geh noch nicht, Markus! Ich habe noch so viele Anekdoten. Schwarzwald, London, Dänemark... Hm... so empfindlich... Adieu und auf Nimmerwiedersehen, mein treuer Spielgefährte!

Nicht ihr Spott, sondern diese Details, die sie nie hätte erfahren sollen, waren es, die mich in den Abgrund stürzen ließen. Es war die Hölle auf Erden, nur eben nicht heiß, sondern kalt. Und dunkel. Absolute Schwärze, ich konnte nicht einmal meine Nasenspitze sehen. Keine Ahnung, wie lange ich in jener Dunkelheit einfach nur da gehockt und vor mich hingezittert und -gebibbert habe, aber die Zeit in der Tiefe meiner Fantasie kam mir unendlich vor. Bewegungslos saß ich da und hätte wahrscheinlich wie ein in Eis gehauener Mensch ausgesehen, hätte es jemanden gegeben, der mich hätte sehen können. Doch ich war allein. Allein mit mir und meinen Gedanken. Am Anfang hasste ich Lucas für seinen Verrat, für sein Mitleid, für unsere angebliche, ewige Freundschaft. Ich wünschte ihm alles Mögliche an den Hals: Geschwüre, Flüche und noch einiges mehr. Nichts davon führte dazu, dass ich mich besser fühlte. Im Gegenteil, es machte alles nur noch schlimmer: Ich fing an zu weinen und suhlte mich in Selbstmitleid. Die Tränen gefroren an meinen Augenwimpern zu Eis, so schnell, dass ich meine Augen bald nicht mehr öffnen konnte – was mich nicht weiter störte, es gab ja doch nichts zu sehen.

Irgendwann schlief ich ein. Ein langer, erholsamer Schlaf. Ohne Alpträume, überhaupt keine Träume. Als ich aufwachte, fühlte ich mich nicht wie ein neuer Mensch, aber ich war ruhiger. So ruhig, begriff ich bald, dass ich gar nichts mehr fühlte. Außer Wärme. Ich öffnete die Augen und die Dunkelheit war einem Zwielicht gewichen, an dessen Ende die Sonne sich kriechend einen Weg nach oben bahnte. Ich sah mich um und entdeckte, dass der Abgrund, in den ich mich vermutet hatte, ein Tal war - mit riesigen Maisfeldern und einem noch jungen Wald. Eine Zeitlang irrte ich ziellos, nur von meinem Schatten und meiner Gefühlstaubheit begleitet, durch das Tal, mal in den Wald hinein, mal wieder raus, bis ich über etwas stolperte und bäuchlings hinfiel. Das Etwas stellte sich als ein Körper heraus – nicht irgendein Körper, sondern der Peter Pans. Die Gefühlstaubheit wich plötzlicher Panik, ich hob Peter an den Schultern hoch, schüttelte ihn, horchte nach seinem Atem, maß schließlich seinen Puls und konnte nur noch eines feststellen: seinen Tod. Ich schaute mich um und sah weitere Körper um uns herum liegen: die Verlorenen Jungs und, etwas weiter weg, Hook und seine Männer. Keinem von ihnen war mehr zu helfen. Ein leises Klingeln ließ mich gen Himmel blicken, da hörte ich ein schwaches Flügelflattern.

"Ich glaube doch an Feen, ganz fest, ganz fest!," begann ich in der verzweifelten Hoffnung, wenigstens Glöckchen noch helfen zu können, doch ihre immer schwächer schlagenden Flügel hörten ganz auf, als sie kraftlos auf meiner Handfläche landete und ihren letzten Atemzug tat.

"Ich glaube doch an Feen, ganz fest, ganz fest!," versuchte ich es noch ein paar Mal, doch Glöckchens Glitzern war verloren.

Ich brachte sie zu Peter, legte sie in seine Hand und mich selbst zu ihnen. Den einen Arm um Peter Pan geschlungen, weinte ich mich in den Schlaf, während die Sonne langsam unterging.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und fand nur noch Peter und Glöckchen vor. Mit einer kurzen Berührung verabschiedete ich mich von ihnen, dann verschwanden auch sie, als wären sie nur eine Einbildung gewesen. Doch ich wusste, dass dem nicht so war. Sie waren real gewesen, wie meine Kindheit, die mit ihnen gestorben war.

Die Umgebung hatte sich in der Nacht verändert, anstelle der weiten Felder hatte sich ein See mit klarem, tiefem Wasser angesammelt, in dessen Mitte eine Tür thronte. Aus Neugier, aber auch weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, setzte ich einen Fuß in den kalten See. Dann den zweiten. Einen vor den anderen, bis ich bis zum Hals im Wasser stand. Der Weg dahin kam mir sehr lang vor - länger als ich es durchhalten würde, da war ich mir sicher -, doch ich wusste, ich würde die Tür erreichen müssen, wenn ich das Tal verlassen wollte. Beim ersten Mal kehrte ich nach ein paar Minuten zurück ans Ufer, als ich es am Nachmittag wieder versuchte, schwamm ich doppelt so weit hinaus. Erst am nächsten Tag, bei meinem fünften Versuch, war ich, als ich zurückschaute, näher an der Tür als am Ufer. Also schwamm ich mit aller Kraft weiter, gab mein Bestes, doch das schien nicht zu reichen. Wenige hundert Meter von der Tür entfernt keuchte ich wie verrückt, bewegte kraftlos meine Arme und Beine, kam aber nicht vorwärts. Da kam mir Lucas entgegen, der zwölfjährige, und zerrte mich auf die kleine Türinsel. Eine ganze Weile saßen wir nur da – er sah mich an, ich guckte zurück und versuchte meine Lunge wieder mit Luft zu füllen.

Als ich mich erholt hatte, fragte ich ihn: "Was ist dahinter?"

"Der Abschied", antwortete er kurz und breitete traurig seine Arme aus. Ich zögerte erst, dann umarmte ich ihn aber doch und blickte noch einmal zurück, bevor ich durch die Tür in meine Studentenbude trat.

Das ist jetzt ein paar Stunden her. In der Zwischenzeit habe ich geduscht und mich rasiert -und mit Schrecken festgestellt, dass meine Wangen eingefallen sind und mein Körper nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen scheint, wie bei einem Junkie, der nur noch von seinem Stoff lebt. Nach einem reichlichen Frühstück in einem Lokal um die Ecke, das ich mehr hinuntergeschlungen als vernünftig gegessen habe, und einem Besuch beim Discounter, habe ich versucht, die Zeit seit meinem unfreiwilligen Auszug zu rekonstruieren. Fakt ist, dass ich, trotz meines Aussehens, offensichtlich überlebt habe. Fakt ist, dass anderthalb Wochen, zehn Tage um genau zu sein, seitdem vergangen sind. Fakt ist, dass ich es irgendwie geschafft habe, in dieser Zeit zur Uni zu gehen, die vollständigen Mitschriften belegen es.

Und Fakt ist, dass ich mir größte Mühe gebe, nicht an Lucas zu denken. Ich habe mittlerweile meinen Koffer und die Taschen, einen Karton und mehrere Tüten aus- und den Karton wieder vollgepackt, mit all den kleinen Dingen, die mich an ihn erinnern würden, und ihn in die hinterste Ecke unter dem Bett verbannt. Ich weiß, dass damit die Vergangenheit nicht ausgelöscht ist, aber ich kann wenigstens versuchen, sie zu vergessen.

Dass heute Samstag ist, erweist sich einerseits als praktisch, denn so verpasse ich keine Vorlesung, während ich mich in meiner kleinen Welt einrichte; andererseits aber muss ich einige meiner Einkäufe im Kühlschrank in der gemeinsamen Küche unterbringen und laufe dabei zwei Mitbewohnern über den Weg, die mich wie einen Geist anstarren, ein kurzes Hi krächzen und sich schnell unsichtbar machen.

Durch die dünnen Wände kann ich hören, wie sie in den benachbarten Zimmern über mich tuscheln. Doch das stört mich nicht weiter. Mit einer Colaflasche in der einen und meinen Vorlesungsunterlagen in der anderen Hand setze ich mich an den Schreibtisch, fahre meinen Laptop hoch und stürze mich in die wunderbare Welt der Wirtschaftswissenschaften.

Einige Stunden später ist die Sonne am Untergehen, als es vehement an der Tür klopft. Wahrscheinlich einer meiner Mitbewohner, ich meine im Hintergrund mitbekommen zu haben, dass sie mit mir Kontakt aufnehmen wollen. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich mir das wirklich antun möchte, dann setzt sich meine Erziehung durch und ich öffne die Tür. Ich kenne zwar nicht alle meine Mitbewohner, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser kleine, untersetzte Typ keiner von ihnen ist.

"Markus Hoppe?"

Ich nicke und, als er nichts weiter sagt, bitte ich ihn mit einer Handbewegung herein.

"Danke. Darf ich mich setzen?" Noch bevor ich ein zweites Mal nicken kann, zieht er seinen Mantel aus und macht es sich auf dem Bett bequem.

"Ich bin Noah Jannek, einer von Professor Selings Erstsemestertutoren. Sagt dir das was?"

Meine Antwort besteht aus einem Kopfschütteln.

"Dachte ich mir. Du bist nicht gerade der gesellige Typ, hm? Sonst hättest du bestimmt was davon gehört, die Aktion ist in aller Munde und gerade für Erstsemester interessant. Sieh mal, obwohl Seling schon ein paar Jahre an unserer Uni arbeitet, ist er immer noch recht jung, er senkt das Durchschnittsalter der Profs deutlich. Und er ist ehrgeizig, ein Visionär, wenn du so willst. Sein Ziel ist es nämlich, dass irgendwann mal jeder seiner Erstsemester das Studium schafft. Ob das überhaupt möglich ist, sei dahingestellt, aber das ist nun mal sein Bestreben. Kennst du die Durchfallquoten?"

Ein erneutes Nicken kommt meiner Antwort zuvor. "In BWL zwanzig Prozent der Erstsemester, nur dreißig bis vierzig Prozent schaffen ihr Diplom."

"Kommt hin," sagt er, sichtlich erstaunt. "Von Professor Selings Studenten aber schaffen es neunundneunzig Prozent ins zweite Semester, das fehlende Prozent kommt durch familiäre oder krankheitsbedingte Ausfälle zustande. Er bringt also wirklich jeden weiter. Fünfundneunzig Prozent schaffen das Grundstudium, immerhin neunzig haben ein Diplom in der Tasche, wenn sie die Uni verlassen. Und damit das klappt, hat er uns. Mich und über hundert andere Tutoren."

"So was wie Einzelnachhilfelehrer?"

"Nein, definitiv nicht. Denn dann wäre ich nicht hier. Du schreibst in den Vorlesungen mit, hörst zu, hast deine Aufgaben immer abgegeben und ganz passable Ergebnisse erzielt. Du brauchst keinen Nachhilfelehrer. Zumindest nicht in BWL."

Er steht auf und geht zum Fenster, gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. "Siehst du dieses Gewusel da draußen?"

"Die Studenten?"

"Ja. Deine und meine Kommilitonen. Dozenten, Professoren, andere Mitarbeiter. Freunde, Eltern, Geschwister. Der Campus ist eine eigene Welt, in der man als Einzelner leicht untergehen kann. Vor allem wenn man sich, wie du, von den anderen abkapselt."

Genau, ein Tutor, der sich um das seelische Wohlergehen seines Schülers sorgt. Wer's glaubt!

"Das erste Semester ist vergleichsweise leicht, Markus, was das Lernen anbelangt. Setz dich jeden Tag eine Stunde hin oder am Wochenende ein paar Stunden mehr – wenn du die Vorlesungen besuchst und die ganzen Blätter abarbeitest, bestehst du deine Klausuren problemlos mit Einsen. Die folgenden Semester werden aber härter, irgendwann kommt der Punkt, an dem dir so viele Begriffe und Modelle im Kopf rumschwirren, dass du Probleme haben wirst, sie auseinander zu halten. Und wenn du dann immer noch allein bist, hast du verloren."

"Das heißt also, ich soll mir einen Lernpartner suchen. Oder bist du mein Lernpartner?"

Noah schüttelt den Kopf. "Ich wünschte, es wäre so leicht. Aber ich bin im fünften Semester, wenn ich dir irgendwas erklären müsste, würde ich auf mein ganzes Wissen zurückgreifen und dich aller Wahrscheinlichkeit nach mit Theorien überrumpeln und verwirren, die du erst noch kennen lernen würdest. Nein, ich meine keinen Lernpartner, sondern eine Lerngruppe."

Ich grinse ihn schief an, es muss ein Scherz sein. "Ich bin ein Einzelgänger, Noah. Ich mag keine Gruppen."

Er nickt traurig und sagt dann ganz trocken: "Dann hast du an einer Uni nichts verloren."

Es dauert seine Zeit, bis seine Worte in mein Bewusstsein sickern. Noah hat sich schon angezogen und ist bereits dabei zu gehen.

"Warte, Noah!"

Er dreht sich zu mir um: "Hast du es dir anders überlegt? Dann zieh dich an und komm mit."

Was folgt, ist meine erste Stunde im Fach Gesellschaftsleben. Wir fangen ganz klein an, gehen in ein gut gefülltes Café, wo wir uns auf einer Bank zwischen zwei Gruppen quetschen. Ich selbst empfinde es als unangenehm und sehr unhöflich, für Noah hingegen scheint das völlig normal zu sein. Und die anderen lächeln uns nur kurz an und drängen etwas dichter zusammen um uns Platz zu machen.

"Alles okay?," fragt Noah.

"Hast du denn nichts Besseres vor an einem Samstagabend?," kommt meine Gegenfrage und Noah grinst.

"Eigentlich schon, aber es gibt Dinge, die sind wichtiger als... Ach was, meine Freundin ist übers Wochenende nach Hause gefahren und ich wollte die Zeit nutzen, um dich persönlich kennen zu lernen. Festzustellen, ob du es wert bist, gerettet zu werden."

Ich bin mir nicht sicher, dass die letzten Worte als Scherz gemeint waren, deshalb hake ich nach: "Und, bin ich's?"

"Du sitzt hier mit mir, hast dich aus deinem sicheren Hafen rausgetraut. In den ersten zwei Wochen, da waren wir uns nicht mal sicher, dass du unsere Hilfe brauchst. Hey, wo willst du hin?"

Als er von den ersten zwei Wochen angefangen hat, bin ich aufgesprungen und wollte gehen. Er zieht mich zurück auf die Bank. "Verstehe, kritisches Terrain, tabu. Kein Problem."

Ein paar Minuten lang nippt jeder, in Schweigen gehüllt, an seinem Getränk. Zu meinem eigenen Erstaunen bin ich es, der als Nächster spricht: "Und, bist du vom Prof für diesen Job engagiert worden? Ich meine, wirst du dafür bezahlt?"

Er atmet scharf ein und ich bereue meine Worte. "Also, Geld ist auch so ein Tabu-Thema. Nicht nur dort draußen, auch hier auf dem Campus." Dann grinst er. "Nein, wir machen das freiwillig, ehrenamtlich sozusagen. Du wirst es kaum glauben, aber als ich hier anfing, war ich nicht viel anders als du. Mein gesamtes Leben bestand aus Uni, Schlafen und Lernen. Ich mochte auch keine Menschen, sie waren für mich nichts weiter als eine Ablenkung von dem, was wichtig war."

"Lernen. Uni. Studium."

"Genau. Ich gehörte zu den ersten, die Teil von Selings Programm wurden, und mit der Zeit wurde ich lockerer, ich kapierte, dass das Studium nicht nur aus Lernen besteht. Sieh mal, wenn du hier in ein paar Jahren die Uni verlässt, gehst du wahrscheinlich in die freie Wirtschaft. Aber egal, wo du hingehst, auch wenn du einen Verwaltungsjob annimmst, du wirst es immer mit anderen Menschen zu tun haben, mit ihnen interagieren und mit ihnen auskommen müssen. Darauf bereitet dich ein gutes Studium auch vor. Amen."

Damit stellt er sein Glas auf einen der Tische ab und zieht sich im Hinausgehen den Mantel über. Ich laufe ihm hinterher.

"War doch gar nicht so schlimm, oder?," fragt er und sein Atem schwebt als unförmige Wolke in der Kälte davon.

Ich schüttle den Kopf. "Noah, ist das deine Aufgabe, mit mir in Cafés zu gehen, mich unter die Leute zu bringen?"

"Ein Teil," nickt er. "Aber die Aufgabe bist du. Hier, meine Handynummer. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn was ist." Er reicht mir einen Zettel. "Ansonsten sehen wir uns am Montag nach der Vorlesung. Dann zeig ich dir, wo sich deine Lerngruppe trifft." Er hebt die Hand zum Abschied und verschwindet um die Ecke.

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