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Irrwege

Teil 9

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Ole stellt sich als ein überaus unprätentiöser Patient heraus. Mit zwei Fernbedienungen, je eine für den Fernseher und die daran angeschlossene, proppevolle Multimedia-Festplatte, gibt er sich vollauf zufrieden – Musik, Filme und Serien bestimmen seinen Tag. Hin und wieder setzt sich einer von uns dazu, guckt sich den einen oder anderen Film mit an und passt auf, dass Ole nicht noch einmal versucht, allein aufzustehen.

Als Bastian ihm sagt, dass wir heute Abend ausgehen wollen, sagt er wissend Ins BXD – er spricht die Buchstaben auf Englisch aus – und verspricht, beim nächsten Mal mit von der Partie zu sein. Zu meiner Überraschung schließt sich, nach Rücksprache mit den anderen beiden Mädels, die sich den Abend über ganz dem Kranken widmen wollen, Kristin uns an, so dass wir uns zu viert ein Taxi nehmen, das uns in die sechs Kilometer entfernte Südstadt bringt, wo der Fahrer in einer äußerst belebten, gut beleuchteten Straße anhält.

Überall begegnet uns der Regenbogen, von zentimeterkleinen, auf Gesichtern gemalten Rechtecken, über T-Shirt-Aufdrucken bis hin zu meterlangen Fahnen, die aus Fenstern wehen oder an fensterlose Mauerwände gesprüht wurden. Vor einer solchen Mauer, zu unserer Linken, stehen unzählige Menschen – überwiegend Männer, jung, meist gutaussehend –, unterhalten sich, lachen, küssen sich und warten. Mein Blick folgt der Schlange bis zu einem breitschultrigen, muskelbepackten Einlasser, über dessen Kopf in neonleuchtendem Pink die Lettern BXD prangen. Wir haben also unser Ziel erreicht – doch meine Vorfreude, zu der sich auf der Fahrt hierher Aufregung und Neugier gesellt haben, schwindet dahin angesichts der langen Wartezeit, die uns offenbar noch bevorsteht.

Man muss mir meine Enttäuschung ansehen, denn Bastian verzieht die Mundwinkel zu einem merkwürdigen Lächeln, bevor er einen Arm um mich legt. „Na komm schon, Markus, du wirst es nicht bereuen“, sagt er und geht geradewegs auf Mr. Muskelprotz zu. Mein Versuch ihn zurückzuhalten, ist zum Scheitern verurteilt, denn mein Mitbewohner scheint heute Spinat zum Frühstück gehabt zu haben – oder er ist schlicht und ergreifend lebensmüde.

„Hallo, Boss“, nickt der Große Basti zu und öffnet die Absperrung.

Boss? Ich seh mit großen, fragenden Augen an Lucas vorbei zu Kristin rüber, aber sie schüttelt auch nur den Kopf.

„Hallo, Vincent. Leute, das hier ist unser Sicherheitschef Vinnie. Vinnie, das sind Markus, Lucas und Kristin. Du wirst sie in Zukunft öfter hier sehen.“ Natürlich, wenn Basti das sagt …, er ist ja … der Boss!!!

Sobald jedem von uns ein blaugrünes X auf den Handrücken gestempelt worden ist, folgen wir Bastian der lauter werdenden Musik entgegen. Nach einem flüchtigen Gruß an Lexi, die am Empfangstresen ein wachsames Auge auf die Mäntel hinter sich und das andere in einem Liebesroman hat, führt er uns durch eine elektronisch gesicherte Tür, eine gewundene Treppe hoch.

Die Treppe endet in einem langen, breiten, in dezenten Pastelltönen gehaltenen Flur. Auf der rechten Seite befinden sich mehrere Sitzgruppen – je drei große, schwere Ledersessel um einen runden Glastisch arrangiert – und dazwischen Türen, hinter denen sich, wie Bastian uns verrät, Gästezimmer verbergen.

„Die zeige ich euch ein anderes Mal, jetzt in der Weihnachtszeit sind alle belegt“, sagt er und geht zur gegenüberliegenden Seite des Flures, von wo man durch eine riesige Glasfront einen beeindruckenden Blick auf den eigentlichen Club hat. Als erstes fällt das Auge des Betrachters – ein bisschen fühle ich mich so, als wäre ich ein Spanner – auf die Menge tanzender Menschen – Männer und Frauen –, die ihre eng aneinander geschmiegten, perfekten Körper im Rhythmus der Musik bewegen, hemmungslos erotisch, unbezähmbar; sexy Hüftschwünge, langsam am nackten Oberkörper hinabgleitende Hände – Fleisch gewordene Ästhetik.

„Hör auf zu sabbern“, höre ich Lucas neben mir kichern und die anderen stimmen mit ein.

„Irre“, meint Kristin. Ich schließe meinen Mund und nicke.

„Danke“, lacht Basti, „werde ich meinen Eltern ausrichten. Das Lokal gehört ihnen, nicht mir, aber es ist meine Arbeitslosenversicherung – für den Fall, dass das mit dem Schreiben nichts wird.“ Bastians Traum ist es, Bestsellerautor zu werden, wie Dan Brown oder J.K. Rowling. Einige Kurzgeschichten hat er in der Uni-Zeitung veröffentlicht, eine sogar in einer überregionalen Zeitung. Und das Stück, das die Theater-Gruppe dieses Jahr zu Weihnachten aufführt, stammt ebenfalls von ihm.

Leider habe ich bislang nichts davon gelesen, weil ich die ganze Zeit mit mir selbst beschäftigt war, nehme mir aber in diesem Augenblick vor, dies sobald wie möglich nachzuholen. Dieses Jahr noch – versprochen!

„Wenn das okay ist“, unterbricht Basti meine Gedanken, „bleiben wir noch ein paar Minuten hier oben. Von hier hat man nämlich den besten Blick auf die Bühne.“

Keine Einwände von uns, nur neugierige Fragen. „Dann wissen deine Eltern, dass du schwul bist?“, kommt es von Lucas, den mein bohrender Blick völlig kalt lässt. „Wie hast du es ihnen beigebracht?“, fragt er weiter, ohne auf mich zu achten. Nur langsam dämmert es mir, wieso er so hartnäckig ist – weil mein Coming-out noch vor mir liegt.

„Gar nicht“, gesteht Bastian und alle Augen richten sich auf ihn. „Meine Eltern wussten es, noch bevor ich es wusste. Fragt nicht woher, ich habe keine Ahnung. Meine Mom behauptet, ihr Mutterinstinkt hätte es ihr verraten“, sagt er und macht es sich in einem der Sessel bequem. „Jedenfalls: Vor zwanzig Jahren, ich war damals drei, ist mein Großvater väterlicherseits gestorben und hat ihnen dieses Gelände hinterlassen – Kilometer vom nächsten Haus entfernt. Zwei Jahre lang haben sie versucht, es loszuwerden, fanden aber keinen Käufer. Eines Tages kam ihnen angesichts der allmählichen Erweiterung der Stadt Richtung Süden die Idee, einen Tanzclub darauf zu bauen – Alkohol verkauft sich, so der Gedanke. Und der kam gut an. Vielleicht liegt's auch daran, dass meine Eltern ein Händchen fürs Zwischenmenschliche haben.

Als ich elf war, haben sie den Laden komplett geschlossen – was für mich und für meinen besten Freund David (dessen Eltern damals schon bei uns arbeiteten) nicht nur unverständlich war, sondern auch ein Schock, weil wir die meisten Nachmittage und Abende darin verbracht und uns mit den Mitarbeitern und auch mit vielen Stammgästen angefreundet hatten. Wir zogen aus der darüberliegenden Wohnung ein paar Straßen weiter in das Haus neben Davids, wo unsere Eltern heute noch wohnen, und einige Tage später mussten wir mit ansehen, wie das ganze Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurde – ohne irgendeine Erklärung von meinen Eltern. Oder von seinen.

Ein gutes halbes Jahr später sind wir eines Nachmittags zu sechst wieder hergefahren und haben zum ersten Mal den neuen Club gesehen, größer, bunter, imposanter. Einige der alten Mitarbeiter waren wieder da, die anderen kamen am Abend zur Neueröffnung. Es war der bis dahin großartigste Tag für mich – die ganze Straße hat gefeiert. Und mittendrin standen David und ich und sahen zum ersten Mal in unserem Leben, wie sich zwei Männer küssten. Und da wussten wir, dass es völlig in Ordnung ist, wenn zwei Jungs sich küssen.

Als mir mit sechzehn klar wurde, dass ich in David verliebt bin, war Homosexualität für mich schon so zur Normalität geworden, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich zu outen. Wir waren ein Paar wie jedes andere auch.

So, jetzt habe ich euch fast in den Schlaf gelabert, es wird Zeit, wieder wach zu werden.“ Er klatscht in die Hände, tritt nach vorn und deutet auf die Bühne, wo gerade drei dunkelhaarige, füllige Frauen mit stürmischem Applaus empfangen werden. „Geht los. Ich darf euch vorstellen, BXD's eigene Weather Girls Cover-Band. Links meine Mutter, dann Davids, und rechts … mein Vater“, grinst er uns an.

Wir alle recken ungläubig unsere Hälse, und … ja, doch … das dritte Weather Girl nennt einen Adamsapfel sein Eigen. Ansonsten aber stellt Bastians Vater eine äußerst überzeugende Frau dar. Mit einer großartigen Stimme ist er/sie zudem auch noch gesegnet. Sie alle drei, denn die von ihnen dargebotene Version der Schwulenhymne It's Raining Men ist, meiner bescheidenen Meinung nach, noch besser als das Original.


„Das X bedeutet, dass ihr meine Gäste seid und eure Drinks aufs Haus gehen. Falls ihr wiederkommen wollt, sagt Bescheid und ihr bekommt VIP-Karten, damit gibt’s alles zum halben Preis“, klärt Bastian uns auf, bevor wir uns auf den Weg nach unten machen.

Auf halber Treppe hält Lucas mich zurück und erkundigt sich, ob ich mit der Menge und der Enge klarkommen werde. Mein Nicken genügt ihm und er geht wieder vor, Kristin hinterher. Dafür bleibt ein paar Stufen weiter Basti stehen und warnt mich vor: „Einige Gäste können sehr … ambitioniert sein, was ihre Wünsche angeht, man könnte sagen, sie eifern Ole nach. Lass dich zu nichts drängen, was du nicht willst, okay? Wenn irgendwas ist, findest du mich meistens an der Bar. Oder du wendest dich an einen der Barmänner, der alarmiert die Sicherheit. Und jetzt viel Spaß und bis später“, sagt er und schiebt mich durch die Tür ins Getümmel, wo ich ihn und die anderen viel zu schnell aus den Augen verliere.

Ich mache mein Ziel aus – die Bar, die sichere Oase – und drücke und wende mir meinen Weg hindurch, bis ich mich ungefähr in der Mitte der Tanzfläche frage, was ich da eigentlich tue? Warum versuche ich hier so verbissen rauszukommen, wo ich doch genau deswegen hergekommen bin, um eine neue Form von Spaß zu entdecken?

Unvermittelt bleibe ich stehen, doch nicht lange und die Menschen um mich herum zwingen mich mitzumachen. Ich schließe die Augen, lasse mich fallen; meine Bewegungen passen sich automatisch der Musik an, ich werde ein Teil der Masse, spüre die Hitze, die in mir hochsteigt. Meine Arme fliegen gen Himmel, meine Hüfte kreist, meine Füße entwickeln ein Eigenleben. Ein harter Oberkörper drückt sich gegen meinen Rücken, feste Hände fahren über meinen Bauch, heiße Lippen berühren meinen Nacken. Ich drehe mich um, will sehen, wem sie gehören, öffne die Augen und sie begegnen einem Gesicht, das Oles durchaus Konkurrenz machen könnte.

„Hi“, versuche ich die Musik zu übertönen.

Der Unbekannte grinst mich an. „Total! Du auch?“, fragt er und zaubert aus dem Nichts ein Parfümfläschchen hervor, das ein verdächtig weißes Pulver enthält. Ich schüttle dankend den Kopf, verabschiede mich mit einem Da vorn ist ein Freund von mir und kehre zu meinem ursprünglichen Plan zurück, auf schnellstem Wege die Bar zu erreichen.

Doch weit gefehlt, denn nur wenige Schritte weiter hält mich ein rotblonder Typ mit ausgestrecktem Arm an. „Lust zu tanzen?“, fragt er mit seinem unwiderstehlichen Lächeln und lässt mein Vorhaben wieder in Vergessenheit geraten. Ein paar gemeinsame Schritte und ich bin wieder drin im Rhythmus dieses gleich klingenden, nie enden wollenden Musikmixes; wieder drin in dieser sinnlichen Ekstase, hervorgerufen allein durch Glückshormone und wiederholten Körperkontakt. Irre, vernehme ich Kristins Stimme in meinem Kopf. Total irre!


Die Freiheit verändert einen, ob sie erzwungen ist oder nicht. Ich muss Spass haben, ich muss lockerer werden, offener, mich auf Dinge einlassen, von denen ich sonst nur träume – das habe ich mir während der Taxifahrt vorgenommen. Und genau das tue ich. Noch vor wenigen Stunden wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen, mit einem Wildfremden, von dem ich nichts weiß, abgesehen von seinem Vornamen, in aller Öffentlichkeit rumzuknutschen. Mit Hunderten von Menschen um uns herum, die … okay, sie schauen nicht zu, sie sind mit sich selbst und einander beschäftigt. Und mir ist es egal, vollkommen egal, ob irgendjemand Malte und mir zusieht, denn wie alle anderen existieren auch wir in diesem Moment in unserer eigenen kleinen Welt, abgeschottet von den anderen, mit nur einem Ziel: unser Verlangen zu stillen, das unstillbare Verlangen nach mehr …

Ohne von mir abzulassen, dirigiert mich Malte durch einen schweren, undurchsichtigen Vorhang in einen stark abgedunkelten Raum, in dem eine Kakophonie aus Stöhngeräuschen, unverständlichem Murmeln und noch mehr Stöhnen sich mit einem durchdringenden Geruch nach Sex vermischt. Ich unterdrücke das leichte Ekelgefühl, das in mir hochsteigt und konzentriere mich auf Malte, der mir, kaum dass er mich hart gegen die Wand gedrückt hat, das T-Shirt über den Kopf zieht, um dann sein Lippen- und Zungenspiel auf meinen Oberkörper zu verlagern und mir so ganz neue erogene Stellen an meinem Körper zu offenbaren.

Völlig ungeniert und ungehindert erkunden seine Hände mein Äußeres, kneten meinen Hintern durch die Hose, fahren meinen Rücken rauf und runter, finden ihren Weg nach vorne, öffnen den obersten Knopf, dann die nächsten, eine Hand spielt mit dem Gummizug meiner Boxershorts, neckt mich, der direkte Erstkontakt steht kurz bevor …

Vor meinen geschlossenen Augen erscheint das verliebte Paar, dem ich vor einer Woche durch die Fußgängerzone gefolgt bin; sie schauen mich lächelnd an und winken mir zu. Plötzlich fühlt sich die mich massierende Hand in meinen Shorts wie ein Eindringling an. Ich packe Maltes Handgelenk und zwinge ihn aufzuhören. Das wenige Licht reicht aus, um die Verständnislosigkeit in seinen Augen zu erkennen.

Ich bringe ein kraftloses Tut mir leid zustande, greife mir mein T-Shirt und knöpfe im Hinausgehen meine Hose wieder zu. Ein tiefer Atemzug und die Welt hat mich wieder. Im Gehen schaue ich mich um, ob Malte mir folgt – was nicht der Fall ist, er hat sicherlich schnell einen Ersatz gefunden – und pralle in meiner Unachtsamkeit mit jemandem zusammen.

„Markus, richtig?“, vernehme ich eine mir bekannte Stimme, woraufhin ich mich wieder umdrehe und in den schönsten mandelförmigen Augen blicke, die ich je gesehen habe.

„Stimmt genau.“


Die kalte Luft hat eine schockartige Wirkung auf meinen Verstand; er weigert sich zu akzeptieren, dass das dort drin wirklich ich gewesen sein soll. Ich mit einem völlig Fremden. Ich halbnackt, umgeben von Menschen, die in unmittelbarer Nähe ihre sexuellen Fantasien auslebten, ich selbst bereit, einer von ihnen zu werden, ein triebgesteuertes Etwas, das nur eines im Sinn hatte. Und dazu brauchte ich nicht einmal die Hilfestellung des Hi-Typen.

„Manche schwören, es sei die Musik, sie habe etwas Hypnotisierendes an sich, oder eine unterschwellige Botschaft, die uns animiert, uns fallen zu lassen, freizügig zu sein – das sind die gleichen Leute, die Akte X für eine Doku halten und der Meinung sind, die Serie habe sich nicht weit genug an die Wahrheit herangetraut“, meint Kim. Es war seine Idee, der süchtig machenden Schönheit zu entfliehen und für eine Weile die klare Dezembernacht zu genießen.

„Andere behaupten, die Masse mit ihrer Anonymität vermittle einem den Eindruck, man könne hier alles tun und lassen, was man sonst tunlichst unterlassen würde, weil man all diese Menschen im täglichen Leben nicht wiedersehen werde. Ich glaube, die Leute wollen einfach nur abschalten und ihren Spaß haben – und, glaub mir, den haben sie in solchen Clubs. Trotzdem, nicht jedermanns Sache, vor allem nicht der Darkroom“, sagt er und deutet auf mich.

„Aber die Regenbogenstraße hat mehr zu bieten als nur Tanzclubs, die ganze Südstadt bietet weit mehr als nur schwulen Sex. In keinem anderen Stadtteil wirst du diese Farbenpracht wiederfinden; oder diese Lebendigkeit – zu jeder Tages- und Nachtzeit. Geh nach zweiundzwanzig Uhr in die Innenstadt – absolut tote Hose –, oder tagsüber auf den Kiez – genau dasselbe. Und nicht zu vergessen die Sicherheit. Hier sind wir unter uns und unter Freunden, brauchen keine Angst davor zu haben, dass wir wegen Händchenhaltens oder wegen eines Kusses auf offener Straße vermöbelt werden – versuch das mal am Hauptbahnhof!“

„Ist dir das schon mal passiert?“, unterbreche ich seine Lobrede auf die Südstadt.

„Mehrmals, leider. Zum Glück bin ich immer mit einem blauen Auge davon gekommen; die Judo-Stunden, zu denen mich meine Eltern gezwungen haben, zahlen sich in solchen Situationen aus. Judo und Menschen, die die Courage haben, sich einzumischen. Du – du hattest noch nie Probleme mit homophoben Idioten?“

Und ich dachte, Ole wäre ein Einzelfall gewesen, was Besonderes, weil er in seinem Vorgehen aggressiv ist und kein Nein akzeptiert. Aber wenn man damit rechnen muss, für einen Kuss verprügelt zu werden … Für einen Kuss! Vielleicht sollte ich lieber zurückkehren, zurück ans richtige Ufer. Vergessen, was gewesen ist – Ole vergessen; das warme Gefühl, wenn ich auf dem Campus von einem süßen Typen angelächelt werde; die Bilder dieser Nacht im BXD …

„Oh, Mann! Du bist ein Grünschnabel, hab ich Recht?“, fragt Kim und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

„Wenn du damit meinst, dass ich ...“

„Ja, das meine ich. Vergiss alles, was ich in den letzten Minuten von mir gegeben habe. Alles. Und denk nicht einmal daran, dich aus Angst zu ändern, zu verleugnen. Ja, es gibt dämliche Menschen, die dich wegen eines Kusses angreifen, aber das sind dann die gleichen Typen, die dich wegen einer krummen Nase, falscher Augenfarbe oder eines schiefen Zahns anmachen. Es gibt sie, aber du darfst dir dein Leben nicht von ihnen vorschreiben lassen.“

„Sonst haben sie gewonnen“, schlussfolgere ich nach einer Weile.

„Genau“, stimmt Kim mir zu.

„Du findest, ich habe eine krumme Nase?“ Er lacht und sein Lachen ist ansteckend. „Was machst du, wenn du dich nicht mit Idioten anlegst?“

„Meine Hobbys? Theater, Schauspielern – meine neue Leidenschaft. Ich wollte etwas Künstlerisches, was absolut nichts mit WiWi zu tun hat. Zuerst hab ich es mit Singen versucht, hab einmal – wirklich, nur einmal! – Karaoke gesungen und wurde nach nicht einmal fünf Sekunden laut ausgebuht – von meinen eigenen Freunden! Dann Schreiben: hab mir gedacht, wenn sogar Bohlen schreiben kann, dann kann ich das auch. War aber auch nicht so das Wahre. Malen – genauso katastrophal; zur Erinnerung und als Warnung, sollte ich je wieder der Meinung sein, Malen sei meine Berufung, hängt bei mir in der Küche das Ergebnis meiner Kreativität. So bin ich zum Theater gekommen und, was soll ich sagen, wir waren uns auf Anhieb sympathisch, das Theater und ich. Dieses Semester bin ich bei der Weihnachtsaufführung dabei.“

„Du spielst in Bastians Stück mit?“

„Bastian Donau“, nickt Kim. „Du kennst ihn?“

Wir haben inzwischen das Ende der Regenbogenstraße erreicht, zugleich auch das Ende der Südstadt, denn hinter der Brücke, die die Vivera überspannt, beginnt ein anderer Stadtteil, dessen Namen ich aus dieser Entfernung nicht erkennen kann.

„Er ist mein Mitbewohner. Einer von ihnen.“

„Ah! Dann weißt du sicher auch, dass ihm das BXD gehört.“ Bevor ich ihn korrigieren kann, fährt Kim fort: „Praktisch. Manchmal, wenn das Audimax besetzt ist, treffen wir uns dort zum Proben, was ganz gut ist, weil wir dort ungestört arbeiten können.“

Wir setzen uns auf eine Bank mit dem Blick auf das größtenteils gefrorene Wasser, das ab und zu ein Knacken von sich gibt, und ich nehme mir die Zeit, meinen Begleiter zum ersten Mal genauer anzusehen. Dass er etwa einen halben Kopf kürzer ist als ich, habe ich vorher schon festgestellt. Was meinen Blick anzieht, das sind seine schönen, dunklen Augen, voller Leben und Energie, mit feinen, nahezu unsichtbaren Wimpern, und seine Lippen, die stets ein freundliches Lächeln andeuten und mich geradezu auffordern …

„Möchtest du mich küssen?“, fragt Kim, als könne er Gedanken lesen.

„Ja … ja, bitte“, hauche ich und nicke, nicke und lächle, schließe die Augen. Gleich wird es so weit sein – unsere Lippen …

„Was meinst du?“, fragt er und sieht mich merkwürdig an. „Ich rede dir zu viel, stimmt's?“

„Nein!“, schüttle ich den Kopf. „Neinein, nicht, natürlich nicht. Es ist nur, du bist … anders … als ich dachte. Gut anders, also … positiv … ich meine … ich bin … positiv überrascht.“ Wenn jetzt gerade der Mann im Mond durch sein Riesenobjektiv in mein knallrotes Gesicht schaut, bitte kein Foto schießen. Peinlicher – äußerst peinlicher – Moment! „Also, ich meine … in der Lerngruppe bist du so ruhig … und verschlossen … und …“

„Und jetzt kann ich nicht aufhören zu reden? Ich weiß, das kommt dir komisch vor, ist aber ganz schnell erklärt: Der Typ, den du an der Uni kennen gelernt hast, das bin nicht ich, das ist ein Roboter, ein Android. Eine perfekte Kopie, nur mit der Interaktion hapert's. Damit ich morgens ausschlafen kann und mir nicht den ganzen langweiligen Kram anhören muss, schicke ich ihn hin, lass ihn mitschreiben und alles aufzeichnen, und wenn er dann abends heimkommt, lade ich die Daten direkt in mein Gehirn, total easy. Hier, siehst du, das ist das Interface“, sagt er und zeigt auf ein kleines Muttermal unmittelbar über dem linken Ohr.

Ja, ich sehe, die Fantasie eines Künstlers hat er auf jeden Fall schon mal!

„Ein bisschen was ist da schon dran“, fährt er fort. „Ich setze die Uni mit Arbeit gleich; ich studiere nicht, weil es mir Spaß macht, wie andere es tun, sondern weil ich es eines Tages für meinen Beruf brauchen werde. Die Uni bedeutet das Fehlen von Spaß und mein Ziel ist es verständlicherweise, die Dauer dieses Zustands zu minimieren, und dazu gehört auch, unnötige Fragen, die zu ausführlichen und zeitraubenden Diskussionen führen könnten, zu vermeiden. Deshalb halte ich in der Gruppe meistens meine Klappe.“

Er steht auf und zieht mich mit hoch. „Und jetzt werde ich dir mein Lieblingsrestaurant zeigen, ich habe nämlich seit dem Frühstück keine richtige Mahlzeit gehabt. Komm.“

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